Le cœur muet von Idris (Yu-Gi-Oh FF Wettbewerb Shonen-ai) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Autorin: Rei E-Mail: freefallin@gmx.de Pairing: / Warnungen: Drama, dark, depri, Kaiba-zentriert Rating: PG-13 Le cœur muet "Master Mokuba lässt Ihnen ausrichten, dass er erst am Montag wieder da sein wird." " ... danke, Roland." "Er ist unter der üblichen Nummer erreichbar, wenn Sie etwas wünschen sollten." "... ja." "Ich werde Ihnen morgen früh die neuen Daten bringen lassen, sobald sie verfügbar sind." "Ja." "Brauchen Sie noch etwas, Sir?" "Nein." Sekundenlang war es still. Rolands Hand lag bereits auf der Türklinke, bevor er sich noch einmal umdrehte, "Soll ich Ihnen vielleicht doch noch das Abendessen ...?" "Danke, Roland. Sie können jetzt gehen." "... wie Sie wünschen, Sir." Die Türklinke wurde langsam nach unten gedrückt. "Roland ...?" "Sir?" Der riesige Drehstuhl hinter dem Schreibtisch schwang exakt um eine halbe Drehung zurück, weg von der Fensterfront aus der er eben nach draußen gestarrt hatte. Die eben untergegangene Abendsonne hatte nichts als einen rosafarbenen Streifen am Horizont zurückgelassen und das Büro war bereits in Dämmerung getaucht, so dass sein Gesicht im Schatten lag. Roland war nicht sicher, ob er es hätte sehen wollen, in diesem Augenblick. Die langen Beine waren übereinander geschlagen und die Arme steif vor der Brust verschränkt, so als sei ihm kalt. Nichts an seiner Haltung hatte etwas Entspanntes an sich. "Nicht so wichtig." Roland stand einen endlosen Moment in der Tür. Es gab nichts, was er sagen konnte. Zumindest nichts, was er nicht schon oft genug gesagt hatte. "Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Geburtstag, Sir", sagte er schließlich leise und schloss die Tür hinter sich. Angenehmen Geburtstag ... Wenn es nicht Roland gewesen wäre, der niemals respektlos war, hätte Seto annehmen müssen, dass es sich bei diesem Satz um bösen Sarkasmus gehandelt hätte. Aber so blieb dieser Satz in der Luft schweben, in der kühlen Dunkelheit, die sich um ihn herum ausbreitete und die durch keinen Lichtschimmer unterbrochen wurde. Fünfundzwanzig Jahre. Er ließ sich diese Zahl durch den Kopf gehen. Sachlich und emotionslos, wie er alles tat. Fünfundzwanzig ... das klang danach, jung zu sein und Spaß zu haben. Das Leben zu beginnen und sich voller Freude hineinzustürzen, auf das was einen erwarten würde. Es klang vielleicht so, aber es fühlte sich mehr an wie das viertel Jahrhundert, das es war. Was gab es für ihn, um darauf zu warten? Jeder noch kommende Tag seines folgenden Lebens würde genauso aussehen, wie der Tag davor ... und der davor ... und der davor ... Aufstehen. Arbeiten. Schlafen. Aufstehen. Arbeiten. Schlafen. Aufstehen. Arbeiten. Nicht schlafen, weil die Tabletten ausgegangen waren. Oder weil Roland sie in der Toilette heruntergespült hatte und behauptete, es sei ein Versehen gewesen. Aufstehen. Arbeiten. Schlafen. Er beschloss ins Bett zu gehen. Es war noch früh, aber es gab nichts, was er sonst hätte tun können. Die kleine Dose auf seinem Schreibtisch war leer, als er nachsah. Vielleicht war das Rolands Vorstellung eines angenehmen Geburtstages. Er seufzte, sekundenlang mit dem Gedanken spielend, Roland zu sich zu zitieren und ihn zur Schnecke zu machen. Aber ihm fehlte die Energie. Außerdem war es jedes Mal so ein Aufwand ihn zu feuern, nur um ihn dann wieder einzustellen. Allein der Papierkram ... Er duschte und zog sich um, legte sich auf das Bett und schloss die Augen. In seinem Zimmer war es dunkel und die Luft war kühl. Er lag still und versuchte dem Klang seines eigenen Atems oder seines schlagenden Herzens zu lauschen. Aber das Geräusch, wenn es denn überhaupt vorhanden war, ging in der Lautstärke seiner Gedanken unter. Nach zwei Stunden öffnete er die Augen wieder und drehte sich auf die andere Seite. Vielleicht sollte er Roland doch feuern. Als er um Mitternacht erneut die Augen aufschlug, war er genauso wach wie zuvor. Aber er fühlte sich weniger beklemmt, jetzt wo dieser Tag endlich vorbei war. Ein Tag, der etwas besonderes sein müsste und wo es vielleicht genau deswegen so schrecklich auffiel, dass er genauso war, wie alle anderen Tage ... Mokuba hatte irgendwann aufgegeben mit ihm feiern zu wollen. Er hatte sich in die Arme dieser Frau geflüchtet ... weg von einem Bruder, der niemals mit ihm Zeit verbrachte und der kaum noch ansprechbar war. Aber Mokuba war erwachsen und konnte tun und lassen, was er wollte, ohne dass man ihm länger Vorschriften machen konnte. Zu erwachsen, um nachts zu ihm ins Bett zu kriechen und zu sagen ... "Ich kann nicht schlafen, Seto ... erzähl mir was." "Und was?" "Erzähl mir eine Geschichte!" "Ich kann keine Geschichten erzählen, das weißt du doch." "Bitte, Seto. Irgendwas." "Stockman & Bridgewood = 1,3 Punkte gestiegen. Kuyani Company = 11 Punkte gefallen. Vereinigte Ölwerke = 4 Punkte gestiegen ...soll ich dich mit Aktien langweilen, bis du einschlafen kannst?" "Jaaaaa!" Große, dunkle Augen, die bewundernd zu ihm hochsahen und eine kleine Hand, die vertrauensselig nach seiner eigenen griff ... Er schloss diesen Gedanken weg, sperrte ihn tief in sich ein, in eine Truhe voller Erinnerungen, die zu gefährlich waren, um sie zu öffnen. Die Büchse der Pandora. Er stand auf und ging ins Bad. Es war ihm unangenehm, als er sich dabei ertappte, nach einer weiteren kleinen, weißen Dose Ausschau zu halten. Seine Finger zitterten nicht, als er die Schränke öffnete, was ihn beruhigte. Sie hätten doch zittern müssen, wenn er wirklich abhängig von diesen kleinen Dingern gewesen wäre. Aber Roland war diesmal gründlich gewesen. Nirgendwo waren Dosen und Schachteln zu sehen. Manchmal fragte er sich, wie es sich anfühlen würde, alle kleine Pillen und Tabletten zusammenzuschütten und auf einmal zu nehmen. Aber jedes Mal, wenn er diese Gedanken hatte, schien Roland es zu spüren, denn dann waren abends alle Schränke leer. Er trank ein Glas Wasser und ging zurück. Ihm fiel auf, dass sein Bett vollkommen unberührt aussah. Als hätte niemand darin geschlafen. Die Bettlaken waren kühl und glatt. Er hörte die Uhr auf seinem Nachttisch ticken und lauschte, wie es halb eins wurde ... eins ... halb zwei ... Er lag regungslos in der Dunkelheit und wartete auf den Schlaf. Vielleicht hatte Roland doch eine Dose übersehen. Er meinte, sich vage zu erinnern, dass eine in seinem Schrank gewesen war ... für Notfälle. An was für Notfälle er dabei gedacht hatte, fiel ihm nicht mehr ein. Er hatte sie selbst beinah vergessen, weil er ohnehin nie an seinen Kleiderschrank ging. Ein Zimmermädchen legte jeden morgen seine Kleidung auf das Bett. Wenn sie eine schlechte Wahl traf, konnte er sie immer noch feuern und eine neue einstellen. Der Boden war kühl unter seinen bloßen Füßen, als er hinüber zu dem riesigen Eichenschrank ging. Die Türen ließen sich weit öffnen und ein Meer von gleich aussehenden Mänteln und Anzügen erstreckte sich vor ihm. Vielleicht war seine Kleidung herauszusuchen doch keine allzu anspruchsvolle Aufgabe. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte an die Ablage zu kommen, welche sich so weit oben befand, dass er nicht hineinsehen konnte. Seine Finger fuhren blind über das Brett, ertasteten verstaubte Gegenstände, vor so langer Zeit dorthin gelegt, dass er sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, sie jemals besessen zu haben. Von der Staubschicht ausgehend, die sich über all dem niedergelassen hatte, schloss er, dass er nicht der Einzige war, der diesen Teil seines Schrankes vergessen hatte. Er beschloss das Zimmermädchen zu feuern. Seine Finger ertasteten etwas Kleines, Rundes, was sich verdächtig nach einer Dose anfühlte und er umschloss sie mit den Fingern. Etwas hakte an ihr und sein Zerren wurde nachdrücklicher. Etwas löste sich ruckartig und ein Schwung unidentifizierbarer Gegenstände, gefolgt von einer Wolke Staub, prasselte vor ihm zu Boden, dem er grade noch ausweichen konnte. Unbewegt starrte er auf sie hinab. Da war ein zerknautschter Teddybär, der irgendwann einmal Mokuba gehört hatte. Eine frühe, noch fehlerhafte Fassung seiner DuelDisk, die nie auf den Markt gekommen war. Postkarten aus Ägypten, vor einer Ewigkeit erhalten und nie beantwortet. Er hielt die kleine Dose in der Hand, nach der er gesucht hatte, und wollte sich abwenden. Eventuell würde er das Zimmermädchen doch erst feuern, nachdem sie die Unordnung beseitigt hatte. Doch etwas hielt ihn auf. Ein kleiner Streifen Mondlicht fiel in diese Ecke des Zimmers, genau auf die verstreuten Gegenstände, welche zu seinen Füßen lagen. Er streifte den kleinen Teddybär, der ihn aus einem heraushängenden Knopfauge anklagend ansah und die DuellDisk, auf der ,Prototyp 02' stand ... und landete auf einem Buch. Es war durch den Fall aufgeklappt, und seine dünnen Seiten waren zerknickt und wild auseinander geflattert, wie gebrochene Flügel. "Abschlussklasse ´98" stand da in großen, verschnörkelten Lettern. Und darunter, in etwas kleinerer Schrift: "Wir warten nicht auf das Leben - wir leben es!" Seto wusste nachträglich nicht mehr, wie lange er davor gestanden und auf diese Worte hinabgestarrt hatte. Aber als er sich hinunterbeugte, um das Buch hochzuheben, fühlte sein Körper sich steif und kalt an. Langsam ging er zurück zu seinem Bett und griff nach seiner Nachttischlampe. Warmes, gedämpftes Licht flutete sein Bett und ließ ihn schmerzhaft die Augen verziehen. Die kleine, weiße Dose wurde unbeachtet auf dem Nachttisch abgestellt. Wie mechanisch griffen seine Hände nach dem Buch und schlugen es auf. Bilder. Überall waren Bilder. Pseudointelligente Sprüche über das Leben, Witze von und über Lehrer, die damals nicht witzig gewesen waren und es heute erst Recht nicht mehr waren. Und überall ... Bilder. Schwarzweiß, und sie sahen so alt aus, als entstammten sie einem anderen Jahrhundert, obwohl es erst sieben Jahre her war. Anderseits entstammten sie sogar einem anderen Jahrtausend, erinnerte er sich. Je länger er sie betrachtete, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dieses Buch noch nie in der Hand gehabt, geschweige denn jemals hineingesehen zu haben. Wann hatte er es erhalten? Und von wem? Hatte er es bisher auch nur einmal aufgeschlagen? Mehr Bilder. Mehr Schüler. Alphabetisch geordnet. Jeder hatte eine Seite für sich, mit einem lächerlichen Bild darauf und einem belanglosen Text darunter. Die meisten Gesichter kannte er nicht einmal. Hatte sie entweder nie gekannt oder sie nur so schnell vergessen, dass sie ihm jetzt fremd vorkamen. Sogar die Gesichter der Lehrer waren seltsam unscharf und verschwommen, als er versuchte sich an sie zu erinnern. Er fing von mitten drin an, blätterte langsam durch und suchte nach irgendetwas, irgendjemand, der ihm bekannt vorkam. Mutou, Yugi. Riesige Kulleraugen und ein verlegenes Lächeln. Yugi sah aus, als fühle er sich höchst unwohl und sei von irgendjemandem gegen seinen Willen und mit Gewalt vor die Kamera gezerrt worden. Seine stacheligen Haare waren noch steifer gegelt als sonst. Vielleicht sein vergeblicher Versuch, ordentlich zu wirken. Wünsche für die Zukunft: Weiter tolle Duelle bestreiten (Sag mal, hast du nachher Zeit, Joey?), meine Freunde regelmäßig sehen, meinem Großvater helfen, den Laden zu führen, keine Psychopathen mehr treffen, die die Weltherrschaft an sich reißen wollen ... Gehst du mal mit mir aus, Tea? Seine Finger bewegten sich wie von allein, als er zurückblätterte. Gardener, Tea. Sie hatte ein schreckliches Kleid an, das auch auf dem schwarz-weißen Foto noch verdächtig rosa aussah und trug einen weißen Kragen. Sie lachte irgendjemandem zu, der offenbar schräg neben der Kamera gestanden hatte und sah aus, als wäre sie grade beim Reden gewesen, als das Foto gemacht worden war. Wünsche für die Zukunft: Viele nette Menschen kennen lernen, auf eine Tanzschule gehen, meine Freunde behalten, Röcke tragen können, ohne dass Tristan und Joey mir darunter gucken (das ist mein Ernst, Jungs!!!!), mit Yugi ausgehen (morgen Nachmittag, halb drei?). Die Seiten fühlten sich merkwürdig dünn und brüchig unter seinen Fingern an, so als würde das Buch jeden Moment auseinander fallen. Vermutlich lag es am billigen Papier, auf das es aus Kostengründen gedruckt worden war. Aus reinem Pflichtgefühl blätterte er zu K. Kaiba, Seto. Das Bild musste ohne sein Wissen gemacht worden sein. Es sah aus wie künstlich herangezoomt, als hätte sich jemand nicht getraut näher zu kommen. Im Hintergrund erkannte er das Grün des Schulhofes. Er hatte den Kopf gesenkt und seine Finger hämmerten auf seinem Laptop herum. Sonne fiel von der Seite auf sein Gesicht, tauchte die andere Seite in tiefe Schatten. Es war, als ob sich eine riesige Luftblase um ihn herum befand, denn in einem Radius von wenigstens zwei Metern um ihn herum lief kein anderer Schüler. Seine Augen lagen im Dunkeln, und es war ein scharfer, angespannter Zug um seinen Mund. Wünsche für die Zukunft: - Hobbys: - Alles in allem war es eine deprimierend leere Seite. Er erinnerte sich vage, dass ihm irgendjemand einen Zettel in die Hand gedrückt hatte und ihn gebeten hatte, ihn auszufüllen ... aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was er damit gemacht hatte. Sein Mund fühlte sich plötzlich trocken an, als er Anstalten machte, auf die letzte Seite umzuschlagen. Er hatte vieles vergessen ... aber sogar jetzt, nach sieben Jahren, wusste er noch, wer im Alphabet an letzter Stelle kam ... schon immer dort gekommen war, seit ihre Klasse existiert hatte. Andererseits ... war es doch wirklich gleichgültig. Vor allem jetzt. Es war nur ein lächerliches Foto von einem vertrauten Gesicht und einige belanglose Sätze. Nichts, was die plötzliche Anspannung in seinen Schultern erklären konnte. Wheeler, Joseph J. Helle Haare, verwuschelt und über das ganze Bild verteilt. Ein verplanter, verwirrter Gesichtsausdruck, als hätte ihn die Kamera vollkommen unvorbereitet erwischt. Riesige, überraschend dunkle Hundeaugen, die einen erstaunt anblickten. Ein geringeltes T-Shirt mit einem dünnen Pullover darunter. Er hatte ein paar Karten in der Hand und war offensichtlich grade mitten in ein Spiel vertieft gewesen, als man ihn fotografiert hatte. Joey Wheeler. "Du reicher Geldsack! Ich warne dich ...!" "So ist es richtig - knie nieder vor deinem Herren, Hündchen!" "Du kannst mich mal, Kaiba! Du ...Pflaume!" Der Inbegriff von Leben und Chaos. Der Inbegriff von allem, was er nicht war. Seto starrte das Bild an und versuchte sich Joey als Erwachsenen vorzustellen. In einem Businessanzug und ordentlichem Haarschnitt. Aber allein bei dem ordentlichen Haarschnitt scheiterte seine Vorstellungskraft. Vielleicht als Familienvater mit einem Haufen plärrender Bälger, die alle so aussahen wie er? Das funktionierte besser ... aber es verschaffte ihm eine Gänsehaut. Ein fünfundzwanzig jähriger Joey ... nein, noch vierundzwanzig. Erwachsen. Mit gemäßigtem Temperament. Mit Beruf und Familie? Niemals. Eher Dauerstudent, arbeitslos und ohne Plan und Ziel. Mal sehen ... was hatte er hingeschrieben unter Wünsche für die Zukunft ... Er hätte wetten können, dass Joey sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen hatte, einen Haufen unsinniges Zeug zu verkünden und die halbe Seite zuzuschwallen. So etwas wie ,bester Duellant aller Zeiten werden'. Aber was Joey hingeschrieben hatte, war nur ein einziger Satz. Setos Augen wurden weit, als er ihn las ... Wünsche für die Zukunft, stand da. Morgens aufwachen und feststellen, dass ich so glücklich bin, dass ich platzen könnte ... Seto hielt inne, runzelte unwillkürlich die Stirn und las ihn erneut. Und noch einmal. Reich und unabhängig zu sein, wären die Dinge, die er hingeschrieben hätte, wenn er sich die Zeit genommen hätte, diesen Zettel auszufüllen. Mächtig, vielleicht. Erfolgreich. Unbesiegbar. Aber glücklich? Reichte glücklich denn aus, um ... Um ja was ... um glücklich zu sein? Morgens aufwachen und feststellen, dass ich so glücklich bin, dass ich platzen könnte ... Seto versuchte sich an einen Morgen in seinem Leben zu erinnern, an dem er aufgewacht war und so glücklich gewesen war, dass er das Gefühl hatte, platzen zu müssen. An irgendeinen Moment ... einen Tag ... eine Stunde ...eine Sekunde ... Morgens aufwachen und feststellen ... dass ich so glücklich bin, dass ich platzen könnte ... Was für ein Wunsch für die Zukunft war das ... Er war so bar jeglicher Ambitionen, jeglicher Moral und jeglicher Anstrengung. Was hatte Joey Wheeler nur für eine grässliche Angewohntheit an sich, Dinge zu sagen, die einen verwirrten. Die man nicht erwartet hatte. "Hast du keinen Spaß an Duellen?" "Wieso nicht? Woran hast du überhaupt Spaß?" "Du Pflaume!" "Wir bestreiten hier immerhin ein echtes Spitzenduell ...! Genieß es doch einfach!" So durch und durch passend für jemanden wie Joey Wheeler. Wie seltsam, dass er sich von allen Dingen noch am deutlichsten an seine Stimme erinnern konnte ... Dieser Satz blieb hängen, bohrte sich in seine Brust und setzte irgendetwas in ihm in Gang. Glücklich zu sein ... kann doch nicht das Ziel des Lebens sein ... Wo bist du heute, Joey Wheeler? Was machst du grade und wer bist du geworden? Und ist das immer noch dein einziger Wunsch ... morgens aufzuwachen und so glücklich zu sein, dass du platzen möchtest ...? In einer plötzlichen Aufwallung von etwas ungewohnt Heftigem, das durch seinen Körper schoss, klappte Seto das Buch zu. Er fühlte sich seltsam, und ein schmerzhaftes Prickeln hatte sich in seinen tauben Gliedmaßen ausgebreitet. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass das leise, abgehackte Geräusch in seinem Zimmer sein eigener beschleunigter Atem war. Dieser Satz ... dieser Satz schien sein Leben zu brandmarken ... und alles, was er bisher getan hatte, als einziges Versagen abzustempeln ... Hastig schüttelte er den Kopf. Büchse der Pandora. Einmal geöffnet ... Er musste sein Zimmermädchen bitten, dieses Buch zu vernichten. Verbrennen. Es war nicht nötig, dass er es behielt. In keinster Weise. Glücklich zu sein ... was wusste dieser Bengel schon vom Leben ... Er ertappte sich dabei, dass er es anstarrte, als sei es eine giftige Schlange, die sich vor ihm zusammengerollt hatte. Bereit zu beißen, sollte er sich bewegen. "Abschlussklasse ´98" Ihm brach kalter Schweiß aus. Der Gedanke, sich einen erwachsenen, vernünftigen Joey Wheeler vorzustellen, hatte mit einem Mal nicht den geringsten Unterhaltungswert mehr. Vielleicht hatte Roland doch Recht, wenn er ihm vorhielt, dass er zu viele Tabletten nahm ... morgens, um wach zu werden, mittags um wach zu bleiben, nachmittags um ruhiger zu werden, abends um die hämmernden Kopfschmerzen zu beseitigen ... nachts um schlafen zu können ... sie betäubten ihn ... und das war gut ... Aber aufzuwachen und so glücklich zu sein, dass er platzen wollte ... das bewirkten sie nicht ... Erneut griff er nach dem dicken Buch und öffnet es. Seine Finger waren schon am Suchen und blättern, noch bevor sein Gehirn ihm verriet, was er da tat. "Adressen" stand dort in der ebenfalls verschnörkelten Schrift. Schön. Da stand sie also. Die Telefonnummer, unter der Joey Wheeler vor sieben Jahren erreichbar gewesen war. Wer würde sich jetzt melden? Und was spielte es für eine Rolle ... Die einzige Rolle, die es spielte, war zu wissen, ob Joey Wheeler immer noch jemand war, der nichts weiter wollte, als morgens aufzuwachen und glücklich zu sein ... Ob es irgendjemanden geben konnte, der wirklich so war ... Der kein verlogener Heuchler war ... dem es ernst war. Aber es hatte so ernst ausgesehen, in diesem Buch ... Ernst und unerwachsen. Als er schließlich gewählt und das Telefon an sein Ohr gepresst hatte, war es das erste Mal seit Jahren, dass sein Herz so lauthals klopfte, dass er es tatsächlich hören konnte. Es war so idiotisch. Was erwartete er überhaupt? Er verlor den Verstand. Nur wegen eines Satzes in einem verblichenen Klassenbuch jemanden anzurufen ... Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Joey überhaupt noch dort war ... Wie groß die Wahrscheinlichkeit, dass er sich nicht verändert hatte ... Was bedeutete die Antwort auf alle diese Fragen schon ... Das Freizeichen ertönte. Einmal ... ... zweimal ... ... dreimal ... Er atmete tief und quälend aus, bereit den Hörer wieder sinken zu lassen. Natürlich. Welcher Mensch bei klarem Verstand würde nachts um ... halb drei noch ans Telefon gehen. Wenn er Pech hatte, würde ihn irgendjemand wegen nächtlicher Ruhestörung anzeigen ... Es war überhaupt keine Möglichkeit, dass da immer noch ... "Woah ... ich hoffe, das ist jetzt wirklich, wirklich wichtig ...!" Seine Augen schnellten auf. Zu seiner Überraschung spürte Seto, wie ein Ruck durch seinen Körper ging, als hätte ihm grade jemand einen Elektroschock versetzt. "Hallo ...?" Er hielt die Luft an, unfähig, auch nur einen Laut von sich zu geben. Es war erschreckend, wie vertraut einem diese Stimme nach all den Jahren noch war. Immer noch hell und kein bisschen erwachsen und mit einem eindeutig angepissten Tonfall. Wie gut man sich das passende Gesicht unter einem wilden, blonden Haarschopf vorstellen konnte ... "Tristan ... wenn das schon wieder so ein Scherz ist, bringe ich dich um! Ich bin grade aus dem Bett gefallen, auf der Suche nach dem verdammten Telefon ...!" Laken raschelten, und dann quietschten ein paar Sprungfedern nachdrücklich, als sich offenbar jemand gnadenlos zurück auf das Bett hatte fallen lassen. "Hast du eine Ahnung, wie spät es ist ...? Falls du es nicht weißt, es ist ... Moment ... zwanzig vor drei!! Oh fuck! Ich hoffe, du hast eine verdammt gute Ausrede!" Seto schloss die Augen und lauschte. Selbst wenn ihm irgendetwas eingefallen wäre, was er hätte sagen können ... seine Kehle war so zugeschnürt, dass er sicher war, keinen Ton herauszubringen, sollte er es versuchen. Er fühlte sich wie in einem surrealen Traum gefangen und gleichzeitig war dies der wachste Moment seit langer Zeit. "Öh, Tris ...?" Joey klang unsicher. "Bist du das? Hallo?" Seine Augen fühlten sich trocken und viel zu heiß an und er hatte das Gefühl, sie viel zu lange nicht mehr geschlossen zu haben. Er bemühte sich so leise zu atmen, dass man es nicht hörte. Nur sein Herz, welches gegen seine Rippen hämmerte, so schnell und so hart, dass es schmerzte, konnte er nicht unterdrücken. Er hatte keine Ahnung, wo diese Schmerzen auf einmal herkamen ... er hatte jahrelang keine Schmerzen mehr gehabt ... Er hatte jahrelang überhaupt nichts empfunden. "Sie wollen mir doch keine Versicherung verkaufen, oder? Weil, ich brauche nämliche keine mehr - ich habe erst letztes Jahr eine abgeschlossen!" Kurz wurde inne gehalten. "Okay, das war gelogen - ich bin eigentlich immer noch nicht versichert, aber ... ähm ... ach, das geht sie sowieso nichts an!" Ganze dreieinhalb Sekunden war es still in der Leitung und nur das Rascheln war zu hören, als Joey sich offenbar in seine Bettdecke kuschelte. "Yugi?" fragte er vorsichtig. "Bist du das? Sind vielleicht Einbrecher in deinem Haus und du kannst nicht laut reden?" Es klang eindeutig besorgt. "Warte, mir fällt schon was ein!! Sag jetzt nichts - kratz einfach einmal über den Hörer für ,Ja' und zweimal für ,Nein', okay? Yugi - sind Einbrecher in deinem Haus und du brauchst dringend Hilfe?" Es war beinah schmerzhaft, als Seto spürte, wie seine Mundwinkel sich gegen seinen Willen auseinander zogen. Joey klang genauso wie früher. Laut. Verplant, verpeilt, verblödet. Ein wenig rau und mit einem wunderschönen, warmen Timbre in der Stimme, wenn er so schläfrig war ... Und es tat so unglaublich weh, dass es ihn ersticken wollte ... "Okaaaaay ... mir gehen grade die Ideen aus", stellte er fest. "Tea? Serenity? Eine heimliche Verehrerin? Hey, habe ich eine heimliche Verehrerin? Nein, Moment!" Mit einem Mal klang Joey, als hätte er ganz plötzlich eine Erleuchtung gehabt. "Sind sie ein Perverser?" Selbst wenn er noch Zweifel an der Identität des Sprechers gehabt hätte, wären sie spätestens jetzt verschwunden gewesen. Seto fühlte sich nach Lachen und Weinen zugleich. Unerwartet hatte er plötzlich einen metallischen Geschmack im Mund, von einem wilden Gefühl, dass in ihm hochstieg und nach oben wollte ... Es war ein Fehler gewesen ... ein Fehler ihn anzurufen ... seine vor Lebendigkeit vibrierende Stimme zu hören ... "Also, wenn sie ein Perverser sind, sind sie der mieseste Perverse, der mir je untergekommen ist!" grummelte Joey. "Boah, um drei Uhr morgens anrufen und es dann nicht mal richtig draufhaben! Ich will sie ja nicht schockieren, aber sie machen einiges falsch! Sie müssen in den Hörer stöhnen, okay? Nicht schweigen - sie müssen stöhnen und schmutzige Sachen sagen. Sonst zählt das nicht als perverser Anruf! Tun sie mir den Gefallen und stöhnen sie wenigstens einmal ins Telefon, damit ich endlich weiß, wer dran ist!" Es gab so unendlich viele Dinge, die er in diesem Augenblick sagen wollte ... Und kein einziger Laut kam über seine Lippen. Joey, ich hatte Spaß, wenn wir uns duelliert haben. Ich habe nur bis heute nicht gewusst, wie viel. Joey, ich bin heute Morgen fünfundzwanzig geworden und ich weiß immer noch nicht, wie es sich anfühlt, wenn man aufwacht und so glücklich ist, dass man das Gefühl hat, platzen zu müssen ... Joey, ich habe das Gefühl, du bist der Einzige, der mir diese Fragen beantworten kann ... Aber Seto sagte nichts von alledem. "Also, kein Perverser ...?" Es klang beinah enttäuscht. "Oh man, das ist gemein ... ich weiß, dass jemand dran ist! Ich kann dich doch atmen hör-..." Abrupt hielt er inne. Ewiglange Sekunden lang war es ganz still auf der anderen Seite. Seto konnte seinen eigenen Atem hören, der flach und unregelmäßig ging ... und Joeys Atem auf der anderen Seite, der so plötzlich wieder anfing, als hätte er grade die Luft angehalten. "Kaiba ...?" sagte er leise und mit einem kaum wahrnehmbaren Wackeln in der Stimme, so dass Seto sich nicht sicher war, ob er es wirklich gehört hatte. "Bist du das ...?" Sein Herz raste mit der Wucht eines Güterzuges gegen seine Rippen, und er fühlte sich einen Moment lang wie betäubt. Unfähig etwas zu sagen und gleichzeitig nicht in der Lage einfach aufzulegen, öffnete er die Augen. Joey lachte nervös. "Ich spinne ... okay, jetzt ist es offiziell, Schlafentzug tut mir nicht gut ... Ich hätte vielleicht diese Pepperonipizza nicht mehr essen sollen ..." Erneut war er still ... und nur sein Atem in der Leitung ... lauschend ... wartend ... "Du bist es ... nicht wahr ...?" Es klang zögernd und diesmal war ein deutliches Hicksen in der Stimme. "Kaiba ... wenn du es bist, dann ...nein, warte - leg auf, wenn du es nicht bist ... und bleib dran, wenn du es bist ... ich meine ... bleib einfach dran und mach nichts, wenn du es bist ..." Atemlose Stille. Er hätte sich nicht bewegen können ... nicht einmal, wenn er gewollt hätte. Als Joey ausatmete, klang es wie ein langes, tiefes Seufzen. "Heilige Scheiße. Weißt du, ich habe schon mal darüber nachgedacht, dich anzurufen ... ich meine, erst neulich wieder ... aber nachdem du so lange im Ausland warst ... und ich habe sowieso gedacht, dass du mich nicht hören willst und ..." Da war eine plötzliche Feuchtigkeit auf seinem Gesicht, die Seto sich nicht erklären konnte. "Ich habe dich neulich im Fernsehen gesehen ... das ist ja echt selten geworden in den letzten zwei Jahren ... ich habe mich schon gefragt, was du die ganze Zeit getrieben hast..." Er unterbrach sich selbst. "Ist ja ... ist ja nicht so wichtig ..." Seto lauschte seinem gleichmäßigen Atem und seiner Stimme, und das schmerzhafte Gefühl in seiner Brust schien ihn ersticken zu wollen. Es war, als ob ein riesiger, eisiger Klumpen sich urplötzlich aufgelöst hätte und mit dem schmelzenden Eis alles überschwemmte. Die Antwort auf alle seine Fragen ... "Du darfst auch gerne was sagen ... wenn du willst, meine ich ...aber nenn mich nicht Köter, okay?! Kaiba ...?" Seine Stimme war ungewohnt leise. "Sag was ...bitte. Du rufst doch sicher nicht um drei Uhr morgens bei mir an, nur um mich jetzt anzuschweigen, oder ...?" "Weißt du ... Köter wäre möglicherweise auch okay ...", fügte er nach kurzem Überlegen hinzu. "Also, wenn du ausgerechnet das sagen möchtest ...was anderes wäre natürlich besser ... aber es wäre schon okay ... einmal zumindest ... Kaiba ...?" "Joey ...?" Sein Schlucken war so laut, dass man es sogar über die Leitung hören konnte. "... ja?" Da war nur eine einzige Sache, die Seto wissen wollte ... eine einzige Sache, die er wissen musste ... weil er wissen musste, was ihm fehlte ... und als er sie aussprach, fühlte sich seine Stimme an, wie die eines Fremden. Und als er es sagte, wusste er plötzlich, was die Feuchtigkeit auf seinen Wangen war. "Wachst du manchmal morgens auf und bist so glücklich, dass du platzen möchtest ...?" ~ Through the storm we reach the shore You give it all but I want more And I'm waiting for you My hands are tied My body bruised, he's got me with Nothing to win and Nothing left to lose And you give yourself away And you give yourself away ~ (Scala: "With or Without you" (Original von U2)) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)