Prolog
Mitunter ist das Glück blind: Es verteilt an die, die bereits besitzen und geht an den Armen vorüber wie ein hartherziger alter Mann.
Sie war einsam, so viel stand fest. Wie sonst war es möglich, dass sie sich an derart banalen Dingen wie einer Libelle maßlos freuen konnte? Doch zugegeben hätte sie es nie. Sie konnte im Kopf ihre Mutter klagen hören: ;Du solltest dir einen Mann suchen, mit 24 ist es noch nicht zu spät dafür, das ist das einzige, was dich noch retten könnte und so weiter und so fort. Sie wusste, dass letztendlich doch nur die Einsamkeit bleiben würde, sie würde allein sein und niemanden würde es kümmern…
Sie ging die verschneiten Straßen entlang und betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern. Sie trug einen schwarzen Dufflecoat, ihr Lieblingsmantel, und dazu einen karierten Schal, mit dem sie den Mund bedeckte.
Die Menschen waren alle in eine gefühlsduselige, weihnachtliche Stimmung verfallen. Es fiel ihr so wahnsinnig schwer, den Leuten ihre Illusionen zu nehmen… Diese heile Welt in der sie alle lebten, die sie so gern hassen, in der sie aber auch so gern leben würde; es war alles vergänglich, nur das wusste sie.
Ihre Seele – wund vom stillen Schreien – wand sich, wollte heraus, allem entkommen, um mit ihr glücklich zu sein. Sie ließ sie nicht schlafen und sprach zu ihr in einer Sprache, die sie nicht kannte. Ihre Zukunft lag in den Worten, das war ihr bereits bekannt, aber welchen Tatsachen auf dieser Welt, die nicht die ihre war, konnte sie schon Glauben schenken?
Welche Wahrheit war die ihre?
Sie war schön, eine Frau, nach der sich die Männer umgedreht hätten, wenn ihre großen dunklen Augen einmal herausfordernd gelächelt hätten. Aber so war sie eine unter vielen Frauen, die an diesem 20. Dezember den Weg zum „Konsumtempel“ Daimaru passierten. Inzwischen hinterließ dieser Ort keinen Narben mehr in ihrem Inneren, da die Erinnerung an ihn nie wirklich in ihr gewesen war. Sie hatte den langen Weg (es war immerhin eine Strecke von 4, 5 km) von Ueno bis Marunouchi nicht mit der U – Bahn, sondern zu Fuß zurückgelegt, weshalb sie nicht die für ihr Alter passenden, modischen, hochhakigen Schuhe trug. Stattdessen hatte sie formlose, aber stilvolle blaue Ballerinas angezogen. Das lange schwarze, etwas gelockte Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden und mit einer weißen Schleife geschmückt. Alles in allem sah sie wie jemand aus, der mit wenig Geld viel aus sich machen konnte.
Erst beim näheren Hinsehen erkannte man den ansehnlichen schwarz – weißen Hund, der sie begleitete. Es war ein Border Collie, ein gut gepflegtes, wohlerzogenes Tier. Er schien seiner Herrin treu ergeben zu sein und doch verstand er es, sich im richtigen Augenblick rar zu machen. Er wich ihr nicht von der Seite, schien eine Aufgabe zu verfolgen und stand nur, wenn sie auch stehen blieb. Der Schnee, auf dem sie lief, war schmutzig. In der Stadt Sabaji, nahe Osaka, wo sie aufgewachsen war, hatte die „weiße Pracht“ auch immer so ausgesehen, wie man es sich vorstellte und erwartete. Doch hier in Tokyo war er bereits dreckig, wenn er vom Himmel fiel. Ihr hatte es für ihn immer Leid getan, da eine Schneeballschlacht so eher in einer „Matschschlacht“ endete.
Sie war auf der Suche nach einem Geschenk. Es würde nicht einfach werden, denn sie stellte hohe Ansprüche daran. Es musste für ihn etwas ganz Besonderes sein. Als sie ihre Schritte in das Daimaru lenkte, schlug ihr die heiße Klimaanlagenluft, die sie so verabscheute, entgegen und aus den Beschallungsanlagen erklang das grässliche Englisch einer quietschenden Chinesin, die versuchte, „O joyful children“ zu singen. Sie fuhr mit der Rolltreppe in den dritten Stock, zur Kinderabteilung. Sie schätzte, untersuchte, wog ab, ließ sich beraten, nahm in die Hand, stellte wieder weg, kurzum, sie war nicht zufrieden zu stellen. Die Verkäuferin zeigte ihr diverse Spielsachen einschlägiger Marken und fragte, ob sie das eben gezeigte Objekt in blaues oder rosafarbenes Geschenkpapier einschlagen sollte, was die Kundin stets verneinte. Sie kaufte schließlich nichts und verließ erschöpft die Kinderabteilung. Das Kaufhaus zu verlassen, war wie eine Befreiung und sie streichelte den Hund, ehe sie sich wieder in Bewegung setzte.
Das Tier stupste sie ans Knie und sie bog in eine Nebenstraße ein, damit es der Natur Folgeleisten konnte. Ihr Blick fiel auf die Schaufenster eines kleinen, schmutzigen Geschäfts, in dem sie ihren Favoriten entdeckte. Sie ging in den Laden und kaufte, ohne zu Zögern, einen kleinen Stoffhund. Es war der Titelheld der Serie „Ohayô, Spank!“, die er so liebte. Jeden Abend um 7 lief die Sendung auf Kanal rekishi – jo, einem Sender, der ausschließlich Filme und Serien aus den 70er und 80er Jahren ausstrahlte. Spank, die kleine Promenadenmischung, hatte es ihm angetan. Er wollte unbedingt auch so einen süßen knuddligen Hund haben, wie Spank einer war. Er würde ihm sicher gefallen. Am Heiligen Abend würde sie ihm das Stofftier geben. Bis dahin würde sie ihn noch schön einpacken.
Sicherlich würde Spank Yaitos Grab gut schmücken.
Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Männer und Frauen bloß Spieler…
Kyoko war ganz in Gedanken versunken, aber jetzt schaute sie auf und betrachtete ihren Irish Coffee, der sich in der Zwischenzeit zu einer undefinierbaren Brühe entwickelt hatte. Nami Yagumo, die Kellnerin des Cafes „Reigi“ und Freundin der jungen Frau, schaute sie besorgt an. „Geht’s dir heute wirklich gut? Du siehst so unendlich müde aus.“ „Es ist nichts, wirklich. Ich bin nur gerade ein wenig in meinen Gedanken spazieren gegangen. Oh, nein, Chess!“ Der Border Collie blickte sie verstört an. Er hatte, ohne dass sie es gemerkt hatte, den Beutel mit „Mr. Wakicho’s BEST COOKIES ever“ aus ihrer Tasche gezogen und war jetzt dabei, die Schokoladenkekse zu zerdrücken, um sie anschließend zu fressen. Kyoko schalt den Hund und versuchte, die zerrissene Tüte wieder einzupacken, doch Nami, in ihrer Kellnerinnenmanier, holte sofort Besen und Kehrschaufel, um damit die Krümel zu beseitigen. Binnen weniger Sekunden war nichts mehr zu sehen und Kyoko entschuldigte sich überschwänglich dafür.
„Willst du nicht doch an Weihnachten zu uns kommen? Es tut mir in der Seele weh, wenn ich daran denke, wie du ganz allein in dem großen Haus hockst und niemanden zum Feiern hast. Es macht mir und Konji nichts aus, absolut nicht, und die Kinder freuen sich immer, wenn du kommst. Sie sagen, dass du die beste Kindergartentante der Welt wärst und wenn es ginge, würden sie den ganzen Tag bei dir bleiben.“ „Vielen Dank, aber Weihnachten ist doch das Fest der Familie, das solltest du mit deiner eigenen verbringen, und dir nicht noch Gäste einladen. Ich kann doch auch an Neujahr kommen, ist das denn nichts?“ Nami nickte stumm und wandte sich wieder den schmutzigen Tellern zu. Sie wusste ja, dass Kyo – chan nicht kommen würde, sie war nie gekommen, wenn Konji und die Kinder dabei waren. Warum hatte sie überhaupt gefragt, obwohl sie die Antwort doch kannte?
Kyoko machte sich fertig, sie wollte gehen. Es war nicht weit bis zu dem Haus in Ueno, in dem sie wohnte. Nach Yaitos Tod hatte sie es sich gekauft, die letzten Raten musste sie noch bezahlen, dann gehörte es wirklich ihr.
Sie ging die einsame Straße entlang, Chess schnupperte hier und da, als würde er etwas suchen. Als sie die Gartenpforte aufsperrte, schoss er hinein und blieb bellend und schwanzwedelnd an der Haustür stehen. Sie öffnete die Tür und ein Geruch drang ihr in die Nase: Pfefferkuchen.
Unweigerlich kam das Bild Ekichis in ihrem Unterbewusstsein heraufgekrochen und knebelte ihre Seele. Er hatte immer danach gerochen, selbst dann noch, als er zu ihr gesagt hatte, sie solle sich wie eine Lolita benehmen und das vor der Kamera verdeutlichen, damit er es aufnehmen konnte. Erst spät hatte sie begriffen, dass er Filme mit ihr in der Hauptrolle gedreht und anschließend erfolgreich vermarktet hatte. Filme mit einem 16jährigen Mädchen.
Aus Scham und Angst, sie würde auf der Straße einem Mann, der das Video gesehen und es für bare Münze gehalten hatte, begegnen, war sie nach Marunouchi in ein billiges 27 Quadratmeter - Appartement gezogen. In diesem Teil Tokyos hatte sie fünf Jahre lang gelebt und nun war sie hier, in Ueno. Würde sie eine dieser rastlosen Reisenden werden, die nirgendwo länger als ein paar Jahre bleiben konnten, weil das Schicksal das von ihnen verlangte? Nein, sie würde hier bleiben, von jetzt an für immer.
Woher kam der Geruch? Sie hängte ihren Dufflecoat an die Garderobe im Flur und schlüpfte in ihre Pantoffeln, um anschließend dem Geruch nachzugehen. Er kam aus der Küche. Sie hatte versehentlich das Fenster offen gelassen, es hatte ein wenig hineingeschneit und auf dem Tisch standen frische Pfefferkuchen. Der Hund hatte Kopf und Pfoten auf den Tisch gelegt und schnupperte eifrig daran. Vermutlich hatte sie ihre Nachbarin, Frau Namamoto, dort hingestellt, um ihr eine Freude zu machen. Die Kuchen waren in „Doraemon“ – Form, jener blauen Roboterkatze, die alle Kinder so liebten. Frau Namamoto hatte zwei kleine Töchter, Akiko und Minami. Manchmal passte Kyoko auf sie auf, denn ihre Mutter arbeitete im 3 – Schicht – System im Krankenhaus des Stadtbezirks.
Sie war unschlüssig, ob sie die Pfefferkuchen essen, dem Hund geben oder lieber wegwerfen sollte. Nach einigem Überlegen stopfte sie das erste Doraemon in den Mund und biss ihm den Kopf ab. Es fühlte sich an, als hätte sie gerade Ekichi den Schädel abgebissen. Sie schluckte. Hatte sie nicht geschworen, nie wieder an diesen Typen zu denken? Das Leben, das sie führte, war ja schließlich sein Verdienst, aber ihn schien es nicht zu kümmern.
Kyoko sah zur Uhr über dem Kühlschrank, es war kurz vor 19 Uhr. Da fiel ihr Spank in ihrer Tasche wieder ein. Sie machte im Vorbeigehen den Fernseher an und befreite das Stofftier aus seinem Gefängnis. Sie zappte durch dir Kanäle und blieb schließlich bei rekishi – jo hängen, wo gerade das Wetter durchgegeben wurde und am unteren Bildrand bereits der Countdown für den Start von „Ohayô, Spank!“ durchlief. Als die Melodie schließlich ertönte, hob Chess träge den Kopf. „Jeden Abend dasselbe Ritual!“, schien er zu denken. Sein Frauchen öffnete ihre Schleife und das schwarze Haar fiel in einer Welle nach unten, bis es sich am Ende des Schulterblattes zur Gänze entrollt hatte. Für 25 Minuten war Kyoko Otori nicht mehr ansprechbar. Sie starrte auf das Fernsehbild, auf dem der kleine Zeichentrick - Hund gerade eine Karaoke – Nummer durchzog, um seine Freundin Anna wieder fröhlich zu stimmen. Nach Ende der Folge war der Spuk vorbei. Die junge Frau erwachte wie aus Trance und lächelte ihren Hund an. Sie holte aus der Küche Reis aus dem Kocher, obwohl sie diesen bereits am späten Vormittag zubereitet hatte. Jetzt war er klebrig und so hart, dass man jemanden damit hätte erschlagen können. Sie gab etwas davon in eine Schale und setzte heißes Wasser für Tee auf.
Es gab nicht mehr viel zu tun, sie würde bald ins Bett gehen.
Kyoko liebte ihr herrliches europäisches Bett. Sie hatte von Kindheit an Probleme mit dem Nacken gehabt und da waren die tatami ihrer Gesundheit nicht gerade zuträglich gewesen. Das Bett war herrlich weich, man konnte wunderbar darin schlafen. In letzter Zeit jedoch war sie nachts oft wach gelegen. Über irgendetwas dachte sie nach, aber sie wusste selbst nicht genau, was es war. Und wenn sie schlief, kamen die Träume, Schmetterlingen gleich, die sich in ihr Bewusstsein setzten und nicht mehr zu verscheuchen waren. Sie glaubte fast, den Schmetterlingen Namen geben zu müssen, denn jeder brachte nur einen Traum, der mehr einer Erinnerung als einem Wunsch glich.
Vergiss mein nicht...
Megumi Hatsubishi stieß man besser nicht vor den Kopf. Sie war eine aufbrausende Persönlichkeit, die jedoch mit einem schwachen Charakter ausgestattet war. Sie war 28, verheiratet und hatte zwei süße Kinder. Sie war der ganze Stolz ihrer Eltern. Bis sie geheiratet hatte, arbeitete sie in der Modelbranche, hatte aber zuvor eine Ausbildung zur Damenschneiderin gemacht. Gerade war Megumi auf dem Weg zu ihrer ehemaligen Meisterin, Kawashi - san. Dazu war sie nach Shibuya gekommen. Sie schob sich mit einigen Einkaufstüten durch die Menschenmassen, während die Kinder, Taku und Narumi, um sie herum wuselten.
Sie fiel auf, provozierte gerne und genoss die Reaktionen. Sie trug einen Minirock, jeder konnte ihre Unterwäsche sehen, wenn es jemand gewollt hätte. Es war schon etwas ungewöhnlich, eine junge Mutter in derart aufreizenden Sachen zu sehen, aber was war in Shibuya schon nicht möglich?!
Sie verstand es, sich vor ihren Eltern herauszuputzen und die hörige Tochter zu spielen. Sie nutzte es schamlos aus, dass ihre Schwester diese fragwürdige Gabe nicht besaß und strapazierte das ohnehin schon angespannte Verhältnis der Eltern zu ihrer jüngeren Tochter. Zwar hatte diese eine wesentlich „rentablere“ Ausbildung, nämlich die einer Reisekauffrau gemacht, aber sie war von ihren Eltern immer weniger geschätzt worden. Das hatte man sie auch allezeit spüren lassen. Das Gefühl des „Nicht – Willkommen - seins“ bekam die Jüngere von Geburt an mit.
Tamiko Otori war ungewollt ein weiteres Mal schwanger geworden. Sie hatte sich mit ihrer Erstgeborenen, Megumi, begnügt und hegte die „kleine Sonne“ der Familie. Sie spielte die Rolle der fürsorglichen Schwiegertochter perfekt, ihr Herz jedoch war voll Abscheu für die Familie des Mannes, den sie um des guten Rufes willen (da ein Kind unterwegs war) geheiratet hatte. Für ein einmaliges Erlebnis unter Alkoholeinfluss hatte sie ihn über sich gelassen und jetzt war sie ihr gesamtes Leben an diesen trotteligen, spielsüchtigen Kerl gekettet. Tamikos Verwandtschaft hatte ernste Bedenken wegen der vermutlich peinlichen Lage der beiden Unverheirateten gehabt und so ließen sie sie schnellstens trauen. Doch jeder im Ort wusste, „was für eine“ die junge Frau war. Tamiko hasste dieses Leben als so genannte „Matratze von Sabaji“. Jeder schien ihre Geschichte zu kennen, weshalb sie Megumi immer besonders ausstaffierte und ihr schöne, niedliche Kleidchen anzog, damit sie ja das süßeste aller kleinen Kinder werden sollte. Sie investierte viel Zeit darin und dachte kaum mehr über andere Männer nach. Die erneute Schwangerschaft war ihrer Mutter ein Dorn im Auge gewesen und sie hatte Tamiko fortan das Leben zur Hölle gemacht. Sie selbst begann, das Baby abzulehnen. Und auch zwischen Tetsuya Otori und dem Kleinen gab es keine Bindung. Für ihn war eine weitere Tochter ein nutzloser Fresser. Um ihren despotischen Willen zu demonstrieren, hatte Tamiko ihre Tochter – wenn es wenigstens noch ein Junge gewesen wäre! – Kyoko genannt. Geschrieben mit dem Zeichen für ‚starker, unbeugsamer Wille’.
Megumi war nicht dumm. Sie hatte die Diskrepanzen zwischen oka –san und o – baba trotz ihrer vier Jahre mitbekommen und nutzte dies nun gewinnbringend für sich. Kaum war Kyoko eine ernst zu nehmende Konkurrentin für sie geworden – denn sie trug die süßen Kleidchen auf – begann sie, ihre Schwester nur noch mit „Kyo“ und o-nii-chan, also typischen Merkmalen für einen Jungen, anzureden. „Ko“ war eine Silbe, die gern an den Namen von Mädchen angefügt wurde, um die Weiblichkeit noch zu verdeutlichen (wenn sie manchmal nicht allzu offensichtlich war). So gab es zum Beispiel Kayako oder Ikuko. Kyo jedoch war ein eindeutiger Jungenname, wobei ihm das „Ko“ eine ganz andere Bedeutung verlieh. Megumis „Gehirnwäsche“ schlug ein wie eine Bombe: Aus Kyoko wurde langsam aber sicher wirklich ein Kyo, ein kleiner Junge, der sich von allem Leben zurückzog, ein Einzelkämpfer wurde und fest davon überzeugt war, dass seine Eltern ihn adoptiert hatten, weil sie sich mit ihm ständig stritten und Megumi auf Händen trugen.
Tamiko verachtete ihre Tochter, doch den Grund konnte sich niemand erklären. Vielleicht weil Kyo – chan ihr selbst so ähnlich war? Stur, verstockt, widerspenstig? Nein, sagte sie sich, das war undenkbar! Ein derart ungehöriges Kind konnte doch nur nach dem nichtsnutzigen Vater geraten sein! Die Mutter war verzweifelt, zumindest schien es ihr so. Sie zog sich in sich zurück und lebte die Lethargie, die sich eine verheiratete Frau nicht leisten kann. Kyoko aber machte, was sie wollte: Mit sechs Jahren war sie zum Friseur gegangen und hatte die langen Haare zum praktischen Bob kürzen lassen. Schließlich waren die Zöpfe beim Spielen mehr als hinderlich gewesen. Zufrieden war die Kleine nach Hause getrabt. An die schallende Ohrfeige ihrer Mutter hatte sie lange denken müssen. Diese undankbare Göre! Wer sollte denn jetzt die Kleider auftragen? Mit dieser unmöglichen Frisur war das ja wohl kaum machbar! So hatte die Mutter gewettert. Kyoko aber hatte sich das alles stillschweigend angehört, sie stand über den Dingen.
In der Mittelstufe und Oberstufe schließlich änderte sich das Bild: Kyoko war schön, ebenso wie Megumi, doch sie sah gesünder aus als diese. Die Jungs pfiffen den Otori – Schwestern nach, doch während Megumi sich sichtlich geschmeichelt fühlte, steckte Kyoko ihnen die Zunge raus oder pfiff zurück. „Die verkommt noch genauso wie ihre Mutter“, sagten die Nachbarn. Kyoko wollte es allen beweisen, am meisten aber der Frau ihres Vaters. Das Wort „Mutter“ war ihr schon lange nicht mehr über die Lippen gekommen. Wenn sie daheim war, was selten genug vorkam, sprach sie diese mit ‚Oka – san’ an, was ihrer Mutter in gewisser Art und Weise gefiel, denn es zollte ihr Respekt, dieses sonst so undankbare Kind. Im Gegensatz dazu nannte Megumi sie immer „Mama“, auch jetzt noch. Ja, Kyoko Otori war die Jahrgangsbeste bis zur 1. Klasse der Oberstufe, spielte hervorragend Saxofon und gewann damit Preise.
Aber dann hatte sie diesen Jungen aus der Klasse über ihr kennen gelernt und bald hatte sie vor lauter Liebe alles sein lassen. So schien es zumindest. Insgeheim hatte Kyoko jedoch resigniert: Es war sinnlos, ihren Eltern etwas beweisen zu wollen, sie nahmen es sowieso als selbstverständlich hin. Schließlich war sie die Jüngere, die ihrer erfolgreichen Schwester nacheiferte, was war daran schon unnatürlich? So dachte Megumi sich ihre Welt. Sie hatte ihre Schwester nie verstanden, selbst der Versuch war eine mühselige Arbeit. Niemand konnte Kyoko verstehen, wahrscheinlich nicht einmal sie selbst. Vielleicht der Junge? Ob sie noch mit ihm zusammen war?
Was Megumi nicht wusste, was sie auch nicht interessierte, waren Kyokos Gedanken in dieser Zeit gewesen: Durch die Schätzung, die sie bei ihrem Freund erfuhr, erkannte sie, dass es nie eine Möglichkeit geben würde, ihre Eltern zu befriedigen. Jetzt war sie der festen Überzeugung, dass nur er sie wirklich lieben konnte...
Chess stellte die Ohren auf, er hob den Kopf und schaute zur Haustür. Kyoko war gerade damit beschäftigt, das Geschirr zu spülen, da sie heute Abend Nami eingeladen hatte. „Was hast du, Chess? Kommt jemand, den du nicht kennst?“ Der Hund knurrte und einen Augenblick später läutete es am Gartentor. „Wer kann das denn sein? Für Nami ist es noch zu früh.“ Sie ging zunächst zum Fenster, um in den Garten zu spähen und erschrak fürchterlich, als sie ihre ältere Schwester erblickte.
Es läutete noch einmal, dann ein weiteres Mal. Kyoko wusste nicht, was sie tun sollte und so drückte sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund den Türöffner und zwei kleine Kinder kamen den Weg hoch gestürmt, während ihre Schwester sich mit Einkaufstüten und Stöckelschuhen auf dem Kiesweg schwer tat. Wie angewurzelt stand Kyo – chan in der Tür, sie war unfähig, auch nur ein einziges Wort über die Lippen zu bringen. Die Kinder warteten gehorsam an der Tür auf ihre Mutter und musterten die Frau mit dem Spülschaum an den Händen, als sie den Hund erblickten, der langsam den Flur entlang getrottet kam. Das kleine Mädchen rief: „Oh, ein Hund! Darf ich ihn streicheln, Tante?“ Kyoko konnte nur ‚ja’ sagen, dann liefen der Junge und das Mädchen zu Chess und griffen mit ihren Patschhändchen in sein Wuschelfell. Chess knurrte, doch als seine Herrin sagte, das alles in Ordnung sei, lies er sich auf den Bauch fallen und genussvoll von den Kindern kraulen. Inzwischen hatte auch Megumi die Haustür erreicht, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte auf ihre jüngere Schwester, die sie zwar um einen halben Kopf überragte, aber in ihrer eigenen Hierarchie auf der untersten Stufe stand: im Leben nichts erreicht, keinen Mann, einen unsicheren Beruf – verschwendete Jahre. „Ist das die Art, wie man seine ältere Schwester nach vielen Jahren begrüßt? Mit Schaum an den Händen und im Hausfrauendress? Du könntest mir ruhig mit den Sachen helfen.“ Kyoko hatte die Fassung wieder, in ihrem Kopf pulsierten die feinsten Äderchen vor Zorn. Kalt gab sie zurück: „Ich bin es nicht gewohnt, mein Geschirr ohne Spülmittel oder im Abendkleid abzuwaschen, Megumi. Und außerdem werde ich nicht sehr gerne von Leuten überrascht, die sich dafür ausgeben, meine Schwester zu sein, aber von Familiensinn genauso wenig verstehen, wie mein Hund vom Motorrad fahren.“ Mit den Tüten war Megumi eindeutig im Vorteil – sie schob sich einfach in den Flur und schon hatte sie sich unerlaubterweise Zutritt verschafft. „Du hast dich nicht verändert. Du kannst die Vergangenheit nicht ruhen lassen und machst allen Leuten Vorwürfe, wie schlecht deine Kindheit doch war und dass du nichts auf die Reihe gekriegt hast in all den Jahren.“ ‚Sie tut es immer noch’, dachte Kyoko, ‚ sie meint, alles sei nur eine Lappalie, es gäbe keine Verfeindung zwischen ihr und mir und dass ich ganz allein daran schuld bin, dass unsere Eltern mich aus dem Testament entfernt haben.’ Eine unsagbare Wut packte sie, doch ihr Kopf sagte ihr, dass man vor Kindern keinen Streit austragen durfte, sie würden es falsch interpretieren. Außerdem würde Chess sofort reagieren und Megumi vielleicht angreifen, das durfte nicht riskiert werden, auch wenn es wünschenswert war. Ihre Schwester hatte währenddessen die Flurgarderobe in Beschlag genommen und sich großzügig mit den Klamotten ihrer Sprösslinge darauf ausgebreitet. Zielsicher steuerte sie auf das Wohnzimmer zu und die Knirpse trabten hinterher. Kyoko seufzte.
„Nimm bitte Platz.“ Megumi ließ sich auf das Sofa fallen, es quietschte etwas. Während Kyoko in der Küche krampfhaft nach etwas suchte, was sie ihr anbieten konnte, rollten die Kinder mit dem Hund über den Fußboden. Sie schaute immer wieder auf ihre Schwester, die damit begonnen hatte, den Inhalt ihrer Handtasche zu begutachten und sich neu zu schminken. ‚Wenn ich sie mir so angucke, muss ich ernsthaft überlegen, ob ich sie nicht zwangsernähren sollte…Aber das ist nicht mein Problem, wenn sie zu wenig isst.‘, dachte Kyoko. Sie hatte schlussendlich noch eine Tüte alter Reiscracker gefunden, seit zwei Monaten abgelaufen. Achselzuckend füllte sie eine kleine rote Lackschale damit und trug sie ins Wohnzimmer. Sie setzte sich ihrer Schwester gegenüber und sog hörbar die Luft ein, als ihr Blick auf den Minirock fiel, der mehr darlegte, als er verbarg. ‚Wie kann man als Mutter nur so rumlaufen?‘ Die Schwester bedachte die Lackschale mit geringschätzigem Blick, sie nahm keinen Cracker. Alles viel zu viele Kalorien. Aber wenn Kyoko es sich leisten konnte… „Nun, was führt dich zu mir? Ist in Sabaji was vorgefallen - vielleicht ist das Testament ja noch mal geändert worden…“ Megumi zog die Augenbraue hoch. „Rede nicht solchen Quatsch. Du allein bist für die jetzige Situation verantwortlich. Mit Vater hättest du dich gutstellen müssen, dann wäre für dich auch ein Platz in der Erbfolge reserviert gewesen. Aber durch deine Sturheit hast du alles verspielt. Niemand anderer als du selbst ist schuld am jetzigen Zustand. Aber deswegen bin ich nicht hier. Es ist Folgendes: Ich möchte wieder arbeiten.“ Kyoko bebte. Diese Frau hatte es gewagt, 25 Jahre unter den Teppich zu kehren und jetzt langweilte sie sie mit irgendwelchen Belanglosigkeiten aus ihrem Alltag. „Wie schön. Willst du wieder modeln?“ Die Schwester lachte kurz und schrill auf, Chess bellte. „Wie kommst du nur immer auf solche Ideen?! Nein, als Modeschneiderin. Modeln kann ich nicht mehr, die Kinder haben meine Figur ruiniert.“ Sie spricht genau wie unsere Mutter! Kann sie sich nicht selbst hören? Man muss sich schämen, sie zu kennen. „Warum hast du dann Kinder, wenn sie dich bloß belasten?“ Verständnislos blickte Megumi sie an. Ihre Schwester war wirklich töricht – kein Wunder, dass sie auf so einen Schürzenjäger hereingefallen war. „Sie gehören dazu. Wenn man verheiratet ist, dann hat man Kinder. Es geht natürlich auch andersherum, aber das weißt du ja besser als ich, Kyo – chan.“ Stich für die Herzdame. „Man sollte keine Kinder bekommen, wenn man sie nicht will. Und wieso erzählst du mir das überhaupt? Ich hab Telefon und stehe im Telefonbuch, du hättest auch anrufen können. Ich interessiere mich nicht wirklich dafür, ob du arbeitest oder nicht.“, sagte Kyoko, während sie die Kinder beim Spielen beobachtete. „Nun, ich bin nicht hier, um mit dir darüber zu diskutieren, ob mein Mann besser hätte verhüten sollen oder nicht, zumindest sind Taku und Narumi jetzt einmal da und es gibt ein Problem. Ich habe keine Möglichkeit sie betreuen zu lassen während ich arbeite. Daher dachte ich, dass du dich als ‚Kindermädchen‘ zeitweise um sie kümmern könntest – schließlich bist du meine Schwester.“ Kyoko war wie vom Donner gerührt. Diese Frau drang in ihr Haus ein, riss Wunden auf, beleidigte sie und forderte obendrein noch, dass sie ihre beiden Gören bemutterte! „Wie komme ich dazu? Zum Zweck der Stundenbetreuung wurden Kindergärten erfunden. Und wieso hat dein gutverdienender Mann keinen Vorschlag dazu gemacht?“ „Erkläre mich nicht für blöd! Natürlich weiß ich, dass es Kindergärten gibt, aber die Betreuung ist miserabel und die Öffnungszeiten sind nicht mit meinen Arbeitszeiten vereinbar. Außerdem ist es für Kinder im Alter von zwei und vier am besten, von einer Bezugsperson betreut zu werden. Obendrein weißt du, wie man Kinder richtig pflegt, auch wenn du ja jetzt keines mehr hast.“ Kyoko zitterte vor Wut. Warum war sie so schwach? Wieso war sie nicht in der Lage, Megumi einfach die Tür zu weisen? Sie hatte hier nichts verloren, für Kyoko war ihre Familie gestorben. An dem Tag vor neun Jahren – nein, schon eher. Viel eher.
Ihre Schwester beobachtete sie scharf und meinte dann, während sie ein Bein über das andere schlug und dabei ihre Unterwäsche entblößte: „Du weißt sicher, dass mein Mann ebenfalls in deiner Firma arbeitet, allerdings auf einem etwas höheren Posten, demzufolge kenne ich deine Arbeitszeiten, Kyoko. Ich werde dir die Kinder für das Wochenende überlassen und auch an den Donners- und Freitagen. Die restlichen Tage über kannst du wie gewohnt arbeiten und sollte es an Aufträgen überhand nehmen, wird dir die Firma einen Computer ins Haus stellen. Du kannst so jederzeit arbeiten, wenn die Kinder ihren Mittagsschlaf halten.“ Sie war nun sehr wütend. „Ich habe nicht zugesagt, Megumi! Ich will deine Kinder nicht, verstehst du? Ich bin kein Kindermädchenersatz!“ Megumi Hatsubishi erhob sich. „Ich denke, das reicht für heute, Kyoko. Ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Aber wir werden uns bald wiedersehen, liebe Schwester. Taku! Narumi – chan! Kommt jetzt, ihr könnt ein andermal mit dem Hund spielen.“ Widerwillig gaben die Kinder ihr Spiel auf und trotteten hinter ihrer Mutter her, die sich langsam im Flur anzog. Kyoko war aufgestanden und lief ihnen nach. „Megumi, wir sind nicht fertig, hörst du? Ich kümmere mich sicher nicht um deine Kinder! Hast du mich verstanden?“
Aber Megumi war schon aus der Tür und tat so, als hätte sie es nicht gehört.
Nein, sie kannte Kyoko. Und sie wusste, dass sie den längeren Atem hatte.