Globetrotter von -Soul_Diver- (Wir brauchen keine Chemie, keinen Kompass, keinen Reiseführer, keine Landkarte... und kein Viagra!) ================================================================================ Prolog: Dis-Sensio ------------------ Es war ein wunderbarer Dienstagmorgen in Uranoke Sho. Die Sonne ging langsam auf und warf ein warmes, in tausenden Facetten schimmerndes Glänzen auf das Meer und die Wellenkämme, die sanft an den unzähligen kleinen Sandbuchten und Anlegeplätzen am Hafen hochleckten, von denen das Morgenlicht abperlte wie Tropfen flüssigen Goldes. Es war angenehm warm, und eine milde Meeresbrise ließ die blühenden Bäume in der 'Stadt der tausend Seekristalle' leise murmeln. Obwohl es erst sechs Uhr am Morgen war, zeigte Uranoke Sho bereits alle Anzeichen einer geschäftigen Hafenstadt- sie vibrierte vor Leben. Vor allem am Pier und den Ankerplätzen herrschte schon überall emsiges Treiben- Schiffe, Frachter und Kutter liefen ein und aus, Händler brachten ihre Ware auf den Markt, fettwänstige Kaschmir-Gurus feilschten um die Preise, Arbeiter zäumten ihre Lasttiere auf, um die erstandenen Güter unbeschadet nach Hause zu bringen, vielzüngiges Geschwätz und Geplapper erfüllte in unzähligen verschiedenen Sprachen die Morgenluft wie lautstarke Musik, die man sogar noch bis in die direkt am Hafen anliegende Kisekino Umi-Allee hören konnte, 'das' Wahrzeichen für Uranoke Sho schlechthin, gleich nach der berühmten Hafenstraße. Tja. Wie gesagt- es hätte ein richtig unverschämt schöner Morgen sein können. Im Amt für Internationale Arbeitsvermittlung in besagter Kisekino Umi-Allee sah es jedoch vollkommen anders aus. "Waaas??!! Es hat sich immer noch niemand auf meine Anzeige gemeldet??", rief ich fassungslos aus und wirbelte mit gekonnt dramatischer Geste zum Meldeschalter herum, um der einzigen Angestellten, die hier gerade ihre Schicht zu schieben hatte, möglichst anklagend ins Gesicht zu sehen, "Dabei hängt die Anzeige doch schon seit fast einem Monat hier aus, ist es nicht so? Dann kann das doch gar nicht sein! Das-... das ist ja fast schon irreal!" Die leicht magersüchtig wirkende, offensichtlich sehr von meiner Gegenwart angeödete Schreibtischfurie blickte mich aus verständnislosen Schildkrötenaugen an und unterdrückte ein herzhaftes Gähnen. "So leid es mir tut, Herr de Flourite, es ist nun mal so, dass sich noch kein Interessent hier bei mir eingetragen hat! Wenn bis jetzt niemand auf Ihre Anzeige reagiert hat, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben! Wenn ich was dran ändern könnte, hätte ich's schon längst getan! Und jetzt gucken Sie mich um Gotteswillen nicht so an, als hätte ich Ihr Seelenheil verschuldet! Kommen Sie doch einfach morgen wieder, vielleicht hat sich bis dahin jemand gemeldet!" Die Sitzung schien beendet. Ich stand da wie ein fehlgeleiteter Stalaktit, während die Spottdrossel ein wenig in den Schubladen ihres Schreibtischs herumkramte und eine zerknitterte Frauenzeitschrift zutage förderte, auf deren Titelblatt ein lächelndes Bikinigirl und die fette Überschrift Ihr erster Sex mit dem Traumtypen- so kriegen Sie ihn! zu sehen war. Ich konnte nur noch blinzeln. "Ja, aber-... ja aber, ich-..." Die Schreibtischfurie seufzte unwillig. "Herr de Flourite, bitte! Das hier ist das Amt für Internationale Arbeitsvermittlung, und kein Bedürftigenheim! Ich komme mir langsam vor wie ein Tonband, das einer Stelle hängengeblieben ist und sich jetzt ständig wiederholt! Wenn bis jetzt kein Interessent auf Ihre Anzeige reagiert hat, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben!" Ich fühlte mich unter dem barschen Tonfall dieser Vogelscheuche allmählich schlapp wie ein matschiger Teebeutel, sodass ich mich mit einem theatralischen Seufzer auf den Stuhl vor dem Schalter sinken ließ. "Hach, meine Teuerste, ich weiß einfach nicht, woran es liegt! Was mach ich denn bloß falsch?", seufzte ich melancholisch und versuchte es auf die alte 'Wehmütiger Italiener'-Masche, "Fehlt meiner Anzeige womöglich irgendetwas? Ist sie vielleicht nicht zwischenmenschlich genug? Hat sie die falsche Farbe? Drücke ich mich nicht seriös genug aus? Ich bin doch nur ein armer kleiner Auftragsarzt, der einen tapferen Mann dafür entlohnen will, dass er mir auf meinen langen, harten Reisen über den Globus alles Böse von der Wäsche hält-... das ist Opernstoff, das fährt mir ins Herz wie Grießbrei, glauben Sie mir!" Die Vogelscheuche musterte mich skeptisch. "So?" "Jawohl!", bekräftigte ich und schlug mir kriegerisch auf die Brust, "Ich bin gerade erst gestern von einer höchst gefährlichen Mission im Dschungel von N'Galia zurückgekommen, und ich war von Giftpfeilen durchbohrt, von Moskitos zerstochen, von allerhand gefährlichem Gewürm fast zu Brei zerquetscht, dreimal bei lebendigem Leib gefressen und wieder ausgespuckt, und da dachte ich mir, Fye, dachte ich, wieso schaffst du dir nicht langsam mal--... ..." Ich hielt verwundert inne, als ich bemerkte, dass das Gesicht der Vogelscheuche während meiner Suada allmählich einen ziemlich ungesund wirkenden Grünton angenommen hatte. Ach so. Eine der ganz spillerigen Sorte also. Schließlich griff sie mit trockener Miene in die Schublade ihres Schreibtischs und hielt mir einen Wisch unter die Nase. Leibwächter und Reisebegleiter gesucht!! Ich bin ein momentan mittelloser Auftragsarzt und suche dringnd. berufssoliden Leibwächter für praxisbedgt. Reisen, er sollte mögl. auch selbst Reiseerfahrung besitzen u. über weite Strecken über Land zu trampen bereit sein. Bezahlung nach Absprache. Bei Interesse bitte schriftl. reagieren oder melden bei FYE DE FLOURITE, momentan wohnhaft in: Hotel Grande Hafenstraße 31 Uranoke Sho "Das hier", sagte sie, "Haben Sie getan. Und mehr können Sie vorläufig nicht tun. Also!" Stille. Ich starrte die Vogelscheuche an. "Also?", fragte ich. "Also!", gab sie nur barsch zur Antwort, schlug ihre Frauenzeitschrift auf und ignorierte mich. Ich ließ meine Schultern schicksalsergeben heruntersacken und entschied mich für das einzig Sinnvolle: den Rückzug. Für die Schreibtischfurie war ich ja jetzt offiziell nicht mehr vorhanden, also dann eben zurück ins Hotel. Hoffentlich würde ich wenigstens keinen Auftrag bekommen, solange ich noch keinen Reisebegleiter hatte! Wahrscheinlich, so versicherte ich mir kopfschüttelnd, als ich auf die Straße trat und die sanft von der Sonne gestreichelte Allee hinunterstolperte, konnte ich auch noch bis zum Sankt Nimmerleins-Tag weiterwarten. Du bist ein Auftragsarzt, der weder Geld noch Hirn hat, seine Medizin auf dubiose Weise besorgt und jedes Mal mehr tot als lebendig von seinen Missionen zurückkommt. Nun völlig von meinem anfänglichen Optimismus entzweit stieß ich einen tiefen, tiefen Seufzer aus. Welcher hirnverbrannte Kerl würde sich bloß für diesen Knochenjob melden? Ich betrat das Amt für „Internationale Arbeitsvermittlung“. Warum war es heutzutage so verflucht schwer, einen vernünftigen Job zu bekommen? Mein letzter hatte mir eigentlich recht gut gefallen – aber wieso musste die Firma auch pleite gehen und alle entlassen? Ich hatte auch wirklich Pech in letzter Zeit... Ich überflog die Anzeigen. Immer nur dasselbe... Gärtner, nein danke; Kassierer, sicher nicht; Leibwache und Reisebegleiter, das auch noch; Kellner – Moment. Mein Blick schwenkte zurück auf die letzte Anzeige. Die war neu – okay, ganz so neu nicht mehr...vom letzten Monat – sagte zumindest das Datum. Kein Wunder, dass die komische Hupfdohle am Auskunftschalter das Teil erst jetzt hier dran gepappt hatte... Gestern war es noch nicht hier gewesen. Leibwächter und Reisebegleiter gesucht!! Ich bin ein momentan mittelloser Auftragsarzt und suche dringnd. berufssoliden Leibwächter für praxisbedgt. Reisen, er sollte mögl. auch selbst Reiseerfahrung besitzen u. über weite Strecken über Land zu trampen bereit sein. Bezahlung nach Absprache. Bei Interesse bitte schriftl. reagieren oder melden bei FYE DE FLOURITE, momentan wohnhaft in: Hotel Grande Hafenstraße 31 Uranoke Sho Das klang doch mal nicht schlecht. Zumindest nicht so langweilig wie alles andere. Und außerdem konnte man die Bezahlung aushandeln. Ich hatte zwar keine Ahnung von Medizin, aber davon war ja auch nicht die Rede. Aufgabe war anscheinend bloß, mitzureisen und aufzupassen, dass diesem Arzt nichts passierte. Sicher ein alter seniler Knacker, der typische liebe Onkel Doktor, der nichts mehr alleine geregelt bekam. Und was für ein Name... Fye de Flourite. Das konnte ich ja kaum aussprechen. Schien ein älterer Name zu sein. Allerdings fragte ich mich, weshalb er einen Leibwächter brauchte... Dieser Job klang nach einem Kinderspiel – noch dazu in alle Teile der Welt reisen. Ich wollte zwar nicht unbedingt hier weg, doch ich konnte ja jederzeit wieder hierher zurück kommen. Also warum nicht? Scheinbar war diese Reise sogar umsonst, oder noch besser – ich wurde obendrein dafür bezahlt. Ich riss den Zettel ab und steckte ihn ein. Dann wollen wir dem Doktor doch mal einen Besuch abstatten. Die Adresse war eigentlich auch nicht weit von hier – allerdings schien der Kerl wirklich mittellos zu sein, denn es war die Adresse eines Hotels, eines der billigeren Sorte. Ich machte mich auf den Weg dorthin. Das Hotel lag mitten in der Hafenstraße und eigentlich sah es aus wie alle Häuser hier auch, nur dass 'Hotel' dranstand. Ich kam öfter daran vorbei, wenn ich auf dem Weg zum Hafen war. Und das war beinahe täglich. Zeit genug hab ich ja, dachte ich sarkastisch. Allerdings mochte ich das Meer und vom Hafen aus kam man auch recht schnell an einen abgelegenen Strand mit beeindruckendem Ausblick. Und vor allem hatte man dort seine Ruhe – keine Rentner oder nervige Blagen samt hysterischen Müttern und genervten Vätern, die einem am Strand keine Ruhe ließen. Ich nutzte diesen Ort für mein Training – das schien sich ja jetzt endlich bezahlt zu machen. Von wegen, man konnte keine vier Kampfsportarten gebrauchen... Während mir das ganze durch den Kopf ging, führten mich meine Schritte fast automatisch durch das belebte Straßengewirr und schließlich in die Hafenstraße, die direkt auf das Meer zuging. Doch soweit musste ich nicht mehr. Die angegebene Adresse fand sich ungefähr in der Mitte der Hafenstraße wieder und so dauerte es auch kaum zehn Minuten, bis ich die belebte Straße durchquert hatte und vor dem Hotel stand. Ich betrat das Gebäude und hielt zielstrebig auf die Rezeption zu. Niemand zu sehen, war ja klar. Ungeduldig tippte ich auf die Klingel. Keine Reaktion. Also klingelte ich noch einmal. Und dann wieder. Bis mir ein schlechtgelaunter Portier die Klingel entriss. "Sie funktioniert, falls Sie das festgestellt haben", meinte er missgelaunt. "Was denn?" "Fye De Flourite. Zimmernummer?", blaffte ich zurück. Ich konnte schließlich nichts für seine schlechte Laune... "Fünfzehn", sagte er und warf einen Blick hinter sich. "Müsste auch da sein. Ich melde Sie an", fügte er hinzu. "Nicht nötig, find ich auch allein.“ Damit ließ ich den Portier an seiner Rezeption stehen und stapfte die Treppe hoch in den ersten Stock – ohne auf die Einwände, dass ich doch nicht einfach so hierherum spazieren konnte wie ich wollte, zu achten. Vor Zimmer Nummer fünfzehn blieb ich stehen und klopfte an. Hoffentlich war der Kerl nicht auch noch taub und ich stand hier ewig vor der Tür... Doch überraschenderweise wurde die Tür fast gleich nach meinem Klopfen stürmisch aufgerissen und ein hochgewachsener Blondling mit eisblauen Augen und einem breiten Grinsen auf dem Gesicht strahlte mich an wie eine Supernova. Hatte ich mich in der Tür geirrt? Oder war das ein anderer Bewerber...? Doch ich konnte bei einem kurzen Blick über dessen Schulter niemand anderen im Zimmer sehen. "Fye... de Flourite?", fragte ich etwas verdattert. "Jawollja!", trällerte ich euphorisch zurück und salutierte geckenhaft- allerdings erst, nachdem ich es geschafft hatte, die großzügige Portion an Verwirrung runterzuschlucken, die bis eben noch meinen Hals verklumpt hatte. Du lieber Schreck! Godzilla in Menschengestalt! Hier vor meiner Tür! Okay, Fye, kein Grund zur Beunruhigung, bleib ganz locker. Frag ihn einfach, warum er hier ist und vor allem, warum er dich anstarrt, als wärst du eine bösartige Krebsgeschwulst auf dem sakralen Arsch eines Monsungottes. "SIE sind Fye de Flourite?!!", stieß dieser seltsame schwarzhaarige Kerl fassungslos hervor, anscheinend konnte er es einfach nicht fassen, dass sich solch eine strahlende Erscheinung wie ich hinter diesem altbackenen Namen verbarg. Hatte er sich etwa einen senilen alten Opi vorgestellt? Diese Kunstbanausen! "Ganz genau der bin ich! Kann ich Ihnen helfen? Worum geht es denn?", fuhr ich schließlich verbindlich fort und zauberte mein bewährtes Hallo Fremder, du Freund oder Feind? -Lächeln aus meinem facettenreichen Lächelrepertoire hervor, um mir schon mal eine geringfügige Überlebenschance zu sichern. Bis es plötzlich Klick machte. Kommt der etwa wegen der--... "Ich-... ohhh, OOOOOH, halt, warten Sie!!", rief ich sofort und fuchtelte hastig mit den Händen in der Luft herum, sodass der schwarzhaarige Fremdling entgeistert zurückzuckte, "Sie sind doch nicht etwa-... ooooooooh!!!" "Nein, ich bin nicht Gott", gab er trocken zurück, "Ich werde das ständig gefragt, aber eigentlich bin ich ja wegen Ihrer Anzeige gekommen, doch jetzt sehe ich, dass die Umstände für mich alles andere als ang-..." "Halt, halt, halt!", fuhr ich dazwischen, "Jetzt quatschen Sie doch nicht so viel! Sie sind wirklich wegen meiner Anzeige gekommen? Der Anzeige für einen Reisebegleiter? D-das ist ja phänomenal! Wissen Sie, ich warte jetzt schon seit fast einem Monat, und meine Missionen sind immer so gefährlich und kostenreich, naja, eigentlich bin ich ja mittellos, um ehrlich zu sein, aber das habe ich ja schon in der Anzeige schrieben, obwohl, ich hab genau genommen lange gezögert, ob ich das auch hinschreiben soll, wissen Sie, aber im Endeffekt kostet es ja nichts, die Wahrheit zu sagen, theoretisch gesehen müssten Sie mir nur ein paar Fragen beantworten, wir führen sozusagen ein Vorstellungsgespräch, dann erklär ich Ihnen wie's läuft, und dann- ach ja, hab ich ja fast vergessen, hatten Sie früher auch schon Jobs wie diesen hier, arbeiten Sie schon länger im Leibwächtergewerbe, wenn ja, wie lange, können Sie Ihr Gewissen wirklich mit den Bedingungen vereinbaren, wie heißen Sie und wo wohnen Sie?" Stille. Meine ganze Herzlichkeit schien offenbar im Nichts zu verpuffen, während mich der Kerl nur resigniert anstarrte. "Ich quatsche also viel?", erkundigte er sich schließlich lahm und sah mich an wie ein besonders ekliges Ekzem. Ich blinzelte. "Ääh, ja also, ich wollte Sie nicht beleidigen, wenn Sie das meinen! Ich kann das gut verkraften, wenn Sie einer der gesprächigeren Sorte sind! Quatschköpfe steck ich doch doppelt und dreifach in die Tasche! Wenn da so ein Kerl blöd vor mir rumsteht und einfach nicht die Klappe halten kann und soviel überflüssiges Zeug rausquatscht, bis man ihm nur noch die Zunge rausreißen will, dann bleib ich immer ganz, wie sagt man doch gleich? Dann bleib ich ganz... gechillt und duftig ." Der Schwarzkopf schlug sich mit einem enervierten Ächzen die Hand vor die Stirn. "Ohh ja, natürlich, ist ja ganz interessant-... wissen Sie was? Geben Sie mir einfach diesen verdammten Job und ich quatsche Sie nie wieder voll, damit Sie sich nicht aufregen müssen, Mister Doktor Fye de Flourite." "Sagen wir, Ihnen zuliebe werde ich noch einmal über Ihren unerhörten Redeschwall hinwegsehen", räumte ich mit einem großzügigen Glück gehabt -Lächeln ein, denn ich wollte ihn nicht schon gleich am Anfang zum Teufel jagen. Ich meine, hallo? Dieser Typ schien mir kerngesund, hatte dazu noch Muskeln wie zehn Zuchtbullen, was mir schutztechnisch gesehen sicher einen gewissen Vorteil bringen würde, und, um den Hauptpunkt zu nennen, war er mein erster und wohl auch einziger Bewerber. Jetzt war Fingerspitzengefühl gefragt. "Sagen Sie mir einfach, was ich wissen muss", brummte der Schwarzhaarige soeben, wohl aus unerfindlichen Gründen am Ende seiner Nerven, "Und dann basta schluss aus." "Ja, in Ordnung, gern, aber wollen Sie nicht reinkommen?" "Nein." "Also gut, ich hab ja nur gefragt, na jedenfalls müssen Sie wissen, wie man einen relativ kampfunerfahrenen Arzt beschützt, ich bin nämlich kein logierender Mediziner, sondern quasi ein Wanderarzt, also einer, den man zu sich rufen kann, wenn's denn ein Problem gibt, und nach den letzten Malen war ich so erledigt, dass ich auf keinen Fall mehr allein reisen will, beispielsweise bin ich gerade erst gestern von einer höchst gefährlichen Mission im Dschungel von N'Galia zurückgekommen, und ich war von Giftpfeilen durchbohrt, von Moskitos zerstochen, von allerhand gefährlichem Gewürm fast zu Brei zerquetscht, dreimal bei lebendigem Leib gefressen und wieder ausgespuckt, und da dachte ich mir, wieso sich nicht mal einen Leibwächter ranschaffen? Was die Medizin anbelangt, die ich benutze, ja also, ich besorge sie nicht direkt auf illegale Weise, aber so hundertprozentig wirklich legal ist sie auch nicht wirklich, ich will ja ehrlich sein, aber keine Sorge, ich erklär's Ihnen noch, es ist nicht verboten, nicht richtig jedenfalls-..." Der Kerl starrte von Sekunde zu Sekunde gereizter. Während ich weiterredete, bemerkte ich verwundert, wie eine Ader auf seiner Stirn zu pochen begann. "... aber ich bin sicher, es wird Ihnen genehm sein, sooo unmenschlich sind die Bedingungen ja nun auch wieder nicht, es ist eben gefährlich, wenn man in die schwierigeren Gebiete kommt, die schwerer zu durchqueren sind, denn meistens fehlt mir das Geld für Transportgelegenheiten, ach ja, und wenn wir schon beim Thema Geld sind, wieviel Geld wollen Sie eigentlich für Ihren Job, das heißt, jedes Gehalt kann ich Ihnen nicht auszahlen, ich bin schließlich kein Krö-..." "AAAARRRGH!!!" Ich hielt mitten in meinen Erklärungen inne, als ich plötzlich durch einen lauten Wutschrei unterbrochen wurde und fassungslos registrieren musste, wie der Schwarzhaarige doch tatsächlich kehrtmachte und abhaute-... ja, in der Tat, er haute ab! Mit Schritten, die jedem Kingkong imponiert hätten, stampfte er den Korridor hinunter, allen Anscheins nach Richtung Treppe. Mein einziger Bewerber!! "He-... HE!" "WEICHE, SATAN!!" "Haaaaaaaaaaaaaaalt!!", rief ich entgeistert und stürzte sofort hinter dem Schwarzkopf her, "Bleiben Sie doch stehen, um Gotteswillen, was soll denn das??" "Was das soll?! Ich habe es mir anders überlegt!", knurrte ich zurück, ohne mich umzudrehen und stürmte den Gang herunter. Kein Wunder, der laberte einen ja fast zu Tode. Zur Hölle, das war doch nicht normal. Auch als er sich an meinen Arm hängte, um mich anscheinend zu zwingen anzuhalten, schleifte ich ihn einfach mit. "Hyuu! Also, stark sind Sie ja wirklich!", tönte es begeistert. "Aber wieso wollen Sie denn nicht mehr?" Das klang nicht mehr so begeistert, sondern enttäuscht. "Weil Sie mir jetzt schon auf die Nerven gehen!" Niemals würde ich es länger mit ihm aushalten. Wie war ich bloß auf diese absurde Idee gekommen, mich für diesen Job zu bewerben? Ach ja. Der Name... woher her sollte man da auch wissen, dass hinter diesem nicht etwa ein alter, seniler Onkel steckte, sondern ein komischer, pseudogrinsender, hyperaktiver und absolut nervtötender Blondling?! "He! Das ist aber unhöflich!", protestierte er. "Na und? Das ist nun mal die Wahrheit!", fauchte ich zurück. "Und jetzt lassen Sie mich gefälligst los, verdammt noch mal." Inzwischen war ich am obersten Treppenabsatz angelangt und stehen geblieben. Den – immer noch grinsenden – an mir hängenden Blonden spießte ich mit einem mehr als missgelaunten Blick auf. Jeder andere – so hatte zumindest die Erfahrung gezeigt – wäre schier gestorben, doch bei ihm beschränkte sich die Reaktion erstaunlicherweise darin, dass er kurz verblüfft schien, dann sein Grinsen wieder breiter wurde und ich ihn wohl auch noch bestärkt zu haben, mich jetzt auf keinen Fall gehen zu lassen. Deshalb versuchte ich ihn abzuschütteln, denn dummerweise war das Treppenhaus sehr eng und so fielen wir allenfalls herunter – und darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. "Loslassen", blaffte ich ihn an. Das tat er dann zwar, stellte sich mir aber in den Weg. "Aber...Sie können doch jetzt nicht einfach gehen!" Es klang regelrecht ensetzt. "Ach, und warum nicht?", fragte ich zynisch. "Weil Sie der einzige Bewerber sind!", verkündete er. "Na und? Ist Ihr Problem und nicht meines." Den Blick den er aufsetzte würde einen Dackel wahrscheinlich neidisch machen, aber damit war er bei mir an der falschen Adresse. "Gehen Sie aus dem Weg", sagte ich genervt. Oder legte er es wirklich darauf an, dass ich ihn womöglich die Treppe herunterstieß oder an die Wand knallte? Allen Grund und auch Motivation hatte ich ja dazu. Auch hätte ich - falls er bei dieser Aktion draufgehen sollte - nicht unbedingt ein Problem damit. Und außerdem: So viel Geld konnte er mir gar nicht bezahlen, dass ich blieb und ihn aushalten musste. Soviel existierte nicht einmal! Und anscheinend war Leibwächter noch untertrieben... Schutzschild passte da wohl eher, nein danke, nicht mit mir. Und schon gar nicht für diesen Idioten. Ich unterbrach meine Gedanken, weil er immer noch vor mir stand und mich anglotzte als wäre ich ein Außerirdischer oder so. "Wird's bald?", fauchte ich drohend. "Was wird bald was?", fragte ich irritiert zurück. "Lassen Sie mich vorbei, oder es setzt was!", war die geknurrte Antwort, untermalt mit einer ganzen Kaskade ungnädiger Blicke. "Ja, ja-... ja wollen Sie den Job denn nicht?" "NAIEN!! Ich würde mir eher das Rückgrat rausreißen, auf den nächsten Ankerplatz gehen und mit dem erstbesten Trottel Tauziehen damit machen, als bei Ihnen zu arbeiten, Mister!" Ich bekam den Mund nur schwerlich wieder zu. Ein Kerl, der sich in solch farbenfrohen Metaphern ausdrückte, würde bei der Durchführung derselben sicher nicht lange zaudern. "Ja, aber, das tut doch weh!", versuchte ich es schließlich und intonierte mein demütigstes Bitte nicht schlagen -Lächeln, "Kommen Sie schon, ich sehe es Ihnen förmlich an, Sie wollen diesen Job! Sie wollen ihn so sehr, wie ein Hautpilz die Körperflüssigkeit seines Wirts will!" Die Nase des Schwarzhaarigen zuckte. "Sie vergleichen mich also mit einem Hautpilz." "Um Himmelswillen, nein! Sie sind mit Sicherheit ein wenig intelligenter als ein Hautpilz, aber ein Hautpilz ist zumindest so kompromissbereit und lässt sich auskurieren, ohne lange einen auf Oberkotz zu machen!" "ICH BIN KEIN OBERKOTZ!!" Ich packte die Chance beim Schopf und piekte dem Ungeheuer herausfordernd vor die Brust. "Oh doch, sind Sie, aber wissen Sie was? Ich kann auch ein Oberkotz sein, ein so fürchterlicher Oberkotz, dass es mich direkt selbst ankotzt! Ich wette beim Augenlicht meiner Großmutter, dass ich tausendmal oberkotziger bin als Sie!" Das wirkte. Offenbar konnte man diesen Typen mühelos bei seinem Stolz packen. "Was?!! Auf keinen Fall!!" "Dohoooch", reizte ich ihn immer weiter und lächelte mein frechstes Ätsche bätsche ätsch -Lächeln, "Und weil ich tausendmal oberkotziger bin, sage ich: ich werde jetzt so lange auf dieser Treppe stehenbleiben und Sie nicht durchlassen, bis Sie den Job annehmen!" Der Schwarzhaarige stieß ein Grollen aus. "Ach ja?!! Dann murks ich Sie einfach ab!!" "Dann freuen Sie sich schon mal auf den wunderbaren Tod durch stundenlange, multikulturell sadistisch untermalte Folter, die Sie von all meinen Kunden erwartet, die mich noch gebraucht hätten." Ich knallte ihm diese Lüge knüppeldick ins Gesicht, doch er schien es erstaunlicherweise zu schlucken und starrte mich entgeistert an. Um meinen Vorteil gleich weiter auszubauen, stellte ich mich auf der engen Treppe in Position wie ein Sumoringer. "Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie gewinnen werden!", fauchte er sofort. "Oh doch, das glaube ich! Ich oder Sie!", gab ich nur grinsend zurück. Der Kerl starrte mich nur noch für einige Sekunden mit einem fürchterlichen Blick an, bevor er sich auch bereitmachte. "Also schön! Sie wollten es so. Sie oder ich." Kapitel 1: Praeparatio ---------------------- "Wie viel würden Sie zahlen können?", knurrte ich – ganze neun Stunden später. Genauer gesagt war es gegen sechs Uhr in der Früh. Inzwischen standen wir beide nicht mehr, sondern er hockte, wahrscheinlich ebenso übernächtigt wie ich es war und mehr schlafend als wachend, auf der Treppe. Ich hatte mich kurzerhand auf den Boden gesetzt und lehnte mit dem Rücken gegen die Wand. Weder ich noch er hatten in den letzten Stunden nachgegeben und so kam es, dass wir immer noch das Treppenhaus blockierten - was bei der Tatsache, dass er wohl der einzige Gast hier war, niemanden störte. "Das heißt, Sie nehmen den Job an? Ooooooh... das ist-…" "Beantworten Sie die Frage!" So langsam war ich wirklich drauf und dran, ihn die Treppe herunterzustoßen – allerdings hatte ich dazu nach dieser Nacht keinen wirklichen Elan mehr dazu. Und vor allem auch keinen Nerv. "Na ja... ich bin meist ziemlich abgebrannt...aber es wird wohl reichen, um über die Runden zu kommen." "Und es geht nur darum, Sie zu begleiten?", fragte ich weiter. "Ja... im Prinzip schon. Natürlich wird das nicht immer so einfach sein, und...", fing er an, doch ich unterbrach ihn. Wie zum Teufel schaffte er es, immer noch wie ein Wasserfall zu quasseln, obwohl wir die ganze Nacht hier gestanden hatten? Und ich konnte nicht glauben, dass ich gerade drauf und dran war klein bei zu geben... Das musste daran liegen, dass diese Nacht die schlimmste überhaupt in meinem Leben gewesen war. Zumindest in den letzten sieben Jahren... Verdammt – und ich dachte, ich wäre stur wie Beton, zumindest sagte man mir das sehr oft. Aber der... das grenzte schon wieder an Unnatürlichkeit. "Ich will mindesten fünfzig Prozent an allen Einnahmen und Anteilen", sagte ich, und er riss die Augen auf. "Waaaaaaaas?! Das ist doch unverschämt!", protestierte er. "Dann suchen Sie sich einen anderen, der nicht so viel will", erwiderte ich trocken. Den würde er wohl kaum finden. Wenn ich mich schon dazu aufraffte, für diesen Kerl zu arbeiten, dann konnte ich seine Situation, dass ich der einzige Bewerber war, ja wohl auch zu meinem Vorteil nutzen. Schließlich waren es meine Nerven, die hier zu leiden hatten. "Vierzig. Sie kriegen vierzig", sagte er schließlich. "Fünfzig. Nicht weniger", beharrte ich. "Vierzig!" "Fünfzig." "Viiierzig!" "Sechzig." "Fünfzig!!" "Einverstanden", sagte ich schnell und er schien zu begreifen, denn er sah mich verdattert an. "He! Sie haben mich reingelegt!" Er schien beleidigt. "Aber na schön. Wenn es sein muss. Ich halte mein Wort. Fünfzig Prozent..." Das letzte murmelte er nur und schüttelte fassungslos den Kopf, bevor er mich wieder angrinste. "Sie sind ein wirklich zäher Brocken, wissen Sie das? Aber ich stelle auch eine Bedingung." "Und die wäre?", fragte ich skeptisch. Ich wusste allerdings schon jetzt, dass sie mir wohl nicht gefallen würde... „Sie werden nicht einfach so kündigen.“ "Hab ja wohl keine andere Wahl", grummelte ich. Zur Not konnte ich ihn einfach draufgehen lassen.... "Gut! Abgemacht. Dann haben Sie den Job!", rief er und strahlte, als hätte er mir gerade eröffnet, dass ich den ultimativen Jackpot geknackt und der reichste und glücklichste Mann der Welt geworden wäre. "Äh, eins noch!" Ich hob bloß fragend eine Augenbraue. "Wie heißen Sie eigentlich?" "Kurogane." Stille. "Okay. Kurogane", wiederholte ich probeweise noch einmal, um mich an den Namen zu gewöhnen, "Kurogane. Kurogane." "Was ist los, passt Ihnen der Name nicht?", knurrte der Riese gereizt. "Oh doch, der ist in Ordnung. Nur ein bisschen zu lang für meinen Geschmack. Wie wär's stattdessen lieber mit Kuro-shishi oder Kuro-ron? Das klingt nicht so schrecklich steif." "ICH GEB IHNEN GLEICH STEIF!!!" "Was denn, Sie müssen mich doch auch nicht Boss oder Meister nennen?" "Hätte ich sowieso nicht getan!", war die mehr gefauchte als gesprochene Antwort, was mich aus irgendeinem abwegigen Grund zu einem Lächeln veranlasste. "Sind Sie eigentlich immer so reizbar, Kurogane?", fragte ich und schluckte ein gewaltiges Gähnen hinunter, "Irgendwie habe ich den Eindruck, dass das eine hochexplosive Zusammenarbeit wird..." "Ich bin NICHT reizbar!!", empörte sich Kurogane nur und blickte stur zur Seite, "Und wenn die Zusammenarbeit explosiv ist, dann ist es allein Ihre Schuld! Ich bin ein Zentrum der inneren Ruhe! Und jetzt sagen Sie mir, was für heute auf dem Plan steht!" Ich musste breit grinsen über soviel Starrsinn. "Okay, Kuro-shishi , dann wollen wir doch mal ein wenig räsonieren!", trällerte ich wohlgemut, was den Schwarzhaarigen lediglich zu einem stierhaften Schnauben animierte. Wahrscheinlich konnte ich es nur dem Phänomen der Müdigkeit verdanken, dass er mir noch nicht an die Gurgel gegangen war, übrigens zu meiner großen Erleichterung. Mit solchen Fäusten machte es wohl keinen Unterschied, ob man eine meterdicke Betonwand oder einen Tuc-Salzcracker zwischen den Händen zerbröselte. Aber egal, lieber zurück zu den heutigen Plänen, bevor aus bildhafter Vorstellung Wirklichkeit wurde. Was uns fehlte, war auf jeden Fall schon mal Geld, Frühstück, dann noch ein ausreichendes Arsenal an frischer Medizin- ich hatte meine letzten Überbleibsel beim Auftrag im Dschungel von N'Galia verpulvert- und auch ein Auftrag. Also irgendwie alles. Na hervorragend. Sah so aus, als müssten wir bei Null anfangen. "Also, es verhält sich folgendermaßen", begann ich schließlich meine Ausführungen, "So wie ich das sehe, müssen wir zu allererst einiges an Besorgungen machen. Meine letzten Mäuse sind für den Aufenthalt in diesem Hotel draufgegangen, nennenswerte Vorräte an Medizin besitze ich auch nicht mehr, meine Konservierungstasche ist kaputt gegangen, ich hab meine restliche Ausrüstung verkauft, um wenigstens halbwegs über die Runden zu kommen, und einen Auftrag habe ich zurzeit auch nicht--" "Entzückend. Müssen wir also bei Null anfangen?!", unterbrach mich Kurogane ungehalten. "Hey, einer meiner wichtigsten moralischen Grundsätze lautet, niemanden zu belügen!", gab ich empört zur Antwort, "Also sag ich Ihnen lieber gleich, wie es sich bei mir verhält! Oder wollen Sie lieber, dass ich Sie über meinen grenzenlosen Reichtum vollspinne?" "Grrrrmpf", war die gegrollte Antwort, die ich einfach mal als ein 'Nein' interpretierte. "Okay, jedenfalls lautet mein Vorschlag angesichts dieses Mankos, dass wir uns heute erstmal in die Stadt aufmachen und ein paar alte Geschäftspartner von mir besuchen, um ein bisschen auf den Busch zu klopfen. Wer weiß, vielleicht kann sich einer davon ein paar Transkos für uns erübrigen, hm?" Eigentlich hieß die allgemein übliche Währung in diesem Land Transkontinental-Dollar- eine Währung, mit der man in fast jedem Land bezahlen konnte- aber in den Runden des mundfaulen Pöbels war der Name schon seit ewigen Zeiten zur schlichten Vokabel 'Transko' verstümmelt worden. "Also arbeiten Sie auf Pump", stellte Kurogane unbarmherzig fest, "Darf ich mich dann vielleicht erkundigen, bei welchem Personenschlag Sie anpumpen?" "Natürlich ausschließlich bei Giftmischern, Vergewaltigern, Hehlern und Mördern, was dachten Sie denn?", gab ich breit grinsend zurück, was dem Schwarzhaarigen ein entnervtes Ächzen entlockte, "Also, hier mein Plan: wir gehen jetzt erst einmal in die Innenstadt, dort hat ein alter Geschäftsfreund von mir ein Restaurant. Er ist ein Fusselwurm und heißt Ten Toi, und bis jetzt hat er mir jedesmal Geld geliehen, wenn ich keins ha-..." "WAAAAAS?!!", unterbrach mich der Schwarzhaarige mit einem Gesichtsausdruck, als müssten ihm jeden Moment die Augen aus dem Kopf fallen, "Ja sagen Sie mal, TICKEN Sie eigentlich noch richtig??!! Welcher Teufel hat Sie geritten, dass Sie freiwillig in ein Fusselwurm- Restaurant gehen?!!" "Ich bin eigentlich noch nie auf einem Teufel geritten", gab ich milde verwundert zurück, "Weshalb fragen Sie?" "In dem Fraß, der dort serviert wird, schwimmen mehr Fusseln rum als Fettaugen! Und das will was heißen! Außerdem sind das meistens irgendwelche zwielichten Bumslokale ohne Anstand, Gesetz und Hygienevorschriften!" "Mein Guter, ich muss feststellen, dass Sie mit einer beachtenswerten Fülle an Vorurteilen gesegnet sind", antwortete ich mit dem Tonfall einer nervlich überfragten Mutter, "Wieso kommen Sie jetzt nicht einfach mal mit? Wir kriegen das schon geregelt! Außerdem schmeckt das Essen dort gar nicht so extrem schlecht, wie immer alle sagen! Gut, man hat ein paar Tage lang Atembeschwerden und kotzt sich schier den Magen zum Hals hinaus, aber dafür kriegt man dort die Servietten und Trinkhalme umsonst! Und obendrein kann man zur typischen Fusselwurm-Musik ganz hervorragend bauchtanzen." Kurogane stieß ein Stöhnen aus wie eine gebärende Seekuh- und ganz nebenbei: ich wusste, wie sich so etwas anzuhören hatte. "Na hervorragend. Das ist das, was ich mir schon immer in meinen wildesten Träumen herbeigesehnt habe. Bauchtanzen." "Na wunderbar!", rief ich fröhlich aus, sprang auf die Füße, wenn auch nur mit einigen Beschwerden, und versuchte erfolglos, meinen neuen Leibwächter am Handgelenk hochzuzerren, "Dann kommen Sie! Das wird sicher ein Heidenspaß! Und Ten ist ein grandioser Kerl, Sie werden ihn lieben wie Ihre Milz!" "Ich kann es kaum erwarten", war die trockene Antwort, während er sich ebenfalls mit einem Ächzen von der Treppe hochwuchtete. "Na also!", jubilierte ich und klopfte ihm übermütig auf die Schulter, "Dann mal los! Auf ins Zentrum!" "Und Sie sind sich auch wirklich sicher, dass uns dieser Ten einen Vorschuss zahlen wird?" Ich lächelte mein gelungenstes Ich bin der Gott der Wahrheit -Lächeln, während wir uns auf den Weg nach unten machten. "Wohin denken Sie nur? Ten ist Wachs in meinen Händen! Glauben Sie mir: nach fünf Minuten ist er schon bereit, uns jeden beliebigen Vorschuss zu zahlen! Da schwör ich jeden Eid drauf!" Kaum eine Stunde später standen wir auch schon in dieser Fussel-Kneipe. Überall flogen – was auch sonst? – Fusseln durch die Gegend oder bedeckten Boden oder Tische oder was sonst noch hier herumstand. Weiß, rot, gelb, sogar pink. Diese Fusselwürmer sahen aus wie ein buntes, viel zu wolliges Schaf gekreuzt mit einem Regenwurm oder Tausendfüßer. Und sie fusselten... Ten Toi war einer der grasgrünen Fusselviecher-Sorte und Inhaber dieses "Etablissements", wie er es ausgedrückt hatte. Allerdings – wie Wachs kam er mir nicht vor, bei weitem nicht. "Aber Teeen-kun!!", bettelte mein Geschäftspartner, der gerade in verzweifelter Manier und flehendem Blick vor dem Tresen stand, in höchsten Tönen, "Du musst uns helfen... du bist unsere letzte Rettung!" Das sagte er jetzt zum ungefähr vierten Mal innerhalb dreißig Minuten. So viel dazu, dass es höchstens fünf Minuten dauerte. Ich war jetzt schon genervt – obwohl – eigentlich hatte sich diese Gereiztheit gesteigert, seit wir hierher aufgebrochen waren. Unterwegs hatten wir einen groben Arbeitsvertrag abgeschlossen. Dieser besagte, dass ich fünfzig Prozent an allen Einnahmen und Anteilen bekam, aber für mindestens ein Jahr nicht kündigen, aber dafür jederzeit gefeuert werden konnte. Außerdem hatte ich keinen Anspruch auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld, wie mir mein neuer Partner, beziehungsweise Auftraggeber eröffnet hatte, woraufhin ich mit der Bedingung, in keinem Fall mein Leben für ihn aufs Spiel zu setzen oder Schutzschild zu spielen, eingewilligt hatte. Mehr war es eigentlich auch noch nicht. Und ich glaubte auch nicht, dass da noch viel mehr kommen würde. Er hatte mir auch erklärt, dass wir uns, nachdem wir uns Geld von dem Fusselwurm geliehen hatten, gleich mal nach neuer Medizin umschauen würden, die heute 'geliefert' werden sollte. Den Platz hatte er mir nicht gesagt, aber ich hatte da so eine Ahnung, dass es auf eine ebenso dubiose Weise beschafft wurde wie das benötigte Geld. Ich fragte mich, wie viele Schulden er schon hatte... Apropos... vielleicht hatte er es ja endlich geschafft, dem Fusselwurm etwas Geld abzuschwatzen. Ich wischte mir einige Fussel von der Schulter und sah wieder zu meinem Geschäftspartner... die Situation hatte sich anscheinend noch immer nicht geändert... "Wie war das mit dem Eid?", knurrte ich ihm genervt zu. "Pssscht!", flüsterte ich verzweifelt, "Nicht so laut! Das habe ich doch nie im Leben gesagt!" Der Schwarzhaarige stöhnte nur entnervt auf, während ich mich mittlerweile völlig desperad wieder Ten zuwandte. "Bitte, Ten-kun!" "Auf gar keine Fall", sagte dieser entschieden und verschränkte die sechs obersten Beinpaare vor seinem fusseligen Bauch. "Ach komm schoooooon, Ten-kun, biiiiiitte!", bettelte ich und setzte den flehentlichsten Dackelblick auf, den meine Visage zu bieten hatte, "Hast du mir denn je einen Gefallen abschlagen können? Es sind doch nur tausend Transkos!" "Waaaaasse?!!", kreischte Ten hysterisch auf, sodass sein enormer Schnauzbart bedrohlich zitterte, "Vor zwei Minute ware es noch hundert! Du machse mich arm, Fye-kun, du wirse meine Ruin sein, dabei hasse du doch soviele Grips in deine Kopf!" "Nur noch dieses eine Mal, Ten-kun, ich beschwöre dich!" "Beschwöre musse du mich nicht! Wo sinne denn die fünfundzwanzigtausendsiebehundertdreizehn Transkos, die du mir bereits schulde? Ich wille meine hartverdiente Geld wiedersehe!" "Du kriegst dein ganzes Geld wieder zurück, ich verprech's dir!", log ich meinem langjährigen Geschäftsfreund mitten in das fusselige Gesicht, "Streck mir einfach die läppischen tausend Mäuse vor, und ich schaffe genug Klienten ran, um für alles aufzukommen!" "Du hasse mir jede Mal versproche, alles zurück zu zahle!", widersprach Ten nur in seinem ominösen Fusselwurm-Akzent und wischte sich einige Fusseln aus seinen glänzenden Knopfaugen, "Schon seit zwanzige Jahre besitze ich diese fabelhafte Restaurant, aber Profit wirde mir ewig verwehrt bleibe, weil du ihn mir immer wegpumpe! Also bleibe ich dabei, vergisse es!" Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ die Schultern hängen. Na ganz große Klasse- jetzt stand ich hier wie bestellt und nicht abgeholt, ohne Geld, ohne Ausrüstung, ohne Job, in einem Fusselwurm-Restaurant im Zentrum von Uranoke Sho, in dem der Essensgeruch- eine dickflüssige Mischung aus Huhn, Nudeln, zuviel Estragon, Lorbeer und verbrannten Spiegeleiern- zu einer ausgewachsenen Chemiekeule verkam, und das nur mit einem notorisch mies gelaunten, kommerzgeilen Leibwächter an meiner Seite, der gerade hinter meinem Rücken herumstand und jeden vorbeikommenden Restaurantgast- fast ausnahmslos Fusselwürmer- mit finsteren Blicken bombardierte. ... Moment mal. Leibwächter? Finsterer Blick? Genau, wozu hatte ich den Kerl eigentlich? Ten blinzelte nervös, als ich mich ihm wieder zuwandte und möglichst unauffällig mit dem Daumen hinter mich deutete. "Ten-kun, siehst du den Mann dort drüben?" Der Fusselwurm reckte seinen langen Oberkörper und wurde augenblicklich um einige Grade grüner. "Eh, du meinse diese schwarzbehaarte, mörderähnliche Typ dort drübe? Ja, den sehe ich! Wer isse diese?" "Mein neuer Leibwächter. Ganz recht, es hat sich endlich jemand auf die Anzeige gemeldet!", setzte ich nach, als mich Ten sichtlich beunruhigt aus sechs schwarz glitzernden Äuglein anstarrte, "Guter Kerl. Weißt du, er ist einer der wirklich stahlharten Sorte, versteh mich recht, und er hat auch einen ziemlich strammen Geduldsfaden- aber... aber..." "Aber wasse?! Aber wasse?!!", hakte Ten hektisch nach. "Ach nein, das sage ich dir lieber doch nicht... das kann ich dir einfach nicht sagen!", sagte ich mit einem offenherzig bedauernden Augenaufschlag, "Ich will nicht, dass du unnötig um dein Leben fürchten musst, Ten-kun, es bedeutet mir so viel..." Durch den gut sieben Meter langen Leib meines alten Freundes lief ein deutlich sichtbares Beben. Fusselwürmer waren hart im Geschäft und begabte Gewürzgärtner, aber sie hatten auch die ihnen allen gemeinsame Schwäche der Tratschsucht- und vor allem waren sie ausgesprochen feige. "Du sage es mir bitte jetzt, oder ich musse jetzt schon sterbe!" "Aber Ten-kun, ich kann dich doch nicht einfach-..." "Du sage es mir bitte jetzt!", wiederholte Ten und legte mir seine vordersten Beinpaare auf die Schultern. "Tjaaa...", begann ich, "Weißt du, wenn dieser Kerl zu lange auf Ergebnisse warten muss, könnte es sein, dass sein Geduldsfaden darunter leidet, und dann... nun ja... dann lässt er auch immer jemand anders dafür leiden. Du verstehst?" "Kiyaii!", kreischte Ten erstickt auf, "Isse das wirklich ehrlich wahr?? Isse diese Kerl wirklich so-... ?!" "Ja, leider... ich habe dieses Monster ja selbst kaum im Griff", flüsterte ich eindringlich, "Ich bin bloß froh, dass er wenigstens mir nicht einfach so an die Kehle geht... man munkelt, er hat schon soviele andere auf dem Gewissen, dass er es selbst gar nicht mehr weiß... sieh ihn dir bloß an, siehst du diesen Stahl in seinen Augen? Diesen Mordeswahnsinn?" Im Moment war mein so dramaturgisch beschriebener 'Mordeswahnsinn' wahrscheinlich nicht mehr als eine Mischung aus überreizten Nerven und Langeweile. Als er jedoch bemerkte, dass Ten ihn anstarrte wie die neueste Ausgeburt von Frankenstein, verengte er die Augen und zeigte seine Zähne. Der Fusselwurm wurde leichenblass. "Oohhh, ee-e-er sehe mich an!!", wimmerte er mir von hinten ins Ohr. "Oh mein Gott", hauchte ich mit vor Grauen geweiteten Augen zurück, "Dann gibt es nur noch einen einzigen Weg!" "U-uu-und d-d-der isse?" "Besteche ihn. Wenn du nicht zahlst, kann ich nicht sagen, wie er reagieren könnte! Denk an deine Frau und deine Kinder!" Ich betete, dass Ten diese billig geschossene Finte nicht durchschauen würde, doch der schien momentan eher drauf und dran zu sein, sich in seine Fusselunterhosen zu machen. "Aa-a-also gute, ich zahle euch diese Vorschuss, aber du sage bitte deinem Leibwächter, er solle mich nicht-..." "Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen", wisperte ich, "Und ich werde für dich beten, dass du nicht das nächste Opfer seiner Mordlust sein wirst! Ohhh Gott, ich bin ihm so ausgeliefert... das Geld, Ten-kun... oh, ich wünschte, er wäre wenigstens halb so bescheiden und liebevoll wie ich... wie oft musste ich schon gute Freunde an ihn verlieren... das Geld..." "Das Geld, sicher, das Geld", murmelte der Fusselwurm und machte sich sofort an der Registrierkasse zu schaffen, "Und wisse du was, Fye-kun? Ihr könne auch bei mir frühstücke, ganz auf meine Koste! Spezialität des Hauses!" "Oh Gott, Ten-kun, das würdest du wirklich für mich tun? Ich hab solche Angst um dich--...", keuchte ich gequält. "Ja, ja, für eine alte Freund tue ich doch alles! Ihr solle den besten Tisch habe!", versicherte Ten mit kreideweißem Gesicht, "Und du sollse wisse, dass ich auch für dich bete! Hier isse das Geld für die Monster!" Ich versuchte nach Kräften, weiterhin schön geplagt und angstdurchzittert auszusehen, während mir mein Geschäftsfreund hastig tausend Transkos in die geöffneten Hände hineinzählte. Hervorragend. Das würde fürs Erste genügen, um ausreichend Medizin, Kräuter und andere Ausrüstung heranzuschaffen. "Oh Ten-kun, ich verdanke dir mein Leben, ich verdanke dir meine gesamte Existenz, ich verdanke dir alles--..." "Isse keine Problem, wir sinne doch Freunde!", widersprach Ten matt, "Ich gehe eure Tische decke!" Nur mühsam konnte ich den explosiven Lachkrampf unterdrücken, als ich beobachtete, wie der Fusselwurm hektisch hinter dem Thresen hervorwackelte und sich daran machte, einen Tisch für uns zu besorgen, wobei er einen großen Bogen um Kurogane schlug. Dieser runzelte nur skeptisch die Stirn und kam zu mir rüber. "Was hat dieses Vieh denn schon wieder? Konnten Sie ihm wenigstens ein paar Transkos abschwatzen?" "Wir haben tausend Transkos und ein kostenloses Frühstück", erwiderte ich fröhlich und wedelte emsig mit dem Scheinbündel, "Ich musste zwar tief in meine rhetorische Trickkiste greifen und sein Leben mit Ihrer Gegenwart bedrohen, Kuro-shishi, aber ich denke doch, dass das in Ordnung geht angesichts der Tatsache, dass wir endlich wieder flüssig sind?" "Nennen Sie mich nicht so", war die geknurrte Antwort, "Und Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wo wir überhaupt die nötige Medizin und die andere Ausrüstung herkriegen sollen!" "Oh, da machen Sie sich mal keine Sorgen, in Sachen Ausrüstung hab ich einen sehr zuverlässigen Handelspartner. Aber jetzt erstmal zu Tisch. Das Frühstück ist von allen Fusselwurm-Menüs noch das erträglichste." Kurogane ächzte. "Also, wieviele Tage Atembeschwerden und Brechreiz?" Ich grinste nur und nahm meinen neuen Kompagnon am Ellenbogen, um ihn Richtung Tisch zu zerren. "Zirka drei. Mahlzeit!" Nach dem Frühstück fühlte ich mich wie eine Eule, die kurz davor war, das Gewölle wieder auszuspucken. Das Frühstück hatte mindestens aus einer Million Fusseln bestanden... wieso konnte man die Viecher nicht einfach wie Schafe scheren und dann aus den Fussel Wolle oder so machen? Dann wären die Fusseln wenigstens zu was nütze und nicht im Essen.... Doch bevor ich mich darüber weiter aufregen konnte, stieß mir mein Geschäftspartner den Ellenbogen in die Seite. "Was?!", fauchte ich und wandte mich ihm zu. Anscheinend hatte er schon mehrmals versucht, mir etwas zu sagen. "Also... erst einmal scheinen Sie dem lila Fusselwurm dort drüben ziemliche Angst einzujagen, er ist schon ganz fliederfarben..." Eigentlich hatte ich bloß Löcher in die Luft gestarrt, aber das besagte Fusselwesen zuckte doch tatsächlich zusammen, als ich ihm einen kurzen Blick zuwarf. Egal. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf mein Gegenüber, welches fortfuhr: "Aber eigentlich wollte ich fragen, ob wir jetzt nicht die Medizin besorgen gehen?“ Da er dabei schon aufsprang war es wohl eher eine rhetorische Frage gewesen. Also erhob ich mich auch – was auch den Grund hatte, dass ich hier keine Sekunde länger bleiben wollte. Weshalb zwang man sich, dieses Zeug hier zu essen, nur um danach die ganze Zeit das Gefühl haben, sich übergeben zu müssen – oder wahlweise auch, es dann zu tun? Wieder mal war ich froh, das mein Magen einiges aushielt... allerdings hatte man immer noch das Gefühl Watte auf der Zunge zu haben. Widerlich. Doch meinen Begleiter schien das nicht zu stören, denn er zog mich munter schwatzend aus dem Lokal, nicht ohne Ten zuzuwinken, der erleichtert schien, dass wir gingen. Er schlug die Richtung zum Hafen ein, aber das verwunderte mich nicht. Im Hafen bekam man ja alles. Eine Weile später waren wir auch schon dort. „Und wohin jetzt?“, wollte ich wissen. Hier tobte wie gewohnt das Leben, alles und jeder war in Bewegung und es schien ein einziges Chaos zu sein, was seltsamerweise doch geordnete Bahnen aufwies. "Diese Richtung", trällerte mein Begleiter und deutete gen Süd. Dort hinten war der Kai aber nach wenigen hundert Metern fast zu Ende. Schiffe legten dort auch nicht mehr an, nicht mal Boote, denn dort waren Riffe, wegen denen man dort nicht ankern konnte. "Was wollen wir denn da?", fragte ich skeptisch. "Das werden Sie schon sehen", kam es postwendend zurück und der Blonde schlenderte los. Ich setzte mich ebenfalls in Bewegung und bald brauchten wir uns auch durch keine Menschenmassen mehr drängen, sondern standen an der Kaimauer. Unter uns war Wasser, neben uns war Wasser und vor uns auch. Sonst war nichts zusehen. Außer, etwas weiter weg, die kleine Nebeninsel von Uranoke Sho. Ich warf einen misstrauischen Blick zu meinem Begleiter herüber. "Also – ich sehe hier keine Medikamente oder dergleichen", stellte ich fest. "Jetzt seien Sie doch nicht so ungeduldig. Wir sind ja auch noch gar nicht da", gab er zurück und sein Grinsen gefiel mir gar nicht. "Wir müssen nämlich da rüber." Ich folgte seinem ausgestreckten Arm, der auf die Insel zeigte. "Sie können schwimmen, oder?", fragte er. "Ja, sicher kann ich das. Warum?" "Sehr gut. Ein Boot können wir uns nicht leisten! Also, hopp und rein!", rief er. "Auf keinen Fall!", protestierte ich. Ich würde sicher nicht in das Wasser springen. Es war sicher saukalt. "Wieso? Oder können Sie etwa doch nicht schwimmen, hmmm?", fragte er mit hinterhältigem Grinsen. "Natürlich kann ich schwimmen", knurrte ich wütend zurück. "Ach, dann ist Ihnen das Stück sicher zu weit ?", feixte er. Ich sah zu der Insel. Knapp zwei Kilometer, schätzte ich. "Pah, das ist doch ein Katzensprung", schnappte ich. Das würde ich locker schaffen. "Na also. Aber ich bin sicher schneller da als Sie!", sagte er und sprang auch schon ins Wasser. "Das werden wir ja sehen!" Schneller als ich, wohl kaum. Ich hechtete hinterher. Das Wasser war sehr kalt, aber das konnte ich ignorieren. Mit ein paar Schwimmzügen war ich an ihm vorbei. Er grinste mich an und machte größere Schwimmbewegungen, um mitzuhalten. Auf der Hälfte der Strecke keuchte er: "Mann...das nenn ich mal ein Tempo...schwimmen Sie öfter?" "Fast täglich", gab ich zurück. Ich war auch etwas außer Atem. " Eeecht? Ist ja toll...", flötete er und schaffte es, noch etwas schneller zu schwimmen. Wahrscheinlich hätte er mich zugelabert, aber dazu fehlte ihm anscheinend die Puste, außerdem hatte ich ihn jetzt doch abgehängt. Keuchend und prustend ließ er sich neben mir in den Sand fallen. Ich saß seit fünf Minuten hier. Und hier war es sehr windig und kalt. Nicht dass ich zimperlich oder so war – aber hätte er sich nicht einen wärmeren Tag für diese Tour aussuchen können? "Sie hätten ruhig warten können!", schmollte er. "Wieso? Ich dachte, es ginge darum, wer schneller ist?", gab ich zurück. "Nein, eigentlich darum, Sie ins Wasser zu kriegen", meinte er grinsend und rappelte sich auf. "Wir müssen noch um den Felsen da rum und dann sind wir da!", verkündete er. "Na, kommen Sie schon!" Der Schwarzhaarige wirkte nicht sonderlich begeistert. Um ehrlich zu sein, wirkte er im Moment eher wie ein riesiger, durchnässter schwarzer Neufundländer. Dennoch erhob er sich mit einem Grollen wieder auf die Füße und folgte mir. "Haben Sie wenigstens auf die Moneten aufgepasst?" "Klar, die hab ich hier drin", erklärte ich ihm und schwenkte einen kleinen Lederbeutel vor seiner Nase herum, wohl das einzige von meinem Besitz, das mir im Lauf der letzten Monate noch geblieben war. "Könnten Sie vielleicht jetzt endlich so gnädig sein und mir sagen, von welchem Spast Sie Ihre Medizin beziehen?", schnauzte er. "Oh, mein Kontaktmann ist alles andere als ein Spast", gab ich fröhlich zurück, "Ich schätze ihn sehr für seinen Mut, seinen Weitblick, seine Nonchalance, und vor allem für seine Marshmallows." "Wenigstens den Namen könnten Sie mir sagen!" Ich zuckte die Achseln und lotste meinen gereizten Vertragspartner um den mächtigen Felsen herum, der der gesamten Nebeninsel- die von den Bewohnern von Uranoke Sho nur 'Aiboko' genannt wurde- einen leicht bizarren Pinselstrich verlieh. Das ganze Meer war heute in einem stillen, sanft wogenden Blaugrün, der Wellengang mäßig, und es wehte ein sanfter Wind. Wir beide jedoch- durchnässt von oben bis unten, im ständigen Streit und wegen des Fusselwurmfrühstücks immer noch leicht grün um die Nasen- mussten auf ein ahnungsloses Auge wahrscheinlich wie die größten Deppen dieses Planeten wirken. "Sagt Ihnen der Name Clow etwas?", fragte ich schließlich und sah mein Gegenüber prüfend an. Stille. Auf einmal wirkte Kurogane mehr als irritiert. "Clow?!", fragte er entgeistert zurück, "Meinen Sie etwa den Clow?! Den-... ?!!" "Ganz genau den meine ich", erwiderte ich, hochzufrieden, dass er wenigstens etwas mit dem Namen anfangen konnte, und deutete auf das Meer, auf dem Richtung Süden in der Ferne ein undeutlicher Schemen wahrnehmbar wurde. Er wirkte leicht schattenhaft und gespenstisch, und vor allem kam er mit dem Wind von Nordwesten sehr schnell näher. Der Schwarzhaarige riss die Augen auf, als hätte er plötzlich eine Reinkarnation Gottes zu Gesicht bekommen. "ICH GLAUB DAS EINFACH NICHT!!", schrie er und packte mich bei der Schulter, "Was für ein Arzt sind Sie eigentlich?!! Sie sind ständig pleite, Sie essen das Frühstück von Fusselwürmern, Sie springen mitten im April ins Meer-... und dann beziehen Sie Ihre Ausrüstung auch noch von, von-... von einer Crew von Piraten?!!!" "Unser Kandidat hat hundert Punkte!", trällerte ich, hüpfte auf und ab und klatschte meinem neuen Leibwächter frenetisch Beifall, während die Silhouette in der Ferne immer deutlicher sichtbar wurde und langsam die Formen eines Schiffes annahm. "Ist-... ist das--...", stieß Kurogane hervor, und ich nickte. "Ja. Das, mein Guter, ist die Rainshadow! Das Schiff von Captain Clow, dem Robin Hood der Ozeane!" "Wollen Sie mich vergackeiern?! Das ist doch nie und nimmer die Rainshadow! Mit so einem Schiff könnte man nichtmal einen Rettungsring kapern! Und Captain Clow ist kein Robin Hood, er ist ein Verräter, ein Dieb, und ein Meuterer gegen die Handelsflotte für Internationalen Transport!" "Man merkt, dass Sie nicht viel über Captain Clow und seine Crew wissen! Es ist mehr an ihm als die Natur eines Diebes." Ich warf einen Blick aufs Meer hinaus, auf dem die Rainshadow stetig näher kam wie ein junges Seeungeheuer. "Aber das wird Ihnen Clow besser erklären können. Ich kriege wenig mit, weil sie nur etwa einmal im Monat hier anlegen." "Was?! Einmal im Monat?!! Aber das Schiff müsste man doch sogar noch vom Hafen aus sehen!" Ich setzte mein breitestes Wenn du wüsstest -Grinsen auf. "Tja, es ist zwar nicht groß, aber dafür hat es 'ne ganze Menge kleiner Extras intus. Am besten halten Sie ein wenig Abstand." Kurogane schien noch etwas fragen zu wollen, doch auf dem Piratenschiff- das nun schon so nahe war, dass man die Löcher in der wind-und wettergegerbte Takelage zählen konnte- kam plötzlich Leben in die Kiste. Seine Segel wurden ausgerichtet, sodass es wie ein Findling mitten auf dem Wasser stehenblieb. Seile wurden ausgeworfen. Undeutlich sichtbare Gestalten- es waren genau fünf- ließen vorsichtig zwei schwer beladene Ruderboote ins Wasser unter sich ab und gingen an Bord. Dann setzten sich die Boote in Bewegung. Ah, na endlich ging es los! "Heiiiiii! Captain Croohooow!", rief ich und sprang übermütig winkend auf und ab, "Hier drüüübeeen!!" Eine hochgewachsene, langhaarige Gestalt in einem beeindruckenden, vom Meer gezeichneten Gehrock erhob sich im Boot. "Fye-kun, alter Junge! Wir sind jede Sekunde bei dir! Keine Sorge, diesmal haben wir echt prachtvolles Zeug für dich!" Kurogane machte Augen wie Spiegeleier, während die beiden Boote an der Insel auf Grund liefen. "Crow! Sakura-chan! Shaolan-kun, Yuki-kun, Toya-kun!", begrüßte ich jeden einzelnen der fünfköpfigen Piratencrew, "Euer Anblick erfüllt mich mit Freude wie die Aminosäure die Magenschleimhaut! Gottchen, seid ihr sturmzerzaust!" Captain Clow lächelte mich ganz mit der guten Laune eines Seefahrers an und klopfte mir einige Male auf die Schulter. "Das soll jetzt nichts zur Sache tun, Fye-kun. Nett, dich wohlbehalten wieder zu sehen! Wie geht's dir?" "Sagen wir, es geht. Und euch?" "Drei erfolgreiche Kaperfahrten im letzten Monat", sagte Toya, der erste Maat, mit unüberhörbarem Stolz. "Wir wollten noch eine vierte wagen, aber da ist uns eingefallen, dass wir dir ja nochmal Ware vorbeibringen wollten", ergänzte Shaolan und versuchte vergeblich, sich einige haselnussfarbene, salzgebleichte Haarsträhnen aus der Stirn zu wischen. "Du bist ja ganz abgemagert, Fye-kun!", kam es besorgt von Yukito und Sakura, "Schon wieder pleite?" "Tjaaa, ähähhm... ja. Aber dafür habe ich jetzt endlich einen Leibwächter gefunden! Ähm-... darf ich euch Kurogane vorstellen?" "Kurogane Koimihari", ergänzte der Schwarzhaarige, der bis jetzt wortlos hinter meinem Rücken herumgestanden war und den fünf Piraten nun mit der Herzlichkeit eines Basilisken in die Gesichter starrte. "Und Sie müssen zweifellos Captain Clow 'Crow' Reed sein... verzeihen Sie meine Offenheit, aber großen Respekt habe ich nicht vor Ihren Tätigkeiten als abtrünniger Freibeuter gegen die internationale Handelsflotte." "Oh, das geht völlig in Ordnung", lachte der hochgewachsene Mann mit dem schwarzen Zopf und winkte ab, "Dann wissen Sie offenbar nicht bescheid. Lassen Sie mich es Ihnen erklären, Koimihari-san." "Tja, schießen Sie los. Ich glaub Ihnen ohnehin kein Wort." "Ahahah-...", lachte ich unbeholfen, "So ist er immer, weißt du, Crow--..." "Kein Ding, woher sollte er mir auch glauben? Ich bin ein Pirat, genau wie meine Crew!", war die ruhige Antwort, "Na, jedenfalls verhält es sich folgendermaßen: die Handelsflotte für Internationale Transporte ist dekadent geworden, seit sie einen neuen Commodor hat." "Was?!! Dekadent?! Nie und nimmer!", fauchte Kurogane. Ich blinzelte nervös. Crow zuckte die Achseln. "Es ist eine traurige Tatsache. Beobachten Sie die Verhaltensmuster dieser Flotte, Koimihari-san, und Sie werden mir recht geben. Die Flotte zieht immer größere Transportsteuer ein, fordert immer geräumigere Handelsrouten, beansprucht fast alle Ankerplätze komplett für sich und verleibt sich alle kleineren Handelskonzerne entweder ein oder presst ihnen alles an Geld und Waren ab, bis es außer ihnen keine einzige andere Handelsflotte mehr geben wird. Sie wird gesteuert von einem fetten, korrupten Geldsack, dem nur sein eigenes Wohl am Herzen liegt. Da viele zwar darüber bescheid wissen, aber nichts dagegen unternehmen, kapern ich und meine Crew Handelsschiffe dieser Flotte wo und wann wir nur können, zünden sie an und stehlen alles an Gütern, die zur Auslieferung bestimmt sind, behalten zehn Prozent davon für uns und liefern den Rest dann selbst aus- allerdings zu einem Spottpreis." Mein neuer Leibwächter runzelte die Stirn. "So?" "Ja. So, und nicht anders." Ich beobachtete, wie sich Kuroganes Augen verengten und durchbrach die peinliche Stille kurzerhand mit einem Kicheranfall. "Tja, so ist er eben... wir müssen uns noch ein wenig aneinander gewöhnen... wie sieht's denn jetzt mit der Medizin aus, Crow?" "Holt die Kisten raus!", trug der Pirat seinen vier Untergebenen auf, die sich sofort emsig an die Arbeit machten und zwei unförmige, anscheinend ziemlich schwere Holzkisten aus den Booten zerrten. "Das sieht, ähm-... vielversprechend aus, Crow, aber was ist da drin? Hoffentlich keine Stachelschweine wie beim letzten Mal?", erkundigte ich mich vorsichtshalber. "Keine Stachelschweine, versprochen. Lass mich überlegen... die Liste haben wir auch mitgehen lassen...", grübelte der Captain nach, "Auf jeden Fall schon mal Basilikum, Cajeput und Fenchel... und dann noch Brunnenkresse, Gingkoblätter, physiologische Kochsalzlösung, Rosmarin, Weißdorn und auch zehn Pack Rosenblätter und getrocknete Zitronenschale." "Du hast das Gedächtnis eines Elefanten", lobte ich den Captain, "Da wird ja jede graue Gehirnzelle neidisch!" "Man tut sein Bestes. Ach ja, und als kleinen Bonus- extra für dich quasi- haben wir noch eine komplette Tramp- und Reiseausrüstung und noch ein fünfundzwanzigteiliges Set mit allerhand Chirurgenbesteck mitgenommen. Hübsche Dinger, dürften dir gefallen." "Fabelhaft! Ich nehme alles! Aber, ähhm-... wieviel würdest du dafür verlangen? Ich hab nur eine begrenzte Barschaft heute... naja, das war ja eigentlich schon immer so." Crow schien für einige Momente scharf nachrechnen zu müssen. "Sagen wir, fünfhundert Transkos für einen alten Freund." "Waaaaas?!! Fünfhundert?!!", keuchte ich, "Das kannst du mir nicht antun, Crow! Nicht nach drei Monaten Mittellosigkeit! Das ist die größte Hölle, die du dir vorstellen kannst!" "Schon mal bei einem Kanonengefecht auf hoher See dabeigewesen?", fragte der Captain schlicht. "Schon mal bei einer Seekuh-Geburt dabeigewesen?", feuerte ich zurück. "Schon mal gegen einen durchgeknallten Riesenkalmar gekämpft?" "Schon mal tumorale Abessenz ins Gesicht gekriegt?" "Wenn ich bescheidentlich anmerken dürfte", unterbrach Yukito unser Erlebnisduell freundlich, "Ihr werdet noch bis morgen hier stehen. Und das Essen auf dem Schiff wird kalt." "Waaaaaaaas?!", riefen Shaolan, Toya und Sakura wie aus einem Mund, offenbar bereits am Verhungern. "Schon gut, schon gut...", winkte Clow ab und deutete auf die beiden Kisten, "Also, Fye-kun, hör zu. Diese beiden Kisten, bis zum Bersten voll mit Medikamten und Heilkräutern inklusive der Tramp-und Chirurgie-Ausrüstung für dreihundert... nein, sagen wir dreihundertfünfzig Transkos. Das ist so billig, dass jede Kommerz-Omi aus Uranoke Sho gerannt kommen würde." Ich stieß einen bodenlosen Seufzer aus. Im Gegensatz zu Ten konnte man mit Clow wenigstens noch ansatzweise verhandeln, aber auch er war nur bis zu einem gewissen Grade hin rabattisierbar. Naja. Besser als fünfhundert. "Also schööön... dann geb ich dir dreihundertfünfzig für den Kram. Wieviel hätte ich bei der Handelsflotte zahlen müssen?" "Zwanzigtausenddreihundertzehn", erklärte Toya nüchtern, und ich sank mit einem lauten Aufächzen in mir zusammen. "Crow, hab ich dir schon mal gesagt, dass ich dich so heiß und innig liebe wie meine hoffentlich noch intakte linke Niere?" "Jepp, so an die zwanzig- bis dreißigtausendmal", lachte der Captain und klopfte mir kumpelig auf die Schulter. Ich lachte mit, während ich ihm dreihundertfünfzig Transkos in die Hände zählte. "Hier, kauf dir 'nen neuen Gehrock!" "Das werde ich. Es ist immer wieder 'ne Wohltat, Geschäfte mit dir zu machen. Und dein neuer Leibwächter ist auch nicht ohne." "Tja, er wird hoffentlich ein Tumor für alle Gefahren sein, die mich zukünftig umzingeln", kicherte ich und winkte Kurogane von weitem jovial zu, was diesen nur zu einem Grollen animierte. Was hatte der bloß wieder? Ich war ein wenig auf Abstand gegangen, um mir die 'Aneiame', wie es in Schriftzeichen für Schatten, beziehungsweise Düsternis und Trübsinn und für Regen auf den Bug geschrieben war. So lautete der Name in Kongoseki Oka, das Land in dem Uranoke Sho lag. In internationalen Gewässern 'Rainshadow' – Schattenregen. Ein Einmaster, mit großem Segel, mittelgroß, schnittig, wendig. Eindeutig ein Piratenschiff. Ich hatte von dem Schiff gehört. Gerüchte, Geschichten, keine Fakten, zumindest keine, die nicht vielleicht doch übertrieben waren. Aber dass wir mit ihnen Geschäfte machen würden, hätte ich ja nicht gedacht. Obwohl – ich hatte meinem Arbeitgeber so etwas in der Art zugetraut. Mir war gar nicht wohl dabei, mit den Piraten Geschäfte zu machen. Allerdings klang die Erklärung des Captains plausibel... wenn ich so über die Handelsflotte und die Methoden nachdachte... auch die der Internationalen Wasserschutzbehörde, der Marine... Ich stieß ein Grollen aus, als der Idiot von Arzt mich heranwinkte. Verdammt noch mal, ich hasste es mich herumscheuchen zu lassen. Vor allem von ihm. Besagter deutete gerade auf die zwei Kisten. Jetzt sollte ich auch noch Packesel spielen oder wie?! "Was denn?", brummte ich missmutig. Clow war mittlerweile wieder zu den Ruderbooten zurück, die klar zum Ablegen gemacht wurden. Es wurde noch ein wenig gewinkt, und bald waren die Boote wieder auf dem Weg zur 'Rainshadow'. "Wir haben alles!", verkündete der Arzt. "Ich hab’s mitbekommen. Ich bin ja nicht blöd", murrte ich zurück, "Und?" "Ach kommen Sie schon, für Sie sollten diese Kistchen doch rein gar nichts wiegen", meinte er fast beiläufig. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. "Schleppen Sie Ihre dämlichen Kisten gefälligst selber! So war das nicht abgemacht!", knurrte ich zurück. „Aaaaaah! Moment!" Das Grinsen, das er jetzt draufhatte, ließ bei mir sofort die Alarmglocken losschrillen. "Sie wollen schließlich fünfzig Prozent! Da müssen Sie aber auch schon was für Ihr Geld tun!", eröffnete er mir. Das passte mir nicht, aber irgendwie hatte er leider recht. "Und außerdem – das können Sie mir nicht antun.... ich bin viel zu schwach und mein Rücken, wissen Sie, der hat auch schon bessere Tage hinter sich und außerdem..." "Kommen Sie oder wollen Sie da Wurzeln schlagen? Die Kisten sind schwer!", fuhr ich ihn an, nachdem er keine Anstalten machte, sich in Bewegung zu setzen, während ich inzwischen schon beide Kisten hochgewuchtete hatte. Was war da drin? Steine?? So viel konnten ein paar Kräuter, Skalpelle und Zeltausrüstung doch nicht wiegen... anscheinend taten sie’s aber doch. Dann fiel mir etwas ungemein Wichtiges auf. Wir waren hergeschwommen... Ich blieb an der Wasserlinie stehen. "Was ist los?", fragte der Blondling verdutzt, als sei ich gerade vom Himmel gefallen und nicht einfach nur stehen geblieben. "Sie glauben doch nicht wirklich, dass man mit den Kisten schwimmen kann?!", gab ich zurück und sah ihn misstrauisch an. "Aber klar, das geht! Ich hab's schon öfter gemacht!", plapperte er, während er mich einfach vorwärts stieß. Da sich mein Schwerpunkt durch die Kisten weiter nach vorn verlagert hatte, gelang ihm das ohne Probleme. Nur leider eröffnete er mir, erst, als ich gemerkt hatte, dass diese Kisten nicht schwimmtauglich waren, dass er dabei regelmäßig fast abgesoffen war. Ich hatte auch einige Problem damit, mich und die Kisten über Wasser zu halten und dann auch noch zu schwimmen. Aber mein Partner machte auch keine Anstalten, mir zu helfen, zumindest war er keine sonderliche Hilfe darin, mir die ganze Zeit nur Ratschläge zu erteilen. "Tun Sie die Kisten doch einfach auf Ihre Schultern drauf, dann können Sie die Arme frei bewegen! Oh halt, stimmt nicht, die Arme sind ja von den Schultern abhängig... hähhm... dann klemmen Sie die Kisten doch einfach zwischen die Beine! Oder setzen Sie sie auf Ihren Bauch und schwimmen Sie auf dem Rücken! Nichts leichter als das, das hab ich auch schon tausend Mal gemacht! Oder, wissen Sie was? Nehmen Sie die Kiste mit den Händen und rudern Sie nur mit den Füßen! Oh nein, dann sinken Sie ja ab-... ganz schön kompliziert, was? Ja, das dachte ich auch immer." "KLAPPE!", schrie ich ihn an, während ich dabei fast wieder absoff. Ich würde ihn liebend gern erwürgen, doch leider hatte ich keine Hand frei. "Aber wieso denn? Ich will Ihnen doch nur helfen!", ereiferte er sich. "Sie könnten sich die Kisten natürlich noch auf den Rücken packen, oder auf den Nacken, oder--..." "Und Sie können sich ihre schlauen Ratschläge sonst wohin stecken! Ich sagte Klappe halten! Wenn Sie mir helfen wollen, dann nehmen sie eine dieser gottverdammten Kisten!" "Ich bin erstaunt, dass Sie noch soviel Luft zum herumtoben haben und dabei kein Wasser schlucken", meinte er, als wäre das die neueste, ultimative Studie. "Außerdem, Sie sind schon wieder so unfreundlich, wie wäre es, wenn Sie sich einfach mal entspannen? Das ist auch viel besser für den Blutdruck und hinterher bekommen Sie noch einen Schlaganfall oder Herzinfarkt – und glauben Sie mir, ich weiß wovon ich rede! Außerdem, es ist ja nicht mehr weit, sehen Sie? Vielleicht noch einen Kilometer! Also ich hab immer viel länger gebraucht..." Ich bereute es zutiefst, mehr als alles andere, dass ich mich auf diesen Job eingelassen hatte. Mir wäre es lieber, ich stände immer noch auf dieser Treppe – da hätte ich ihn wahrscheinlich dann runtergestoßen und wäre ihn los. Doch ich Vollidiot musste ja so beknackt sein und diesen absolut hirnrissigen Job bei diesem völlig durchgeknallten Psycho-Arzt annehmen!! Verdammte Arbeitsvermittlung. Leider musste man ja von irgendwas leben... Und ich geriet irgendwie immer an die merkwürdigsten Leute. Was hatte ich nur falsch gemacht...? Besagter Psycho riss mich dann auch wieder aus meinen Gedanken, indem er verkündete, dass es nur noch wenige Meter waren. Na, zur Hölle, das wurde auch Zeit. Schnaubend und nervlich am Ende wuchtete ich die Kisten auf die Kaimauer und kletterte hinterher. Der Blonde kraxelte grinsend hinter mir her und stützte sich mit dem Ellenbogen auf die Kisten ab. "Jetzt müssen die nur noch ins Hotel!" "Was, was, was-... was schleppen Sie denn diesmal wieder für einen Unbill an?!" Der Portier machte ein Gesicht wie ein Operettensänger, der mitten in seiner Arie eine Motte in den Hals gekriegt hatte. "Keine Sorge, Herr Yaki-Yuki, es ist weder atomarer Giftmüll noch eine Horde von Stachelschweinen", versuchte ich, den aufgebrachten spätreifen Herrn in den Sechzigern wieder zu beruhigen, "Es ist ganz normale pflanzliche Medizin, eine Ausrüstung für chirurgische Eingriffe und einige Zelte und Rucksäcke, alles auf völlig legitime Weise besorgt!" Herr Yaki-Yuki starrte mich mit einem offenen und einem zugekniffenen Auge an. "Das mag ja alles stimmen, Herr de Flourite, aber so langsam platzt mir der Kragen mit Ihnen!! Ständig schleppen Sie allerhand seltsames, verrücktes Zeug hier an, schon seit Sie hier logieren-... und von den seltsamen, verrückten Leuten wollen wir gar nicht mehr reden", schloss er mit deutlicher Antipathie und warf einen naserümpfenden Blick Richtung Kurogane, der sich auf einer der Holzkisten niedergelassen hatte und den gereizten Blick des Portiers ebenso gereizt erwiderte. "Äähhm, wissen Sie, Herr Yaki-Yuki, d-das ist nur mein neuer Leibwächter, kein Grund zur Beunruhigung, er beißt niemanden, er schnappt nur, äh, na, jedenfalls wollte ich fragen, ob ich die Kisten vielleicht mit hoch nehmen könnte?" "Ach ja, Sie wollen mich fragen?", war die gebellte Antwort, "Dann frage ich Sie jetzt auch etwas! Wann- zahlen- Sie- mir- endlich- Ihre- ganzen- Schulden- zurück?!! Sie liegen mittlerweile bei über dreißigtausend Transkontinental-Dollar!" Ich stieß ein Ächzen aus und schaltete sofort auf Durchzug. Geldsorgen waren jetzt das Letzte, was ich gebrauchen konnte. "Hören Sie, Herr Yaki-Yuki, ich befinde mich momentan in einem finanziellen Notstand, kann ich nicht--.." "NEIN, Sie können nicht!! Ich befinde mich ebenfalls in einem finanziellen Notstand, den ich allein Ihnen zu verdanken habe! Also können Sie sich jetzt so langsam mal überlegen, wo Sie das Geld auftreiben wollen, um Ihre Schulden endlich zu tilgen, oder Sie werden aus diesem Hotel ausgewiesen und bekommen ein Verfahren an den Hals!" "Ist ja gut, ist ja gut, ist ja gut, beruhigen Sie sich, denken Sie an Ihr Herz!", versuchte ich es schließlich, "Machen wir es doch so: bei meinem nächsten Auftrag bekomme ich sicher genug Geld, um Sie bezahlen zu können, und Sie warten einfach bis dahin, in Ordnung? Ich bitte Sie darum!" "Ich warne Sie! Wenn ich nach Ihrem nächsten Auftrag kein Geld sehe, fliegen Sie raus!" "Ich schwöre es, so wahr mein Hirn Endorphine ausschüttet", gelobte ich und winkte schließlich Kurogane heran, der murrend herübergestapft kam. "Ho, Kuro-chii! Lassen Sie uns klar Schiff machen und die Kisten nach oben tragen!" "NENNEN SIE MICH NICHT SO!!" Statt einer Antwort musste ich- gegen meinen Willen- ein wenig lächeln. Ein mittelloser Arzt und ein chronisch schlecht gelaunter Leibwächter. Wie das wohl bei unserem ersten Auftrag aussehen würde? Naja. Schlimmer als die Apokalypse konnte es immerhin nicht werden. Kapitel 2: Ascariasis - 1 ------------------------- Piiiiiiiep. Piiiiiiiiiiiiep. Piiiiiiiiiiiiiiiep. Piiiiii--... Ich riss die Augen auf. Ein herzzerreißendes Kreischen riss mich aus tiefstem Koma hoch und ich kam erstmal gar nicht dazu, richtig ins bewusste Sein zurück zu finden, da es mein Körper offensichtlich besser fand, eine Art Reflexbewegung nach oben zu vollführen. Das Ergebnis war, dass ich aus dem Bett fiel und unter ohrenmarterndem Krach mit dem Boden Bekanntschaft machte. Ich beließ es jedoch dabei, auf dem Boden liegen zu bleiben und meinem uralten Reisewecker den Saft abzudrehen. Na exzellent. Der Morgen fing ja schon vielversprechend an. Mein Rücken schmerzte wie verrückt, und das seit gestern. Mann! Wieso zum Teufel war Kurogane einfach so abgehauen? Er hätte mir wenigstens noch beim Hochtragen der Kisten helfen können! Aber nein, er war einfach von dannen gezockelt, ohne eine helfende Hand zu rühren, ganz zu schweigen von einem Abschied. Also hatte ich mich an ihn dranhängen und ihn so lange bequatschen müssen, bis er immerhin bereit war, mit mir noch einen Treffpunkt für den nächsten Tag zu vereinbaren. Gottchen auch, dieser Kerl besaß wirklich die Geschäftstreue eines Grippebazillus. Ich stieß einen beinbrechenden Seufzer aus und quälte mich jammernd vom Boden hoch, um zu meinem Kleiderschrank zu humpeln und mein Äußeres auf einen halbwegs gesellschaftsfähigen Stand zu bringen. Ich hatte mich mit Kurogane für elf Uhr vor dem Hotel Grande verabredet, um zu besprechen, wie es jetzt weitergehen sollte. Wir hatten jetzt zwar alles, was man für eine erfolgreiche Mission benötigte, aber die Mission selbst fehlte uns noch. Und die beste Möglichkeit, an solch eine Mission zu kommen, war ein Besuch beim Postamt von Uranoke Sho, denn dort gab es auch eine separate Telegramm-Abteilung für Nachrichten an Auftragsärzte wie mich. Es war ein völlig simples System: man schickte ein Telegramm mit einer kurzen Beschreibung der Krankheit inklusive Angabe der Adresse an die Abteilung; wenn die Botschaft schließlich ankam, wurde sie einem sogenannten Telegrammboten zugeteilt, der den Job dann an einen Auftragsarzt weiterleitete. Es galt als schick, einen eigenen Telegrammboten zu beschäftigen, auch ich hatte zwei, Hokuto und Subaru Sumeragi, zwei Zwillingsgeschwister, die ich nie richtig auseinanderhalten konnte. Die beiden waren wirklich genügsam wie ein Hefepilz, denn sie machten sich nie etwas draus, wenn ich sie mal nicht bezahlen konnte, was ja eigentlich ständig der Fall war. Aber ein Besuch beim Postamt würde sich sicher in jedem Falle lohnen, also versammelte ich sämtliche Reste meines Elans, brachte ein wenig Ordnung in meinen zerzausten Skalp, wusch mich, schlüpfte in meine Werktagsgarderobe und verließ mein Zimmer, um hastig die Treppe Richtung Erdgeschoss runterzupoltern, es war immerhin schon fünf Minuten vor elf. "Herr Yaki-Yuki, ich bin heute außer Haus!", rief ich Richtung Empfangsschalter, während ich quer durch das Foyer zum Eingang jappelte, "Passen Sie auf, dass niemand meine Ausrüstung klaut!" Der Frühsechziger glotzte mir nur mit seiner üblichen Resignation hinterher. "Die will hier kein Mensch klauen." "Der Mensch ist so diebisch wie die gemeine Schuppenflechte, denken Sie daran!", trällerte ich noch fröhlich über die Schulter und verließ unter den kopfschüttelnden Blicken meines Portiers das Foyer. Das Wetter- eine wunderbar warme, strahlende Aprilsonne stand an einem kornblumenblauen Himmel, begleitet von einer erfrischenden Seebrise- reichte mir, um meinen anfänglichen Bedenken den Laufpass zu geben, und ich spurtete in Hochstimmung Richtung Hafenpromenade, geradewegs zu der kaputten Straßenlaterne am Ankerplatz des Fusselwurmkutters 'Otter', die die Stadtverwaltung immer noch nicht gegen eine Neue ausgetauscht hatte. Kurogane hatte mir versprochen-... naja, okay, er hatte mir versichert-... oder nein, er hatte eher nur gesa-... okay, okay, er hatte angedeutet , dass er um elf Uhr hier auf mich warten würde, damit wir uns nach Arbeit umsehen konnten. Und wenn er nicht jetzt nicht da war, dann war ich aber ernsthaft beleidigt. Und das bedeutete wiederum, dass ich die große Spritze rausholte und damit auf Jagd ging. Moment mal, ich hatte ja gar keine große Spritze mehr... naja, egal. Ich war am Ankerplatz angekommen und sah mich wie verrückt nach meinem neuen Leibwächter um, fand ihn jedoch nicht. Na toll! Also, wenn ich jetzt meine große Spritze gehabt hätte... "Ach Mann, dieser unsägliche Geschwulstenfritz!", sagte ich empört, eigentlich zu niemand bestimmtem- jedoch wurde ich schon im nächsten Sekundenbruchteil hart an der Schulter gepackt und herumgerissen, sodass mir nichtmal Zeit zum Luftholen blieb. "WER IST HIER EIN GESCHWULSTENFRITZ?!!!" Ich blinzelte einige Male hektisch und zauberte dann so rasch als möglich mein Bitte nicht schlagen -Lächeln aufs Gesicht. "Oh, ähhhhm, guten Morgen, Kuro-ron!" "Es ist auf keinen Fall ein guter Morgen!", zischte ich. Erstens, weil ich ihn ertragen musste und zweitens hatte ich Kopfschmerzen – ich schob es auf das gestrige Fusselwurm-Frühstück. "Und nennen Sie mich nicht so, verdammt noch mal!" Nie wieder, so schwor ich mir, würde ich so was noch mal essen – selbst wenn es mich davor bewahrte, zu verhungern. "Ich hab das eben nicht so gemeint wissen Sie? Ich dachte nur, Sie würden nicht kommen...", plapperte mein Gegenüber auch schon drauf los. "Ich habe doch gesagt, dass ich komme", knurrte ich. „Na jaaaa...“, meinte er gedehnt. "Was 'na jaaa', he??", fragte ich verärgert nach, als er nicht weiter sprach. "...Sie müssen zugeben, dass Sie nicht sonderlich vertrauensselig aussehen, und...." "Ach ja?", fauchte ich. "Vielen Dank auch! Das müssen Sie mit Ihren dubiosen Geschäftspartnern ja gerade sagen!" "Shhht! Nicht so laut!", meinte er und wedelte hektisch mit den Armen. "Ist ja gut, ich wollte Sie nicht beleidigen, dass war lediglich eine Tatsache, nein halt, eine Feststellung die ich für mich getroffen habe... aber Sie könnten wirklich mal etwas freundlicher gucken und..." Ein Blick von mir – alles andere als freundlich, wohlgemerkt – ließ ihn verstummen. "Schon gut... ähem...vergessen wir das", meinte er und setzte ein Lächeln auf, das mich wahrscheinlich besänftigen sollte. "Wollen wir dann? Also, zum Postamt?" "Wir gehen da doch sowieso hin, oder nicht? Also, was fragen Sie da noch?", murrte ich. "Weil eine gute Kommunikation zwischen zwei Personen nie verkehrt sein kann, deshalb", gab er gutgelaunt zurück. "Es kann aber auch manchmal nicht verkehrt sein, einfach mal den Rand zu halten, um seine Umwelt nicht mit Schwachsinn zu nerven", knurrte ich zurück. "Sehen Sie! Es gibt viele verschiedene Ansichten von Gesprächen, finden Sie nicht auch?", fing er an und setzte sich gleichzeitig in Bewegung. "Ob wir heute schon einen Auftrag haben? Nun – ich würde es auf jeden Fall begrüßen. Vor allem bin ich sehr gespannt, was es sein könnte. Ich meine, es gibt so viele Krankheiten und Leiden...." Er hielt in seinem Redeschwall inne und hörte auch auf, wild mit den Händen in der Luft herumzugestikulieren. "Da fällt mir ein, haben Sie Ahnung von Medizin?" "In welchem Sinne?", wollte ich wissen. Studiert hatte ich das nicht, aber einen Verband anlegen, dazu war ich in der Lage. "Welche Krankheiten kennen Sie und wissen Sie, wie man sie behandelt? Oder Anatomie, wie steht’s damit? Können Sie Influenza von Gelbfieber unterscheiden? Nervenbahnen, Muskelaufbau", er kicherte leise, "Okay, zumindest davon scheinen Sie etwas zu verstehen...Knochen und so weiter?" Ich grollte etwas genervt vor mich hin, bevor ich sagte: "Das ist nicht mehr allgemein, sondern schon speziell. Ich weiß wie man Schnitt- oder Schürfwunden behandeln kann oder was gegen Erkältung hilft." "Oooh...", machte er. "Das ist zumindest ein Anfang! Na dann denke ich, es wäre besser, wenn ich Sie ein wenig anlerne! Dann können Sie mir assistieren. Ich hoffe Sie können Blut sehen?" Er grinste mich breit an. "Glauben Sie, jemand kann über die Nase verbluten?", knurrte ich zurück und er sah mich erstaunt an. "Wie?", fragte er irritiert. "Ich habe Kopfschmerzen, also, halten Sie gefälligst die Klappe und lassen Sie mich in Ruhe. Sonst werde ich es an Ihnen ausprobieren, klar?" "Äh – ich glaube nicht, dass jemand über die Nase verbluten kann – das Blut gerinnt zu schnell und die Menge reicht überhaupt nicht aus, um..." "KLAPPE HALTEN!" "Wollen Sie ein Aspirin?", fragte er nach einer Weile vorsichtig. "Haben Sie eins?" "Nein." "Wieso fragen Sie dann?" "Weil ich Arzt bin und helfen will." "Sie helfen mir schon mit Ihrer Abwesenheit." "Das ist aber nicht nett." "Das war auch nicht nett gemeint." "Da ist das Postamt!" Das Postamt war ein großes Gebäude, mit stufenreicher, breiter Treppe, dessen Absatz unter einem von Säulen gestützten Dach endete und nach einigen Schritten in hohe, aus edlem Holz bestehende Türen als Eingang überging. Würde man durch diese Türen gehen, würde der Blick auf eine penible saubere Eingangshalle fallen, an dessen Ende einige Schalter mit immerzu herumgrinsendem Personal fallen. Links davon die Postfächer, die je nachdem leer waren oder schier überquollen... Ich wünschte, dass wir keinen Auftrag bekamen, denn ich hoffte, dann könnte ich einfach wieder nach Hause gehen und noch etwas schlafen. Die letzte Nacht war nämlich nicht sehr angenehm gewesen. Erstens mussten sich meine Nachbarn lautstark streiten – nicht dass sie das sonst nicht taten, aber da schrien sie sich wenigstens tagsüber an. Zweitens war mir wegen dem verdammten Fusselwurm-Fraß immer noch übel. Und drittens war ich heute viel zu früh aufgestanden... Ich wurde in meinen Überlegungen unterbrochen, als mir ein schwarzhaariger Junge in Botenuniform auffiel, der auf uns zugerannt kam, anscheinend sehr darauf bedacht uns möglichst schnell zu erreichen. Vor uns blieb er stehen und schmiss sich in eine atemlose Verbeugung. "Fye-san! Gut, dass ich Sie sehe! Ich entschuldige mich vielmals, falls ich mich verspätet habe." "Aber nicht doch, Hokuto-chan", meinte Fye. "Sie verwechseln mich schon wieder, Fye-san! Ich bin doch Subaru!" "Oh Gott!", rief ich sofort, "Subaru-kun, bitte, verzeih mir nur noch ein einziges Mal! Ich bin wirklich dümmer als eine Pilzhyphe!" "Seit wann so ehrlich?", knurrte es hinter meinem Rücken. "Ach, das geht schon in Ordnung, Fye-san", gab Subaru zurück, und obwohl er immer noch keuchte wie eine asthmatische Seidenraupe, begann er auch schon, emsig an den weiten Taschen seiner dunkelblauen Uniform herum zu fummeln, als-... als würde er-... ja, als würde er tatsächlich--... "S-... Subaru-kun! Mein Junge! Hast du etwa tatsächlich einen Auftrag für uns?!!" Mit sichtlichem Stolz überreichte mir der schwarzhaarige Spund ein sorgfältig in lausgraues Zellpapier verpacktes, mit Siegellackstempel geprägtes Missionstelegramm, als hätte er den Pharaonenschatz der Wüste Gobi an einem einzigen Tag gehoben. "Jawoll! Hier ist Ihre nächste Mission! Hab nach dem Einlaufen des Telegramms eine Stunde drum gekämpft, um Sie Ihnen überbringen zu können, damit Sie wieder einen Auftrag haben, Fye-sa-..." Das war eindeutig zuviel für mein sentimentales Herz. Ich ließ Subaru gar nicht erst ausreden, sondern warf in einem wilden, beinahe schon unanständigen Anfall von hundert Prozent sattverschnulzter Euphorie meine Arme in die Luft und mich selbst Subaru an den Hals, sodass dieser knallrot vor Schreck in die Knie knickte und größte Mühe hatte, nicht einfach umzufallen. "Gott! GOTT!! Subaru-kun! An mein Herz, mein Junge, an mein pochendes, zweikammriges, aortagesegnetes Herz!!" "F-... fye-sa--..." "GOTT!! Ich kann es einfach nicht glauben, nein, ich glaub das einfach nicht, das ist ein ätherisch-surreales-unerfassbares Phänomen für mich, ach was rede ich da, es ist einfach zum Sterben phänomenal!! Phänomenaler als phänomenal! Lass mich dich drücken!!" "Fye-sannnn-...", röchelte Subaru, mittlerweile schon veilchenblau im Gesicht, "Bitte, Sie-... Sie brechen mir die Wirbelsäule!!" "Oh! Tut mir leid!", entfuhr es mir überrascht, und ich ließ ihn verständlicherweise sofort los, "Na, hähhm-... auf jeden Fall meinen ehrerbietigsten Dank für deine Bemühungen, Subaru-kun! Dein Wort im Ohr des epipheren Zervell-Zentrums!" "Tja, frische Aufträge sind sehr rar geworden in letzter Zeit." "Du bist wirklich ein legitimes Phänomen! Und diesmal bin ich ja auch nicht mehr allein!" "Ah!", rief Subaru erfreut, "Hat sich endlich jemand auf Ihre Anzeige gemeldet?" "Und ob! Subaru-kun, darf ich dir meinen neuen Leibwächter Kurogane Koimihari vorstellen? ... Kuro-pii? Das ist Subaru Sumeragi, einer meiner beiden Telegrammboten!" "Tach", brummte Kurogane einsilbig und starrte Subaru so feuergefährlich an, dass dieser augenblicklich in sich zusammensank wie eine unprofessionell gebackene Schattenmorellentorte. "E-ee-es freut mich sehr, K-k-koimihari-san-..." "Von mir aus." "W-... wissen Sie, Sie d-dürfen sich glücklich schätzen, so als Reisebegleiter v-von Fye-san-..." "Junge, nimmst du gewohnheitsmäßig Drogen, oder nur ab und zu?" Subaru wurde leichenblass, sodass ich mich wieder einmal genötigt sah, einem Tod durch Panikattacken vorzugreifen. "Ahahah, so ist er immer, weißt du, Subaru-kun... du kannst ihn übrigens gern Kuro-chin nennen, er freut sich!" "FRESSE HALTEN!!" "Äh-... ähh-..." "Oh, mach dir keine Sorgen, er schreit oft so rum! Damit will er gegenüber anderen Individuen seine Freude ausdrücken!" "AAARRRRRRRGH!!!" Als sich mein neuer Leibwächter mal wieder für die Option der Verzweiflungsflucht entscheiden wollte, schaffte ich es gerade noch, ihn beim Handgelenk zu erwischen. Ich umklammerte seinen Arm mit beiden Händen, warf mich mit meinem ganzen Gewicht nach hinten und stemmte mich noch als Dreingabe mit meinem rechten Fuß gegen einen der mächtigen Marmorsockel vor dem Postamt. "LASSEN SIE MICH!!" "Ja-... also-... Subaru-kun-...", stieß ich zwischen meinen wilden Hau-ruck-Manövern hervor, von denen ich hin- und hergerissen wurde wie in einer überdimensionalen Waschtrommel, "Dann-... danken-... wir-... dir-... ganz-... herzlich!" Der junge Telegrammbote schien ein wenig überfordert von der wilden Tauzieh-Aktion, die Kurogane und ich hier auf dem Bürgersteig veranstalteten- ebenso wie die hübsche Zahl an Passanten, die an uns vorbeikamen- dennoch nickte er. "Hab ich doch gern gemacht, Fye-san. Und ich hoffe natürlich, dass Sie den Auftrag-... ähhh-... gemeinsam schaffen werden-... ich habe noch andertweitig zu arbeiten, ich wünsche Ihnen und Koimihari-san viel Erfolg für den Job!" "Wir-... danken-... dir! Mach's-... gut, Subaru-... Kun!" Trotz aller Geschäftsfreundschaft hatte der gute Subaru es doch recht eilig, von hier wegzukommen, er verbeugte sich noch einmal flüchtig und rauschte von dannen, während mir die Hin-und Herzerrerei mittlerweile doch gehörig auf die Arme ging. "Jetzt hören Sie doch auf, Kuro-pyon, Sie reißen mich ja noch in tausend Stücke! Außerdem haben Sie Kündigungsschutz für ein Jahr, schon vergessen?! Böser Junge! Aus! Ksch!" Das wirkte. Mit einem Stöhnen, um das jeder deprimierte Poltergeist ihn beneidet hätte, gab mein neuer Leibwächter seine Fluchtversuche endlich auf. "Sie können einem so tierisch auf den Sack gehen!!" Ich schnaufte einige Male tief durch und bediente mich zur Abrundung des Ganzen eines Na geht doch -Lächelns. "Wieso denn? Freuen Sie sich lieber, wir haben endlich eine Mission!" "Bin nur gespannt, zu was für einem Idiotendienst wir hier bestellt werden", war die geächzte Antwort. "Analysieren geht über studieren!", beschwichtigte ich ihn und öffnete das sorgfältig gefaltete Telegramm. In fetter, schwarzgedruckter Schreibmaschinenschrift offenbarten sich uns folgende Zeilen: BITTE DAS HIER IST WICHTIG stop ABSOLUTER NOTFALL stop FALL mehrere offensichtl erkrankte harpyien wissen aber nicht was stop krankheit breitet sich RASCH AUS stop bemerkten blutige auswürfe apathie erschwächung tod durch verhungern stop am schlimmsten bei nestflüchtern stop Lohn nach Absprache stop jegliche Maßnahmen gebilligt stop Absender GHÂLIL Bürgermeister/Häuptling von SHURYOTORI AITOKI stop Lange sagte niemand mehr etwas, bis sich Kurogane schließlich wieder regte. "Shuryotori Aitoki?", wiederholte er die Adresse und hob skeptisch die Augenbrauen, "Ist das nicht die offiziell anerkannte Hauptstadt für alle Harpyien dieses Landes?" "Und ob es das ist!", schäumte ich vor Begeisterung, "Wissen Sie, was das bedeutet? Wir werden das unsägliche Glück haben, mit Harpyien arbeiten zu dürfen! Ich liebe Harpyien, es sind einfach wunderschöne Geschöpfe!" "Bah!", stieß mein Leibwächter nur angeekelt hervor, "Verlauste Baumbewohner ohne Kultur und Anstand!" "Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich von jeder andersartigen Spezies so eine schmeichelhafte Meinung?", erkundigte ich mich. "Ich halte von jeder Spezies, was ihr zusteht", erklärte mir der Schwarzhaarige kalt, "Ebenso vom Menschen." Ich höre nur mit halbem Ohr zu, denn hinter meinem Kopf waren bereits alle Rädchen am Rattern. Blutige Auswürfe, Apathie, Erschwächung und Tod durch Verhungern, vor allem bei den Nestflüchtern... bei der Gattung der Harpyien- Harpyhaliaetus humani generis similis, wörtlich übersetzt 'räuberischer, menschenähnlicher Einsiedleradler'- kamen dafür viele Krankheiten in Frage, da sie oft die gleichen Symptome aufwiesen. Dazu kam noch, dass man bei diesen Wesen aufgrund ihrer partiellen Mensch- und Vogelähnlichkeit oft vieles aus Veterinär-und Humanmedizin gleichzeitig berücksichtigen musste, was sie nicht gerade zu einfachen Patienten machte. Wenigstens gab es da von der Wesensart her keine Probleme, Harpyien waren zwar stolz, gelegentlich streitsüchtig und blieben gerne unter sich- was auch die separate Hauptstadt erklärte-, aber sie verfügten ebenfalls über ein gewisses Maß an Vernunft. "Na?", erkundigte sich mein Leibwächter soeben ungeduldig, "Wissen Sie schon, was es sein könnte?" "Nicht unbedingt", gab ich zu, "Vergessen Sie nicht, dass Harpyien gewissermaßen Vögel sind, und da gleichen sich die Symptome bestimmer Krankheiten gern untereiander. Sozusagen ein Anzeichenkuddelmuddel." "Na ganz hervorragend. Wie wär's mit einer Top Ten?" Ich hob amüsiert die Augenbrauen. Der Kerl hatte vielleicht Methoden! "Eine Top Ten? Okay, lassen Sie mich überlegen... bei Krankheitsanzeichen wie diesen schätze ich mal auf eine ziemlich große Auswahl, aber da es am meisten die Nestflüchter betrifft, kann man diese Auswahl auf folgende Krankheiten beschränken: Chlamydien-Erkrankung, Aspergillose, Bürzeldrüsentumor, Cholera, infektöse Gastritis, Befall durch Darmpolypen und Kropfentzündung." Der Schwarzhaarige blinzelte einige Male. "Okay. Und was bedeutet das ins niedere Leibwächter-Patheois übersetzt?" Ich lachte nur und hüpfte zufrieden auf und ab. "Das erkläre ich Ihnen auf der Reise! Denn jeeeeetzt, mein Guter, satteln wir die Hühner!" "Häääh, was meinen Sie denn dam--...", fing Kurogane überrumpelt an, ich war jedoch schneller- ich wirbelte herum, packte ihn kurzerhand am Handgelenk und preschte los, sodass er mir wohl oder übel nachstürmen musste, wenn er sein Gelenk behalten wollte. Die unzähligen Passanten auf dem breiten Bürgersteig spritzten wie Kies auseinander, um nicht von uns über den Haufen gerannt zu werden, man stolperte, man stieß erschrockene Schreie aus und purzelte wie Dominosteine übereinander, vor allem die Wesen von kleinerem Wuchs, während wir uns drehend und hüpfend und rennend einen Weg durch die Masse bahnten. Schon bald war es das perfekte Chaos. "Wow, ist das nicht unglaublich?!", jubilierte ich über meine Schulter, wo mein Leibwächter nach Leibeskräften versuchte, bei diesem meisterhaften Sprint nicht über seine eigenen Füße zu stolpern, "Wir werden die ganze Welt aufrütteln, Kuro-pyon!" "Das können Sie sich getrost an den Hut stecken!!", bellte mein Begleiter nur gereizt zurück. "Ich habe keinen Huuuuuhuuuut!!" "DANN SCHIEBEN SIE SICH'S IN DEN A--" "Optimismus! Ich will Optimismus hören! Lassen Sie mich all Ihre positive Energie fühlen!! Denken Sie an den Vertrag!" "OPTIMISMUS!!", brüllte Kurogane, es klang jedoch eher nach 'Ich reiß dir den Kopf ab'. Ich grinste nur über beide Ohren hinauf. Welt, wir kommen! "Okay! Und jetzt lassen Sie uns den Tag retten!" "Halt. Stopp", verlangte ich und hielt an. Er riss mich fast um, als er gezwungenermaßen zurückgezerrt wurde, drehte sich aber mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht zu mir um. "Was denn?" "Bevor wir loslegen – ich muss noch ein paar Sachen aus meiner Wohnung holen", informierte ich ihn. Die war nämlich gerade in der Nähe. "Oooh ja! Ich komme mit, ich wollte schon immer wissen, wo Sie wohnen!", rief er voller Elan. "Oooh nein! Das kommt gar nicht in Frage! Sie gehen am besten vor und packen Ihre Sachen zusammen." Das kam ja wohl gar nicht in die Tüte, dass dieser Psychopath auch noch wusste wo ich wohnte – dann stand er womöglich sogar nachts vor der Tür und nervte. Da konnte ich mir ja gleich die Kugel geben... "Seien Sie nicht sooo! Ich kann Ihnen tragen helfen!", ereiferte er sich, doch ich schüttelte den Kopf. "Seh ich so aus, als würde ich Ihre Hilfe brauchen?", knurrte ich. "Na ja... Sie arbeiten für mich", grinste er. Ich ächzte. "Ich habe nicht vor meinen ganzen Hausstand mitzunehmen. Ich schaffe das auch so. Alleine!", fauchte ich, als er keine Anstalten machte, sich zu verabschieden. Er seufzte. "Na schööön... dann treffen wir uns eben beim Hotel – kommen Sie da einfach hin, wenn Sie fertig sind! Ich kümmere mich um ein Transportmittel!" "Hmh", brummte ich und wartete, bis er verschwunden war. Verflucht noch mal, der war ja nicht auszuhalten... Ich schritt den Weg zur Eingangstür meiner Wohnung entlang. Wobei Wohnung übertrieben war. Es war ein eingeschossiges, dafür langgezogenes Haus aus Holz, mit einem kleinen Innenhof. Dieser war mit einer niedrigen Veranda umgeben, von wo man durch einige Schiebetüren in verschiedene Teile des Hauses kam. Innen war das Haus größtenteils mit Holzbohlen oder auch Tatami-Matten ausgelegt. Ganz traditionell also. Dieses Haus hatte ich von meinen Eltern geerbt – leider stand es finanziell nicht mehr so gut, und dauernd musste ich mich mit dem Gerichtsvollzieher herumärgern. Deshalb wohnte ich auch nur in einem Teil des Hauses, den Rest hatte ich zwangsweise vermietet, um das Haus dennoch halten zu müssen – auch wenn es immer noch knapp davor stand, gepfändet zu werden. Und ich hätte mir auch wirklich andere Nachbarn gewünscht, aber diese zahlten wenigstens ihre Miete pünktlich. Davon hatte ich dann zwar nichts, weil es gleich wieder der Steuern wegen draufging, aber die konnte ich somit knapp decken. Ich schob die Tür zu meinem Teil auf, schlüpfte aus den Schuhen und betrat den Flur. Lange brauchte ich nicht, um meine Sachen zu packen. Ein paar Kleidungsstücke zum wechseln, etwas Proviant – quasi das, was ich in der Küche da hatte, und natürlich mein Katana. Ich schätze, die Reise würde sicher länger dauern, aber somit sparte ich dann ja an Heizkosten, was die Pfändung dann hoffentlich herauszögerte. Ich sperrte alles sorgfältig zu – so ganz vertraute ich meinen Nachbarn nicht und verließ die Wohnung auf den selben Weg, den ich gekommen war. Ich war gerade dabei, meine Schuhe wieder anzuziehen, als ich eine recht bekannte – aber garantiert unerwünschte – Stimme vernahm. "Ziehen Sie etwa aus, Koimihari-san?", fragte mein Nachbar, und dann gleich darauf "Wo wollen Sie denn hin?", das war allerdings der Gerichtsvollzieher, der fast täglich und immer zum schlechtesten Zeitpunkt auftauchte. "Nein, ich ziehe nicht aus", blaffte ich meinen Nachbarn an, der dann auch enttäuscht im Haus verschwand. Ein Problem weniger. Ich sah gelangweilt zu dem Heini vom Pfändungssamt. "Und was wollen Sie hier?", wollte ich genervt wissen – eher rein rhetorisch, da ich es wusste. Hatte er mir schließlich oft genug gesagt. "Noch stehe ich nicht in den Schulden, um das Haus verkaufen zu müssen, also verziehen Sie sich wieder." "Hören Sie, sSe würden überhaupt keine Schulden mehr haben, wenn Sie endlich verkaufen würden, Herr Koimihari", versuchte er es in einem sachlichen Businesstonfall. "Ich verkaufe aber nicht, wie oft denn noch?!", fuhr ich ihn an. „Und jetzt verschwinden Sie und lassen sich hier besser nicht mehr sehen, sonst schmeiße ich Sie raus, aber hochkant." "Das würde ich Ihnen nicht raten, sonst bekommen Sie ein Verfahren an den Hals, das wissen Sie." Und ob ich das wusste. Sonst hätte ich ihn schon längst auf sehr schmerzhafte Weise auf die Straße gesetzt. Also ließ ich ihn einfach stehen. "Wagen Sie es ja nicht, das Haus während meiner Abwesenheit zu verkaufen! Dazu haben Sie nämlich kein Recht." Und das war mein Glück, manchmal waren Gesetze nun mal doch gut. Jetzt war ich sogar über den Auftrag froh. Vielleicht schaffte ich es dann endlich, diesen Deppen vom Amt für immer loszuwerden... "Da sind Sie ja endlich!", meinte Fye, als ich das Hotelzimmer betrat. "Ist hier 'ne Bombe eingeschlagen?", fragte ich zurück, weil hier das pure Chaos herrschte. "Sagen Sie mal, was denken Sie eigentlich von mir?", erkundigte ich mich beleidigt, "Ich habe lediglich die beiden Kisten mit meiner Zahnbürste aufgebrochen und stelle mir gerade ein Sortiment an Medizin für die Reise zusammen! Irgendwelche Verpflegung hab ich zwar nicht mehr zur Hand, aber Sie doch ganz bestimmt, oder?" "Hey, wenn Sie sich bei mir durchschnorren wollen, vergessen Sie's besser gleich!", keifte Kurogane. "Aber Sie sind doch mein Leibwächter!", jammerte ich, "Sie müssen dafür sorgen, dass ich nicht sterbe, und das gilt ja wohl genauso für einen Tod durch Verhungern! Außerdem bin ich da nicht sehr anspruchsvoll!" "Ist auch besser für Sie, Kaviar hab ich nicht in meinem Sortiment", erklärte der Riese grantig und stieg über sämtliche Kräuterbündel-, Päckchen- und Dosenstapel hinweg, die ich auf dem Boden meines Hotelzimmers gemacht hatte, um einen einigermaßen klaren Überblick über mein frisch erworbenes Arsenal zu haben. Daneben stand meine erste Reisetasche mit meiner zweiten Werktagsgarnitur, meinem vergilbten Reiseführer und gleichzeitig Wörterbuch für die zwanzig gröbsten Volkssprachen, das wohl schon seit über fünfhundert Jahren vergriffen war, und, um die ganze Geschichte abzurunden, meiner geliebten Zahnbürste. In meiner zweiten Reisetasche- eine große, dunkelgrüne Stoffwurst, die man unter seinen Rucksack schnallen konnte- sollten die Medizin, das Chirurgenbesteck und die spärliche, jedoch ausreichende Zeltausrüstung reinkommen. Perfekt geplant, wie immer! "Kennen Sie sich überhaupt mit Zelten aus?", erkundigte sich mein neuer Leibwächter misstrauisch, als er das hellblau verpackte Set von der Firma 'Akroid Comfortable' bemerkte. "Nein!", antwortete ich fröhlich, "Auf meinen Missionen hab ich bis jetzt fast noch nie ein Zelt benutzt! Und wenn wir's nicht hinkriegen, können wir ja immer noch unter freiem Himmel schlafen! Ich liebe dieses Lagerfeuer-Flair, vor allem im weiten, blühenden Land von Kongoseki Oka!" "Wissen Sie was, wenn Sie Schnulzenautor geworden wären, dann wären Sie jetzt ein reicher Mann", war die trockene Antwort. "Sie sind immer sooo gemein zu mir, Kuro-pinto!", quengelte ich, "Jetzt lassen Sie mich einfach machen, und dann brechen wir auf! Schließlich wartet eine Harpyienstadt mit über tausend Einwohnern auf unsere Hilfe!" "Oh, wie edelmütig von Ihnen. Ich fass diese Viecher aber nicht an, klar?!" "Das werden wir ja noch sehen!", flötete ich nur unter Hinzuziehung eines Wenn du wüsstest -Lächelns, "Es wäre aber zumindest schön von Ihnen, wenn Sie meine Patienten nicht mit diesem XXL-Zahnstocher da abmurksen..." "DAS IST KEIN ZAHNSTOCHER!!! Das ist ein Katana, Sie Idiot!!" "Aaah, eins dieser altjapanischen Kampfschwerter? Sie haben Geschmack!" "Ich habe Geschmack für Foltermethoden." Diese Antwort überhörte ich geflissentlich und verlud stattdessen eine Auswahl von Medizin- Basilikum, Gingkoblätter, Weißdorn, Brunnenkresse, zwei Päckchen Rosenblätter und eine Tüte Zitronenschalen-, verschloss alle Schlaufen und schwang mir den Rucksack schließlich auf den Rücken. "Okay! Lassen Sie uns den Harpyien helfen! Jetzt bin ich bereit für alles! Sie auch?" "Auf keinen Fall." "Ausgezeichnet! Dann traben wir mal los! Ach, und damit das klar ist, angehalten wird nur zum Schlafen! Beim Laufen essen ist das leichteste der Welt!" Kurogane stieß ein bodenloses Seufzen aus. "Ich kann Sie ja wohl kaum dran hindern, oder? Gehen wir lieber, oder ich schlage noch Wurzeln hier." "Das will ich meinen!" Gesagt, getan. Wir verließen den ersten Stock und polterten hinunter ins Foyer. "Herr Yaki-Yuki, ich bin heute außer Haus, passen Sie auf, dass niemand meine Sachen klaut!" "Die will hier kein Mensch klauen." "Und täglich grüßt das Murmeltier", brummte Kurogane, während wir durch den Eingangsbereich zockelten und die Tür aufstießen. Ich musste grinsen, als uns von draußen die warme Aprilsonne entgegenflutete. "Lassen Sie mich es so ausdrücken, Kuro-myu, in diesem Leben muss es auch einige Konstanten geben!" Kapitel 3: Ascariasis - 2 ------------------------- "Wir könnten etwas singen", schlug er vor. "Nein!", fauchte ich. "Dann beschweren Sie sich doch nicht, dass Ihnen langweilig ist!" "Das habe ich doch auch gar nicht!" Ich blieb stehen, um ihn anzufunkeln – sehr wütend anzufunkeln. "Hee... nicht stehen bleiben! Erst zum Schlafen!", flötete er. "Seien Sie mal fröhlicher! Das Wetter ist herrlich, die Sonne scheint, die Vöglein singen...." "KLAPPE!!" Wir latschten jetzt schon zwei Stunden durch die Gegend – nicht dass mir die kleine Wanderung etwas ausmachte – es lag nur daran, dass er mal wieder ununterbrochen quatschte. Das war nicht zum aushalten. "Und Sie sind wirklich sicher, dass diese verdammte Stadt auch wirklich in dieser Richtung hier liegt?", fragte ich genervt und setzte mich wieder in Bewegung. "Jaaaa, ich bin mir wirklich sicher. Ich hab doch meinen Reiseführer!" Er schwenkte fröhlich mit dem besagten Ding und ich hielt es für ein Wunder, dass es sich dabei nicht in sämtliche Seiten auflöste. „"nd Sie sind sicher, dass Sie nichts singen wollen? Wir könnten Amazing Grace singen, zum Beispiel." Anscheinend setzte er dazu an, die erste Strophe zu trällern, weshalb ich schnell erwiderte: "Ich könnte gleich einen Grund für den Trauermarsch liefern." Nebenbei legte ich eine Hand auf den Schwertgriff. "Passen Sie auf, sonst schneiden Sie sich damit noch in den Finger", gab er zurück. "Klappe! Ich kann sehr wohl damit umgehen. Wollen Sie’s rausfinden? Und dann ist das sicher nicht nur ein Schnitt in den Finger!", fauchte ich aufgebracht. "Entspaaaaannen Sie sich!" Er duckte sich unter der Klinge weg. "Hui! Das Ding ist ja lebensgefährlich! Sie sollten damit wirklich nicht so rumfuchteln! Es könnte sich jemand verletzen – nun ja, ich zum Beispiel! Huch!" Wieder sprang er aus dem Weg. "Aus! Ksch! Jetzt ist aber Schluss damit! Wenn Sie mich damit treffen, wer soll Sie denn dann bezahlen?" Das Argument war leider zu gut, um ihn einen Kopf kürzer zu machen. Ich ließ mein Katana sinken. "Seien Sie froh, dass ich nicht gezielt habe!", grollte ich und steckte es wieder weg. Er sah mich groß an. "Was soll das heißen: 'nicht gezielt'? Sie hätten mich aus Versehen treffen können! Mein Herz..." Er griff sich mit theatralischer Geste an die Brust. „Ich glaub es ist stehen geblieben...." "Na wunderbar! Dann ist hoffentlich endlich Ruhe", murrte ich. "Nein, mal ernsthaft! Wo haben Sie das gelernt? Ich meine, den Schwertkampf!", fragte er. "Ich bin ja so froh, dass Sie sich auf die Anzeige gemeldet haben. Sie haben zumindest kampftechnisch was drauf, so wie ich das sehe!" "Ich kann vier verschiedene Kampfsportarten", erklärte ich knapp. "Ahhh...daher wissen Sie wahrscheinlich auch, wie man Schnitt- und Schürfwunden behandelt, wie? Apropos behandeln, ich kann Ihnen dann ja gleich mal ein paar Krankheiten erklären! Zum Beispiel die aus der Top Ten!" "Wenn Sie meinen...", brummte ich. Dann redete er zwar, aber wenigstens über etwas sinnvolles. "Schießen Sie los." "Tja, leicht ist es nicht, aber mit der Mütze gepocht sind Sie ja auch nicht, oder?", erkundigte ich mich vorsichtshalber. Die einzige Reaktion war ein undefinierbares Brummen, das ich einfach mal als 'Nein' auffasste. "Gut, ähhmm... als erste Option wären da ja wie gesagt die Chlamydien. Chlamydien sind die bakteriellen Erreger der sogenannten 'Papageienkrankheit', oder auch Psittakose genannt, und laufen im heißverehrten Arztjargon unter Chlamyodophila psittaci. Chlamydien sind, soweit ich das beurteilen kann, 'ne ziemlich fette Wumme- wenn man die Erreger bei einem Einzelpatienten nicht schnell genug unter Quarantäne stellen und heilen kann, verbreitet sich das schneller als die Neuigkeit von Frau Nachbarins neustem Haarschnitt. Und die Symptome sind schwer festzustellen, weil's da eigentlich keinen 'Otto-Normalverlauf' gibt, aber einige Anzeichen, die man bis jetzt bei jeder Form der Psittakose durch Chlamydien festgestellt hat, sind Apathie, Apettitlosigkeit und starke Abmagerung, vor allem bei Jungvögeln. Kapiert soweit?" "Größtenteils. Es soll ja Leute geben, die von Fachjargon Kopfschmerzen kriegen. Sagte der Typ in dem Telegramm nicht, dass es besonders die Nestflüchter betrifft?" "Ja, eben deswegen halte ich Chlamydien-Befall für 'ne reelle Option. Eine andere Möglichkeit wäre Aspergillose, das Wort kommt übrigens vom Fachbegriff Aspergillus - lateinisch für 'Schimmelpilz'. Wie dieses nette Wörtchen ja schon sagt, ist Aspergillose eine Erkrankung in Form von Schimmelpilz-Kolonien, die sich in Magen und Kehle ansiedeln." "Igitt!", stöhnte mein Leibwächter, "Und die kommen da einfach so hin, weil sie gerade Bock drauf haben?!" "Nein, die häufigsten Gründe für Aspergillose sind falsche Ernährung, unhygienische Außenbedigungen oder auch Stress." "Was?! Man schimmelt, wenn man gestresst ist?" "Tja, dann würde ich mal aufpassen, wenn ich Sie wäre, Kuro-aspergillo!", kicherte ich und fing mir einen bitterbösen Blick ein. "Ähh, naja, weiter im Text: die dritte Möglichkeit ist infektöse Gastritis, also eine eher menschenorientierte Krankheit. Gastritis ist Arztchinesisch und bedeutet eigentlich nicht mehr als Magenschleimhautentzündung. Zu der Option tendiere ich allerdings nicht, weil sich Gastritis ziemlich schwer überträgt. Sie müssten schon jemandem die Zunge in den Rachen schieben und sich dann dreimal übergeben, wenn Sie jemanden damit anstecken wollen." Kurogane verdrehte die Augen. "Na toll. Wie schön, dass ich das jetzt auch weiß." "Tja, in der Medizin kann man an jeder Ecke reichhaltige Erfahrungen machen!", trällerte ich wohlgemut, "Aber was für mich eher in Frage kommt, ist eine Reihenerscheinung von Bürzeldrüsentumoren. 'Tumor' kommt ebenfalls aus dem Lateinischen und bedeutet 'Geschwulst', also ein entzündeter Auswuchs aus Fleisch oder erkranktem Gewebe. Tumore am Harpyienbürzel wachsen normalerweise nach außen, sodass man sie erkennen und behandeln kann, Anzeichen sind Ermüdung und gekrümmte Sitzhaltung." "Moooment mal, Moment, Moment", bremste mich Kurogane ab, "Was ist überhaupt ein 'Bürzel', und wo sitzt der?" Ich lief hellrot an. Oh nein. Ich hätte schwören können, dass irgendwann so eine Frage kommen würde. "Ähhh-... naja, also, der Bürzel-... der ist bei Vögeln und Vogelartigen eher in den, ähhh, südlichen Regionen angesiedelt, also-... d-das ist bei Vögeln eigentlich nur das, was beim Menschen-... eh-... das ist ein anderes Wort für--..." "Arsch?", fragte Kurogane schlicht. Ich versuchte vergeblich, nicht in blödes Gekicher zu verfallen. "Also bitteschön, ja, es ist der Arsch." "Sagen Sie's doch gleich." "Ich bin Ex-Akademiker, ich kann doch unmöglich 'Arsch' sagen!" "Und welches Wort nimmt man dann für 'Arsch', wenn man Ex-Akademiker ist?" "Natürlich gluteus maximus! Vertagen wir diese aufregende Diskussion lieber auf heute abend, da bin ich für sowas eher zu haben! Sie wissen immer noch nicht, was ein Bürzeldrüsentumor ist, ich sollte mich schämen!" "Doch, weiß ich. Das ist ganz einfach ein Tumor am Arsch." "Also Kuro-mune! Nein, es ist nicht nur ein Tumor am Arsch! Er zerstört das umliegende Gewebe, und wenn man ihn nicht schnell auskuriert, kann er sogar bis in die Wirbelsäule vorwuchern und dort genug anrichten, damit der Betroffene sein Lichtlein ausknipsen muss. Die Heilmethoden für solch einen Tumor gehen in viele verschiedene Richtungen. Ich persönlich bevorzuge ja die homöopathische Version mit dem Einsatz von Theranekron, das ist ein starkes Tarantelgift. Damit bringt man den Tumor zur Einkapselung und bestenfalls zur Rückbildung, am häufigsten reagiert er mit Wachstumsstop. Der einzige Nachteil bei dem Verfahren ist nur, dass es eben nicht klappt, wenn man gerade keine Tarantel zur Hand hat." Ich hatte mich endlich genügend von dem heiklen Bürzel-Thema weggebracht, um wieder einigermaßen ernst zu wirken, wenn man das bei mir denn so nennen konnte. "Und die anderen Methoden?", erkundigte sich Kurogane gerade. "Tja, es gibt noch die Variante, den Tumor mit einem desinfizierten Faden abzubinden, damit er seine Ausläufer im Körper zurückzieht, man kann ihn allerdings auch chirurgisch entfernen. Das mach ich aber nicht so gern, weil dabei sehr starke Blutungen entstehen können. Einmal habe ich eine Harpyie auf diese Weise behandelt, und sie wäre um ein Haar verblutet. Und dann gibt es natürlich noch das gute alte Antibiotikum- in diesem Fall Betaisodonalösung oder dreiprozentiges Eisenchlorid. Ich bin wie gesagt für das Tarantelgift. Tja, das war mein ganzer Vortrag. Es könnten natürlich auch noch Darmpolypen sein, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Haben Sie alles gespeichert?" "Das war mehr Fachchinesisch als Vortrag, aber ich werde es versuchen." "Und, haben Sie jetzt Lust auf singen?", trällerte ich unternehmungslustig und fing mir gleich den nächsten bösen Blick ein. "Was denn? Es ist noch ein weiter Weg bis nach Shuryotori Aitoki!" "Ach, auch schon bemerkt?!! Diese Deppen von der Regierung hätten wenigstens eine Straße bauen können, die dort hinführt!" "Tja, warum sollte ein Mensch auch die Harpyienstadt aufsuchen? schon mal so rum gefragt? Wir werden heute wohl in der Ebene übernachten müssen. Bis zum Einbruch der Nacht schaffen wir's sicher nicht mehr." Während ich einem gewaltigen Baumstumpf auswich, warf ich einen Blick zum kornblumenblauen Horizont, an dem eine warmgelbe Aprilsonne hing wie ein Stück reifer Goudakäse. Ach ja... apropos Käse- ich wurde langsam hungrig. "Was haben Sie denn alles an Proviant dabei?" "Nachos ohne Käse, Mineralwasser ohne Mineral und Salzcracker ohne Salz." "Kann ich dann bitte die Salzcracker ohne Salz haben?" Mein Leibwächter nahm mit einem Seufzen während des Gehens seinen Rucksack herunter und wühlte die Kekspackung hervor. "Hier, aber fressen Sie mir nicht alles weg. Ach ja, und könnten Sie vielleicht noch gnädigerweise eine Schätzung abgeben, wann wir endlich dieses Harpyien-Kaff erreichen?" "Spffhh-... fpäteftenf moagn, wenn mir daf Tempo belibemhaltn und niff alltfu lange flaffnen." "Häh?!!" Ich schluckte. "Spätestens morgen mittag, wenn wir das Tempo beibehalten und nicht allzu lange schlafen." Mein neuer Leibwächter stieß ein Grollen aus. "Ich warne Sie: wenn Sie mich heute nacht nicht in Ruhe schlafen lassen, dann setzt es was!" "Ach, woher denn?", flötete ich, "Ich will doch auch einen Hut voll Schlaf kriegen? Keine Sorge, wenn ich mich erstmal hingelegt habe, schlafe ich sofort wie ein Stein, ich bin sozusagen ein wandelndes Insomnia-Therapeutikum!" "Das will ich schwer für Ihre Gesundheit hoffen. Ein Mucks und ich überlege mir das mit dem Trauermarsch nochmal." "I wo!", versicherte ich, "Ich schwör's Ihnen! Kein einziger Mucks von mir!" "Ich werd Sie beim Wort nehmen. Kein einziger Mucks von Ihnen." "Kein einziger Mucks von mir." "Hyuuu. Kuro-rin! Schauen Sie mal, der Mond!" "Noch nie den Mond gesehen?", murrte ich und drehte mich auf die andere Seite. Es war mittlerweile dunkel geworden und wir hatten uns nach einem geeigneten Platz zum Übernachten umgesehen – und da wir keinen gefunden hatten, hatten wir uns schließlich da niedergelassen wo wir gerade standen. Das Zelt hatten wir nicht aufgebaut, nicht mal ausgepackt, weil es heute nach einer milden Nacht aussah. "Doch, natürlich, aber heute ist er besonders schön. Und die ganzen Sterne! Obwohl – im Winter kann man die irgendwie noch besser sehen und..." "Halten Sie den Rand, verdammt! Hatten Sie nicht gesagt, dass Sie keinen Mucks machen würden?" "Habe ich das?", fragte er unschuldig und ich drehte mich wütend zu ihm um. Er lag auf dem Rücken, hatte die Arme hinter dem Kopf gefaltet und schaute grinsend zu mir. Ich verengte die Augen zu Schlitzen. "Ja, allerdings!" "Okay! Ich werde nichts mehr sagen. Ich werde schweigen wie ein Grab! Ich bin so lautlos wie ein Taubstummer. Ich..." "KLAPPE!!" Ich war kurz davor, mein Katana, das neben mir lag, wieder in Gebrauch zu nehmen. Er schloss hastig die Augen und versuchte, so zu tun, als würde er schlafen. Ich verharrte noch kurz eine Weile so, bevor ich mich wieder umdrehte. "Wissen Sie was, Kuro-wan...?", kam es, kaum, dass ich wieder bequem lag. Ich gab ein genervtes Knurren von mir. "Was?!!" "Ich finde es richtig schön im Freien zu Übernachten. Vor allem, weil ich nicht alleine bin." "Schön für Sie. Und jetzt nehmen Sie die Bedeutung von 'übernachten' und schlafen Sie!! Verflucht noch eins..." "Wieso fluchen Sie eigentlich andauernd?" "Weil das nun mal so ist." "Sie wissen aber, dass man das nicht tun sollte, oder?" "Na, und? Wen interessiert das?" "Viele." "Die sind mir egal." "Ihnen scheint vieles egal zu sein." "Einiges. Weil es unwichtig oder uninteressant ist." "Was denn zum Beispiel? Also ich finde ja, dass alles interessant sein kann... ich..." "Ich würde es interessant finden, wie viel Blut Sie verlieren können, bevor Sie ex gehen." "Ohhh, ein Fachbegriff! Ich bin begeistert, auch wenn es nur eine Abkürzung von Exitus ist!" "Jetzt hören Sie mir mal zu!" Abermals drehte ich mich zu ihm um, diesmal aber fuchsteufelswild. "Ich warne Sie, wenn Sie mich jetzt nicht auf der Stelle schlafen lassen, dann werde ich Sie mit meinem Katana aufspießen und in dem See da vorne versenken, ist das klar?" "Klingt schmerzhaft und unangenehm", stellte er fest. "Ja, genau. Und zwar für Sie!" "Können Sie das denn mit Ihrem Gewissen vereinbaren, wenn Sie mich abstechen?", fragte er fast beiläufig. "Sie wollen gar nicht wissen, was ich alles mit meinem Gewissen vereinbaren kann", grollte ich zurück. "Wenigstens scheinen Sie ja eins zu haben. Aber mal ehrlich, das würden Sie sowieso nicht tun, ich mein, hey! Sie haben immer noch kein Gehalt von mir bekommen." Er grinste breit. "Wenn Sie so weiter machen, überleg ich mir, ob ich Sie nicht kalt mache und mir einfach einen andern Job suche..." Wäre sicher besser für die Nerven. "Und wenn Sie nicht zufällig an Ihrem Leben hängen, dann lassen Sie mich verdammt noch mal schlafen. Kein Ton mehr! Verstanden?" Er nickte beflissen. "Aber natürlich hab ich verstanden. Meine Lippen sind versiegelt, ich..." "Jaa....ist ja gut. Halten Sie einfach nur die Klappe." Ich legte mich wieder hin, in der Hoffnung, er würde nicht weiterreden. Vielleicht hörte er ja auf, wenn man ihn ignorierte... "Nacht", meinte er und ich hörte, wie er sich wohl in eine andere Schlafposition brachte. Nur leider tat er dies alle zwei Minuten und sehr lautstark. Jetzt redete er zwar nicht, hielt mich aber trotzdem vom Schlafen ab... Ich drehte mich missmutig ein drittes Mal zu ihm um. "Geht’s vielleicht ein wenig leiser, das Umdrehen? Und weniger? Liegen Sie mal ruhig, verdammt!" Er sah mich an. "Aber der Boden ist sooo hart...", schmollte er. "Sind Sie vielleicht ein Weichei", blaffte ich. "Dadurch wird er aber auch nicht weicher. Ich dachte, Sie übernachten oft so." "Tu ich auch! Aber das heißt ja nicht, dass ich den harten Boden auch vertrage", maulte er zurück. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Das war ja nicht zum Aushalten. "Verdammt. Halten Sie die Klappe und bleiben sie einfach ruhig liegen. Ich. Will. Schlafen." Na also. Ging doch. Anscheinend hatte er es endlich kapiert. "Also?!!" "Also was?", fragte ich verwundert zurück. " 'Also' im Sinne von 'wohin und wie lange noch'?!", fauchte Kurogane und rieb seinen Nacken, was er seit dem Aufstehen wohl schon an die fünfzig Mal gemacht hatte, "Ich bin körperlich und vor allem nervlich völlig im Eimer!! Wieso konnten wir nicht einfach in ein Dorf in der Nähe gehen und dort nach zwei Zimmern fragen?!" "Tja, hier in der Ebene gibt's zwar eine Handvoll Dörfer und kleinere Städte, aber wenn ich den Leutchen dort verklickert hätte, dass wir auf dem Weg nach Shuryotori Aitoki sind, hätten die uns nicht reingelassen. Das kenn ich schon", erklärte ich beflissen und beäugte weiterhin meinen alten Kompass, auf den Kurogane und ich schon seit fast einer halben Stunde draufstarrten. Vor etwa zwei Stunden waren wir am Nordausläufer des Moridiyama-Gebirges im Zentralnordwesten von Kongoseki Oka angekommen. "Also, wo geht's jetzt weiter?", drängte mein Reisebegleiter, "Wohin müssen wir?" "Es ist nicht mehr weit. Glaube ich jedenfalls. Fest steht, dass die Stadt an einem weiten, mit Wald überwachsenen Gebirgsausläufer wie diesem hier liegt. Sie ist sicher hier! Vor zwei Jahren habe ich dort schon einmal einige Harpyien operiert." "Was?! Sie haben diese Viecher auch noch operiert?!!" "Ja! Und wenn wir schon einmal bei Ihrem kleinen Rassenkomplex sind, Kuro-chii, würde ich Ihnen gern einen gutgemeinten Ratschlag geben, bevor wir in Shuryotori Aitoki ankommen. Halten Sie von Harpyien ruhig, was Sie wollen, aber wenn wir erst dort sind, möchte ich, dass Sie diesen Wesen wenigstens ein Mindestmaß an Respekt zollen! Okay?" "Ist ja gut, ist ja gut!", knurrte mein Leibwächter, "Kein Grund, gleich den Oberlehrer raushängen zu lassen!" "Keine Sorge, der hängt nur raus, wenn er auch wirklich was zu sagen hat", erwiderte ich fröhlich und deutete schließlich zu den steilen, von allerhand Bäumen und Schlinggewächsen überwucherten Gebirgshängen empor, die sich keine zwanzig Meter entfernt gen Himmel zu erheben schienen, "Jetzt sollten wir uns aber lieber an den Aufstieg wagen!" "WAS?!! Shuryotori Aitoki ist eine Baumstadt?" "Hätten Sie mir heute morgen eben zugehört", gab ich beleidigt zurück, "Ja, die Harpyienstadt besteht aus mehreren hundert Baumsiedlungen, die in den Ästen der Bäume verankert sind, die dort oben an den Gebirgshängen wachsen! Harpyien können immerhin fliegen, also ist es kein Thema für sie, ihre Nester in so großer Höhe zu haben. Uns Menschen bleibt eben nur die Möglichkeit, uns physisch an unseren affigen Vorfahren zu orientieren!" "Na besten Dank auch." "Tja, worauf warten wir dann noch?", versuchte ich vergeblich, ihn mit meinem Elan anzustecken, "Jetzt kommen die Fingerspitzen zum Einsatz! Die Stadt dürfte etwa in achtzig bis hundertzwanzig Metern Höhe liegen!" "Dann wohl besser hinauf mit uns", brummte mein Leibwächter und schulterte seinen Rucksack. "Das ist die richtige Einstellung!", trällerte ich, schnallte meine Tasche ebenfalls fester um meine Schultern und versuchte, an einer möglichst aufstiegsgünstigen Stelle Fuß zu fassen. Eine nette kleine Bergtour, weiter nichts. Zwanzig Minuten später dachte ich bereits anders - am Anfang lief es zwar noch relativ glatt, aber da die Gebirgsausläufe immer rascher anstiegen und es zusehends steiler wurde, sahen wir uns mit der Zeit gezwungen, jede menschliche Zurückhaltung aufzugeben und auf allen Vieren zu klettern wie-... ja, wie die Affen, es gab eben kein besseres Wort dafür. Ich fragte mich lieber gar nicht, wie wir auf die Augen eines etwaigen Zuschauers wirken mochten- vermutlich ganz einfach wie zwei lebensmüde Abenteurer, die ihren Freunden einen Affenzirkus vormachen wollten, indem sie auf diesen Berg kraxelten. Da konnte man Kurogane glatt beneiden - bei ihm sah's zumindest halbwegs professionell aus. Ich beobachtete, wie sich die Muskeln seiner Oberarme anspannten, als er sich an einem Felsvorsprung festhielt und nach meiner Hand angelte, um mich mit einem Ruck auf den darüber liegenden Hang zu befördern. "Klettern-... Sie-... öfter?", keuchte ich atemlos und richtete mich schwer auf, während er nachgestiegen kam. "Dann und wann. Sie offensichtlich nur, wenn Sie unbedingt müssen", schloss er treffend und hob eine Hand als Sonnenschutz an die Schläfen, um sich einen Überblick des Berges zu verschaffen. "Das wird 'n dickes Ding." "Ich-... komme mir-... schon-... vor-... wie ein Kartoffelbovist", ächzte ich und stemmte mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand in meine linke Seite, was allerdings nicht viel zum Abklingen der Schmerzen beitrug. "Jammern Sie nicht, klettern Sie lieber." "Ich jammere doch gar nicht!" "Oh ja, und alle Fusselwürmer sind Fünf-Sterne-Köche." Ich seufzte und wollte meinen Kompagnon gerade darauf hinweisen, dass es unter den Fusselwürmern dieses Planeten durchaus auch einige begnadete Köche gab- doch weit kam ich nicht, da meine Ohren plötzlich ein Geräusch auffingen. Es klang, als würde eine hysterische Riesen-Hausfrau mit einem enormen Staublappen die Felsen polieren. Rauschen. Knirschen. Dann ein fernes, verhallendes Kreischen. Und schon machte es Klick. "Hey-... hey! Kuro-myu! Hören Sie doch mal! Haben Sie das gerade auch gehört?" "Ja. Klang wie ein Adler, dem gerade die Eingeweide durchgepustet werden." "Und wissen Sie, was das bedeutet?", trällerte ich ungeachtet dieses unfeinen Vergleichs und hüpfte aufgeregt auf und ab, "Das-... das müssen Harpyien gewesen sein! Ja, anders geht es gar nicht! Scharfe Augen und Ohren haben sie zumindest!" "Solange sie uns nicht fotografiert oder abgehört haben..." Ich ignorierte das Gebrummel meines Begleiters, denn ich sollte tatsächlich Recht behalten: am gegenüberliegenden Steilhang, etwa hundert Meter von uns entfernt, kamen auf einmal drei dunkle, geflügelte Gestalten in atemberaubender Flugbalance am Felskamm hochgeschossen und hielten zielstrebig auf uns zu. Mit den Adleraugen, wie Harpyien sie hatten, war es sicher nicht schwer gewesen, uns hier am Hang ausfindig zu machen. "Heeeeey!! Hiiiiiiiier sind wir!!", jodelte ich daher aus vollem Halse und schwang beide Arme wild über meinem Kopf hin und her, wobei ich Kurogane ein paar mal fast ins Auge traf, "Hiiiier drüüüübeeeen!!" Ein weiterer Schrei war die Antwort, diesmal aber aus drei Kehlen. Bald waren die Harpyien nahe genug, um ihr ungewöhnliches Äußeres endgültig zu offenbaren: während sie größtenteils die Gesichter von Menschen hatten, entsprangen ihren schlanken Rücken jeweils ein Paar imposanter, adlerhafter Schwingen; ihre langen, schwielig wirkenden Arme liefen bald von Haut in Federn über und endeten in einem Paar horniger Krallen, was auch bei den Beinen zu verfolgen war. Ober- und Unterleib dieser Geschöpfe waren ebenfalls menschlichen Ursprungs, wiesen jedoch deutlich kräftigere Muskeln auf, vor allem an Brust- und Schulterpartie, und waren teils von gelblicher Hornhaut, teils von flaumigen Federn mit silbergräulich-kastanienbrauner Zeichnung bedeckt. Auch ihre Gesichter hatten etwas unverkennbar Vogelhaftes; am besten erkannte man es an den wilden, rostbraunen Augen, ihrem scharf geschnittenen, Profil und den Nacken, auf denen sich- trotz des menschlichen Haars- prächtige Federhauben aufwölbten. "Sehen Sie nur! Sind sie nicht wunderschön?", flüsterte ich, ganz beduselt von diesem Anblick. "Pffff... ich hasse diese ewige Effekthascherei", war die schroffe Antwort. Bald schon landeten die drei männlichen Harpyien vor uns auf dem Felsvorsprung und falteten unter bedeutungsvollem Rascheln ihre schweren Schwingen zusammen, bevor sie sich uns unter Zeichen des verhaltenen Argwohns langsam näherten. Ich war bereits an Harpyien gewöhnt, also war es für mich gar kein Thema, den ersten Schritt zu tun. "Guten Tag!", rief ich und ging ungezwungen auf die drei zu, um mich - als internationales Zeichen des Respekts - leicht vor ihnen zu verbeugen, "Wie schön, dass ihr uns gefunden habt!" Der offenbar älteste der drei Vogelmenschen klickte mit seinen schnabelartigen Lippen und stellte seine Federhaube auf. "Chhhh-... wao ast doan-... N-... nime?" "Fye", sagte ich deutlich und legte eine Hand auf meine Brust, "Fye de Flourite. Ich bin Arzt. Ich bin wegen eurem Hilferuf gekommen. Schhêl 'ke mik al' neek al' pak", fügte ich auf Harpyisch hinzu. In meiner Zeit als Frischlingsstudent hatte ich diese Sprache sogar fließend beherrscht, aber die paar Brocken, die mir noch geblieben waren, reichten völlig aus. Die drei Harpyien begannen, sich aufgeregt und schnabelklickend in ihrer Sprache zu unterhalten, während Kurogane nur Bahnhof zu verstehen schien. "Was haben Sie gesagt? Und vor allem: was haben die gesagt? Haben Sie die etwa verstanden?!", erkundigte er sich mit misstrauisch gedämpfter Stimme. "Ja", antwortete ich ebenso leise, "Harpyien haben eine sehr kleine Zunge und können die offizielle Landessprache nicht so artikulieren wie Menschen. Zu dem Zweck habe ich's vorsichtshalber auch mal auf Harpyisch versucht." Soeben schienen unsere drei Besucher beschlossen zu haben, ebenfalls den ersten Schritt zu wagen, denn alle drei verbeugten sich tief und richteten gleichzeitig ihre Federhauben auf- bei Harpyien ein Beweis tiefster Ehrerbietung. "Chhhwar hibon ief Sao gowirtot", klickte diesmal einer der jüngeren Harpyien und sah mich aus seinen rotbraunen Augen durchdringend an, "War hiben gobotot, diss Sao ons holfon könnon. Ibor bovur war Sao ans Derf brangen, müsson war ioch wasson, wor Ahr Bogloator ast." "Kurogane", erklärte ich und tippte meinem Begleiter auf den Arm, "Leibwächter. Er hilft mir. M'n ijkse-onto." "Ahm-... Tag", fügte Kurogane etwas unschlüssig hinzu, offenbar fühlte er sich unter den prüfenden Blicken der adlerartigen Wesen nicht sonderlich wohl. "Ich-... ähh, ich Kurogane Koimihairi." "Geton Tig. War froun ens, Sao konnon zo lornon, Kurogane Koimihari." "Ja, natürlich", feuerte Kurogane einfach ins Blaue. Ich griff lieber schnell ein, bevor es noch zu Missverständnissen kommen konnte. "Ähm-... seid ihr hier, um uns nach Shuryotori Aitoki zu bringen? Shuryotori Aitoki vel n' tsschhii shaak-a?" Ein lebhaftes Nicken und mehrere Sätze auf Harpyisch waren die Antwort. "Was sagen die?" "Sie sagen, dass sie geschickt wurden, um uns hinzubringen." Kurogane- der wahrscheinlich kein Wort verstanden hatte- wollte noch etwas fragen, doch die Harpyien waren schneller- sie stürzten sich auf uns, packten uns an den Schultern und zerrten uns nach oben, wobei sie wild mit den Flügeln schlugen. "WAAAAAAAAAAAHHHHHH!!!" Sowohl mein Leibwächter als auch ich brüllten unwillkürlich aus vollem Halse los, als wir mit einem Ruck in die Lüfte gerissen wurden und schon im nächsten Moment in nahezu gespenstischer Schwerelosigkeit über den Felshang segelten, an dem wir vor wenigen Minuten noch mühselig emporgekraxelt waren. Über uns rauschte der grimmige Bergwind durch das Gefieder der Harpyien, ihre langen, bekrallten Arme hatten sich zum Tragen um unsere Schultern gewunden. Diese plötzliche, schwindelerregende Höhe fühlte sich an, als würde einem ein zwanzig Meter langer Plastikschlauch durch die Speiseröhre geschoben werden - ich kannte das und tat das einzig Sinnvolle, indem ich in leicht größenwahnsinnig anmutendes Dauergekicher verfiel, während Kurogane nur wie wild mit den Beinen ruderte und dabei Verwünschungen in alle vier Himmelsrichtungen schrie, die hier unmöglich wiedergegeben werden können. "Was haben Sie denn, das macht doch irre Spaaaaaaaaaß!!", jubelte ich, während wir über einen weiteren Abgrund segelten. "ICH GEB IHNEN GLEICH SPASS!!" "Also, wenn die Mission schon so toll anfängt, kann sie ja nur ein bombenmäßiger Erfolg werden! Bei meiner Ehre!", schwor ich überglücklich, während wir einen üppig mit Bäumen bewachsenen Hang hinaufrauschten. Mein Reisebegleiter gab sein Gebrüll erstaunlich rasch auf und seufzte enerviert. "Wenn das bloß gut geht, sag ich! Ab jetzt handeln wir auf Ihre Verantwortung!" "Aber gern! Auf meine Verantwortung!" "Auf Ihre Verantwortung!", schrie Kurogane noch, bevor wir in den nächsten rasanten Sturzflug gingen. Wie war das mit über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein? Naja, vielleicht hing's auch nur damit zusammen, dass wir lediglich 'überm Berg' waren. Kapitel 4: Ascariasis - 3 ------------------------- Landung. Nachdem wir wieder einigermaßen festen Boden unter unseren Füßen hatten, war ich wirklich sehr froh darüber. Die Viecher sollten echt mal einen Flugschein machen... Aber – zumindest hatte es Zeit und Anstrengung gespart. Und ich hatte schon von weitem gesehen, das wir das letzte Stück kaum hätten klettern können- viel zu steil. "Hiltun Sau sach bussur fust. Haur ebun ast us suhr wandag!", krächzte eine der Harpyien soeben. "Häh?" Ich hatte kein Wort verstanden und drehte mich fragend zu meinem Begleiter um. "Sie sollten sich festhalten, es ist hier sehr windig", übersetzte er mir. "Mich hat es vor zwei Jahren fast von den Hängebrücken geweht, das war ein Schreck, sag ich Ihnen! Zum Glück bin ich auf einer Hängebrücke weiter unten gelandet, aber das tat wirklich weh... Fast hätte ich mir das Genick gebrochen...", erzählte er, während er vor mir über eine der Brücken balancierte. Diese Dinger waren bis zu fünfhundert Meter lang, kaum zwei Meter breit und sahen nicht sehr vertrauenserweckend aus – was wohl auch an der Höhe lag. Ich schätzte, bis zum Boden waren es auch an die zweihundert Meter. Pures Gestein. Runterfallen war also auf jeden Fall tödlich. Diese Hängbrücken schienen nicht so, als würden sie oft genutzt, was natürlich irgendwo logisch waren, da Harpyien fliegen konnten und sich hier wohl selten Menschen hinverirrten. Höchstens Verrückte wie wir... Die Brücken verbanden die Bäume, beziehungsweise, die Plattformen, die daran und darum gebaut worden waren und auf bizarre Weise einer Stadt glichen. Sie war recht groß, dafür, dass sie auf Bäumen gebaut worden war. Das Holz sah schon sehr alt und wettergezeichnet aus und die meisten Häuser schienen geradezu mit dem Baum verwachsen, da sie von Schlingpflanzen, Moos und anderem Grünzeug bewachsen waren. Und überall flogen die Harpyien in geradezu halsbrecherischen Manövern zwischen den Bäumen samt den Brücken hin und her – außerdem starrten sie uns an, als wären wir vom Mond. Die, die uns begleiteten, gingen auch zu Fuß, was ihnen jedoch einige Mühe zu bereiten schien. Allerdings- momentan schwankten mein Partner und ich auch eher wie Besoffene, aber das lag daran, dass die Brücke wirklich schaukelte. „Ich hoffe, das Ding hält besser als es den Anschein hat...“, murmelte ich vor mich hin. Ich hatte keine Lust, hier herunterzustürzen. Doch wir kamen sicher herüber – auch wenn es länger dauerte. "War brangun Sau jutzt zo ensurum Bürgurmurstur Ghâlil. Ur wehnt gluach di vernu." "Ich freue mich schon, Ghâlil wiederzusehen", meinte Fye fröhlich. "Ghâlil tzsu k’il schtusch." Ich fragte mich wirklich, wie er diese Wörter zustande brachte...dabei musste man sich doch die Zunge verrenken. Aber immerhin hatte ich kapiert, worum es ging. Einigermaßen zumindest. Wir hielten auf ein dreistöckiges, merkwürdig schiefes Haus zu, das dennoch erstaunlich stabil und robust gebaut zu sein schien. Vor der Tür baten uns die drei Harpyien zu warten. Anscheinend wollten sie ihrem Bürgermeister bescheid geben, dass wir da waren. "Wie finden Sie die Stadt? Sie ist großartig, oder nicht? Ein Kunstwerk in der Architektur", schwärmte Fye, während wir warteten. "Gewöhnungsbedürftig", antwortete ich. Ganz und gar nicht mein Fall. Ich hatte keine Höhenangst, aber hier würde ich mir schon Sorgen machen, irgendwann mal herunterzufallen. Vor allem, weil es hier wirklich plötzlich heftige Windstöße gab, die einen fast umrissen. Den Harpyien passierte das öfter, aber die konnten ja auch fliegen. Für die kleineren von diesen Wesen schien es sogar ein Spiel zu sein. Zumindest denen schien es Spaß zumachen, fast zu Tode zu stürzen... "Wie lange dauert das denn noch?!", murrte ich. "Jetzt haben Sie doch ein bisschen Geduld", meinte Fye, der anscheinend kein Problem damit hatte, hier rumzustehen und vom Wind fast zerrissen zu werden. "Genießen Sie doch die Aussicht." "Ich sehe nur Bäume", brummte ich – was momentan stimmte, wenn man die Harpyien ignorierte. "Stimmt. Aber wir sind hier ja auch in der Mitte der Stadt. Sie müssten mal die Aussicht sehen, wenn man ganz oben und am Rand steht." Er deutete durch das Blätterdach, wohl in besagte Richtung, auf den Platz, den er meinte. Den ich aber nicht sehen konnte, weil Blätter, Häuser und Brücken dazwischen waren. "Wie hoch geht das denn noch?", fragte ich. "Oh, noch ungefähr einen halben Kilometer. Und die Bäume sind noch größer, wissen Sie? Es sind die höchsten der Welt – zumindest habe ich noch keine gesehen, die höher waren." "Aha", machte ich. Schweigen. "Wissen Sie, wie Sie auf Harpyisch heißen würden?" "Nein. Ist auch nicht wichtig, oder?" "Koregunu Kuamahira", fuhr er unbeirrt fort. "Lustig, oder?" "Ja... Hören Sie mich lachen?", meinte ich todernst zurück. "Ich würde Fia Du Fleoratu heißen... ganz schön kompliziert..." Er kicherte. "Eigentlich ist das gar nicht so schwer, man muss nur wissen, welcher Vokal gegen welchen ausgetauscht wird. Harpyisch ist da schon schwieriger." "Sao könnun non uantrutun." Eine der drei Harpyien war unter raschelndem Gefieder herausgetreten. "Ah! Sehr schön!", rief mein Begleiter und fuhr sich durch die Haare, im vergeblichen Versuch, sie etwas in Ordnung zu bringen, bevor er mich am Arm packte und in Richtung Haus zog. "Kommen Sie, jetzt lernen sie Ghâlil kennen!" "Ich kann’s kaum erwarten..." Ghâlils Haus bestand aus einem einzigen langgezogenen Raum. Lediglich die Nordwand wirkte von Hand gezimmert; sie bestand aus harzduftendem Holz. Die restlichen 'Wände' wurden schlicht durch Baumstamm und meterweise rauschenden Blätterwald ersetzt. Warmer Sonnenschein fiel auf den Boden und warf tanzende Lichtflecke auf die Zweige. "Aahhhh...", seufzte ich zufrieden und sog mit geweiteter Brust den schweren Harzduft ein, "Hier ließe es sich leben." "Schon mal bei Ikea gewesen?", fragte mein Leibwächter nur trocken zurück. Ich wollte mich gerade erkundigen, was einem denn um alles in der Welt an diesem Haus nicht gefallen könnte, als über unseren Köpfen auf einmal ein mannigfaltiges Rascheln und Klicken laut wurde. Wir warfen beide den Kopf in den Nacken und blickten zu den zahllosen, gewundenen Ästen empor, wo das Geräusch am deutlichsten zu vernehmen war- und schließlich sahen wir ihn. Ghâlil löste sich aus dem tanzenden Schatten der Blätterwände, stieß sich vom Boden ab und landete mit wenigen Flügelschlägen vor uns auf dem Bretterboden. Er war eine männliche Harpyie mit beeindruckend silbergrauem Gefieder, von sehr hohem Wuchs, und wahrscheinlich der Älteste in der ganzen Stadt. Er wirkte gebeugt wie ein alter Baum, Haare und Federhaube waren schlohweiß, sein faltiger Hals hatte etwas von einem missgelaunten Geier, und an seinen Armen konnte man sämtliche Knochen erkennen- seine wachen, schwarzen Augen jedoch glänzten immer noch so klar und messerscharf wie vor zwei Jahren. Er schien mich schnell wieder zu erkennen, denn er klickte erwartungsvoll mit den grau verhornten, schnabelartigen Lippen und kam mit weit gespreizten Schwingen auf uns zugestakst. Ich lächelte, als er vor mich trat und mich auf Harpyienmanier begrüßte. "Chhhteek", schnarrte er vertrauensvoll und berührte mit den Spitzen seiner Federhaube leicht meine Stirn. "Chhhteek", antwortete ich beherzt und ließ die Begrüßung zu, "Ich bin froh, dich wieder zu sehen, Ghâlil. Nel' ekke hehakah' a-oblyae t' anka a-makoce ke." "Mach gouniese", erwiderte Ghâlil, während sich die Fältchen um seine alten Augen zu einem Lächeln kräuselten, "Meun Froend, do woaßt gir nacht, wao orloachtert ach ban, dach zo sohon. Ach wosste gir nacht mohr, wis ach ten sullto." "Kann ich mir vorstellen. Aber jetzt bin ich ja da! Und ich hab sogar Verstärkung mitgebacht! Ghâlil, darf ich dir meinen neuen Leibwächter Kurogane Koimihari vorstellen? Ni-ank- 'na kesh-e enah! N-'men Kurogane Koimihari e an?" Mein Begleiter runzelte ein wenig skeptisch die Stirn, als Ghâlil ihn ebenso kritisch ins Auge fasste wie zuvor mich. "Us fruot mach sohr, Kurogane Koimihari. Sao müssun oan sohr tipforor Minn soan." "Oh ja, in der Tat, das ist er", fiel ich rasch ein, um etwaige peinliche Missverständnisse zu vermeiden, "Ghâlil- darf ich dich bitten, uns nun zu den Betroffenen zu bringen? Dürfen wir sie sehen? Schhchnieê mikl-ts' a-noi?" Ghâlil nickte und bedeutete uns, dass ich die Tür öffnen solle. Kurogane folgte mir kopfschüttelnd, während die Harpyie und ich uns auf unserem Weg über die wackeligen Hängebrücken und verwilderten Baumplattformen einige Zeit lang auf Harpyisch unterhielten. Auf unserem Weg wurden uns teils neugierige, teils misstrauische Blicke nachgeschickt, manche Harpyien folgten uns sogar. "Also, was zum Teu-... ähh-- was hat er denn jetzt gesagt?!", erkundigte sich Kurogane nach einer Weile, anscheinend völlig am Ende seiner Nerven. "Er hat gesagt, dass es, seit er das Telegramm abgeschickt hat, noch schlimmer geworden ist", übersetzte ich ihm, "Mittlerweile sind es etwa zwanzig bis dreißig Erkrankte, und immer mehr Harpyien zeigen ähnliche Symptome. Er bringt uns gerade zu dem Haus, in dem sie sich aufhalten." "Aha. Und was genau haben Sie dann vor? Was wollen Sie tun? Ich bin nur Ihr Leibwächter, ich werde die Zeit wohl damit verbringen, blöd im Hintergrund rumzustehen und allen meinen Bizeps zu zeigen..." "Ach wooooo denn, Sie werden mir natürlich helfen!", trällerte ich und fing mir einen mörderischen Blick ein, "Ich werde anhand der Erkrankten einige Untersuchungen anstellen, Puls, Atemfrequenz, Beschwerden, Reaktionen, und Sie gehen mir dabei zur Hand! Hatte ich Ihnen nicht versprochen, Sie ein wenig anzulernen?" "Versprochen oder angedroht?", fragte der Schwarzhaarige nur stirnrunzelnd, während ich emsig in meinem Rucksack herumwühlte und das Behandlungs-Set von Crow herausholte. "Di vernu", sagte Ghâlil soeben und zeigte auf ein windschiefes, stark von blühenden Schlingpflanzen überwuchertes Häuschen am Nordende der Stadt, "Dert sand dao Krinkon entorgibricht. Ach haolt us für vornünftagor, sao ontor Quirintäno zo stollon." "Das ist in der Tat eine gute Entscheidung. Hör zu, Ghâlil, eine Frage hätte ich noch-... eine Diagnose lässt sich am besten an einem Patienten stellen, der besonders starke Symptome aufweist. Könntest du mir sagen, wer schon länger krank ist?" Der Bürgermeister hob die flaumigen Augenbrauen und verfiel in stummes Nachdenken. "Ach gliebe, us ast oane onsoror Nustflächtlango. Sao ast orst suchs Jihre ilt", begann er schließlich zögerlich, "Un- w'n a-nagi ak- el' puak' l ts' nel' pen. Gwri." "Was sagt er?" Ich schluckte. "Er glaubt zu wissen, wer bis jetzt am schwersten von dieser Krankheit befallen ist. Es ist ein sechs Jahre alter, weiblicher Nestflüchter, und sie heißt Gwri." "Gw-... was?!! Da bricht man sich ja die Zunge dran!" "Typisch harpyisch eben. Wir kümmern uns darum, Ghâlil", wandte ich mich wieder an die Harpyie, "Wenn was ist, rufen wir dich." Ghâlil nickte und verharrte mit den Harpyien, die uns auf unserem Weg gefolgt waren, angespannt auf der Plattform, die das 'Krankenhaus' vom Rest der Stadt abgrenzte. Schaukelnd und schwankend machten mein Leibwächter und ich uns auf den Weg. "Und was wollen Sie an dieser-... dieser so-und-so untersuchen? Ist die überhaupt schon erwachsen?" "In Menschenjahren gerechnet wäre sie jetzt elf Jahre alt", erläuterte ich, "Aber wie gesagt, welche Krankheit genau es sein könnte, weiß ich noch nicht. Ich muss sie untersuchen, aber falls sie starke Schmerzen hat, kann es sein, dass sie sich wehrt." "Und was ist, wenn diese Krankheit nun--... wenn sie ansteckend ist?" Ich sah ihn an und spürte seinen Widerwillen, diese uralte menschliche Angst vor Krankheiten jeglicher Sorte. "Für so feige hielt ich Sie wirklich nicht, Kuro-ron. Ich dachte, Sie hätten wenigstens den Schneid, mir bei meinen U--" "Ist ja gut!! Ich mach's ja!", keifte Kurogane und starrte mich giftig an, "Aber wehe, Sie übertreiben es!" "Keine Sorge! Bei solchen Dingen übertreibe ich nie!", versicherte ich noch, bevor ich nach dem Türknauf griff. Als wir eintraten, schlug uns ein schwerer, dumpfer Dunst entgegen wie die unsichtbaren Ausdünsten einer Seuche. Es war eine bedrückende Mischung aus Federntalg, ausgespieenem Blut, Schweiß, Fieber, und-... und Angst. Ich fühlte mein Herz für einige Takte aussetzen, als ich den Kopf hob, um die zwanzig bis dreißig kranken Harpyien zu beobachten, die in den höheren Arealen des Hauses auf hölzernen Sitzstangen kauerten und meistens teilnahmslos ins Leere starrten. Einige wenige merkten auf, als Kurogane und ich nähertraten. Stumpfe, glanzlose Augen musterten uns apathisch. Müde reckten sich ihre blassen Hälse aus dem aufgeplusterten Gefieder. Verhornte Schnäbel klickten misstrauisch. Ich bekam einen Kloß in den Hals. Erst, als mich Kurogane mit dem Ellenbogen anstieß, fand ich wieder einigermaßen auf den Teppich. "Es sind-... es sind so viele", bemühte ich mich rasch zu sagen, da er offenbar eine Erklärung erwartete, "Ich hätte nicht gedacht, dass es-... so viele sind." "Tja, dann unternehmen Sie mal was. Sie sind der Arzt." Ich versuchte ein zuversichtliches Nicken, bevor ich mich an die wenigen Harpyien wandte, die uns bemerkt hatten. "Guten Tag! Äh-... ich bin Fye de Flourite! Der Arzt, um den Ghâlil gebeten hat!" Diese wenigen Worte wirkten bereits. Eine der Harpyien kam unbeholfen von ihrer Stange herabgeflattert und richtete sich wackelig vor uns auf. "Sao schackt dur Hammul, Fye de Flourite. Wurdun Sao ons hulfun könnun?" "Ich verspreche euch, dass ich alles versuchen werde. Mikl' a-naahichi en enah. Bevor ich euch aber helfen kann, muss ich einige von euch untersuchen. Dürfte ich dich bitten, mir zu sagen, wo ich Gwri finden kann?" Die männliche, tintenschwarz gefiederte Harpyie sah mich aus ihren matten, glanzlosen Augen lange an. "Gwri ist sehr krank", sagte sie schließlich auf fehlerfreier Menschensprache- bei Harpyien immer ein Zeichen, dass sie es sehr ernst meinten. "Dabei ist sie noch so jung. So jung, dass sie noch nicht richtig fliegen kann. Sie müssen uns versprechen, sie zu heilen." "Ich schwöre es", erwiderte ich. Der Vogelmensch musterte mich noch für einige Augenblicke, bevor er mit einer Vorderklaue in den hinteren Teil des Raumes deutete. "Sie liegt dort." Ich schluckte schwer. Wenn eine Harpyie nicht mehr aufrecht sitzen konnte, war das nie ein gutes Zeichen. Ich bedankte mich und packte Kurogane am Handgelenk, um ihn hinter mir her Richtung der Bettstätte zu zerren. Es war ein simples, aus feinen Zweigen und Schilfgräsern verfertigtes Nest. Und in seiner Vertiefung in der Mitte lag eine junge Harpyie. Mein Herz machte einen kleinen, pochenden Aussetzer. "Gwri-... ?", fragte ich zögernd und berührte das Geschöpf ein wenig an der Schulter. Sie hatte ein totenblasses, herzförmiges Gesicht, aus dem die verhornten Schnabellippen hervorsprossen wie eine junge Blume, ihre schulterlangen, honigfarbenen Haare lagen struppig auf dem Nestrand ausgebreitet. Sie besaß flaumiges, hell butterfarbenes Gefieder und lange, sehr zerbrechliche Gliedmaßen. Ghâlil hatte Recht gehabt- diese Harpyie war noch jung. Viel zu jung. Als ich sie jedoch ein wenig rüttelte, schlug sie ihre blassen Augen auf. Ihre Pupillen zogen sich in jäher Überraschung zusammen, als Kurogane und mich erblickte. Ihr Schnabel klickte leise. "B-... bist du-...." "Ich bin Arzt", sagte ich schnell und fasste eine ihrer Vorderklauen, "Ich bin hier, um dir zu helfen. Mikl' a-naahichi en enah." Gwri lächelte ein wenig und wisperte etwas auf Harpyisch. "Was hat sie gesagt?" Ich schluckte. "Sie sagt, dass sie Schmerzen hat. Wo hast du Schmerzen, Gwri? Amh' ekte Gwri en- tsi?" "Mokh." "Im Bauch?" Ohne weiter zu zögern, führte ich eine Hand vorsichtig an den Leib der Harpyie und tastete ihn ab. Ihr Herzschlag ging schwach und unstet. Ich teilte ihre flaumigen, butterhellen Federn in der Magengegend auseinander und drückte zwei Fingerspitzen auf ihre Bauchdecke. Sie zuckte fiebrig zusammen. Kein gutes Zeichen. Ich tastete mich weiter nach unten. Ich spürte deutlich, wie irgendetwas unter ihrer Haut herumrumorte. Es zitterte und bebte, zuckte nervös mal hierhin, mal dorthin und gab meinen Fingern einen ständigen, an- und abfallenden Druck wie ein Gewühl, ein einziges Gewühl von--... "Das gefällt mir ganz und gar nicht", sagte ich mit gedämpfter Stimme zu Kurogane, worauf dieser skeptisch die Augenbrauen hob. "Ich muss sie untersuchen, gleich jetzt." "Tun Sie sich keinen Zwang an...", meinte ich. Dafür war er ja wohl hier. Allerdings schien es wirklich ernst zu sein. Er nickte nachdenklich und ließ die Harpyie nicht aus den Augen. "Dann halten Sie sich bereit, notfalls eingreifen und zupacken zu können." "Wenn's denn sein muss", gab ich zurück und er fing an, in der Tasche zu kramen, um ein Stethoskop zu Tage zu fördern. Er sagte etwas auf Harpyisch und das Vogelwesen nickte schwach und bewegte leicht die Flügel, um sich mühsam umzudrehen. Anscheinend schien es sich ganz und gar nicht wohl zu fühlen... Fye trat wieder an Gwri heran und hörte sie mit dem Stethoskop ab, während er anscheinend beruhigend auf sie einsprach – natürlich in ihrer Sprache. Ich behielt die ihre unruhig zuckenden Bewegungen im Auge, doch bisher deutete nichts darauf hin, dass sie gleich durchdrehen und Amok laufen würde. Fye verzog nachdenklich das Gesicht und es schien ihm überhaupt nicht zu gefallen, was er da hörte – ich wollte gar nicht wissen was es war. "Hmmh", machte er und richtete sich wieder auf, nachdem er anscheinend fertig war. Dieses 'hmmh' klang ziemlich pessimistisch – vor allem für seine Verhältnisse. Er kam wieder zu mir herüber, drückte mir das Stethoskop in die Hand und sagte: "Es ist noch schlimmer, als ich gedacht habe. Sieht nicht gut aus." So ernst hatte er wirklich noch nie geklungen – und selbst ich konnte sehen, dass der Harpyie sicher nicht nach Feiern zumute war. Ehrlich gesagt wirkte sie eher tot als lebendig. "Und ich weiß immer noch nicht recht, was sie hat", fuhr der Blonde fort, "Können Sie mir die Lampe geben?" Ich brauchte nicht lange, um die kleine Stablampe ausfindig zu machen und sie ihm zu reichen. Das Stethoskop packte ich in die Tasche zurück ,während Fye sich wieder der Patientin zuwandte und etwas zu ihr sagte. Die Harpyie klickte unruhig mit dem Schnabel, antwortete aber etwas, das ich für ein Ja hielt. Was wohl auch eines gewesen war, denn Fye trat wieder näher. Er knipste die Lampe an und leuchtete ihr damit in die Augen – wohl um die Pupillenreaktion zu prüfen. Danach schien er wohl auch den Rachenraum überprüfen zu wollen- doch als er in den Schnabel hineinleuchtete, schien das der Harpyie dann doch zu viel zu sein. Sie riss den Kopf zurück und warf sich zur Seite, wobei sie Fye fast umriss. Dann schlug sie wie wild mit den Flügeln und fing an zu kreischen, dass es in den Ohren wehtat. Ein paar der anderen Harpyien, die es anscheinend noch nicht so schwer erwischt hatten, schauten zu uns herüber und schien wohl zu überlegen, ob wir Gwri wirklich halfen oder dabei waren, sie umzubringen. Letzteres ließ dieser Krach wohl eher vermuten. "Kuro-ne! Halten Sie sie fest!", rief Fye mir unter einer leicht verzweifelt wirkenden Geste zu, "Sie darf sich nicht bewegen! Das könnte sonst ganz schlimm ausgehen! Schnell!!" Ich war mit einigen Schritten dort und versuchte, die aufgebrachte Harpyie, die immer noch wild um sich schlug, zu fassen zu kriegen. Es war nicht einfach, aber schließlich hatte ich sie zumindest so weit im Griff, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Das Vieh war noch erstaunlich stark. Wütend klapperte sie mit dem Schnabel und hackte nach mir. Zum Glück erwischte sie mich nicht – ihre Krallen hatten vorhin schon genug wehgetan. Meine Arme waren mit Kratzern übersät, aber das störte mich gerade nicht. Fye nickte, anscheinend zufrieden. "Ganz ruhig, Gwri... wir wollen dir doch nur helfen...", summte er in dem standardmäßigen Arzt-Tonfall. Trotzdem schien ihr das ganze nicht wirklich zu behagen, weil sie immer noch versuchte, sich wieder loszureißen. Doch plötzlich verkrampfte sie sich und fing an zu röcheln. Ich hatte hoffentlich nicht zu fest zugepackt. Sie ruckte unruhig mit dem Kopf und würgte. Ich beschloss, sie lieber loszulassen – jetzt machte sie auch keine Anstalten mehr, hier herumzutoben. Fye stand etwas hilflos da und schien nicht zu wissen was er tun sollte – anscheinend überlegte er gerade fieberhaft, was los war. Ich konnte ihm das leider auch nicht sagen, weil ich das noch weniger wusste als er. "Sie hat einen Anfall!" "Ach ja?! Das sehe ich auch!!", war die gereizte Antwort meines schwarzhaarigen Begleiters, während Gwri verzweifelt versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. Es schien ihm größte Mühe bereiten, sie festzuhalten, da sie von einer Sekunde auf die nächste wieder anfing, wie wild mit den Flügeln zu schlagen und um sich zu treten, wobei sie ein Gekreisch von sich gab, das einem schier das Trommelfell zerriss. Unter den anderen Harpyien wurde misstrauisches Schnabelklicken und Murmeln laut. "Verdammt, die haut mir noch ab!!", fauchte mein Leibwächter und schlang den rechten Arm um ihren Leib. "Nein, nicht am Bauch!", rief ich alarmiert dazwischen, als ich sah, dass der jungen Harpyie vor Schmerz die Augen regelrecht aus den Höhlen traten. "Ja wo denn bitteschön sonst?!!", war die gezischte Antwort. "Packen Sie sie an der Brust! Ihre Bauchdecke ist viel zu empfindlich!" "WAS?!!", brüllte Kurogane entgeistert, "Sagen Sie mal, für wie pervers halten Sie mich eigentlich?!! Sie ist ein verdammtes Weib! Eher sterbe ich, als dass ich sie an der Brust antatsche!" "Bitte, Kurogane!", versuchte ich vergeblich, sein Geschrei zu übertönen, "Tun Sie's einfach! Bitte, okay?" Mit einem Fluch rammte Kurogane seine Arme unter Gwris Achseln, bevor ich sie am Schnabel fasste. "Gwri-...", versuchte ich, die Aufmerksamkeit der jungen Harpyie zu gewinnen und hielt ihren Kopf zwischen meinen Händen, "Gwri, hör mir jetzt zu. Dir wird nichts passieren, okay? Dir wird nichts passieren! Sieh mich an. N'kaa-a na." Bebend vor unterdrücktem Schmerz fixierte mich Gwri aus weit aufgerissenen Augen. Ihr Schrei wurde zu einem Schluchzen. Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln und kullerten ihre fiebrig erhitzten Wangen hinab. Sie musste wahre Höllenqualen leiden. "Gut so", sagte ich leise und streichelte mit beiden Händen über ihre gesträubte Federhaube, "Gut. Sieh mich an. Sieh mir ganz fest in die Augen. Ich muss jetzt etwas an deinem Hals machen. Es wird kurz weh tun, aber es geht ganz schnell. Halt deinen Kopf solange still. Neeme en e. Okay?" Gwri nickte nur und sperrte mit tränenüberströmten Wangen ihren Schnabel auf. Ihr Rachen war rot und geschwollen. Wenn mein Verdacht stimmte, musste ich nur noch eins tun, um ihn zu bestätigen. Ohne weiter zu zögern drückte ich ihre Zunge nach unten und stieß meinen Mittelfinger tief in ihren Hals. Unwillkürlich bäumte Gwri sich auf und spie mir mit einem heiseren Kehllaut einen ganzen Mund voll gelblich-roten Blutes vor die Füße. "Verdammte Sauerei!", stieß Kurogane zornig hervor. Mir jedoch blieb schier die Spucke weg, als ich beobachtete, wie sich inmitten all des schaumigen, gelb-rötlichen Schleims etwas zu winden begann. Das durfte doch einfach nicht wahr sein. "Jesus Maria", flüsterte ich fassungslos und ging sofort in die Hocke, um nach dem sich windenden Etwas zu greifen. "Bah, pfui Teufel!! Sagen Sie mal, geht's Ihnen noch gut?!!" Ich gab keine Antwort, während ich konzentriert weiterwühlte. Das musste doch--... ja, es war tatsächlich-... Erneut wollte Kurogane seinem Ekel lauthals Luft machen, allerdings blieb ihm letztere weg, als ich endlich zu greifen bekam, was ich gesucht hatte und es hinauf ans Tageslicht fischte. Es war ein hautfarbener, etwa dreißig Zentimeter langer Wurm. Er schien immer noch am Leben zu sein, denn er wand und krümmte sich wie verrückt. Mein Verdacht bestätigte sich endgültig. "Was in Dreiteufelsnamen ist denn das?!" "Das, mein Guter", sagte ich mit belegter Stimme und hielt den Wurm in die Höhe, sodass auch Gwri ihn erkennen konnte, "Ist ein sogenannter Ascaris lumbricoidis . Ein Spulwurm. Ein Askarid." Die junge Harpyie starrte entgeistert den fingerdicken, zuckenden Spulwurm an, den sie ausgespieen hatte und vergaß vor lauter Schreck sogar das Zappeln. Die anderen Harpyien reckten ihre Hälse. "Moment mal--... da kann doch was nicht stimmen", sagte Kurogane skeptisch, "Was hat dieses Vieh in ihrem Magen zu suchen?" Ich schloss die Augen und ließ meine Rädchen rattern. Akademie. Denk an die Akademie. "Der Spulwurm oder auch Askarid ist hauptverantwortlicher Erreger für eine der häufigsten Vogel- und Tiererkrankungen: der darmorientierte Askaridenbefall", rasselte ich mechanisch herunter, "Sie tritt häufig in sanitär ungenügend abgesicherten Verhältnissen auf. Die Ansteckung erfolgt über orale Aufnahme von embryonierten Eiern über enge Körperbindungen oder kontaminierte Lebensmittel. Die Embryonen dringen über die Mundschleimhaut in den Blutkreislauf ein und wandern in den Dünndarm, wo sie sich zu adulten Würmern entwickeln, einnisten und ihrerseits Eier legen. Die Folge ist ein chronischer Askaridenbefall." Ich schlug die Augen auf. Kurogane und Gwri starrten mich entgeistert an. "Und was heißt das in einer für mein Hirn verständlichen Sprache?" "Das heißt, dass sich in Gwris gesamtem Darm und vermutlich auch schon in ihrem Magen diese Würmer eingenistet haben", erklärte ich atemlos, "Es müssen unglaublich viele und vor allem unglaublich kräftige Exemplare sein. Ich konnte sie sogar durch ihre Bauchdecke hören. Sie ist von oben bis unten vollgestopft mit diesen Askariden." "Und das bedeutet?", zwang mich Kurogane zu einer Schlussfolgerung. "Das bedeutet, dass Gwris Darmhaut kollabieren und aufreißen wird, wenn wir nichts unternehmen", sagte ich tonlos, "Wenn das passiert, kommt es zu irreparablen inneren Blutungen. Die Würmer werden in ihren Körper gespült. In die Lunge, in die Leber und ins Herz. Nach wenigen Tagen werden ihre-... ihre sämtlichen inneren Organe von Askariden befallen sein." "Das bedeutet, dass sie sterben wird, wenn wir nichts unternehmen." "Wir müssen diese Askariden unbedingt aus ihrem Darm wegschaffen", erwiderte ich statt einer Antwort. "Und wie soll das funktionieren?" In meinem Kopf zischten alle Düsen. Ich merkte, wie mich Gwri aus tränennassen, flehenden Augen anstarrte. "Wir müssen sie operieren. Noch heute nacht." "Wis wallst do ton?!" "Es geht nicht mehr anders, Ghâlil!", erwiderte ich ernst und bemühte mich, dem Bürgermeister von Shuryotori Aitoki gerade in die Augen zu sehen, "Bei Gwri ist dieser Befall schon so stark, dass ich um eine Operation nicht mehr herum komme, wenn sie nicht sterben soll! Ich habe mir die anderen Erkrankten angesehen, den meisten von ihnen kann schon mit einfachen Medikamenten geholfen werden, aber Gwri und einige andere müssen operiert werden!" Ich wiederholte den Satz noch einmal auf Harpyisch. Ghâlil, den Kurogane auf meine Bitte hin auch in das 'Krankenhaus' geholt hatte, stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr mit einer Klaue über Gwris zerzaustes Haar. Ich hatte es geschafft, die junge Harpyie zu beruhigen und in ihr Nest zurück zu bringen, wo sie in einen bleischweren Schlaf gefallen war. Es sah übel für sie aus. "Hiben Sao üburhiopt illus, wis Sao für oane Epuritoen briochen?", erkundigte sich eine der kranken Harpyien, die sich in der Zwischenzeit zu uns gesellt hatten, damit ich sie über den Stand der Dinge aufklären konnte. "Ich denke schon", erwiderte ich, "Alles, was ich noch bräuchte, wäre ein Betäubungsmittel. M'jeek-itsi siksi." Alle fuhren herum, als sich Kurogane mit einem unterschwelligen Räuspern zu Wort meldete. "Ich weiß ja nicht, ob die Theorie des hirnlosen Muskelprotzes auch stimmt", meinte er, "Aber vorhin beim Flug habe ich roten Mohn auf den Felskämmen wachsen sehen, gar nicht weit vom Dorf." Ich spürte augenblicklich, wie es bei mir Klick machte. "Mohn?", stieß ich eifrig hervor, "Sie meinen doch wohl nicht, dass-..." "Doch, meine ich", erwiderte mein Leibwächter achselzuckend, "Es könnte ja Schlafmohn gewesen sein." "Aber natürlich!", rief ich begeistert aus und wandte mich an die Harpyien, die sich in einem Halbkreis vor Kurogane und mir versammelt hatten, "Das ist die Lösung! Schlafmohn- Papaver somniferum! Die Bezeichnung 'somniferum' bedeutet im Lateinischen nicht umsonst 'schlafbringend' ! Eine gewisse Menge an frischem Schlafmohn dürfte sicher reichen, um Gwri lange genug zu betäuben, damit sie bei der Operation keine Schmerzen spürt! Heute nacht geht einfach jemand Schlafmohn pflücken, und einige von euch helfen mir in der Zwischenzeit, einen Raum für die Operation zu finden und ihn zu desinfizieren!" Ich übersetzte diesen Vorschlag hastig auf die Sprache der Harpyien. Ghâlil grübelte lange mit gerunzelter Stirn darüber nach. Schließlich erwiderte er etwas, ebenfalls auf Harpyisch. Stille breitete sich aus. "Was hat der gesagt?", erkundigte sich Kurogane argwöhnisch, "Und wieso starren die mich alle auf einmal so an?" Ich sah zu meinem Reisegefährten hoch und konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. "Er hat gesagt, dass wir für das Beschaffen des Mohns einen tüchtigen Bergsteiger brauchen werden." Kurogane starrte mich irritiert an. Dann fiel der Groschen und er stieß ein entnervtes Ächzen aus. "Also schön, von mir aus! Aber wenn ich bei dieser Bergtour draufgehe, dann bring ich Sie um!" Kapitel 5: Ascariasis - 4 ------------------------- "Mit mir kann man das ja machen...", fluchte ich, während ich das zweite Mal fast abgestürzt war, seit ich ungefähr eine halbe Stunde durch die Berge kletterte. Und das war nicht unbedingt einfach. Ich hatte nicht mal ein Seil aufgetrieben und somit waren Fehltritte nicht unbedingt erfreulich. Außerdem war es schon ziemlich dunkel. Momentan hing ich an der Felswand - einige hundert Meter über dem Erdboden, vielleicht waren es schon auch über tausend, sicher war jedenfalls, dass ich auf keinen Fall wissen wollte, wie tief ich fallen würde. So langsam bekam ich Muskelkater in Armen und Beinen und mein Rücken tat weh. Außerdem konnte ich mich nicht entscheiden, wie ich jetzt weiterklettern sollte. Beide Möglichkeiten sahen nicht unbedingt sicher aus - bei der einen musste ich mit beiden Händen loslassen und bei der anderen springen und hoffen, dass ich rechtzeitig Halt erwischte und dieser nicht auch noch abbrach. Weit war es nicht mehr - ich konnte die roten Blumen - obwohl, es waren eher dunkle Flecken - schon an den Felshängen sehen. Doch leider waren es immer nur ein paar Mohnblumen, die dort wuchsen und ich würde einige Felskämme abgrasen müssen, um genug davon zu bekommen - ich war nicht sicher ob es überhaupt reichte. Ich rückte die Umhängetasche zurecht, in der ich den Mohn transportieren konnte und entschied mich für die erstere Möglichkeit. Ich suchte festen Halt mit den Füßen und angelte dann langsam nach dem nächsten Vorsprung. Ich zog mich hoch, wobei ich zusätzlich einen Krampf in den Schultern bekam, aber dann hatte ich es geschafft. Ich verschnaufte ein wenig und fing dann an, die Blumen in die Tasche zu schmeißen - nur die Blüten, die Stängel waren nicht zu gebrauchen - zumindest hatte mir mein Begleiter das gesagt. Ich saß mitten in der Nacht auf einem Berg und pflückte Blumen. So langsam fragte ich mich, was denn noch so alles kommen würde - verrückter konnte es doch eigentlich nicht mehr werden. Oder doch - das traute ich meinem Begleiter zu, dass er etwas fand, was noch verrückter war... Es dauerte noch mal eine halbe Stunde, bis ich auf alle zu erreichenden Hänge geklettert war und dort den Mohn gesammelt hatte. Inzwischen war es wirklich stockfinster und ich konnte kaum noch etwas sehen. Wenigstens der Mond hätte scheinen können... Ein wenig konnte ich im Dunkeln sehen, aber hier bestand eigentlich alles nur noch aus dunklen und noch dunkleren Flecken. Ich hatte zwar eine kleine Lampe, aber viel half sie nicht. Und da durfte ich jetzt wieder herunterklettern. Fye würde etwas zu hören kriegen, wenn ich wieder im Harpyiendorf ankommen würde... Ich machte mich an den Abstieg, noch vorsichtiger als den Aufstieg. Die Lampe erreichte kaum den nächsten Schritt und manchmal musste ich erneut ansetzen, weil ich merkte, dass mein Fuß oder meine Hand dort gar keinen Halt finden konnte. Auf der unteren Strecke war der Halt besser, dort kam ich schneller voran. Allerdings passte ich deshalb nicht richtig auf, rutschte ab und fiel. Mit einem Krachen landete ich auf dem Boden. "Verdammt..." Obwohl es nur einige Meter gewesen waren, vielleicht drei oder vier - hatte das wirklich wehgetan. Der Boden bestand nämlich aus Granit - und nicht zu vergessen, kleine spitze Steinchen, die sich in meinen Rücken und in die Seite gebohrt hatten. Ich rappelte mich fluchend auf und versuchte den Schmerz zu ignorieren, der mir dabei durch den Körper schoss. Es knackte ziemlich, als ich mich bewegte, aber anscheinend war nichts gebrochen. Doch das würde einen richtigen blauen Fleck geben... Und ich hatte mir wohl einiges aufgeschürft und anscheinend blutete es auch ein wenig. Ich wartete, bis ich wieder einigermaßen Gefühl in Beinen und Armen hatte und diese aufhörten vor Anstrengung zu zittern, und auch die Schmerzen nachließen, bevor ich mich auf den Weg zurück zur Harpyienstadt machte. Nie wieder - wirklich nie wieder, würde ich im Dunkeln klettern gehen... "Da sind Sie ja endlich!", rief er, als ich den Operationsraum betrat - okay, vom Boden essen würde ich hier nicht, aber er sah um einiges sauberer aus, als zu dem Zeitpunkt, an dem ich ihn verlassen hatte, um den Mohn zu holen. "Sie sehen ramponiert aus." "Klettern Sie mal im Dunkeln ohne Sicherung..." Ich drückte ihm mürrisch die Tasche, die ich fast nicht mehr zubekommen hatte, in die Hand, ohne weiter darauf einzugehen, dass ich gestürzt war. Das konnte warten. "Ich hoffe das reicht. Noch mal klettere ich da nicht hoch." "Hm", meinte er und lugte in die Tasche. "Werden wir ja sehen. Ich hoffe es. Aber - fangen wir lieber an!" "Wir?!" "Natürlich. Ich schaff das nicht alleine und Harpyien sind anatomisch nicht dafür ausgelegt, Operationsinstrumente zu halten. Ich werde Ihnen sagen was Sie tun sollen und dann werden sie das einfach machen, okay?" Ich verdrehte genervt die Augen. "Bitte, Kurogane - sonst stirbt Gwri. Und die anderen später auch." "Ich mach's ja!" "Schön. Es ist auch alles vorbereitet, Gwri muss nur noch betäubt werden. Sie wird als erste operiert, und dann die anderen." Schien, als würde das eine lange Nacht werden...sehr lang. "Okay. Bringt sie rein." Ich nickte Ghâlil zu. Nachdem Gwri von zwei ihrer gesunden Artgenossen hereingetragen und auf der improvisierten Bahre abgesetzt worden war, stakste der Bürgermeister von Shuryotori Aitoki sichtlich beunruhigt zur Tür des Operationsraums hinaus, um Kurogane und mich auf meine Bitte hin mit unserer Patientin allein zu lassen. Diese wirkte im Moment, als stünde sie bereits mit einer Klaue in der Unterwelt. Ihre schlanken Glieder waren völlig verkrampft, ihr Atem ging schwach und pfeifend. Während ich mir meine weiße, vorsorglich desinfizierte Operationsschürze umband, ließ ich meinen Blick nachdenklich über das junge Geschöpf unter mir wandern. Die Operation musste auf jeden Fall schnell gehen. Gwris gesamter Organismus befand sich noch mitten in der Entwicklungsphase- ein falsch angebrachter Schnitt mit dem Skalpell konnte leicht das Wachstum oder die Sauerstoffzufuhr eines Organs hemmen. Ein Fehlgriff, der meist tödlich ausging. Ich spürte mein Herz klopfen, während ich eins der Skalpelle mit kurzer Klinge aus der Arzttasche herausfummelte. "Was genau werden Sie tun?", fragte Kurogane skeptisch, als er das kalte Funkeln des Metalls bemerkte. "Ich werde einen Querschnitt an ihrer Bauchdecke ansetzen und den Magen-Darm-Trakt freilegen", erklärte ich und deutete auf den Punkt auf Gwris Magengegend, den ich mir als ideale Stelle für den Schnitt auserkoren hatte, "Dann öffne ich mit einem seitlichen Schnitt ihre Darmnebenwand, damit die Wurmkolonien sichtbar werden. Jeder einzelne Wurm muss aus dem Darm entfernt und die Eier mit mit Weißdornlösung abgetötet werden." "Und wie soll das mit dem Schlafmohn funktionieren?" "Das ist ganz leicht. Bei einer Pflanze gibt es immer einzelne Teile, zum Beispiel Bulbus -Zwiebel, oder Radix -Wurzel", erklärte ich leise, "Beim Schlafmohn ist es die Flos, die Blüte, die den meisten Wirkstoff enthält. Aber bei der Dosierung müssen wir sehr aufpassen, der Papaver gehört nämlich zu den Pflanzen, die Alkaloide- giftige Salzverbindungen- enthalten." "Also?" "Also müssen Sie mir jetzt helfen, Kuro-pyon", entschied ich und lotste ihn unter umfangreichem Armgefuchtel zu mir herüber, "Es funktioniert folgendermaßen: Sie zerreiben die Blüten zwischen Ihren Händen und streichen sie knapp unterhalb von Gwris Nasenlöchern auf ihren Schnabel. Wenn sie Luft holt, atmet sie den Mohnduft automatisch mit ein. Es wird zirka fünf bis zehn Minuten dauern, bis sie tief genug eingeschlafen ist, dass ihre Synapsen keine äußeren Sinneswahrnehmungen mehr weiterleiten. Tja, und dann geht's los." "Nervös?", fragte mein Leibwächter und musterte mich abschätzig. "Ein bisschen", gab ich zu, "Aber das wird schon klappen. Wenn es gut läuft, ist Gwri nach einer halben Stunde fertig." Die junge Harpyie reagierte ein wenig bei der Nennung ihres Namens und öffnete mühsam ihre glasigen Augen. Als sie das Skalpell sah, zogen sich ihre rotgeränderten Pupillen in jäher Angst zusammen. Ich musste lächeln. "Gwri-... du musst wirklich keine Angst haben. Es ist alles okay. Du wirst nur ein kleines Nickerchen machen, und wenn du aufwachst, bist du wieder gesund." Ich rieb meine Hände aneinander, um sie zu wärmen, und strich dem Geschöpf, das sich nur noch fester an meiner Hand festkrallte, ein wenig über den gesträubten Federkamm, bis sie sich wieder beruhigte. "Okay", entschied ich schließlich, "Packen wir's an. Kuro-ne, kümmern Sie sich um die Blüten. Gwri, du musst mir jetzt versprechen, dich nicht zu verkrampfen. Bleib ganz ruhig liegen." Während mein Leibwächter- erstaunlich fügsam für seine Person- übernahm und unter Gwris fragenden Blicken unbeholfen Mohnblütenmatsch auf ihren Schnabel tupfte, zog ich mir vorsorglich ein Paar weiße Operationshandschuhe über und stellte ein Mischglas für die Weißdornlösung bereit, die die Askaridenbrut töten sollte. Für die adulten Würmer stand unter der Bahre ein Eimer bereit. "Okay, das sind genügend Blüten. Nehmen Sie kurz Gwris Hand, ich ho--" "Ich soll was machen?!! Das-... das ist doch nicht mal eine Hand!", stieß Kurogane hervor. "Spielt das denn eine Rolle? Nehmen Sie sie einfach! Sie müssen mir bescheid sagen, wenn die Fingergelenke sich entspannen und nicht mehr auf Druck reagieren! Dann können wir nämlich anfangen! Gwri wird sicher nicht beißen, so hilflos wie sie ist!" Mein Reisebegleiter starrte mich vorwurfsvoll an, bevor er sich endlich dazu erbarmte, meiner Bitte nachzukommen. "Mann, das passt echt auf keine Kuhhaut, wozu Sie mich nötigen..." "Dann aber sicher auf eine Walhaut. Und jetzt still, sie muss schlafen." Zum Glück bekam Gwri nicht mehr wirklich viel von unserem zweifelhaften Disput mit. Ihre Lider begannen bereits zu flattern. "Schlaf...", sagte ich leise und rieb behutsam über die Schläfen der Harpyie, "Schlaf... komm schon, Augen zu..." Das wirkte. Nach wenigen Minuten sank ihr Kopf allmählich zur Seite. Ihr angstvoll gesträubter Federkamm glättete sich. Sie lag so still, dass ich im Schein der Nachtlichter förmlich sehen konnte, wie es unter ihre Bauchdecke rumorte. "Reagieren ihre Fingergelenke noch auf Druck?" Mein Leibwächter schüttelte den Kopf. "Nein. Schlaff wie ein nasser Sack. Kann ich sie jetzt endlich loslassen?" "Warten Sie lieber noch fünf Minuten. Dann muss ich den Schlafmohn sowieso wieder abtragen." Während ich das sagte, setzte ich das Skalpell an. Ich registrierte aus dem Augenwinkel heraus, wie mein Begleiter aufmerkte. "Was, was-- was tun Sie jetzt?! Schneiden Sie jetzt etwa?" "Ja. Ein einfacher Querschnitt über die Magen-Darm-Zone. Sie müssen mir helfen, die Haut zurückzuhalten." Angesichts dieser kurzen Erklärung schien meinem Kompagnon ausnahmsweise kein abfälliger Kommentar einzufallen. Ich setzte das Skalpell an und fuhr damit in einer langsamen, nach unten gerichteten Bewegung über Gwris Unterleib. Ein wenig Blut trat aus, das ich schnell mit meiner Schürze abwischte, bevor ich die scharfe Klinge tiefer absenkte und den Schnitt bogenförmig nach außen führte, damit ich mich später beim Vernähen nicht unnötig verkünsteln musste. Es ging sehr glatt. "Sehr schön", murmelte ich und legte das leicht von Blut benetzte Messer zur Seite, um mit Daumen und Zeigefinger die angeschnittene Bauchdecke behutsam ein wenig anzuheben. Es war, als würde sich eine Blüte öffnen. Ein ganzer Kosmos offenbarte sich vor unseren Augen. Nach und nach wurde die untere Magenwand sichtbar, ein sanft pulsierender Ring aus hell gelblich schimmernder Haut, der im Kerzenlicht wie eine von innen beleuchtete Perle glänzte. Ihm folgten die Leber, der Dünndarm und der Dickdarm- zwei schlangengleiche, in zahlreiche Kurven gelegte Röhren, weich eingebettet in dunklem Gewebe. Und all dies war erfüllt von dem zarten, beharrlichen Vibrieren des schlagenden Herzens. Ein Körper, der still in die Nacht hinaus atmete. Ein wachsender Organismus, der aus einer mikroskopisch kleinen Molekülkette entstanden war, geboren aus dem Innersten zweier Lebenwesen. "Sehen Sie nur, Kurogane", wisperte ich, "Sehen Sie sich all diese Schönheit an. Das ist das, was wir Leben nennen. Haben Sie je etwas so schönes zu Gesicht bekommen?" Die einzige Antwort war ein zweifelnder Blick. Ich ließ mich nicht beirren und führte meine behandschuhten Fingerspitzen behutsam auf die atmenden Därme, um sie abzutasten. Es dauerte nicht lange, bis ich den Knoten entdeckt hatte. Er lag im unteren Darmbereich und ragte wie eine hässliche, aderüberzogene Beule aus dem Gewebe wie der Farbklecks, der ein ganzes Gemälde ruinierte. Durch die empfindliche, dünne Darmwand konnte man unzählige, fadenförmige Leiber erkennen, die sich in einem ziellosen Rhytmus hin- und herwanden. Es war sogar noch schlimmer, als ich gedacht hatte. So große Askariden hatte ich selten, oder besser gesagt noch nie gesehen. "Okay", entschied ich, "Das hier ist eindeutig die kritischste Stelle. Hier scheint die Brutstätte der adulten Würmer zu sein. Tragen Sie jetzt am besten den Mohn ab, Kuro-pyon. Ich trenne solange die Darmwand auf." Wortlos kratzte mein Leibwächter den Schlafmohnmatsch vom Schnabel unserer jungen Patientin, während ich mich vorsichtig tiefer über den bloßgelegten Körper unter mir beugte und die scharfe Spitze des Skalpells zwischen meine Fingerspitzen nahm. Langsam setzte ich den Schnitt an. Gedärm war sehr empfindlich. Ich biss mir vor Konzentration fast die Zunge durch, als ich mit der Spitze der Skalpellspitze in die millimetertiefe Furche des Schnitts fuhr und die beiden Darmhäutchen auseinander hielt. "Gut. Halten Sie die Haut nach oben. Ich weite den Schnitt aus." Kurogane stand der Ekel zwar ins Gesicht geschrieben, dennoch maulte er nicht. Ich bediente mich währenddessen einer zweiten Skalpellklinge, um das glänzende, sich schlängelnde und windende Universum des Darms weiter zu öffnen. Ich hielt die Luft an, als ich die Wurmkolonien erreichte. Wie ein lebendes Krebsgeschwür wimmelten die adulten Askariden in den engen Darmbahnen umeinander, untereinander und übereinander her und erfreuten sich ihres parasitischen Lebens. Die ausgewachsenen Exemplare waren fast so dick wie mein Zeigefinger und mindestens dreißig Zentimeter lang. Vorsichtig spreizte ich die beiden Darmhäute auseinander und glitt mit den Fingern der anderen in den geöffneten Verdauungstrakt, um die Würmer zu greifen. Mein Leibwächter stieß unwillkürlich einen Laut des Ekels aus, als ich eine ganze Hand voller Askariden zu fassen bekam und sie mit einem widerwärtigen, schmatzenden Geräusch ans Tageslicht förderte. Es waren neun oder zehn, die ich erwischt hatte. "Fünf Männchen, vier Weibchen", erklärte ich und ließ das schmierige Pack in den Eimer zu meinen Füßen fallen, "Die Weibchen standen wieder kurz vor der Eiablage." Da wieder keine Antwort kam, beließ ich es dabei, in der Entfernungsprozedur fortzufahren. Ganze Hände voller Würmer landeten in dem Eimer, ein einziges schleimiges, zuckendes, sich krümmendes Gewirr aus zahllosen, glänzend hautfarbenen Leibern. Offenbar waren die Herren und Damen Askariden ein wenig verwirrt über den plötzlichen Umzug. Es lief relativ flüssig- die überreizte Ausdehnung im Darm zog sich mit jedem Wurm, den ich aus seinen Tiefen emporförderte, wieder ein wenig zusammen. Es würde sicher nicht mehr lange dauern. Doch plötzlich spürte ich, wie sich etwas in diesem gepflegten Ablauf zu ändern schien. Der gleichmäßige, vibrierende Rhytmus von Gwris Körper geriet auf einmal ins Stocken. Die junge Harpyie zuckte. Ihre Kehle begann zu beben. "Oh nein, oder?!", stieß ich fassungslos hervor, als ich zu erkennen glaubte, was los war. "Nicht jetzt!" "Was ist denn los?!" "Es war nicht genug Schlafmohn! Sie beginnt wieder Schmerzen zu spüren!" "WAS?!! Aber ich hab ihren Schnabel doch von oben bis unten zugeschmiert!" Ich spürte, wie sich meine Kehle unwillkürlich verkrampfte. Wenn es tatsächlich nicht genug Mohn gewesen war und Gwri wieder aufwachen würde, würde sie aufgrund ihrer geöffneten Bauchdecke unerträgliche Schmerzen leiden müssen, und ich wagte es nicht einmal, mir vorzustellen, wie sie sich dann gebärden würde. Aber ganz einfach neuen Mohn zu zerreiben, war zu gefährlich. Sie hatte jetzt schon fast zuviel dieses giftigen Alkaloids eingeatmet, und eine Überdosis würde sie töten. Gwris rechtes Bein begann zu zucken. Ich spürte, wie die Rädchen in meinem Kopf ratterten. "Was stehen Sie hier so rum? Tun Sie was, Mann!", hörte ich wie von weiter Ferne Kuroganes Stimme an mein Ohr dringen, "Warum schmieren Sie nicht einfach neuen Mohn drauf?" "Das ist viel zu riskant! Sie stirbt, wenn sie zuviele Alkalsalze einatmet!" Die Askariden wimmelten unter meinen Fingern. Gwris Schnabel öffnete sich. Ihre hornige Zunge wölbte sich nach oben. "Tun Sie etwas!" Mein Herz machte einen Satz. Die Härte in der Stimme meines Leibwächters brachte mich radikal auf den Boden der Tatsachen zurück. "Holen Sie neue Blüten", hörte ich mich sagen, "Fünf oder sechs, aber auf keinen Fall mehr. Und beeilen Sie sich. Wenn ich die restlichen Würmer schnell genug entferne, könnte es klappen." Der Aufwachprozess des humanoiden Vogels schritt unglaublich schnell voran. Kurogane nahm sie bei den Schultern und hielt ihren wie bei einem Fieberanfall bebenden Körper nach unten gedrückt, bevor er weitere Mohnblüten zerreiben konnte. Gwris Beine zitterten immer stärker. Ich hatte größte Mühe, das Skalpell gerade zu halten und gleichzeitig die verbleibenden Würmer aus ihren Innereien hervor zu puhlen. Und plötzlich passierte es. Noch während ich eine der letzten Ladungen Askariden in den Eimer beförderte, riss die junge Harpyie wie von einem Blitz getroffen ihr rechtes Bein nach oben, und mein Skalpell rutschte ab. "Nein!!" Ich konnte nur fassungslos zusehen, wie die scharfe Klinge eine lange Wunde in die obere Darmwand riss. Die Spulwürmer quollen hervor wie ein einziges, glänzend hautfarbenes Gewühl aus Fleisch und wanden sich in ihrer ziellosen Verwirrung nach allen Richtungen davon. In Gwris Körper. In ihr Gewebe, Richtung Leber, Richtung Herz. "Nein--" "Holen Sie die Viecher da raus!!"", brüllte Kurogane, während er nur unter großen Anstrengungen das fast schon erdbebenhafte Züge annehmende Zucken des Harpyienkörpers unterband, um den Mohn wieder abzukratzen. "Aber ich-..." "LOS!!" Meine Hand handelte schneller als mein Hirn. Sie schoss nach vorne und griff nach den Würmern. Platsch. Platsch. Platsch. Meine Finger hielten die verwundete Darmhaut zusammen. "Holen Sie den Weißdorn. Kleine, weiße Blüten. In meinem Rucksack." Hektisch wand ich die Heilpflanze aus den Händen meines Begleiters und zerrieb sie zwischen meinen Fingern, um diese dann in den Darm einzuführen. Ich stemmte mühsam Gwris immer schwächer zuckenden Schnabel auf und kniff behutsam in ihre Kehle, um sie einige zerriebene Weißdornblätter schlucken zu lassen. Dann griff ich nach dem Faden. Der Kosmos schwand. Nach fünf schweißtreibenden Minuten ließ ich die Nadel fallen und presste mein linkes Ohr auf Gwris Brust. Endlose Momente vergingen. "Ist sie-... ?" "Eine Minute. Das ist die Regel. Eine Minute konstanter Puls." Ich schloss die Augen und zählte die Abstände. Poch, eins zwei. Poch, eins zwei. "Na? Was jetzt?" "Pssschht!!" Atemlos konzentrierte ich mich so fest wie möglich auf das sanfte, weiche Klopfen an meinem Ohr. Poch, eins zwei. Poch, eins zwei. Neben meinem linken Arm spürte ich eine der bekrallten Füße des jungen Geschöpfs zucken, in kleinen, nervösen Bewegungen, die langsam erstarben. Instinktiv griff ich nach der vordersten Klaue und rieb in streichelnden Bewegungen sanft darüber. "Du wirst leben", sagte ich leise, ich wiederholte es wieder und wieder wie eine Beschwörung, "Du wirst leben." Poch, eins zwei. Poch, eins zwei. Ich fühlte die Hitze in mein Gesicht steigen, als ich Gwris Klaue behutsam wieder auf der Bahre ablegte und mich nach hinten in die Hocke sinken ließ. Das Kerzenlicht tanzte auf den flaumigen Federn der schlafenden Harpyie. "Kurogane?" Mein Leibwächter nickte zum Zeichen, dass er hörte. Ein langes Schweigen verging. Als ich endlich den Blick hob, machte sich die Erleichterung so unnachgiebig in mir breit, dass ich ihn nur noch angrinsen konnte. Du wirst leben. "Bringen Sie den nächsten." Nach drei anstrengenden und sehr nervenaufreibenden Stunden hatten wir es endlich geschafft, alle fünf Harpyien zu operieren – erfolgreich und ohne Komplikationen. Ich hätte einen Anfall bekommen, wenn diesmal etwas schief gelaufen wäre. Die Sache war auch schon blutig und vor allem schleimig genug gewesen. Gegen ersteres hatte ich im Allgemeinen ja nichts, aber diese Würmer – wir hatten drei weitere Eimer gebraucht, um die Viecher alle unterzubringen. Ich wischte mir die Hände an einem Tuch ab, Fye tat es mir gleich. Er sah abgespannt, aber höchstzufrieden aus. "Das hätten wir", meinte er vergnügt. Ich warf ihm bloß einen genervten Blick zu. "Was für eine Sauerei...", meinte ich – der ganze Boden war rutschig von Blut und Magensäften und sonstigem Zeug, was eigentlich besser im Körper bleiben sollte. Und manches war nicht auf dem Boden gelandet, sondern auch auf unseren Klamotten. Deshalb verstand ich es auch nicht, warum er so begeistert war. Ich war es jedenfalls nicht. "Jetzt stellen Sie sich nicht so an wegen dem bisschen Blut!", flötete er und grinste. "Tu ich ja gar nicht." Aber das hieß ja noch lange nicht, dass mir diese ganze Sache auch noch gefallen musste. Zumindest hatte der Schlafmohn gereicht und wird hatten sogar noch einiges übrig. "Ich geh jetzt schlafen." "Nanana! Eeeeerst müssen wir aufräumen!", hielt er mich zurück, "Sie sagten doch selbst: eine ganz schöne Sauerei!" Ich knurrte genervt – aber was blieb mir schon anderes übrig? Es dauerte einige Stunden, bis alles wieder sauber war – zumindest so sauber, wie es eben ging. Der Morgen dämmerte bereits und jetzt war ich wirklich müde. Fye sah allerdings auch danach aus, als würde er im Stehen einschlafen. "Hyuu! Das wäre also auch geschafft", sagte er und drehte sich zu mir um. "Ich sehe noch mal nach den Harpyien. Sie sollten sich ausruhen. Ghâlil hat direkt neben diesem Gebäude eines für uns herrichten lassen." "Sie sollten sich auch ausruhen", meinte ich, während ich schon auf dem Weg nach draußen war. "Ich komme nach, sobald ich das erledigt habe." Ich brummte nur kurz etwas zum Zeichen, dass ich gehört hatte, und ging dann hinüber zum Nachbarhaus. Dort standen – an einer Wand – zwei etwas ramponiert aussehende, Feldbetten. Aber sie schienen, genau wie alles andere hier, doch noch recht stabil zu sein. Und besser als der Boden waren sie sicher allemal. Mich störte nur, dass ich offensichtlich schon wieder den Arzt am Hals hatte. Wenn er mich diesmal nicht schlafen lassen würde, schmiss ich ihn raus – aber wortwörtlich... Allerdings war ich, kaum dass ich mich hingelegt und in eine bequeme Position gerückt war, eingeschlafen. "Juhuuuuuuh!! Juhuhuhuhu!! Juuuu--" "AUFHÖREN, VERDAMMT NOCHMAL!!" "Was mach ich denn nun schon wieder falsch?", fragte ich überrumpelt und ließ meine Arme sinken, die ich bis vor wenigen Sekunden noch wie verrückt über meinem Kopf hin- und hergeschwungen hatte, "Darf man nicht einmal zum Abschied winken, wenn man mit Ihnen unterwegs ist?" "Nicht, wenn man dabei mehr an einen elektrisierten Iltis als an einen Menschen erinnert!", war die gefauchte Antwort, "Ich hab die Schnauze voll von Harpyien, von Magenoperationen, und vor allem von Spulwürmern! Wenn wir nicht auf der Stelle aufbrechen, platze ich, verstanden?! Ich platze!!" "Hey, das will ich sehen!", lachte ich fröhlich, "Die Explosion wäre sicher fetter als ein Walmagen, was?" Auf der Stirn meines Leibwächters begann eine dünne Ader zu pulsieren. "Ich, ich-- ich werd Sie so fertigmachen, ich schwör's Ihnen, ich mach Sie fert--..." "Haaaach, jetzt seien Sie doch nicht so griesgrämig, Kuro-myu!", trällerte ich dazwischen, bevor ich es dabei beließ, den etwa zwanzig Harpyien, die über den grünen Wipfeln ihrer Heimatstadt unablässig Kreise zogen, noch einmal kurz zum Abschied zu winken, und mich schließlich in einem perfekten Elvis-Presley-Hüftschwung zu Kurogane umzudrehen, um gemeinsam mit ihm die Felsenhänge hinabzusteigen, die uns wieder zur großen Ebene hinunterbringen sollten, "Seien Sie mal ein bisschen euphorischer, immerhin haben wir eine ganze Stadt vor der Kontaminierung durch Spulwürmer gerettet!" "Bah!! Noch so ein Auftrag, und ich kotze!" "Sachte!", warf ich beschwichtigend ein, während ich unter viel umständlichem Herumgezappel einen Felsen tiefer kletterte, "Es gibt eindeutig schwierigeres, zum Beispiel eine Entbindung oder so! Askariden sind ein Klacks!" "Ach ja?!!", tobte mein Kompagnon, "Vor fünf Stunden klang das noch ganz anders!! Wenn Sie wenigstens Bezahlung gefordert hätten, hätte die Sache ja noch anders ausgesehen!" "Es wäre aber unfair gewesen!", verteidigte ich meine Überzeugungen, "Überlegen Sie doch mal! Ganz Shuryotori Aitoki hat jetzt alle Hände voll zu tun, um die Gefahr eines zweiten Befalls abzuwenden, und das kostet nicht nur Schweiß und Anstrengung, sondern auch Unsummen an Geld! Gesundheit ist teuer!" "Schön und gut! Aber war das denn gleich ein Grund, denen unser gesamtes restliches Geld zu überlassen?" "Ja! Und ich kann Ihnen auch sagen, warum! Weil die Handelsflotte dekadent geworden ist!" Der Schwarzhaarige brummte etwas Unverständliches, während er seinen Rucksack ein wenig enger schnallte, um über eine steile Felsspalte zu klettern. Ich kraxelte mühsam hinterdrein. Es hatte noch etwa bis Sonnenaufgang gedauert, um letzte Maßnahmen vorzunehmen, damit ich sichergehen konnte, dass es nicht so schnell zu einem Askaridenbefall kommen würde. Ich hatte die sechs Operationspatienten und die übrigen vierundzwanzig Harpyien medizinisch versorgt, Ghâlil und seine gesunden Bürger eine Einweisung über die groben Züge der Askaridenvorbeugung gegeben, eine Liste mit den wichtigsten einzunehmenden Arzneien erstellt und zuguterletzt noch mit einigen Helfern die Stadt mit desinfizierenden Lösungen gesäubert. Das hatte für mich nur etwa drei Stunden Schlaf bedeutet. Vielleicht war mein dieser Tatsache entsprechendes Äußeres ja auch eine Erklärung für all die naserümpfenden Blicke, die ich im Moment von meinem Leibwächter zugeworfen bekam. Ein anderer Grund könnte allerdings auch der Fakt sein, dass ich Ghâlil unsere ganzen restlichen vierhundert Transkos zur Medizinbeschaffung gespendet hatte, denn Sachen wie Desinfektionsmittel musste man eben kaufen, da man sie entweder nicht in der Natur fand oder nur sehr schwer herstellen konnte. Die meisten Pflanzen wie Gartenthymian und Rainfarn wuchsen nicht auf dem Moridiyama-Gebirge. Die einzige Lösung war, es in Uranoke Sho oder einer anderen Hafenstadt zu kaufen. Und das große Problem hierbei stellte die Internationale Handelsflotte dar, die fast alle medizinischen Lieferkonzerne aufgekauft hatte. Shuryotori Aitoki und seine Bewohner würden jetzt jeden Transko brauchen, den sie zwischen die Finger bekamen, also war es für mich keine Frage gewesen, Ghâlil unser Restkapital zu überlassen und den übriggebliebenen Schlafmohn als Bezahlung anzusehen. Die Harpyien hatten sich in Dankesbezeugungen überschlagen, hatten uns feiern und zu Ehrenbürgern ihrer Heimatstadt ernennen wollen- Kurogane jedoch hatte unerbittlich auf einen sofortigen Aufbruch zu Fuß bestanden. "Wieso wollten Sie eigentlich gleich gehen? Mögen Sie keine Feiern?", erkundigte ich mich und wurde sofort mit einer Salve ungnädiger Blicke beschossen. "Nein! Ich hasse Feiern!" "Warum?" "Auf so eine bekloppte Frage gebe ich keine Antwort!", zischte mein Begleiter, "Ich habe besseres zu tun, als zu saufen, eklige Dinge zu tun und mich von irgendwelchen wurmverseuchten Nestflüchter-Viechern belagern zu lassen!" "Aber es war doch süß, wie sich Gwri für uns ins Zeug gelegt hat!" "Süß?!!" "Japp! Fanden Sie etwa nicht? Naja, okay, ich weiß ja nicht, was Sie unter süß verstehen..." Offenbar hatte ich den falschen Tonfall benutzt, denn Kuroganes Gesicht nahm augenblicklich die Farbe eines überhitzten Kupferkessels an, während die Zornesader auf seiner Stirn zu einem bedrohlichen Umfang anschwoll. "RUTSCHEN SIE MIR DOCH DEN BUCKEL RUNTER!!" "Hey, hey, hey, sachte, so hab ich das ja nun auch wieder nicht gemeint! Halten Sie mich etwa für einen Perversen?" "Ja, halte ich!", bellte mein Leibwächter gereizt und stützte sich zum Weiterklettern auf einem sehr steil abfallenden Felshang ab. "Wie kommt das? Etwa, weil ich den Blick eines frei sichtbaren Organismus als schön erachte?" Ich konnte erkennen, wie der Schwarzhaarige ertappt zusammenzuckte, bevor er seinen Faden schnell wieder aufnahm. "Ja, deswegen! Können Sie mir auch nur einen halbwegs vernünftigen Grund nennen, warum Sie sowas schön finden?" Ich musste lächeln. "Das ausreichend zu erklären würde viel zu lange dauern, Kurogane. Ich empfinde nun einmal so. Beim Anblick eines geöffneten Körpers wird mir immer ganz anders. Mir wird klar, was für ein Mysterium das Leben ist. Jeder glaubt, den Inbegriff wahrer Schönheit zu kennen. Und ich glaube eben, dass es all diese bloßliegenden, atmenden und pochenden Organe und Nervenbahnen sind, die einem wahre Schönheit vor Augen führen können." Ich warf meinem Begleiter einen Seitenblick zu und sah, dass er mich nur zweifelnd anstarrte. "Aha." "Jepp." Nach einem ziemlich peinlichen Schweigen intonierte ich schließlich ein Kichern und stieß Kurogane einen Ellenbogen in die Seite. "Haaach, kommen Sie, Kuro-ron, Schwamm drüber! Gehen wir lieber erst mal zurück nach Uranoke Sho, hm? Dort können wir uns eine kleine Pause genehmigen, und dann sehen wir weiter! Ein neuer Auftrag findet sich sicher schneller, als wir denken! Manchmal ist es mir sogar schon passiert, dass ich noch während meines Rückweges in eine neue Mission verstrickt wurde!" "Bah! Das wird uns wohl kaum passieren!", brummte mein Leibwächter nur abfällig. "Das kann man nie wissen!" "Ach, ersparen Sie mir lieber Ihr Geschwätz und klettern Sie!" Mit einem Seufzen gab ich meine Versuche auf, eine halbwegs entspannte Konversation in Gang zu setzen, und warf einen Blick auf den Berghang unter mir. Die Felsen waren allesamt zu steil, da würde sich wohl kaum ein Halt finden. Ich schaute mich nach einer guten Abstiegsmöglichkeit um, und nach langem Hin- und Herblicken fiel mir zwischen all den spitzen Felskanten und Klippen ein außerordentlich runder, mit verfilztem Moos überwachsener Felsklotz auf. Er passte zwar gerade mal so sehr in diese Landschaft wie ein Pinguin in die Wüste Gobi, aber wenigstens bot er einen einigermaßen sicheren Halt, also setzte ich ohne großes Zögern meinen Fuß darauf. "Na, wird's heute noch?!", vernahm ich das Bellen meines Leibwächters. "Bin schon unterwegs!", rief ich zurück und verlagerte kurzerhand mein sämtliches Gewicht auf den runden Felsklotz, um tiefer zu steigen. Es passierte so schnell, dass mir nicht einmal der Bruchteil einer Sekunde zum Reagieren blieb. Kaum, dass ich beide Füße auf diesem blöden Felsklotz abgesetzt hatte, ging ein gewaltiges Beben durch den Boden unter mir. Ein schriller Schrei ertönte, der mir fast die Besinnung raubte. "AAAAAAARRRRRGH!!! DA CAPO AL FINE!!!" Noch während es mir von diesem Gekreisch in den Ohren klingelte, verlor ich plötzlich den Boden unter den Füßen. Mit einem einzigen Ruck riss mich irgendetwas von meinem Standort weg. Alles, was ich noch spürte, war, dass ich mit Getöse auf dem Felshang aufkam und ihn Hals über Kopf hinunterstürzte. Die gesamte Welt drehte sich über mir, Himmel und Berg schienen zu einer einzigen undefinierbaren, grünweißblauen Masse zu verschmelzen, ich fühlte, wie sich zahllose spitze Steine in meine Handflächen und Rippen vergruben, dann noch einen Schlag auf den Hinterkopf, der weiße Lichtpunkte vor meinen Augen explodieren ließ- und dann nichts mehr. Mit geschlossenen Augen stürzte ich in bodenlose Schwärze. Kapitel 6: Influenca - 1 ------------------------ Was zum-... ?! Ich hatte mich überrascht umgedreht und konnte gerade noch verhindern, dass er weiter abstürzte, indem ich ihn packte, nachdem er mit einem schmerzhaft klingendem Geräusch neben mir aufschlug. Fast hätte er mich mit umgerissen... "Verdammt... können Sie nicht aufpassen?", fluchte ich, allerdings schien er nicht in der Lage zu sein, mir antworten zu können. Offensichtlich hatte er sich den Kopf angeschlagen. Ich fühlte nach seinem Puls, der vorhanden war. Verletzt schien er auch nicht zu sein – bis auf die Kratzer und Schrammen. Die erinnerten mich an meine Kratzer und Schrammen... Ich sah nach oben, um den Grund für seinen Sturz herauszufinden. Der kam auch gerade hastig und rollend und hüpfend den Berg herunter gekugelt. Allerdings schien das die normale Fortbewegungsart zu sein, denn es wirkte auf seltsame Weise koordiniert. Was war denn das schon wieder für ein Vieh?! So langsam hatte ich aber echt genug von merkwürdigen Wesen. "Doloroso! Doloroso!!", fing das pelzige Ding an zu krächzen und danach erst mal zu husten. "Entschuldigung, molto, molto!! Das habe ich nicht gewollt! Ehrlich! O mio!!! Ist es schlimm? Ist er tot!? OHH, ICH HABE IHN UMGEBRACHT!" Das Vieh sprang völlig verstört auf und ab und jammerte etwas von 'Fine, Fine, Fine', während ich eine Weile viel zu perplex war, um irgendwas zu tun. "Moment, Moment....", sagte ich dann und das Wesen sah mich völlig aufgelöst an. "O Mio! Bitte nichts tun! Es tut mir sehr leid!! Fortefortissimo! Espressivio!" "Verdammt... er ist nicht tot!" , sagte ich, etwas barsch, aber nur, damit das Vieh aufhörte, hier herumzuheulen und zu jammern. Und eigentlich war ich sogar erleichtert, dass der Arzt nicht den Löffel abgegeben hatte. Das Pelzvieh stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. "Im Ernst? Grave? Ohhh... Grandioso! Ich bin ja so froh....Er ist auf mich drauf gelatscht, subito, und ich habe mich tanto erschreckt und bewegt und er gefallen prestissimo... ohhh ... Schrecklich!! Stesso, immer dasselbe..." Von dem Gejaule bekam man ja Kopfschmerzen. Ich schnaufte genervt. "Oh... ich werde helfen! Tutta la forza!", meinte das Vieh dann und fing wieder an zu husten. Wäre ich Arzt, würde ich sagen, dass sich das nicht gut anhörte. Und außerdem klang das Vieh ein wenig verschnupft... "Was zum Teufel bist du eigentlich?", wollte ich erst mal wissen. "Ah! Kalliwoda!" "Was?", fragte ich. "Kalliwoda! Mein Name!", wiederholte er. "Ich bin ein Uhgl Buhgl. Ich bin hier gaaanz allein, solo! Weit weg, molto, molto weit von zu Hause!" "Aha", machte ich. Das waren wir auch. "Und warum?" Anscheinend hätte ich nicht mal fragen brauchen. Er holte Luft, um etwas zu sagen und hielt dann verwirrt inne. "Ich habe es vergessen. O Mio!! Ich weiß es nicht mehr!" "Vielleicht verlaufen?", knurrte ich. "Oh! Das war es, genau! Ossio...hm...Ich bin mir nicht sicher. O Mio!!" Wieder fing das Vieh auf und ab zu hüpfen und schien verwirrt zu sein. Anscheinend schien es ein chronisch verwirrtes Wesen zu sein... Ughl Bughl... was für ein Name. Verrückt. Da mein Begleiter immer noch keine Anstalten machte, wieder ins Reich der geistig Anwesenden zurückzukehren, ich aber nicht weiter hier herumhocken wollte, schulterte ich ihn kurzerhand und erhob mich. Der Ughl Bughl merkte auf. "Was ist? Was tun Sie?", fragte er irritiert. "Wonach sieht es denn aus, he?", gab ich unfreundlich zurück. "Gehen?", kam es zögernd zurück. "Genau das." Ich setzte mich in Bewegung und hatte jetzt ein Problem mehr, das Gleichgewicht zu halten, um nicht auch zu fallen. "Ich komme mit!" Jetzt fiel ich trotzdem fast – vor Überraschung. "Auf keinen Fall!" "Aber! Ich hab mich verirrt. Ich weiß den Weg nicht mehr und überhaupt, ich bin Schuld und O Mio!!" "Willst du denn überhaupt nach Uranoke Sho?!", wollte ich wissen. "Wenn nicht, musst du woanders lang." "Ja, da will ich hin", ereiferte sich das Pelztier – und hüpfte mir nach. Wieso hatte ich das gesagt?! Jetzt hatte ich so ein komisches verrücktes Pelzknäuel am Hals... "Was willst du denn da?" "Das hab ich auch vergessen, aber es fällt mir sicher wieder ein, wenn ich da bin!" Ich seufzte bloß. Das konnte ja was werden... Hmhhhh. Schaukel-... schaukeldischaukeldischaukeldi-... "Und Sie sind sich absolutissimo sicher, dass er nicht totgegangen ist? Moriendo, moriendo?" Angenehme Schwärze. Ein genervtes Knurren, direkt neben meiner linken Wange. Schädelweh. Au, au, au-... "Nichts moriendo, und jetzt halt die Klappe!!" "Sie sind aber fortefortissimo unhöflich, signore, pesante al fine!" "Halt jetzt endlich die Klappe, oder ich verpass dir gleich eine Backpfeifissimo direkt in die Fressissimo!!", keifte eine mir wohlbekannte Stimme, sodass es mir in den Ohren klingelte. Ich strengte meine Augen an, und langsam begannen sich die schwarzen Schleier, die sich bis vor wenigen Minuten noch in seliger Dahin-Duselei um mein Gesicht gelegt hatten, zu lüften. Sie schwanden so gepflegt dahin wie ein Hefepilzgeflecht und gaben den Blick frei auf-... Moment mal. Sie gaben erst einmal den Blick auf gar nichts frei. Es war sogar fast genauso schwarz wie zuvor. Außerdem hatte ich Haare im Mund. Sehr zottelige, durchdringend nach billigem Druckerpapier und Thymian stinkende Haare. Und bei näherer Betrachtung musste ich feststellen, dass sie mir nicht nur in den Mund hingen, sondern auch in Augen, Ohren und alle Öffnungen, die mein Gesicht sonst noch zu bieten hatte. Ich keuchte. "Ohhh Mio!!", kreischte die fremde Stimme von vorhin hustend an meinem Gesicht, "Hören Sie das? Er ist bereits im Todeskampf! Finale furioso! Finale totalissimo! Finito, tutto finito!" "Zotteliger Schwachmat! Geh einfach von seinem Gesicht runter, und schon war's das mit Finale Furioso!" Ein schriller Schrei ertönte, als das zottelige, thymianduftverströmende Etwas über meinem Gesicht mit einem groben Ruck bei den verfilzten Haaren gepackt und in die Luft gerissen wurde. Stöhnend spuckte ich einen Mund voller Haare aus und wartete vergeblich darauf, dass ich aufhörte, mich auf diese dubiose, schaukelnde Weise fortzubewegen, ohne dabei meine Füße zu gebrauchen. "Kuroooo-muneee...", lallte ich hilflos und hielt meinen Kopf, in dem soeben ein schmerzliches Summen eingesetzt hatte, "Woooo sind Siiieee-... menno, Sie wollten doch nicht kühündihigen-..." "KLAPPE HALTEN!! Ich bin gerade damit beschäftigt, Ihre schlaffe Figur durch die Gegend zu bugsieren, also jammern Sie nicht rum! Dieses kreuzverfluchte Pelzknäuel da beansprucht meine Nerven schon genug!!" "Pelzknäuel?" Ich hob mühsam meinen Kopf und zuckte sofort perplex zurück, als sich plötzlich eine riesige, feuchte Knollennase in mein Gesichtsfeld drängte und zwei irisierend glänzende Knopfaugen mich unter lautem, brummendem Schnurren auf das Mitleidigste anstarrten. "O Mio! Signore, grazioso signore mio! Geht es Ihnen schon besser? Sie sind nicht tot, nein?" "Ahm-... ich glaube nicht", erwiderte ich höflich und kniff meine Augen zusammen, um die bepelzte Gestalt knapp überhalb meines Gesichts besser zu erkennen. Sie wirkte ein wenig gedrungen und trug einen großen, moosfarbenen Schlapphut. Augenblicklich machte es klick. "Ah!", rief ich überrascht aus, "Dieser Schlapphut! Die Nase! Bist du-... bist du etwa ein Uhgl Buhgl?" "O fabuloso! Sie erkennen es ja tatsächlich ganz solo, solo, solo!", entzückte sich das drollige Wesen, das sich auf Kuroganes linker Schulter niedergelassen hatte, "Dieser entsetzliche grobissimo Kerl da, auf dem ich gerade sitze, obwohl ich ihn nicht die Spurissimo kenne, wusste es nicht! Mein Name ist übrigens Kalliwoda, molto lieto!" "Kalliwoda? Hmhh", überlegte ich, "Wie wäre es dann mit Kalli-kun? Das ist nicht so furchtbar lang." "Von mir aus gerne, liberissimo, aber nur, wenn Sie mir, per favore, auch Ihre Namen verraten!" "Ich bin Fye de Flourite", stellte ich mich vor, "Sag ruhig Fye zu mir. Und der Kerl, der mich hier gerade durch die Gegend trägt, heißt Kurogane Koimihari, aber er bevorzugt es, Kuro-myu genannt zu we-..." "FRESSE DA HINTEN!!", explodierte mein Leibwächter augenblicklich, "Hör zu, Pelzkugel, es heißt KU-RO-GA-NE, und wenn du dir was anderes erlaubst, wird es für dich das dreckigste Finale Furioso, von dem du je gehört hast!!" "Finale Furioso? Was denn für ein Finale Furioso?" "ARGH!! Sag mal, bist du senil?!!" "Oooohh Mio!", schluchzte Kalliwoda todunglücklich, "Wie garstig sich dieser Grobian meiner musischen Seel' bemächtiget! Vivacissimo, tutto no scherzo, oooh und Mio!" "Sachte, sachte, ihr beiden", fiel ich beruhigend ein, "Sag mal, Kalli-kun, was ist überhaupt dein Reiseziel, dass du dich hier am Moridiyama-Gebirge herumtreibst?" "Genau das ist ja der Punkt! Er weiß es nicht mehr!", keifte Kurogane, "Er hat sich einfach ohne zu fragen an mich drangehängt, und das Schlimme ist, er quatscht fast genauso viel wie Sie-..." "Großer Gott!", mimte ich den fassungslos Erstaunten, "Ist das denn möglich??" "Ach, halten Sie lieber die Klappe und erklären Sie mir, was ein Uhgl Buhgl ist!" "Uhgl Buhgls- in der Fachsprache als Pellicula Fungina verzeichnet, wörtlich übersetzt 'pilzähnliches Pelztier'- sind ein Zwischenglied in der Gattung des Gemeinen Sporenbovisten, der Waldohreule und des Feldhasen", erzählte ich, "Hier in Kongoseki Oka sind sie sehr selten, und der volkstümliche Name 'Uhgl Buhgl' kommt von ihrem gattungstypischen Lockruf in der Paarungszeit!" "Uuuuuuuhgl! Buuuuuuhgl! Ich weiß gar nicht, was Sie meinen!", tönte Kalliwoda, und ich lachte. "Uhgl Buhgls zeichnen sich oft durch ein gedrungenes, mit dichtem Pelz überwachsenes Äußeres, ein voluminöses Geruchsorgan und einer ganz eigenen Meinung von Hutmode aus. Ihre Verwandtschaftsbeziehungen zum Gemeinen Sporenbovisten sind hauptverantwortlich für die ganz besondere Eigenschaft, die jeder Pellicula Fungina besitzt- die Absonderung von Sporen! Allerdings sind es nicht nur irgendwelche Sporen- es sind stark duftende, ätherische Substanzen, die beim Einatmen angenehme Halluzinationen und Sinnestäuschungen verursachen. Diese Eigenschaft haben übrigens auch andere Rassen, wenn auch in etwas abgewandelter Form- zum Beispiel die Familie der Engel- Angeli, die venezianischen Medusenfische- Venecia Meduseldi, der Vampire- Lamiae, und noch einige andere." "Wandelndes Lexikon, was?", erwiderte mein Leibwächter lahm über seine Schulter. Kalliwoda jedoch war zu Tränen gerührt. "Ooooh Mio, signore, das war die bellissimo Erklärung meines Stammes, die ich je gehört habe! Oooh preguicoso! Dulcissimo! Sie sind ein Genie, ein wahres Genie, fortefortissimo, dal segno al fine!" "Na, na, nicht doch", wehrte ich bescheiden ab, "Ich bin Arzt, das ist schon alles. Du klingst auch nicht sonderlich gesund, mal ganz nebenbei. Vielleicht sollten wir uns heute abend ja doch mal probeweise nach einem Dorf zum Übernachten umsehen. Und du weißt wirklich nicht, wo du hinwillst?" "Oh nein, signore, leider bin ich ganz terribelissimo vergesslich. Schon seit ich denken kann! Infernalissimo! Alles, was ich im Kopf behalten kann, ohne es wieder zu vergessen, sind Gesänge und Musik! Deswegen bin ich in meinem Dorf auch der Barde!" "Du bist Barde?", sagte ich ganz begeistert, "Wow! Von singenden Uhgl Buhgls habe ich noch nie etwas gehört!" Kalliwoda stieß ein kleines, bekümmertes Seufzen aus und rückte mit einem Nasenzucken seinen Schlapphut gerade. "Oh, signore, es wäre auch besser, Sie würden nicht davon hören. In meinem Dorf bin ich der Trottel- molto stulto, grave al dente! Und das nur, weil ich klassische Musik mag. Ah, wie gerne würde ich eines Tages vor versammeltem Publikum singen oder Lieder komponieren! Ich habe sogar schon eine Oper geschrieben, Das Leben des Uhgl Buhgl, aber ich habe solche Angst, dass niemand sie mag! O Mio, Mio, Mio! Dabei wäre ich so gerne ein Künstler! Komponist- Virtuoso- bellissimo!" "Nun hör schon auf zu jammern", seufzte Kurogane entnervt. Ich warf ihm einen tadelnden Blick zu. "Kopf hoch, Kalli-kun. Was unerfüllte Träume anbelangt, kann wohl jeder sein kleines Liedchen singen, glaube ich. Wie wär's, wenn du ganz einfach mit uns mitkommst, bis dir wieder einfällt, wo genau du hinwillst?" "Diese Idee hatte ich auch schon, signore, ich hatte nur tanto Angst, dass mich dieser grobissimo Riese zu Pappasbrei zerschlägt-..." "Ach, das will er mit mir auch ständig tun. Bei uns ist jedenfalls immer jeder herzlich willkommen!", rundete ich meine Rede mit einem breiten Honigkuchenpferd-Lächeln ab, für das mein Leibwächter nur ein entnervtes Knurren übrig hatte. "Oooh Mio! Signori sind so gut zu mir!", heulte Kalliwoda ganz überwältigt, "Sobald meine Stimme wieder in melioro Qualität ist, singe ich euch die grandiosissimo Arie, die ich je hervorgebracht habe!" "Verschon uns", fauchte Kurogane nur, "Halten wir lieber nach einem Dorf Ausschau!" "Eine treffliche Idee! Hüh, mein Kuro-Pferdchen!", feuerte ich den Schwarzhaarigen an, was allerdings nur zur Folge hatte, dass ich auf schmerzhafteste Weise wieder mit dem Erdboden Bekanntschaft machte. "Auuuuuuuuuuaaaa", jammerte ich, "Sie sind so fies zu mir! Dabei sind Sie doch mein Angestellter!" "Sagen Sie nie wieder 'Angestellter' zu mir!!", bellte er als Antwort, "Oder,-... oder, oder--..." Vor lauter Wut schienen ihm offenbar nicht die passenden Worte einzufallen. Eine bedrohliche Stille trat ein. "Ahm-... oder Finale Furioso?", schlug Kalliwoda schließlich zögernd vor. Kurogane nickte. "Ganz genau. Oder Finale Furioso. Und jetzt Marsch!" "Waaaaaaaaas?", hörte ich den Arzt bis auf die Straße – dort stand ich nämlich, genauer gesagt, auf der Hafenstraße, direkt vor dem Hotel Grande. "Aber Herr Yaki-Yuki, das können Sie mir doch nicht antun!" "Und wie ich das kann! Sie haben kein Geld, also können Sie Ihre Rechnung nicht zahlen – also auch kein Zimmer! Raus!" Ich hörte ihn noch ein wenig herumjammern, was dann aber von dem nervigen Pelzvieh übertönt wurde. "O Mio! Was für eine wunderbare Stadt! Diese Kulisse, bellissimo!! Amabile!" Es sprang völlig hin und weg auf und ab, sodass es fast seinen Hut verlor. "Perfetto! Grandioso! O Mio – an genau so einem Orte müsste meine Oper aufgeführt werden!" "Klappe halten", knurrte ich genervt. Die ganze Nacht hatte er Vorträge gehalten, wie ach-so-schön-belissimo-grandioso es doch wäre, die Oper vor einem tausendköpfigen Publikum aufführen zu können. Und den halben Tag bis hier her auch. Jetzt war ich müde, völlig mit den Nerven herunter und außerdem sehr gereizt. "Scusi!", sagte er sofort hastig und hörte damit auf, alles und jeden anzuschwärmen. Allerdings hüpfte er immer noch wie ein wildgewordener Flummi. Und leider blieb mir auch keine Zeit, darauf zu hoffen, dass er vielleicht über den Haufen gerannt wurde. Ich fragte mich, warum ich nicht längst nach Hause gegangen war und mich schlafen gelegt hatte. "Kuro-ne! Aufgepasst!!" Ich hörte hinter mir ein Rumpeln und wurde fast von einem Koffer erschlagen, der an mir vorbeiflog. Danach landeten noch einige andere Sachen neben mir und letztlich auch Fye. "Ist das zu fassen?! Er hat mich rausgeworfen!", beschwerte der Arzt sich und rappelte sich vom Boden auf. "Das habe ich gesehen", gab ich zurück. "O Mio, wie unhöflich!", ließ der Ughl Bughl vernehmen und sprang dem Blonden auf die Schulter. "Alles in Ordnung, signore?" "Aber ja... außer, dass mein Gepäck in der Gegend herumliegt und ich jetzt auf der Straße stehe! Kuro-nyan! Warum haben Sie den Koffer nicht gefangen?" "Weil es Ihr Koffer ist und nicht meiner!", fauchte ich zurück, "Außerdem gehe ich jetzt nach Hause, ich hab die Schnauze voll!“ "Gute Idee. Könnten Sie mir das denn dann abnehmen?", fragte er und versuchte, mir eine Reisetasche in die Hand zu drücken. "Wieso sollte ich?", fragte ich. "Ich komme mit! Sie haben doch sicher noch Platz für mich, oder?“ "Und, für mio auch, si?" "NEIN!“, fuhr ich die beiden lauthals an. Auf gar keinen Fall! Es reichte ja, wenn ich ihn auf den Reisen aushalten musste – es kam gar nicht in Frage, dass er auch noch bei mir einzog. Und der Uhgl Buhgl schon gar nicht. "Aber..., ja aber, ich kann doch nicht auf der Straße schlafen und ein Hotel kann ich mir nicht leisten!", protestierte er soeben wehleidig. "Sie haben das Geld an die Vogelviecher verschenkt, schon vergessen?!“, gab ich ungerührt zurück. Schließlich hatte ich immer noch kein Gehalt bekommen und das würde sich wohl bisher auch nicht ändern. "Nur für die nächste Nacht, ich bin mir sicher, dass uns schon morgen ein Auftrag entgegenwinkt!", versuchte er es weiter. "Oooooooooooooo Mio!!", kreischte Kalliwoda plötzlich auf. "Was denn?" Fye schien etwas ernstes zu befürchten – ich auch. "Mir ist es wieder eingefallen! Subito!" "Was du in Uranoke Sho wolltest?", fragte Fye sofort begeistert. "Si, si signore! Giusto!", antwortete das Viech mit dem Schlapphut in Feuereifer, "Einen Arzt! Meine Mit-Uhgls sind nämlich molto, molto krank, si! Und deshalb ich wollte durch die Berge, nach Uranoke Sho, um einen dottore zu finden, damit dottore uns hilft!" Ich patschte mir mit einem lauten Aufstöhnen die Hand vors Gesicht. "ER ist Arzt, zum Teufel noch mal! Wieso fällt dir das denn jetzt erst ein, du-... duuu...." "Sachte, sachte!", ging Fye dazwischen, bevor mir etwas passendes einfiel, "Er ist halt etwas vergesslich! Und das ist doch gar nicht schlimm, sehen Sie, das beschert uns nämlich schon den nächsten Auftrag! Das heißt, Kalli-kun, wenn du uns engagierst." "Si, naturalmente!", nickte das haarige Wesen, nachdem es hinter Fye vorsorglich in Deckung gegangen war. "Mio! Ich habe einen dottore gefunden! Grandioso! Nun müssen wir aber zu den anderen zurück!" "Sicher – wohin soll's denn gehen?" "Ah... Mio ...Ko... Kosumoni!!", meinte das Pelzwesen. "Dort wohne ich schon, seit ich denken kann! Ich hab's mir gemerkt!" Darauf war es anscheinend sehr stolz. Sumoni. Soweit ich wusste, lag das Dorf östlich von hier - und in der Richtung aus der wir gerade gekommen waren. Genau genommen, wären es keine zehn Kilometer von dem Punkt aus gewesen, an dem ein gewisser Blonder Arzt über ein gewisses Tier mit Hut gestolpert war. Ich knurrte, sodass sogar Fye mich etwas verwirrt ansah. "WAS?! Da kommen wir doch gerade her!!", fuhr ich den Ughl Bughl an. "O Mio! Wieso haben Sie das nicht eher gesagt?", wollte Kalliwoda ganz schockiert wissen. "Weil du kein Wort davon erwähnt hast!", zischte ich zurück, "Nein, da mach ich nicht mit! Nur über meine Leiche!" "Ahhh! Kuro-mune, Sie müsseeeeeen! Schon vergessen? Sie können nicht kündigen!", flötete der Bonde, während er meine tödlichen Blicke gekonnt ignorierte, "Ich räume zwar durchaus ein, dass es ein wenig ungünstig gelaufen ist, aber ich kann es nun einmal nicht mehr ändern! Kalli-kun, ist es nötig, sofort aufzubrechen, oder kann das bis morgen warten?", fragte er dann. "Ah – ich glaube so molto dringend ist es nicht. Erkältung, das ist alles – glaube ich. Da kenne ich mich nicht wirklich aus. Affrettando, no, signore!", meinte das Vieh und Fye nickte. "Sehr schön. Dann können wir uns ja noch ausruhen und vorbereiten. Ah – und uns selbst verarzten..." Er drehte sich schwungvoll zu mir um. "Also, wo wohnen Sie?" "Das werde ich Ihnen nicht sagen, ich bin ja nicht lebensmüde!" "Oooch, Kuroooo-piiiii!", startete ich sofort den flehentlichsten Betteltonfall, den ich jemals aufgesetzt hatte, untermalt von einem Hundeblick, der wohl jede alte Dame widerstandslos in die Knie gezwungen hätte, denn es reizte mich nicht wirklich, die heutige Nacht auf der Straße zwischen Pappkartons und Taubenscheiße zu verbringen, "Kommen Sie schoooooon! Nur so lange, bis ich eine neue Wohngelegenheit gefunden habe!" "Neue Wohngelegenheit? Mit dem Spruch können Sie Ihrer Oma kommen!" war die bittere Antwort, "Sie haben nicht einmal die nötigen Piepen, um mich zu bezahlen! Vergessen Sie's!" Ich warf einen verzweifelten Blick zu Kalliwoda, der jedoch, anstatt mir zur Seite zu stehen, in ein lautstarkes, brummendes Schnurren verfallen war. "O Mio, ist signore vielleicht gemein zu signore! Das ist absolutissimo nicht zu ve--" "DU MISCH DICH NICHT EIN!!", brüllte Kurogane mit bedrohlich geschwollener Zornesader, sodass sich der Uhgl Buhgl mit einem hysterischen Aufkreischen hinter seinem Schlapphut versteckte und dort in seinem eigenartigen Schnurren fortfuhr. Es war eindeutig ein risikoreiches Unternehmen, den Schwarzhaarigen zu irgendetwas überreden zu wollen. "Was haben Sie denn bloß dagegen, dass ich einmal bei Ihnen schlafe?", erkundigte ich mich gekränkt, "Ich bin weder mondsüchtig noch schnarche ich! Oder ist Ihr Haus etwa derartig hässlich, dass Sie es niemandem zeigen wollen?" "Mein Haus ist nicht hässlich", zischte Kurogane so brandgefährlich, dass ich unwillkürlich einige Schritte zurückzuckte und es dabei fast schaffte, auf einer herumliegenden Zeitung auszurutschen, "Und gerade, weil es nicht hässlich ist, will ich Sie da nicht drin haben! Ich kann es nicht brauchen, dass mein Haus in die Luft fliegt, abbrennt oder irgendeinem anderen von Ihnen verursachten Attentat zum Opfer fällt! Sonst kann ich gleich auf die Straße gehen! Verstanden?!!" "Was, steht Ihr Haus etwa vor der Pfändung?", fragte ich ahnungslos und musste mich schon im nächsten Moment vor einer ganzen Salve gepfefferter Faustschläge ducken. Mann! Dieser Kerl war ja reizbarer als ein Magengeschwür! "Ooooooo MIO!! Er wird ihn umbringen!", kreischte Kalliwoda entgeistert und begann, offenbar vor Furcht, wie besessen sein verfilztes Fell zu schütteln. Was benahm sich der Uhgl Buhgl auf einmal so komisch? "NEHMEN SIE DAS ZURÜCK!! Wenn Sie das mit der Pfändung nicht augenblicklich zurücknehmen, vergesse ich mich!!" "Ist ja gut, ist ja gut...", jammerte ich beleidigt, "Wollen Sie mich also wirklich nicht bei Ihnen übernachten lassen?" "NEIN!! Wie oft denn noch?" Der Schwarzhaarige merkte überrumpelt auf, als Kalliwoda unerwarteterweise auf dessen Schulter sprang und von dort aus darin fortfuhr, seine Zotteln zu schütteln, als wolle er einen internationalen Wettbewerb für indischen Bauchtanz gewinnen. "Wollen Sie wirklich nicht, signore?" Mein Leibwächter schwankte plötzlich, als hätte ihn eine zwanzig-Kilo-Keule auf den Hinterkopf getroffen. "Was geht dich das an, du bepelzter Suppenklops...", stöhnte er in einem Tonfall, der mich wie von einem elektrischen Schlag getroffen zusammenfahren ließ. Was war denn auf einmal mit DEM los?! Den Uhgl Buhgl schien Kuroganes eigenartiges Verhaltensmuster allerdings nicht wirklich zu überraschen. "Einiges! Veramente più, als Sie denken!", erklärte er und zog seine verstopfte Nase geräuschvoll hoch, "Aaalso... überlegen Sie es sich nochmal... prego... per favore, signore! Wollen Sie wirklich nicht?" Skeptisch beobachtete ich das Gesicht meines Angestellten. Seine Nasenflügel weiteten sich wie aufgehende Blüten, und seine Augen waren auf einmal so glasig, als ob er sich letzte Nacht den Verstand mitsamt Gehirn aus dem Kopf gesoffen hätte. "Ich-... ich weiß nicht-... ob ich das will..." "Signoooooooore", schnurrte der Uhgl Buhgl behaglich zottelschüttelnd, "Überlegen Sie doch nur, was für einen Gefallen Sie dem Herrn Dottore und mir damit tun würden!" "Ähm-... genau!", fiel ich zögernd ein. Mein Leibwächter ächzte wieder und sog mit geweiteter Brust Atemluft ein. "Ich-... habe aber... nicht aufgeräumt", seufzte er und blähte abermals die Nasenflügel wie ein angesetzter Bluthund. Und als Kalliwoda zum wiederholten Mal seinen Pelz schüttelte, begriff ich endlich, woher diese plötzliche Fügsamkeit meines Leibwächters quasi wie aus dem Nichts erschienen war. Ah-... "Ach, das macht doch überhaupt nichts", erklärte ich daher mit meinem breitesten Na also, geht doch -Lächeln, "Dann räumen wir eben gemeinsam auf! Wir sind doch Partner, Kuro-pyon!" "Hhhhiiiich-... weiß", war die besoffen geächzte Antwort. Kalliwoda kicherte und schüttelte fleißig weiter seinen Pelz, als der Schwarzhaarige sich schwankend in Bewegung setzte. "Toller Schachzug!", flüsterte ich ihm über Kuroganes Schulter hinweg zu, "Daran hätte ich nie gedacht!" "Da sehen Sie mal!" "Das mit den Sporen war allerdings ziemlich gemein!" "Signore, ich bin schließlich ein Pellicula fungina!", kiekste der Uhgl Buhgl amüsiert, "Das sind meine Pilzgene! Jetzt bin ich aber mal gespannt, wo Ihr grobissimo Begleiter wohnt!" Ich nickte und stieß ein kleines Seufzen aus, das zwischen Kichern und Ächzen schwankte. "Ich frage mich nur, was er mit mir anstellen wird, wenn er erst aus dem Sporenrausch aufgewacht ist." "... Und dann... habe ich das Telegramm eben verschluckt! Das machen wir Uhgl Buhgls immer so, wenn wir was transportieren müssen! Mi scusi, signore, mi tuttamente scusi, dass ich es vergessen habe!" "Ach, das ist kein Problem. Hauptsache, es ist dir wieder eingefallen!" Gedankenverloren nahm ich das besabbelte Telegramm zur Hand, das mir Kalliwoda vor knappen zehn Minuten unter einigen Beschwerden vor die Füße gespuckt hatte und las es mir nochmal durch. KRANKHEITSFALL IN KOSUMONI stop Seltsamerweise nur Uhgl Buhgls befallen stop Krankheitsanzeichen geschwollener Rachen Husten Müdigkeit Atembeschwerden Schnupfen Gliederschmerzen stop Krankheit hält sich ausschließlich an Uhgl Buhgls stop Bezahlung je nach Behandlungsgebühr stop ABSENDER Uhgl Buhgl Markel aus KOSUMONI "Ist dieser Markel der derzeitige Häuptling bei euch in Kosumoni?", erkundigte ich mich bei Kalliwoda, welcher lebhaft den Kopf schüttelte und zum wiederholten Male seine Nase hochzog. "Aaahh, nein, signore, Markel ist bei uns für die Post zuständig", erklärte er, "Bei uns ist zurzeit eine fleißigissimo Waldwachtel namens Petjula die Bürgermeisterin! Es leben viele verschiedene Wesen in Kosumoni, wissen Sie?" "Ja. Im vorletzten April war ich dort, um Anis auf den Berghängen zu pflücken", erzählte ich dem bepelzten Geschöpf, welches hingerissen meinen Worten lauschte. Eine Waldwachtel war also dort zurzeit der Bürgermeister... das sagte zumindest aus, dass es in Kosumoni einigermaßen geordnet zuging. Waldwachteln- in der Fachsprache Coturnix Nemoricultrix Phasianida, wörtlich übersetzt 'fasanenartige, den Wald bewohnende Großwachtel'- zeichneten sich nämlich durch ein stets fleißiges und bestrebsames Wesen aus, auch wenn sie gerne zur Übernervosität neigten. Sie hatten Verwandtschaftsverhältnisse zum Großfasan, dem Uhu, und natürlich der Gemeinen Wachtel, was auch ihre Gewohnheit erklärte, sich in waldigen Gegenden anzusiedeln und fortzupflanzen. Im Durchschnitt erlangten Waldwachteln eine Größe von einhundertvierzig Zentimetern. Sie waren zwar durch ihre enorme Körperpräsenz flugunfähig, jedoch auf hohem Niveau sprachbegabt und in größeren Städten für ihre Fähigkeit bekannt, stilvolle Parties auf das Trefflichste zu arrangieren. Ich hatte bisher seltener mit Waldwachteln zu tun gehabt, aber jetzt würde ich ja demnächst die Gelegenheit bekommen. "Petjula hat den Vorschlag gemacht, das Telegramm zu schicken", erklärte Kalliwoda eifrig, offenbar war er ihr sehr zugetan. "Vernünftig von ihr. Hat Kosumoni immer noch diesen hübschen Wasserfall an den Berghängen? Und die grünen Häuser?" "Si, si, signore! Das bellissimo Dorf, das es hier in Kongoseki Oka gibt! Hat es Ihnen letztes Mal dort gefallen?" Ich wollte gerade Antwort geben, als plötzlich eine Schiebewand mit ohrenbetäubendem Knallen aufgerissen wurde. "AUFSTEHEN, ABER DALLI!!" Ich verdrehte die Augen und wälzte mich auf den angenehm kühlen, nach Reisstroh duftenden Tatami-Matten herum, auf denen ich bis eben gelegen hatte und sah zur Decke von Kuroganes Zimmer empor, bis sich ein vor Wut schier kochender, schwarzbehaarter Kopf in mein Blickfeld schob. "Was soll das, häh?!! Warum liegen Sie auf meinem Fußboden herum?!! Ich sagte doch AUFSTEHEN!!" "Aber er ist soooooooo bequem!" "Si, bequemissimo, signore!" "Aufstehen!!!" "Du liebes bisschen, Kuro-ne, jetzt beruhigen Sie sich doch!", versuchte ich erfolglos, die grenzenlose Wut meines Leibwächters über meinen letztlich doch erfolgreichen Einzug einzudämmen, "Ich weiß gar nicht, was Sie überhaupt haben! Mein Gepäck nimmt doch kaum Platz weg, mit Ihrem Gerichtsvollzieher haben wir alles geregelt, die berühmt-berüchtigte 'Grenze' haben wir auch schon gezogen... wobei ich es allerdings nicht nett finde, dass Kalli-kun und ich nur die linke hintere Ecke bekommen!" "Dann finden Sie es ruhig weiter nicht nett!", fauchte Kurogane und beförderte einen meiner Koffer mit einem Fußtritt in meinen Teil des Zimmers, "Denn letztlich ist es ja nur Ihre Schuld, dass Sie den restlichen Abend und auch die Nacht in dieser linken hinteren Ecke verbringen müssen! Sie stiften dieses kreuzverfluchte Vieh einfach dazu an, seine bekloppten Sporen auszuschütten, damit ich mich von Ihnen besser weichklopfen lasse, und dann wollen Sie sich auch noch in meinem Haus breitmachen, als ob es das Natürlichste der Welt wäre! Nicht- mit- mir, verstanden?!!" "Erstens habe ich Kalli-kun nicht dazu angestiftet, Sporen auszustoßen", erklärte ich möglichst sachlich, "Zweitens war das noch eine sehr harmlose Form von irisierenden Sporen- es gibt einige Gattungen, die noch viel stärkere Duftstoffe freisetzen können, und die würden auch wesentlich mehr bewirken- und drittens werde ich Ihr Haus schon nicht niederbrennen. Ich finde es sogar richtig hübsch! Ein traditionell japanisches Haus, nicht?" "Ja, stellen Sie sich vor", war die gemotzte Antwort meines Reisebegleiters. Offenbar nahm er mir die Sache mit der Pfändung immer noch krumm. Dass das sogar stimmte, hatte ich nicht gewusst. Es war gewiss nicht leicht, sich ständig mit kleinbürgerlichen Mietern und einem arroganten Schleimkopf von Gerichtsvollzieher rumschlagen zu müssen. Kein Wunder, dass Kurogane schon bei den kleinsten Kinkerlitzchen derartig der Hals schwoll. Ich warf einen Blick zum Fenster hinaus und betrachtete nachdenklich den nächtlichen Himmel. "Hey, Kurogane-... Kopf hoch", versuchte ich es schließlich, "Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen keinen Ärger bereiten werde, solange ich hier wohne!" "Ja, ja, sicher, und die Erde ist eine Scheibe!", keifte er zurück, "Sobald Sie eine neue Wohnung gefunden haben, und sei es nur eine Mülltonne, ziehen Sie aus, kapiert?! Meine Nerven explodieren, ich spüre es ja jetzt schon!!" "Ich versprech es Ihnen. Außerdem haben wir für den morgigen Auftrag schon eine ungeheure Menge an Vorteilen auf unserer Seite! Und dazu kennen wir schon den Weg! Das wird leichter als eine Gastritis Vulgaris!" "Wir kennen den halben Weg", berichtigte der Schwarzhaarige bitter, "Dieser Markel war sich ja offenbar zu fein, um uns eine Wegbeschreibung anzugeben." "Markel hat vivacissimo al dente viel zu tun", erklärte Kalliwoda, "Telegrammschreiben ist nicht so seine Sache, veramente nicht." "Schon gut", seufzte mein Leibwächter genervt, "Schlafen wir lieber. Und die Grenze wird nicht überschritten, klar? Sie bleiben in Ihrem Teil des Zimmers und ich in meinem! Und basta!" "Jaaaaaa", sagte ich folgsam und kauerte mich in meinen bescheidenen Winkel, den mir mein Begleiter nach unserer Ankunft zugeteilt und mit dem Kabel seines Küchenmixers sorgfältig abgegrenzt hatte. Kalliwoda legte seinen Hut auf den Boden und rollte sich darin zusammen wie ein Kätzchen in seinem Korb. Kurogane bildete den Schluss, indem er die Lampe ausknipste und sich mit einem Ächzen auf dem Futon am anderen Ende des Raumes sinken ließ. Ein langes Schweigen verging. "Morgen sollten wir möglichst früh los", schlug ich schließlich vor, "Dann können wir sogar eine Mittagspause einlegen! Bis morgen hab ich sicher auch schon ein paar Optionen gefunden, um was für eine Krankheit es sich handeln könnte." "Von mir aus", brummte Kurogane und wälzte sich auf die andere Seite, um mir den Rücken zuzudrehen. "Das wird schon unserer zweiter glorreicher Auftrag! Wieso freuen Sie sich nicht?" "Weil ich müde bin und schlafen will!!", fauchte mein Leibwächter fast schon raubtierhaft, "Mann, Sie rauben mir den letzten Nerv! Wenn ich nicht so verflucht menschenfreundlich wäre, würde ich sagen, Sie machen mich krank!" Ich wusste nicht warum, aber irgendwie brachte mich sein Tonfall zum Lachen. "Und ich würde sagen, Sie sind leicht gefährlich, Kurogane", gab ich mit einem Kichern zurück, "Sie haben diesen Killerinstinkt, der macht mich richtiggehend fertig." "Passen Sie auf, sonst erhänge ich Sie an meiner Krawatte!", war die dumpfe Antwort. "Haben Sie denn eine?" "Dann besorg ich mir halt eine!", gab er trotzig zurück. Ein markerschütterndes Schnarchen von Kalliwoda unterbrach unseren zweifelhaften Disput und erinnerte uns beide daran, was wir eigentlich vorgehabt hatten. "Ahm-... gute Nacht!" "Nacht", motzte mein Begleiter und vergrub seinen Kopf nachdrücklich ins Kissen. "Bis morgen!" "Bis morgen." "... Bis morgen!" "BIS MORGEN, VERDAMMT NOCHMAL!!" Ich unterdrückte ein weiteres Kichern und merkte, dass ich irgendwie noch gar keine rechte Lust zum Schlafen hatte. Naja, dann musste ich mich wohl überreden. An einer Krawatte erhängt zu werden war sicher kein allzu schöner Tod. "Schlafen Sie gut." Kapitel 7: Influenca - 2 ------------------------ "Sie haben wirklich ein schönes Haus", bemerkte mein Partner, als wir beim Frühstück saßen, das sich allerdings auf die letzten Resten unseres Proviants und Tee, den ich eher zufällig noch in meiner Küche ausgegraben hatte, beschränkte. Zur Abwechslung hatte ich recht gut geschlafen, wenn man davon absah, dass der Uhgl Buhgl geschnarcht hatte, als hätte er einen Wald abgeholzt und dass Fye wieder mal nicht hatte still liegen können. Aber es lag sicher daran, dass ich zuhause war. "Ich weiß", sagte ich – und hoffte, dass es noch mein Haus war. "Was haben sie mit dem Gerichtsvollzieher angestellt, heh?" "Wir haben ihn höflich gebeten, doch ein andermal wieder zu kommen", meinte Fye grinsend zurück. "Aber das hat leider nicht geklappt, und Kalli-kun hat seine Sporen eingesetzt." "O Mio! Ich glaube, der signore wird molto, molto lange nicht mehr hierher kommen." "Sind Sie wahnsinnig?! Dieser Pfändungsheini wird sicher beim nächsten Mal mit der Polizei hier aufkreuzen und dann kann ich mein Haus vergessen!", polterte ich. Was zur Hölle hatten diese beiden Vollidioten bloß angestellt?! "Beruhigen Sie sich doch!", meinte der Arzt und brachte seine Tasse, die er fast fallengelassen hatte, wieder in die Senkrechte, "Er wird sich überhaupt nicht daran erinnern können... ebenso wenig wie Ihre Nachbarn, die übrigens sehr neugierig sind." "Ach ja?!", fauchte ich, "Und wieso sind Sie sich da so sicher?!" "Ich habe Ihnen doch erklärt, dass es verschiedene Formen von Sporen gibt! Uhgl Buhgls beherrschen zwei Arten davon, die irisierenden, also solche, die jemanden manipulieren können, und die amnestierenden, also diejenigen, die Gedächtnisverlust hervorrufen." "Exattemento!", ließ sich der Uhgl Buhgl vernehmen, der jetzt auch noch heiser klang. "Der signore vom Amt wird gar nichts mehr wissen, bene, si?" "Das will ich aber auch stark hoffen", blaffte ich. "Wieso will er dieses Haus eigentlich pfänden, wenn ich fragen darf?", wollte der Blonde wissen. "Dürfen Sie nicht. Das geht Sie nämlich überhaupt nichts an. Aber wenn Sie schon mal beim Thema sind: Wann gedenken Sie denn, mich endlich zu bezahlen?" "Ah..." Er grinste schief. "Sie wissen, dass ich pleite bin." "EBEN! Ich aber auch! Und im Gegensatz zu Ihnen habe ich einige Rechnungen zu bezahlen. Ich will mein Geld." "O mio, signori! Streiten Sie doch nicht!", mischte sich das Pelztier ein, was ihm aber bloß einen tödlichen Blick meinerseits einbrachte, sodass es sich an seinem Brötchen verschluckte. "Viele wollen mein Geld, mein Lieber", gab der Arzt scheinbar gelassen zurück, bevor er Kalliwoda davor bewahrte, zu ersticken. "Die wollen bloß ihr Geld zurück, dass sie Ihnen geliehen haben!", knurrte ich und damit hatte ich wohl völlig ins Schwarze getroffen. Ich hätte mir einen anderen Job suchen sollen, der vielleicht langweiliger, aber dafür regelmäßig bezahlt wurde. Leider war es damit ja erst mal zu spät. "Als Auftragsarzt hat man nun mal hohe Ausgaben für Ausrüstung und Medikamente!", gab er beleidigt zurück. "Aber leider wird dieser Beruf nicht staatlich unterstützt. Ich hab schon öfters versucht, das zu beantragen, aber ich nicht mal eine Bestätigung, dass sie sich darum kümmern würden, oder ein 'Danke für diesen wundervollen genialen Vorschlag' habe ich bekommen! Und irgendwie muss man ja an Geld kommen, damit man den Leuten helfen kann." Ich schnaufte genervt. "Auf die Behörden kann man sich sowieso nie verlassen", grollte ich. Das kannte ich ja selbst zu Genüge. Es folgte Schweigen, das hin und wieder bloß durch ein Husten von Kalliwoda durchbrochen wurde. "Scusi, signori?", ließ sich dieser dann auch nach einer Weile vernehmen, "Können wir uns dann, per favore, bald auf den Weg machen? Es wird wirklich dringissimo, die anderen sind sicher auch schon molto krank und warten sehnsüchtig auf Dottore!" "Aber sicher doch! Wir wollen sie nicht länger als nötig warten lassen. Aber da wir zumindest den halben Weg kennen, sind wir bestimmt schnell da", stimmte der Arzt zu, bevor ich überhaupt protestieren konnte. Aber – je schneller sie aus meinem Haus waren, umso besser. Noch war es zwar weder abgebrannt, noch explodiert, aber ich wollte, dass das auch so blieb. Gegen Abend kamen wir an der Wegkreuzung an, die unter anderem auch nach Kosumoni führte. Diesmal hatten wir nicht die gesamte Strecke laufen müssen, sondern hatten eine Gelegenheit gefunden, bei jemandem mitzufahren, der in die selbe Richtung musste, wie wir. Bis Kosumoni mussten wir allerdings wieder laufen. "Vielen Dank fürs Mitnehmen!", bedankte sich mein Partner überschwänglich bei dem älteren Herren mit dem kleinen Karren, der von zwei struppigen Ponys gezogen wurde und auf dem eine Menge Plunder geladen war. Und er war sehr unbequem gewesen, was aber wohl eher an den verdammten Schlaglöcher gelegen hatte. Zumindest hatten wir nicht laufen müssen. "Naah, koi Probläm...", winkte der Opa ab, grinste, verabschiedete sich, nachdem wir unseren Kram abgeladen hatten, und ließ seine Ponys in entgegengesetzter Richtung weiterzockeln. "Also dann! Wenn wir ein wenig Tempo machen, sind wir in zwei Stunden da!", verkündete Fye und schulterte seinen Rucksack mitsamt Kalliwoda. "Das wird auch Zeit", murrte ich. Wieso musste ich auch immer die schwersten Sachen schleppen, von denen das meiste ohnehin dem Blonden gehörte? "O Mio! Grandioso!", rief Kalliwoda überglücklich und hüpfte – wenn auch etwas matt – ein wenig auf Fyes Schulter auf und ab. "Die Anderen werden molto, molto, molto stolz auf mich sein, dass ich Dottore gefunden habe! Benissimo! Avanti, avanti!" Wir setzten uns also in Bewegung. Vor uns lag ein Weg, der kaum noch als Straße bezeichnet werden konnte, sondern eher als Trampelpfad. Er schlängelte sich in weiten Bögen über die Wiese, die sich irgendwann in einem Wald verlor. "Wissen Sie denn schon, was die Pelzviecher haben?", wollte ich wissen. "Ich hoffe, es ist nicht schon wieder so was wie diese ekelhaften Würmer!" "Ah, nein. Keine Sorge. Diesmal ist es einfach!", meinte Fye recht vergnügt, während er neben mir herschlenderte. "Es ist bloß eine einfache Influenza." "Influenza? Mio, signore, ist das gefährlich? Oooooooh... werden wir sterben, signor Dottore, si? Moriendo??" Fye lachte auf. "Aber nein. Influenza ist schlicht und einfach..." "Grippe", vollendete ich seinen Satz, einer plötzlichen Eingebung folgend, was ihn dazu veranlasste, mich sprachlos du mit großen Augen anzusehen. "Genau das! Haben Sie heimlich studiert?", fragte er dann grinsend. "Nein", grollte ich, "Aber das kann man sich doch denken. Das Vieh da schnauft, schnupft und hustet schon die ganze Zeit. Entweder ist es 'ne Erkältung oder Grippe." "Gut beobachtet! Aus Ihnen wird vielleicht ja doch noch ein recht guter Assistent." "RECHT GUT?", fauchte ich und er brachte sich kichernd außer Reichweite. "Ich reiß mir hier den Arsch auf und habe immer noch nicht mein Geld! Kommen Sie mir ja nicht mit so was, klar?!" "Jetzt bleiben Sie ganz ruhig, Kuro-ta!", versuchte er, mich zu beschwichtigen, "Das war ein Kompliment, bekommen Sie eigentlich immer alles in den falschen Hals?" "Auf Ihre Komplimente kann ich auch verzichten!", zischte ich zurück, "Und wieso haben wir uns eigentlich wegen so einer bescheuerten Grippe auf den Weg gemacht? Hätten sie dem Vieh nicht ein bisschen Aspirin mitgeben können und dann wär's das?" "Erstens müsste ich ihm wenn schon Antibiotika mitgeben und zweitens wurden wir gebeten, vorbei zu kommen." Okay, das Antibiotika wäre wahrscheinlich sowieso nie angekommen, da die senile Pelzkugel sich verirrt hätte oder bei Ankunft des Dorfes vergessen hatte, dass es überhaupt weggewesen war, aber es hätte uns zumindest eine Menge Arbeit erspart. "Außerdem kann Influenza auch sehr gefährlich werden, wenn das Virus mutiert", fuhr der Arzt in seinem Wandelndes-Lexikon-Tonfall fort, "Die 'echte Grippe' oder auch Virusgrippe, also Influenza, ist eine akute Infektion der Atemwege. Influenzaviren werden in erster Linie durch Tröpfcheninfektion übertragen und schädigen nicht nur die Schleimhäute der Atemwege, sondern bereiten auch Toxinen, also Giften, und Bakterien den Weg. Es gibt drei Typen der Grippe-Viren, Typ A, B oder C, die zu den Myxoviren gehören, die sich von Saison zu Saison stark verändern und eine erneute Erkrankung nach kurzer Zeit wieder ermöglichen. Die Symptome sind hohes Fieber, das nach wenigen Stunden nach der Inkubationszeit von ein bis drei Tagen einsetzt. Der Patient fühlt sich schwer krank, hat Kopf- und Glieder- und Rückenschmerzen und klagt über Schnupfen, Husten, Halsschmerzen und Heiserkeit." "Si, signore! Ich habe molto Halsschmerzen, mio, mio! Terribelissimo!", ereiferte sich Kalliwoda, bevor Fye fortfuhr. "Eine körperliche Untersuchung ist meist wenig ergiebig, der Rachen ist gerötet und es sind eventuell Rasselgeräusche über die Lunge auskultierbar. Das macht die Influenza von anderen schweren 'Erkältungen' im Frühstadium unmöglich unterscheidbar. Also kann es natürlich auch eine einfache Erkältung sein, eine Grippe, welche eigentlich nur lästig und nicht gefährlich ist, oder auch Bronchitis, also eine Erkrankung der Bronchien und der Luftröhre oder Pneumonie, die Lungenentzündung." "O Mio", stöhnte Kalliwoda entsetzt, "Dottore machen mir Angst!" "Keine Sorge, Kalli-kun, ich denke, ich kann dich beruhigen. Pneumonie tritt meist in Industrieländern auf, da die Entzündung des Lungenparenchyms durch infektiöse, allergische oder physikalisch-chemische Ursachen hervor gerufen werden. Und die Symptome sind neben denen der Influenza auch noch Schüttelfrost, Husten mit eitrigem, gelblichen oder grünlichem Sputumsauswurf, der auch durch Blutbeimengung rötlich-braun gefärbt sein kann", erklärte er, "Bei dir, Kalli-kun, ist das nicht der Fall, oder?" "No, signore! O Mio... aber ich habe vergessen, ob die anderen...." "Kein Sorge, es dauert ja nicht mehr so lange, dann sind wir da. Sieh, wir sind schon im Wald angekommen, es ist nicht mehr weit", beruhigte der Arzt den – mal wieder- völlig aufgelösten Uhgl Buhgl, "Und nach den Beschreibungen im Telegramm, hört es sich nach Grippe oder Influenza an." "Sie sagten, das ist ansteckend?", meldete ich mich auch mal wieder zu Wort. Ich hatte keine Lust auf eine Erkältung. "Ja – allerdings nur, wenn sie entweder angeniest, angehustet oder geküsst werden", sagte er und grinste, "Und ich glaube nicht, dass gerade letzteres passieren wird." "Si! Dazu ist er viel zu grobissimo und veramente unhöflich!", gab die Pelzkugel seinen Senf dazu. "Ich geb dir gleich unhöflich!", donnerte ich und er ging unter seinem Schlapphut in Deckung, während der Blonde beschwichtigend dir Hände hob. "Sie werden doch keine Angst vor so einem kleinem, harmlosen Virus haben, oder?" "Natürlich nicht!", blaffte ich zurück. "Ich habe bloß keine Lust auf Kopfschmerzen, die habe ich auch so!" Ich beschleunigte wütend meine Schritte. Die beiden machten mich noch wahnsinnig! "Heee...nicht so schnell! Kuro-muuuunee...so warten Sie doch!", rief mir Fye hinterher, aber ich ignorierte das. Anscheinend war und blieb das das einzige Mittel. "Dort vorne! Dort vorne ist es! Bellissimo, veramente bellissimo!" Kalliwoda, trotz seiner Erkrankung mittlerweile völlig außer Rand und Band, lotste uns aufgeregt hüpfend einen letzten Engpass empor, führte uns um einen großen, mit duftenden Gräsern und Blumen überwachsenen Felsen herum, und-- "Aaaaaaahh", seufzte ich glücklich. "Kosumoni ist immer noch so schön wie damals." Ich ignorierte das genervte Brummeln meines Leibwächters über meine melodramatische Ader und fuhr darin fort, mich am Anblick des wunderhübschen kleinen Dorfs zu weiden, das sich vor uns erstreckte. Es war auf einer großen Waldlichtung angelegt, über die sich die angenehm kühlen Schatten der Tannen und Fichten neigten wie ein Rund gigantischer Wächter, in Form von zahllosen, größtenteils einstöckigen Häuschen aus Holz, Grasgeflecht oder einfachen Backsteinen, die sich im Schein der warmen Aprilsonne erwärmten; die meisten von ihnen waren in dem für Kosumoni typischen Grünton angestrichen und oftmals mit kleinen, aber sehr sachkundig gepflegten Vorgärten ausgestattet. An den mit Kies gestreuten Fußwegen sprossen vielerlei Gräser und kleine Feldblumen, die sich ihren Weg bis zu den kleinen, sauberen Holzzäunen gesucht hatten, die jedes Grundstück sorgfältig einrahmten. Die gesamte Lichtung mündete in einen Felsenrund, auf den der Sonnenschein fiel; von seinen Höhen stürzte ein Wasserfall herab, der auch die zwei Weiher speiste, die am Rand des Dorfes vorzufinden waren, bevor er sich auf den Felsen seinen Weg nach unten suchte. Überall hüpften, brummelten oder glitten Lebewesen verschiedener Gattungen geschäftig zwischen den Wegen und Häusen umher; ich konnte unter anderem Flederschlangen, Fusselwürmer, kleinere Nymphen, Felstrolle und natürlich Uhgl Buhgls ausmachen. "Gibt's hier in Kosumoni keine Menschen, weil wir so angeglotzt werden?", erkundigte sich Kurogane missmutig, allerdings nicht ohne Grund, denn unser Ankommen schien in der Tat einiges an Aufmerksamkeit zu erregen. "Ahhh, no, einige schon!", erklärte uns Kalliwoda, "Meistens wegen der frischen Bergluft und des guten Essens! Al dente! Und-... aaaah! Bellissimo! Dort vorne kommt auch schon unsere Bürgermeisterin!" Ich hob den Blick und sah tatsächlich von nicht allzu weitem eine pompös gefiederte Gestalt mit hoch aufgerichtetem Hals näherkommen. Eine Waldwachtel, und dazu noch ein wahres Prachtexemplar. "Ah! Herzlich willkommen, meine Herren, willkommen, willkommen!", rief sie, als sie nahe genug gekommen war, mit eindrucksvoll trompetender Quakstimme und zerquetschte mir beim Hände-, beziehungsweise Flügelschütteln vor Herzlichkeit fast die Finger, "Es ist mir mehr als eine Ehre, Sie beide hier empfangen zu dürfen! Mein Name ist Petjula, ich bin die Bürgermeisterin hier!" "Angenehm, Miss Petjula", erwiderte ich freundlich, "Ich bin Fye de Flourite, und das ist mein Leibwächter Kurogane Koimihari, er bevorzugt jedoch das Kürzel Kuro-wan--" "AAARGH!!!" "-- Außerdem hat uns Ihr Mittelsmann Kalliwoda auf dem Rückweg von einem anderen Auftrag kontaktiert und um Hilfe gebeten", ergänzte ich fröhlich und zog vorsorglich den Kopf ein, bevor mir mein Begleiter an die Kehle springen konnte. "Ach wirklich? Dann müssen Sie ja wirklich gefragt sein!", sagte Petjula beeindruckt und musterte uns aus aufmerksamen, schwarz glänzenden Perlaugen. Sie reichte mir von der Größe her etwa bis zum Bauch, hatte dichtes, sepiafarbenes Gefieder, das an Brust und Kopf noch große, schwarze Sprenkel aufwies. Als Abrundung trug sie dicksohlige, dunkelgrüne Gummistiefel. "Wie man es nimmt", meinte ich achselzuckend, "Was Ihren kleinen Problemfall hier anbelangt, so habe ich vermutlich schon eine Theorie... wahrscheinlich handelt es sich um eine einfache Influenca, vulgo Grippe." "Meine Güte, wirklich? Ein wahrer Genius!", rief Petjula aus. "-... Und mio war es, der diesen erstklassigissimo Dottore angeheuert hat!", bemühte sich Kalliwoda nach Kräften um Aufmerksamkeit von seiten seiner Bürgermeisterin, "Es war grave, veramente grave, ihn zu finden, aber ich hab's geschafft!" "Das hast du aber gut gemacht, Kalliwoda", sagte die Waldwachtel, und ich wunderte mich ein wenig über ihren leicht gönnerhaften Tonfall, "Und du hast dich nicht verirrt oder vergessen, wo du überhaupt hinwillst?" "N-... nein, signora", erwiderte Kalliwoda kleinlaut. Man merkte ihm die Bedrückung deutlich an. "Von wegen! Wir mussten seinem Gedächtnis erst gehörig auf die Sprünge he--", setzte Kurogane empört an, ich stieß ihm jedoch schnell einen Ellenbogen in die Magengegend und brachte ihn somit zum Schweigen. "Also gut, dann folgen Sie mir, ich bringe Sie zu den Betroffenen", entschied Petjula schließlich und lotste uns auf ihrem Weg hinter sich her, "Ist es Ihnen genehm, wenn das Honorar nach Behandlungskosten festgelegt wird?" "Gar keine Frage!", trällerte ich wohlgemut, "Wir passen uns gerne Ihrem Finanzwesen an-..." Ich wurde in meiner wörtlichen Rede abrupt unterbrochen, als mich mein Leibwächter hart von hinten an der Schulter packte. "He, was sollte das gerade eben? Damit das klar ist, von Ihnen lass ich mir nicht den Mund verbieten!" "Ich glaube nicht, dass wir hier noch zusätzlich auf Kalliwodas Schwächen aufmerksam machen sollten!", gab ich mit gedämpfter Stimme zurück und warf einen kurzen Blick über meine Schulter, um meinem Kompagnon möglichst gerade in die Augen zu sehen. "Ach ja?", knurrte dieser nur zurück und streifte die Gestalt des Uhgl Buhgls mit den Augen, welcher wortlos in einigem Abstand hinter uns herhüpfte. "Machen Sie sich keine Gedanken über Kalliwoda", ließ Petjula ebenfalls in ziemlich verdruckstem Tonfall hören, "Es verwundert mich außerordentlich, dass er fertiggebracht hat, worum ich ihn gebeten habe. Es war Markels Vorschlag, Kalliwoda diese Aufgabe anzuvertrauen, allerdings glaube ich, dass das lediglich ein Trick war, um ihn loszuwerden. Markel und Kalliwoda sind Nachbarn, und ich kenne fast keine zwei Uhgl Buhgls, die gegensätzlicher sind..." "Ah ja?", fragte Kurogane mit offenkundigem Desinteresse, sodass ich ihm einen tadelnden Blick zuwerfen musste, bevor ich das Thema wieder in eine etwas angenehmere Richtung lenkte. "Könnten Sie eine ungefähre Schätzung abgeben, wieviele Uhgl Buhgls bereits an dieser Grippe erkrankt sind?" "Ich würde auf zehn bis fünfzehn schätzen", war die Antwort, "Ich habe sie bereits zusammentrommeln und unter Quarrantäne stellen lassen, damit nicht noch mehr Uhgl Buhgls krank werden, immerhin leben hier über vierzig davon." "Eine treffliche Entscheidung", lobte ich den Weitblick der Waldwachtel, "Möglicherweise kann jedoch der Fall eintreten, dass mein Leibwächter und ich länger als einen Tag brauchen werden, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen; dürfte ich daher den Vorschlag vorbringen, uns ein Quartier für die Nacht zur Verfügung zu stellen, Miss Petjula?" Hah! Manchmal haute mich mein geschniegeltes Vokabular, untermalt mit meinem gepflegten Ich bin Arzt -Lächeln, schon glatt selbst aus den Socken! Ich hörte Kurogane hinter meinem Rucken irgendetwas unverständliches brummen. "Aber sicher!", war die freundliche Antwort, "Unsere Behausungen sind zwar für Menschenmaße ein wenig eng bemessen, aber ich werde sehen, was sich machen lässt." "Ich hoffe ja wohl, dass Sie mehr als ein Haus auf Lager haben", knurrte mein Leibwächter. Petjulas Lächeln bekam etwas leicht Nervöses. Sie musste den Kopf in den Nacken werfen, um Kurogane ins Gesicht sehen zu können. "Ohhohoh, a-aber sicher doch, Koimihari-san! Ich bin schließlich Bürgermeisterin hier!" "Sie sind mit einer beachtlichen Freundlichkeit gesegnet!", murmelte ich meinem Kompagnon über die Schulter zu, als wir weiterliefen, wobei Petjula diesmal deutlich mehr Hackengas gab, "Solche Höflichkeit habe ich zuletzt bei einem Magengeschwür beobachten können!" "Tja, ich bin nun einmal Leibwächter", kam es sofort retour, "Je mehr Schiss die Leute vor mir haben, desto besser. Außerdem rauben mir diese verdammten Gummistiefel den letzten Nerv." "Was haben Sie gegen Gummistiefel?" "Ach, keine Ahnung!" "Bringt den Nobelpreis!" "Klappe!!" Unser wie immer recht zweifelhafter Disput wurde von einem Finger- oder eher Flügelzeig Petjulas unterbrochen. "Dort vorne ist es! In diesem Gebäude habe ich alle erkrankten Uhgl Buhgls unterbringen lassen!" "Okay... und jetzt sag 'Äääääähhh'..." "Äääähhh", krächzte der senfgelbe Uhgl Buhgl und sperrte seinen rot geschwollenen Rachen auf wie ein hungriger Vogel. Vorsichtig drückte ich mit einem hölzernen Spatel seine weißlich verfärbte Zunge nach unten. "Mhhhmmh..." Mit einem Stirnrunzeln leuchtete ich mittels der kleinen Stablampe aus der Arzttasche in den entzündeten Schlund der bepelzten Kreatur, vor der ich des Größenunterschieds wegen in die Hocke gegangen war. "Ist es schlimm, Doktor de Flourite?", fragte Petjula skeptisch hinter meinem Rücken. Ich widmete mich für einige Minuten noch ganz dem Uhgl Buhgl-Hals vor mir. "Gut, das genügt vorerst. Danke!", sagte ich schließlich freundlich, und mein senffarbener Patient klappte sichtlich erleichtert seinen Mund wieder zu. Nachdem ich Stablampe und Holzspatel verstaut hatte, wandte ich mich wieder an die siebzehnköpfige Schar aus erkrankten Uhgl Buhgls einschließlich ihrer Bürgermeisterin, die mich allesamt angespannt wartend beäugten. "Also, es verhält sich folgendermaßen", begann ich meine Ausführungen, "Der erste Einblick zeigt, dass es sich tatsächlich um eine Influenca, also eine mäßigere Grippe, handelt." Vielstimmiges Getuschel unter den Anwesenden. Kurogane, der im Türrahmen lehnte und die vielen neugierigen Dorfbewohner vom Eintreten abhielt, die sich zwecks Beobachtung meiner Untersuchungen bereits um das Haus versammelt hatten, knurrte abschätzig. "Also bedeutet das, dass keine wirkliche Gefahr besteht, ja?", fragte Markel, der Postboten-Uhgl Buhgl, ein wenig unsicher. "Kommt auf die Perspektive an, aus der du's betrachtest, Markel", erwiderte ich ernst, "Wenn man eine Grippe nicht mit den nötigen Mitteln und dem nötigen Respekt behandelt, kann sie ganz schnell zu einer 'wirklichen' Gefahr werden." "Aber Sie haben die richtigen Mittel, oder? Haben Sie?" Ich musste ein wenig lächeln über die bittend dreinblickenden Gesichter der pelzigen Geschöpfe. "Natürlich habe ich. Ihr müsst mir allerdings ein wenig dabei helfen, weil ich schon lange nicht mehr hier war und nicht mehr genau weiß, welche Arten von Pflanzen hier auf den Hängen und Hügeln wachsen." "Natürlich helfen wir Ihnen! Stimmt's?" Vielstimmiges, zustimmendes Geplapper ertönte von allen Ecken und Wänden der Hütte. "Toll! Ich bin noch nicht ganz mit den Untersuchungen fertig, aber einen groben Überblick über die Medizin, die ihr nehmen müsst, habe ich schon. Es gibt viele Arzneien gegen Grippe, aber weil gerade keins dabei habe, stellen wir eben selbst eins her", erzählte ich, "Es ist nämlich so: bei der Grippe kommen immer drei wesentliche Krankheitsaspekte zusammen- Husten, Schnupfen, Fieber. Eine gute Medizin gegen diese Krankheit muss sich mit jedem dieser drei Aspekte beschäftigen und ihn möglichst effektiv tilgen, aber dabei durch seine Beschaffenheit keins der anderen beiden Teilarzneien in seiner Wirkung beeinträchtigen. Eine wirkungsvolle Arznei muss funktionieren wie ein Akkord in der Musik. Zumindest, was Tabletten angeht, denn mein Begleiter und ich werden heute Nacht die nötigen Grippepillen für euch pressen. Außerdem werde ich euch eine Teemischung aus Kräutern zusammenstellen, die ihr dann alle dreimal täglich trinken müsst, damit die Grippe schneller weggeht." "Und was für Pflanzen bräuchten Sie?", erkundigte sich Petjula. Ich runzelte grübelnd die Stirn. "Mhhm... lassen Sie mich überlegen... die Pflanzen gegen den Husten dürften kein Problem sein. Die wirkungsvollsten Pflanzen sind hier Sonnenhut, Spitzwegerich, Thymian, Seifenkraut und Süßholz. Gegen den Schnupfen wird gerne Eisenkraut, Holunder, Enzian, Linde, Pfefferminze oder Majoran verwendet, und gegen das Fieber Esche, Brunnenkresse, Gingkoblätter oder Apfelblüten. Wie gesagt, man muss diese Pflanzen nur passend kombinieren, und schon hat man seinen medizinischen Akkord. Kalli-kun?", wandte ich mich plötzlich direkt an Kalliwoda, der bis jetzt schweigend neben Kurogane am Eingang gestanden war, "Welcher dieser Pflanzen wachsen in der Nähe von Kosumoni, hast du da eine Idee?" Schweigen. Kurogane starrte mich entgeistert an. Es war nicht schwer, die Botschaft seines Blicks zu entschlüsseln. Ja, spinnen Sie?!! Dieses Vieh hat sich doch nie und nimmer gemerkt, welche Pflanzen Sie da aufgezählt haben! Der weiß doch nicht einmal, wohin er gehen wollte, wenn er erst zehn Minuten unterwegs ist! Kalliwodas enorme Nase zuckte ein wenig unter den skeptischen Blicken seiner Mitdörfler, bevor er zu sprechen anfing. "Mhhm. O Mio, Sie haben viele Pflanzen aufgezählt, für diesen Akkord, dottore. Allerdings denke ich vivacissimo, dass Sie hier am ehesten Spitzwegerich, Sonnenhut und Seifenkraut gegen den Husten, gegen den Schnupfen Pfefferminze und Enzian, und gegen das Fieber Brunnenkresse und Esche finden werden, naturalmente! Ähm-... wenn Sie wollen, kann ich Sie auch presto begleiten und Ihnen bei der Suche behilflich sein." Ich spürte mit Genugtuung das Staunen in den Augen der Uhgl Buhgls einschließlich Petjula hinter mir. "Wunderbar, darüber würde ich mich natürlich sehr freuen... Kuro-chii ist kein richtiger Pflanzenfreund, weißt du..." "KLAPPE!!" "... das geht doch in Ordnung, dass Kalliwoda mit Kurogane und mir Pflanzen suchen geht, die wir für das Pressen von Tabletten brauchen?", wandte ich mich an die Waldwachtel, welche anscheinend zu baff war, um mir zu widersprechen. "An mir soll es nicht scheitern, Doktor-... ä-äh, wenn ich mich recht entsinne, haben Sie auch noch etwas von einem Tee gesagt?" "Exakt. Eine herbale Teemischung ist gegen Grippe stets erfolgreich. Ich bevorzuge da immer eine Mischung aus Huflattich, Königskerze, Echtem Lungenkraut, Spitzwegerich und Feldthymian! Die Kräuter müssen gut abgehangen und getrocknet werden, bevor Wasser darüber kommt. Wie genau es zu machen ist, erkläre ich Ihnen gern noch im Laufe meines Aufenthaltes, denn jetzt gibt es für uns drei erst einmal genug zu tun. Wenn Sie uns entschuldigen würden?" "Keine Frage, keine Frage! Gehen Sie ruhig!" Ich lächelte und erhob mich schwungvoll vom Boden, bevor ich Kurogane und Kalliwoda zunickte. "Okay, dann wollen wir mal! Kalli-kun, Kuro-chin, seid ihr soweit?" "Tssss..." "Tutto perfetto, signore!" "Also, auf mit uns! Bis einstweilen, meine Lieben, und keine Sorge, wir beeilen uns!", verabschiedete ich mich von den Uhgl Buhgls, die uns noch zahllose, anfeuernde Zurufe nachschickten. Draußen stob die Gafferschar hektisch auseinander, als wir aus der Hütte traten. Kurogane warf unserem moosfarbenen Begleiter einen kurzen Blick zu. "Du, sag mal..." "Si, signore?" "Wie kommt es eigentlich, dass du vorhin nicht deine senile Macke reingekriegt hast? Bei dieser Pflanzensache?" Kalliwoda blickte geschmeichelt auf den Boden. "Nun ja, signore, sagen wir so... wenn Ihr grazioso dulcissimo Freund nichts von einem medizinischen 'Musikakkord' gesagt hätte, wäre es für mich wohl ein herber Sprung ins Wasser geworden. Capito?" "Ohaahh..." Mein Leibwächter schenkte mir einen scheelen Blick von der Seite, welcher mich automatisch zum Grinsen brachte. "Sie sind ja ein waschechter Logiker." "Berufserfahrung", beschwichtigte ich ihn und wollte ihm einige Male auf die Schulter klopfen, allerdings blieb mir bei seinem Menschenfresserblick die Hand in der Luft hängen, "Logik hat man an gewissen Stellen des Lebens bitter nötig, wissen Sie..." "Da haben Sie leider verdammt noch eins recht." Der Schwarzhaarige ächzte. "Dann wohl besser in den Wald mit uns. Am besten gehst du voraus, Pelzkugel, und wenn du zwischendurch nicht mehr weißt, wie du heißt, sag einfach bescheid..." "Si, si, si!", ereiferte sich Kalliwoda sofort, und er hüpfte uns wohlgemut voraus. Ich trällerte in glänzender Laune vor mich hin, während wir durch das sonnenüberflutete Dörfchen spazierten, bis ich merkte, dass mein Leibwächter mich immer noch von der Seite her anstarrte. "Was ist denn?" Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. "Irgendwie werd ich das Gefühl nicht los, dass Sie jedem so einen-... ja, so 'ne Art kleinen Triumph verschaffen wollen. Oder? Ist doch so!" Ich musste unwillkürlich lächeln und wandte mich meinem Kompagnon zu. "Nun, Kurogane, lassen Sie mich es so ausdrücken; gerade die kleinen Triumphe sind es, die einem das Leben ein kleines bisschen erträglicher machen. Glaube ich zumindest. Die großen Triumphe... die rauschen einfach vorbei. Man ist so sehr damit beschäftigt, Lob und Dank abzuwehren, zu buckeln und zu liebdienern für all die Anerkennung, dass man seinen eigentlichen Triumph total vergisst. Die kleinen Triumphe, die sind das wirklich Schöne." Kurogane hob skeptisch die Augenbrauen. "Sie sind merkwürdig." Ich lachte. "Ich weiß. Kommen Sie, gehen wir." "Wieso in Dreiteufelsnamen müssen wir das unbedingt mitten in der Nacht machen, he?", schnauzte ich. "Weil wir dann morgen sofort anfangen können, die Patienten zu behandeln", kam es vergnügt zurück, was für mich persönlich völlig unverständlich war. "Was wird das jetzt überhaupt?!", murrte ich und starrte auf eine Menge Grünzeug, auch bekannt als Kräuter und Heilpflanzen, die vor uns auf dem Tisch lagen. "Tee." "Und dafür bringen Sie mich um den Schlaf?! Das lässt sich doch in fünf Minuten machen...", fauchte ich. "Tee ist wirklich gut gegen Erkältung. Sie allerdings bräuchten einen Beruhigungstee", gab er ungerührt zurück. "Außerdem stelle ich nicht nur Tee her, sondern auch Medizin. Und das braucht auch seine Zeit... geben Sie mir doch bitte mal das Eisenkraut." "Was?" "Na das Verbena Officinalis. Das Eisenkraut hat vor allem in der Pflanzenheilkunde eine lange Tradition, die bis ins Altertum zurückreicht. Es wurden ihm insbesondere harntreibende, Gallenfluss anregende und antirheumatische Wirkungen nachgesagt. Als Inhaltsstoffe konnten die Iridoid-Glykoside Verbenalin, Hastatosid und neben einer Reihe anderer Verbindungen auch Verbascosid nachgewiesen werden. Eisen enthält die Pflanze allerdings nicht..." "Stopp! Ich will wissen wie das Zeug aussieht, alles andere ist egal", unterbrach ich seinen Redefluss. "Ach so, sagen Sie das doch gleich!", sagte er und fing schon wieder mit seinem Lexikon-Tonfall an. "Das Eisenkraut ist eine ein- bis mehrjährige, bis zu fünfundsiebzig Zentimeter hoch wachsende Pflanze mit einem aufrechten, oberwärts verzweigten Stängel. Die kleinen, blasslila gefärbten sitzen in dünnen, lockeren Ähren." "Aber ich dachte wir bräuchten kein Eisenkraut", maulte ich genervt – da ich immer noch nicht wusste wie das Zeug aussah. Außerdem sah ich auch nichts, was auf seine Beschreibung passte. "Oh – Sie haben recht. Wissen Sie, das benutze ich sonst immer... aber das haben wir ja gar nicht da. Dann nehmen wir eben das hier. Plantago lanceolata", sagte er und nahm einige Stängel hoch, die wie Pfeifenputzer aussahen. "Spitzwegerich." Ich fragte mich, was ich hier eigentlich sollte und stieß einen frustrierten Seufzer aus. Dann machte ich weiter, die Teemischung zu machen, indem ich den Huflattich, das Echte Lungenkraut, Feldthymian und außerdem Pfefferminze für den besseren Geschmack, zusammenband, damit sie aufgehängt werden und trocknen konnten, während Fye die restlichen Kräuter zu Pulver zerrieb und fein säuberlich portionierte. Dann presste er sie in Pastillen und Pillen und packte sie alle in ein Beutelchen. Das alles dauerte leider aber auch wirklich Stunden, selbst als ich mithalf – die Teebündel hatte ich nach einer Viertelstunde schon an die Decke gehängt. Nachdem Fye die letzte Tablette in den Beutel gepackt und diesen verschnürt hatte, gähnte er. "So, das hätten wir", verkündete er dann. "Es ist schneller gegangen, als ich dachte." "Können wir dann endlich ins Bett gehen, verdammt?", grollte ich. "Sicher. Nicht dass wir vor den Patienten einschlafen, nicht wahr?" "Tzz...wird ja auch Zeit... Ich sag Ihnen was, demnächst wird ich mir nicht mehr die Nächte für irgendeinen blöden Tee um die Ohren schlagen." "Da braucht wohl jemand seinen Schönheitsschlaf", kicherte er. "Ich geb’ Ihnen gleich Schönheitsschlaf!!", zischte ich. Er hob beschwichtigend die Hände. "Nicht nötig, Danke“, grinste er. „Warum sind Sie eigentlich immer so gereizt? Sie sollten sich ein wenig entspannen und mehr lächeln... Das gibt noch Falten und dann sehen Sie hinterher aus, als hätten Sie extrem Cellulite im Gesicht..." "RAAAH!" Der Kerl war doch echt das Letzte! "Wieso können Sie nicht einfach die Klappe halten und Ihre Weisheiten für sich behalten, häh?", fauchte ich ihn an und er ging hinter dem Tisch in Deckung. "Hyuuu! jetzt beruhigen Sie sich, das war doch nur gut gemeint..." "Ach ja? Lassen Sie’s lieber, das ist für Sie gesünder!" Irgendwann würde ich ihn eigenhändig erwürgen, ihm den Kopf abreißen, ihm jeden Knochen einzeln brechen und was mir noch so einfiel und das war wohl eine ganze Menge. Aber jetzt – war ich müde und wollte nur noch schlafen. "Ich geh jetzt schlafen", verkündete ich und ohne weiter auf die blonde Nervensäge zu achten drehte ich mich um und ging hinüber zu meiner Hütte. Zumindest war ich ihn für den Rest der Nacht los. Alles andere würde ich auch nervlich nicht mehr verkraften. Ruhe – einfach nur Ruhe, das war momentan alles, was ich wollte. Ich betrat 'meine' Hütte - diese Häuschen waren echt sehr eng gebaut und ich musste eigentlich durchgehend den Kopf einziehen, um mich nicht zu stoßen. Aber zum Schlafen ging es allemal – vor allem, da ich hoffentlich meine Ruhe hatte. Der nächste, der mich in irgendeiner Art und Weise davon abhielt, zu schlafen, der würde mich kennen lernen und sich wünschen, das nicht getan zu haben. "Aaaaaalso, das mit dem Tee ist auch ganz einfach", fuhr Fye fort. Ich gähnte. Wir standen – von der Truppe Ughl Bughls und der komischen Wachtel umringt – wieder in dem Quarrantäneviertel und der blonde Arzt erklärte den Viechern gerade die Handhabung der Medikamente und den Umgang mit dem Tee. Ich hoffte, dass nicht alle dieser Pelzviecher so senil waren wie Kalliwoda, denn sonst verschwendeten wir unsere Zeit. Nicht, dass wir das meiner Meinung nach sowieso die ganze Zeit taten – Tee kochen war nun wirklich nicht so schwer. "... wie gesagt, den vorbereiteten Tee einfach trocken lagern. Vor Gebrauch in einen Teebeutel oder ein feines Leinensäcken geben und dann einfach mit nicht mehr kochendem Wasser aufgießen.", beendete er nach einigen Minuten seinen Vortrag, von dem ich die restliche Hälfte ausgeblendet hatte. Ich hoffte ja, dass er endlich mal zum wichtigen Teil- unserer Bezahlung- kam. Leider schien ich darauf noch länger warten zu dürfen. "Und diese Tabletten hier", er kramte in seiner Tasche herum und förderte den Beutel zu Tage, "Sollten zweimal täglich mit einem Glas Wasser eingenommen werden – Saft ist natürlich auch in Ordnung", fügte er hinzu. Dann wandte er sich endlich an die Bürgermeisterin. "Dann sind alle sicher in ein paar Tagen wieder gesund." "Oh – vielen Dank, Doktor de Flourite. Ich bin ja so froh, dass es nichts wirklich Ernstes ist! Wie kann ich Ihnen nur danken?" "Aaaaaach, das hab ich doch gern gemacht", winkte ich bescheiden ab, "Das ist nun einmal mein Beruf!" "Das ist so leicht dahingesagt", beschwichtige Petjula mich mit erhobenem rechten Flügel, bevor sie sich an ihre bepelzten Mitbürger wandte. "Also, ihr habt gehört, was Doktor de Flourite gesagt hat! Husch husch, ihr Kerlchen, zurück nach drinnen! Ab ins Bett mit euch, legt euch aufs Ohr, ich kümmere mich um den Rest!" "Ja, Miss Petjula!", kam sogleich ein zustimmend krähender Uhgl Buhgl-Chor als Antwort, und die siebzehn pelzigen Wesen hüpften und rollten emsig zurück in das kleine, kleegrün gestrichene Krankenhäuschen, jedoch nicht, ohne auch mir einen choralen Abschied zuzuquieksen. "Auf Wiedersehen, Doktor de Flourite!" "Auf Wiedersehen! Und nehmt brav eure Medizin!" "Klar!" Ich erhaschte aus dem Augenwinkel, dass Kuroganes Zornesader mittlerweile wieder am betriebsamsten Pulsieren war, sodass ich es für vernünftiger hielt, möglichst schnell zum Punkt zu kommen und dann aufzubrechen. "Ahm, nun, Miss Petjula-... dann bliebe ja wohl nur noch eine Frage übrig-..." "Aaaaah, Sie meinen ganz sicher die Bezahlung!", trompetete die stattliche Waldwachtel herzlich, sodass ich leicht errötete. Ach, wie ich diese kommerzen Geldgespräche doch verabscheute. "Naja, darum kommt man als Arzt leider nicht herum--..." "Ganz gewiss nicht", schaltete sich mein Leibwächter nachdrücklich dazwischen, "Also, wieviel haben Sie für uns berechnet?" "Nun...", meinte die Wachtel achselzuckend, "Für kurze Zeit war ich am Zögern, ob ich für Pflanzen, die man in der Natur findet, wirklich einen Kredit berechnen sollte, immerhin liefert der Wald sie gratis--" Die rechte Augenbraue meines Reisebegleiters zitterte bedrohlich. "-- a-aa-aber Sie haben bewusste Pflanzen ja in nächtlicher Teilarbeit zu Pastillen umgepresst und diese Teemischung hergestellt", stotterte Petjula eilends weiter, "Und das ist doch durchaus etwas, das man als Arbeit bezeichnen kann, n-nicht? Hinzu kommen Ihre Untersuchungen, Doktor. Nun, u-und um es auf den Punkt zu bringen, kam ich in etwa auf fünfundfünzig Transkontinental-Dollar." "Das ist ein wirklich sehr großzügiges Angebot für eine so simple Behandlung!", räumte ich ein, "Wie wäre es dann, wenn Sie mir stattdessen-... hmhhh, sagen wir dreißig Transkos und noch die Überreste der gesammelten Pflanzen überlassen? Heilpflanzen kann man als Auftragsarzt immer und überall gebrauchen!" Ich konnte förmlich spüren, wie meinem Leibwächter der Unterkiefer bis zum Hemdkragen hinuntersackte, dennoch ließ ich mir nichts anmerken. Wahrscheinlich wurde ich von ihm gerade in Gedanken ans Kreuz genagelt. "Ah! Das geht natürlich auch!", entzückte sich Petjula, offenbar war sie von sehr sparsamer Natur- wahrscheinlich eine der Eigenschaften, die ein Bürgermeisteramt unweigerlich mit sich brachte- und musterte mich in offenkundigem Einverständnis, "Sehr gut, hiermit würde ich mich ohne weiteres einverstanden zeigen!" Sie wandte sich an Kalliwoda, der als einziger draußen geblieben war und sich nun schüchtern hinter meinen Beinen versteckte. "Kalliwoda? Sei doch so gut und hol den Sack mit den Pflanzen aus der Hütte unserer Gäste. Aber verlauf dich nicht, ja?" "Si, naturalmente nicht, signora!", bekräftigte der Uhgl Buhgl und kugelte wie vom Blitz getroffen los. "Sagen Sie, hat Kalliwoda hier schon immer diese Dorftrottel-Rolle innegehabt?", erkundigte ich mich sachlich, während mir Petjula fünfunddreißig Transkontinental-Dollar, die sie bisher unter dem Flügel gehalten hatte, in die geöffneten Hände hineinzählte. "Zwanzig... dreiunddreißig... fündunddreißig, bitte sehr. Wie bitte? Dorftrottel-Rolle? Also, so extrem würde ich es auch wieder nicht beschreiben. Er ist ein guter Kerl, aber er ist eben auch ziemlich täppisch. Und ich fürchte, viel mehr wird er auch nie sein." Ich hob die Augenbrauen. "Dabei wäre ich so gerne ein Künstler! Virtuos- Komponist- bellissimo!" Plötzlich spürte ich, wie mir unwillkürlich das Lächeln kam, und ich grinste ich der Waldwachtel mit einem breiten Ach ja? -Lächeln ins Gesicht. "Warten Sie's ab." Die Bürgermeisterin von Kosumoni sah mich ein wenig irritiert an, doch glücklicherweise wurde das peinliche Schweigen durch Kalliwoda unterbrochen, der mit dem Pflanzensack im Schlepptau zurückgehoppelt kam. "Hier, signora, signori! Die Pflanzen! Bellissimo!" "Wunderbar! Vielen Dank, Kalli-kun!" Der moosfarbene Uhgl Buhgl gab den Sack Kurogane, der ihn problemlos schulterte und mich mit einem Blick anstarrte, der ganz offenkundig sagte Wenn Sie sich jetzt nicht langsam mal beeilen, reiß ich ihnen das Hirn zur Nase raus. Dieser Kerl war sicher fähig, mich schneller zu verhackstücken als eine Killerzelle einen bakteriellen Erreger, also kuschte ich. "Also, ahm-... haben Sie vielen Dank für alles, Miss Petjula. Wir müssen dann langsam wieder los, es wartet eine Menge Arbeit auf uns. Und wenn Sie wieder ein Problem haben sollten, zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren!" "Keine Sorge, das werden Markel und ich mit Freuden tun", erwiderte Petjula höflich, was von Kalliwoda mit einem emsigen Nicken begleitet wurde, "Ich wünsche Ihnen beiden hiermit im Namen aller Bürger von Kosumoni auch weiterhin viel Erfolg, und kommen Sie gut an Ihrem nächsten Zielort an." "Wir geben unser Bestes!" Ich wandte mich mit einem Lächeln an unseren bepelzten Freund. "Komm, Kalli-kun, willst du uns noch ein Stück weit begleiten?" Die Augen des Uhgl Buhgl wurden immer größer und größer. "Ooooooh Mio! Soll ich-... soll ich wirklich, signor Dottore? Soll ich-... prestissimo wirklich?" "Sie und Ihre bescheuerten Einfälle!", keifte Kurogane wütend über seine Schulter, während wir eine über und über mit wilden Gräsern, Enzian und Kornblumen bewachsene Heide hinuntermarschierten. "Ach kommen Sie, Kuro-pyon!", versuchte ich, ihn zu beschwichtigen, während ich mich noch einmal umdrehte und den in der Ferne winkenden Bürgern von Kosumoni, die sich am Rande des Dorfs versammelt hatten, einen letzten Abschiedswink gab. "Sie sehen immer gleich alles so eng! Wissen Sie was, ich müsste Ihnen täglich Valium injizieren!" "Dann injiziere ich Ihnen täglich eine Ohrfeige, die sich gewaschen hat!" "Sie sind rebellischer als eine Nasenschleimhautentzündung!", quengelte ich und schüttelte bedauernd den Kopf über meinen Leibwächter, "Außerdem, wie können sich Ohrfeigen überhaupt waschen?" "Fordern Sie's nicht raus, wenn Sie ein alter Mann werden wollen." "Schon gut, schon gut, schon guuuut..." "Ehh-... signori?", erkundigte sich Kalliwoda soeben zögernd, der bisher wohlgemut neben uns hergekugelt war und sich nach Herzenslust in den blühenden Gräsern gewälzt hatte, "Darf ich un più fragen, wohin Ihr Weg Sie nun führen wird?" "Nach Uranoke Sho", bestimmte Kurogane sofort unbarmherzig, "Und dort werde ich mich übergeben, dreißig Liter Wasser trinken und dann drei Wochen am Stück schlafen, so wie vernünftige Menschen das tun..." "Das klingt in der Tat sehr vernünftig, sich erst fast zu Tode zu trinken und sich dann fast zu Tode zu schlafen", erwiderte ich nüchtern und musste mich auch schon vor einer gewaltigen Ohrfeige ducken. "WAS?!! Geht's Ihnen noch gut?! Ich bin total erledigt! Und unsere Vorräte sind auch fast aufgebraucht! Wohin wollen Sie denn jetzt noch in Dreiteufelsnamen hinstieren?! Ans Ende der Welt?!!" "Nein, nicht ganz so weit. Nur etwa zehn Kilometer weiter. Nach Gakoshida, um genau zu sein." Mein Begleiter hob skeptisch die Augenbrauen. "Nach Gakoshida?" "Ganz genau." Ich musste unwillkürlich ein wenig seufzen, während ich mir diesen Namen auf der Zunge zergehen ließ. Aaah. Gakoshida. Ganze Jahre meiner Erinnerungen klammerten sich an diese Stadt. Gakoshida war eine der größeren Ortschaften von Kongoseki Oka mit etwa fünfzigtausend Einwohnern, die sich auf- knapp geschätzt- etwa fünfzig unterschiedliche Lebensformen verteilten, und dazu noch eine der berühmtesten Universitätsstädte auf der internationalen Ebene der Wissenschaft. Ich hatte mir Gakoshida schon seit längerer Zeit wieder zum Ziel gesetzt, auch schon bevor sich Kurogane auf meine Anzeige gemeldet hatte- diese Stadt bot ganz einfach in fast allen Hinsichten hervorragende Möglichkeiten für jeden Wissenschaftszweig, also auch für die Medizin, und das sowohl im Bereich der Theorie als auch in der Praxis. Es gab fast keinen Wissenschaftszweig, der in Gakoshida nicht als Studienfach oder zumindest als Arbeitsgemeinschaft oder Fernkurs angeboten wurde- es ging von Abba bis Zappa. Jeder, der sich für eine Wissenschaft interessierte, war in Gakoshida jederzeit willkommen, sei es als Student, Professor, Auftragsarzt, Privatdozent, Geheimrat, Chirurg, Gesundheitsminister, oder einfach nur als lernbegieriger Zivilist. Ich musste ein wenig lächeln. Wer weiß, vielleicht zog es mich auch ganz einfach nur wieder dorthin. Ein Arzt ohne eine liebevolle Erinnerung an Gakoshida ist kein Arzt, sagte ein altes Sprichwort aus Kongoseki Oka. Kalliwoda machte große Augen, während Kurogane mal wieder nur ein verächtliches Schnauben hören ließ. "Na toll. Die Stadt der Korinthenkacker. Und was wollen wir dort machen?" Ich grinste meinen Leibwächter frech an. "Das lassen Sie mal meine Sorge sein, Kuro-ta! Sie fragen immer viel zu viel! Wollen Sie sich etwa die Überraschung verderben?" "JA, verdammt nochmal!! Allein der Teufel weiß, in was für eine Mistgrube Sie uns sonst wieder reinmanövrieren--..." Ich lachte. "Ich erzähl's Ihnen auf dem Weg, damit Ihnen nicht langweilig wird... vielleicht aber auch nicht!" "KLAPPE HALTEN!!" "Heeeey, sachte! Ich kann Ihnen schon mal soviel verraten, dass Sie bald um wertvolle medizinische Kenntnisse reicher sein werden, ist das denn kein Trost?" "Pfff... ich sterbe ja gleich vor Ehrfurcht..." Ich kicherte, während ich spürte, dass in in meinem Inneren die altbekannte Mischung aus Vorfreude und Beklommenheit aufstieg, die Mischung, die ich immer verspürte, wenn ich an Gakoshida dachte. Kurogane stieß einen bodenlosen Seufzer aus, anscheinend gelang es ihm nur schwerlich, seine Wut beiseite zu schieben. "Also, dann von mir aus. Ich bin hundemüde, ich habe Kopfschmerzen, ich habe seit Tagen nicht mehr gebadet und bin am Ende meiner Nerven, aber bitte sehr, dann torkeln wir jetzt eben nach Gakoshida." "Ich danke Ihnen für Ihre Toleranz!", witzelte ich und fing mir einen tödlichen Blick ein. "Dann mal los!" "Sie Idiot! Wir machen das aber auf Ihre Verantwortung, klar?!" "Was, schon wieder auf meine Verantwortung? Ich glaube nicht, dass Sie einen guten Familienvater abgeben würden, Kuro-ne..." "AAAARRGH!!" Plötzlich meldete sich Kalliwoda inmitten unseres Streits unvermutet wieder zu Wort. Er blieb mitten auf dem Weg stehen. "Eh-... signori... hier ist die Grenze." Wir drehten uns verwundert zu dem Kleinen um. "Die Grenze?" Der Uhgl Buhgl nickte. "Weiter kann ich nicht gehen, weil ich mich sonst teribellissimo verlaufen könnte. Ab hier müssen Sie jetzt wohl presto, presto alleine weiterlaufen. O Mio, wie das schmerzt." Ich blieb ebenfalls stehen, obwohl mein Leibwächter wieder entnervt brummte. "Wieso denn 'schmerzt', Kalli-kun? Glaubst du etwa, dass wir uns jetzt zum letzten Mal gesehen haben?" Ich legte überrascht den Kopf schief, als ich sah, dass es in Kalliwodas großen Knopfaugen feucht aufglänzte. "O Mio, signor Dottore, ich werde ja doch nur hierbleiben und der dumme Trottel sein! O Mio, o Mio, o Mio! Dabei hat es mir ja so vivace al fine gut gefallen, bei Ihnen zu sein! Sogar bei Ihrem furchtbarissimo Freund, obwohl er so pesante grob zu mir ist!" Ich musste unwillkürlich lächeln, während Kurogane ein verächtliches Ächzen von sich gab. "Kalli-kun!", sagte ich fröhlich, und der Uhgl Buhgl stieß ein überraschtes Quieksen aus, als ich ihn bei den moosfarbenen Zotteln nahm und hoch über meinen Kopf in die Sonne hielt, so wie ein Vater sein Kind hielt. "Was wirst du nun tun?" "Ich-... ja, ich--...", stotterte Kalliwoda und zog ganz überwältigt die Nase hoch, "Ich-... ich schreibe an meiner Oper weiter." "An deinem Traum?" Das Geschöpf sah mich aus großen Augen an. "An meinem Traum, si." "Weißt du noch, was ich dir darüber gesagt habe?" "Si." Ich lächelte den Uhgl Buhgl an. "Gib nicht auf." "D-das werde ich nicht, signor Dottore, versprochen." Stille. "Und wenn du mal nicht weißt, wie du heißt, denk an Musik", meldete sich Kurogane plötzlich von hinten, "Das hilft vielleicht." Nach einer Weile des Schweigens setzte er noch hinzu: "Und wir sehen uns wieder. Also zieh das durch." Kalliwoda machte so große Augen, dass wir uns beide mitsamt der blühenden Heide darin zu spiegeln schienen. Dann lächelte er. "Versprochen! Wir sehen uns wieder!" Kapitel 8: Cole et doce! - 1 ---------------------------- "Guten Abend, meine Herren!" Der langbeinige Albatros mit der blauen Zeitungstasche schenkte uns sein zuvorkommendstes Lächeln. "Wie wäre es mit bereichernder Lektüre für einen gehaltvollen Abend? Hier, die neueste Ausgabe der Healformation! Diesmal alles über Marinmedizin, nur drei Transkos das Stück! Na, Jungs, wie wär's?" "Oh, das klingt ja wundervoll!", entzückte ich mich und begann sofort nach dem Geldbeutel zu wühlen, "In Marinmedizin bin ich nicht sonderlich bewandert, da nimmt man ja gerne jede Information, die man kriegen k--..." Bevor ich meinen Satz allerdings auch nur zur Hälfte vollenden konnte- geschweige denn es fertigbrachte, das Geld aus der Tasche zu holen- wurde ich plötzlich von hinten am Schlafittchen gepackt wie eine junge Katze. "Wir kaufen nichts!", keifte eine erboste Stimme über mir, zwei prankenhafte Hände packten mich unter den Achseln und schleiften mich kompromisslos von dannen. "Aber Kuuuroooo-pyoooon!!", protestierte ich sofort lauthals und zappelte wie verrückt mit den Beinen, was allerdings nicht den geringsten Effekt zu haben schien, "Es ist doch nur eine Zeitung! Lassen- Sie- mich- looooooooos!" "Darauf können Sie warten, bis Ihnen die Haare aus der Nase wachsen!", kam es sofort gereizt bellend zurück. "Aber ich kenne mich in Marinmedizin wirklich nicht so gut aus! Und es sind doch nur drei Transkos!" "Das sind genau drei Transkos zuviel! So einen Wisch sollte man als Toilettenpapier benutzen!" "Haaaach!", empörte ich mich und ging bald vom Beinzappeln zum Armwedeln über. Aus dem Augenwinkel konnte ich mühelos mitverfolgen, wie sich der Großteil der Leute und der zahllosen unterschiedlichen Wesen auf der abendlich beleuchteten Straße verwirrt nach uns umdrehte. Naja, nicht verwunderlich eigentlich. "Wenn Sie mich dann bald mal loslassen würden? Wo sind Ihre Nerven aus Stahl geblieben?" "Die hab ich wohl irgendwann während der fünf Stunden verloren, in denen wir über die Landstraße getrottet sind und Staub gefressen haben!", knurrte mein Leibwächter retour, während er mich so plötzlich aus seinem Schlepptaugriff entließ, dass ich erst einmal wie ein Kartoffelsack zu Boden polterte, bevor ich mich wieder aufrichten konnte. Kaum hatte ich es geschafft, knallte ich fast von hinten auf Kurogane drauf, weil er mitten auf der Straße stehengeblieben war, offenbar, um sich einen Rundumblick zu verschaffen. "Okay. Zumindest sieht's so aus, als wären wir am Ziel." "Jepp! Das ist Gakoshida!", trällerte ich fröhlich und breitete meine Arme zu einer weiten Geste aus, die die ganze, weitgezogene Fußgängerzone umfasste, auf der wir uns gerade befanden, "Die Versammlungsszene der Wissenschaft schlechthin, sogar auf internationaler Ebene! Fünfzigtausend Einwohner, aufgeteilt auf etwa fünfzig Gattungen!" "Sieh an. Los, erzählen Sie mir mehr, dann haben Sie wenigstens was zu tun." "Gakoshida gilt seit etwa knappen hundert Jahren als eine der bedeutendsten Bildungs- und Kulturzentren dieses Landes", legte ich sofort los, "Grob geschätzt gibt es hier Universitäten für mehr als zweihundert Wissenschaftszweige, Universalmedizin- mein Spezialgebiet- ist nur einer davon. Jede Uni ehrt durch ihren Namen einen bedeutenden Wissenschaftler der Weltgeschichte. Außerdem sind die Stadtviertel hier nach Studienzweigen unterteilt, es gibt auch ein 'medizinisches Viertel'. Obwohl hier knapp gerechnet fünfzig unterschiedliche Gattungen leben, studieren und trainieren, hat man sich auf einen einheitlichen Architekturstil geeinigt. Jede Universität hat ihr eigenes Studentenheim und ihr eigenes Campus." "Und diese Dinger da?", erkundigte sich mein Leibwächter und deutete über die Schulter. Ich reckte den Hals. Es waren zwei ungewöhnliche Vorrichtungen aus Plexiglas, jeweils eine an der linken und rechten Seite des Bürgersteigs, die Kuroganes Aufmerksamkeit erregt hatten. Sie zogen sich- fast wie eigenständige, eingeglaste Straßen- über die ganze Länge der Straße hinweg und verflochten sich ebenfalls wie die Fußwege in unzählige Kanäle, die etwa eineinhalb Meter über dem Erdboden standen und in jegliche gewünschte Richtung führten. Das Innere der langen, geräumigen Röhren war hell angeleuchtet und mit pulsierendem Wasser gefüllt. Direkt unterhalb dieser maritimen Straßen flossen breite Kanäle mit dunklerem Wasser, zu denen immer wieder Treppen hinabführten. Kleine Kais säumten diese künstlich angelegten Wasserstraßen, an denen langgestreckte, dunkle Gondeln vertäut waren. Oft saßen junge, in rote Fräcke und schwarze Hosen gewandete Männer oder andere Wesenheiten direkt am Kai und sangen schwermütige Lieder, um auf sich aufmerksam zu machen. Im Insgesamten machten diese breiten Wasserstraßen mit den darüber schwebenden, hell erleuchteten Glasröhren einen leicht bizarren Eindruck. "Ach das! Das sind Vorkehrungen der Stadt, damit auch Wesenheiten hier in Gakoshida studieren können, die amphibisch oder ozeanisch veranlagt sind, also nicht über Wasser atmen können. Sehen Sie diese Röhren? Sie verflechten sich ebenso wie die Straßen und münden meist in die Kanäle darunter, auf denen die Gondeln fahren. Sie werden von den Meeresgattungen als Geh-, beziehungsweise Schwimmwege benutzt. Ganz Gakoshida ist mit solchen künstlichen Kanälen, Seen und Wasserfällen durchzogen, auch die Universitäten haben spezielle Vorlesesäle mit großen Aquarien darin, die man über diese Wasserstraßen erreichen kann. Und außerdem ist das auch eine beliebte Touristenattraktion hier- eine Gondelfahrt machen, sich dabei romantische Liebeslieder anhören, und als Bonus die über dem Kopf vorbeischwimmenden Meereskreaturen beobachten!", erklärte ich. "Wie kommt's dann, dass in dieser Röhre hier gerade so wenig los ist?", kam es stirnrunzelnd zurück. "Das kommt, weil viele der hier studierenden Seegattungen nachtaktiv sind", meinte ich achselzuckend, "Meist sind es Nixen, Nymphen, Undinen, Seepferde, Hydren und Medusenfische. Man wartet, bis die Unterwasser-Universitäten aufmachen." "Unterwasser- Universitäten?!" "Jepp! Im Zentrum von Gakoshida gibt es einen überdachten, künstlichen Wassergraben, der tief unter die Stadt führt. Es ist ein gewaltiges Unterwassergewölbe, das fast schon eine eigenständige Stadt repräsentiert. Dort unten gibt es etwa dreißig Universitäten speziell für Meeresbewohner. Man kann sie aber auch besuchen, wenn man ein Kiemenloser ist." "Ach ja?" Ich beobachtete vergnügt das nur mühsam verhohlene Staunen in den Augen meines Begleiters. "Was ist los, Kuro-myu, bleibt Ihnen etwa die Spucke weg?" "Bah!!", geiferte der Schwarzhaarige sofort, "Von wegen! Ich hab schon viel wildere Sachen gesehen! Jetzt erklären Sie mir lieber, was wir hier überhaupt wollen! Doch wohl nicht Gondelfahren?" "Nein, keine Sorge, ich dachte da an was ganz anderes", erläuterte ich, während ich mich wieder in Bewegung setzte und Kurogane in weitschweifigen Bewegungen hinter mir herlotste, "Und zwar, dass wir uns jetzt auf den Weg ins medizinische Viertel machen, dort zu einer der Universitäten gehen- ich dachte da an die Philius Argundus-Universität für Universalmedizin, das ist eine der Besten- und uns dort-..." "WAS?!!", fuhr mein schwarzhaariges Gegenüber sofort auf, "Ja sind Sie denn wahnsinnig?!! Sie wollen doch jetzt wohl nicht im Ernst noch zu einer Uni jappeln, um sonst was zu machen?! Es ist gleich neun Uhr am Abend, und wir haben noch nicht einmal eine Unterkunft für die Nacht, geschweige denn etwas zu essen!" "Ooooh, hat Kuro-pi etwa ein Loch im Bauch?", flötete ich kichernd und duckte mich gedankenschnell vor dem unweigerlich folgenden Faustschlag. "KLAPPE HALTEN!!" "Wird kaum möglich sein. Warum sorgen Sie sich nur immer so unnötig, Kuro-chan? Hätten Sie mich ausreden lassen, hätten Sie erfahren, dass das medizinische Viertel keine fünfzig Meter mehr entfernt liegt, und ich nur deshalb zu der Argundus-Universität will, weil jede Universität- wie ich vorhin gesagt habe- ihr eigenes Studentenheim hat, in das man aber auch als Nichtstudent einziehen kann, wenn man ein geringes Entgelt zahlt. Die Argundus-Universität hat- wie jede andere Uni hier- bis zehn Uhr geöffnet, also müssen wir nichts weiter tun, als dort reinzumarschieren, nach einem Gespräch mit dem Direktor zu fragen und ihn um ein Zimmer auf dem Campus zu bitten. Zufrieden?" Mit jedem Wort, das ich sagte, nahm ich Kuroganes Wut den Wind aus den Segeln, dennoch schien er nicht einfach so klein beigeben zu wollen. "Wir fragen nach zwei Zimmern!", knurrte er und starrte mich erbost an. "Kommt auf die Preise an!", gab ich kichernd zurück und wackelte provozierend mit den Schultern. "ZWEI Zimmer!! Noch eine Nacht halt ich Sie nicht im selben Raum aus! Zwei, verstanden?!!" "Werden seeeeeheeeeen!" Als ich sah, dass schon wieder diese Zornesader auf Kuroganes Stirn zu pochen begann, musste ich lachen. "Was ist los, Kuro-pyon? Wollen wir etwa Fangen spielen? Oh, das wäre eine Idee! Na los, fangen Sie mich! Wer zuerst an der Uni ankommt, darf bestimmen, wieviele Zimmer wir verlangen!" "ICH REISS IHNEN DEN KOPF AB!!" "Jaaaaaaa!", jubelte ich überglücklich und stob sofort los, um nur wenige Schritte später auch schon einen schwarzhaarigen Verfolger an den Sohlen zu haben, "Fangen Sie mich! Ich könnte singen!" "UNTERSTEHEN SIE SICH!!!" "I'm walking on sunshine, juuuuhuuuuuh", johlte ich automatisch aus vollem Halse, "I'm walking on sunshine, juhuuuuuuuh! I'm walking on sunshine! And don't it feel good? Hey!" "AAAAAAAAAAARRRRGH!!" Ich kicherte und gab ordentlich Hackengas. Ich riskierte fraglos mein Leben, aber auf diese Weise konnte ich Kurogane wenigstens noch ohne große Maulereien bis zur Universität locken. Wenn das mal gut ging. "Ist sie das?" "Ja", antwortete ich mit einem melancholischen Seufzen und breitete die Arme aus, "Das ist die Philius Argundus Sentas- Universität für Universalmedizin. Majestätisch, nicht wahr?" "Das ist Ansichtssache", meinte Kurogane achselzuckend. "Das haben Sie schön gesagt. Kommen Sie, lassen Sie uns reingehen!" Nachdem ich meinen Leibwächter erst einmal über einige schwierige Minuten hinweg davon abgebracht hatte, mir den Kopf abzureißen und diesen anschließend in einem der Wasserkanäle zu versenken, waren wir auf dem weitläufigen, nächtlichen Universitätsgelände der Argundus-Fakultät angekommen. Mein Herz machte einen unheimlichen Hüpfer, als ich es nach so vielen Jahren endlich einmal wieder zu Gesicht bekam. Es bestand in einem großen, glattgemähten Rasen, der von einer sauber gestutzten Ligusterhecke und einigen Holundersträuchen eingerahmt wurde. Zwei oder drei breite, kiesgestreute Wege führten durch ihn hindurch zum Eingang der Universität, und in seiner Mitte gurgelten zwei große Springbrunnen ruhig vor sich hin. An den äußeren Fußgängerwegen schlängelten sich die gläsernen Wasserröhren über den Rasen hinweg und mündeten in den zwei kreisrunden Eingängen an den Ost- und Westseiten des Gebäudes. Die Uni selbst hatte vom Äußeren her etwas von einer altgriechischen Stoa , wörtlich übersetzt 'Säulenhalle'; eine weitgezogene Treppe aus etwa dreißig Stufen führte zu ihren hohen, flügelartigen Eingängen mit den verglasten Torbögen empor, die alle in einem einzigen Gang lagen; an der obersten Treppe trugen fünfzehn korinthische Säulen ihren dreieckigen Vorbau, und auf dem höchsten Punkt des Giebels stand ein zweieinhalb Meter großes, steinernes Ebenbild ihres Patrons- Philius Argundus Sentas. Er hatte einen Kinnbart und eine eindrucksvolle Adlernase, und er trug die weite, betreßte Robe eines Professors der geheimen Wissenschaften. Eine Hand hatte er hoch über seinen Kopf erhoben, halb drohend, halb zum Gruß, während er in der anderen Hand ein großes Buch umschlossen hielt, um das drei Seeschlangen einen Ring bildeten. Zu den nackten Füßen des steinernen Mediziners lagen zwei marmorne Nymphen in solch eleganter, unterwürfiger Geste ausgestreckt, als wollten sie sich vor Argundus verneigen. Zwei Delphine, die jeweils ein großes, ahornhaftes Blatt in den Schnäbeln hielten, bildeten den äußeren Ring der Skulptur. In der Mitte des Giebels war Argundus' berühmtestes Zitat- und zugleich der Wahlspruch der Universität- in großen, römischen Lettern in den weißgräulichen Stein eingraviert: FELIX, QUI POTUIT RERUM COGNOSCERE CAUSAS. "Glücklich ist derjenige, der den Dingen auf den Grund gehen konnte", übersetzte ich meinem Leibwächter die Inschrift, während wir über den angenehm angeleuchteten Rasen auf die Treppen zupilgerten, die zum Eingang der Fakultät hochführten. Mein Herz fühlte sich mittlerweile an wie ein riesiges, schwirrendes Gummiband, mit jedem Schritt mehr, den ich weiterging. "Und was soll das ganze Meeresgetier um seine Füße?" "Argundus ist der Hauptgrund dafür, dass es das Ökosystem Wasser überhaupt noch gibt", erklärte ich, "Anno siebzehnhundertdreiundfünfzig, sagt Ihnen das etwas?" "Hm. Das Datum kommt mir bekannt vor. War da nicht irgendetwas mit einer Epidemie?" "Es war die größte Wasserepidemie seit vierzehnhundert! Die Beschaffenheit dieser schweren Seuche zu erklären, würde jetzt zu lange dauern, aber fest steht, dass fast sämtliche im Meer lebende Gattungen davon betroffen waren. Die Sterberate war am Explodieren. Und Argundus hat tatsächlich ein Heilmittel gefunden und diese Epidemie niedergerungen. Zwar nicht allein, aber er hat die entscheidenden Forschungen angestellt. Er war der Repräsentant der Meeresheilkunde schlechthin. Die Argundus-Universität ist zwar eine Fakultät auf universellem Gebiet, aber sie legt ihre Schwerpunkte hauptsächlich auf Marinmedizin." Während meines kleinen Vortrags hatten wir die obersten Stufen erreicht. Wir umrundeten eine der stattlichen Säulen und betraten das von außen hell angeleuchtete Gebäude. "Die Flügeltüren sind übrigens den Flügeln eines Engels nachempfunden- sie stehen für das göttliche Prinzip. Die unglaubliche Fülle und Vielfalt der Kreaturen, die diese Erde bevölkern. Es soll ein Tribut an jede Rasse dieser Welt sein." Mein Leibwächter sah mich mit gehobenen Augenbrauen an. "Woher wissen Sie das denn jetzt schon wieder?" Ich lächelte ein bisschen und hob den Kopf, um meinen Blick durch die weitläufige, hoch reichende Eingangshalle schweifen zu lassen, die so angenehm nach dunklem Timberholz und alten Buchseiten roch. "Früher hab ich hier studiert." Kurogane starrte mich aus skeptisch funkelnden Augen an, während ich mich in der Halle nach jemandem umsah, den wir zwecks eines Besuches beim Direktor ansprechen konnten. Am linken Flügel des Raumes war eine Unzahl an Treppen vorzufinden, die den Anfang der Korridore bildeten, welche wiederum zu den etwa vierzig Vorlesungssälen, Arbeitskammern, Kolloquiumsräumen und Aulen führte. Am rechten Flügel befanden sich die Gänge zu den Professorenbüros, zum Königreich des Direktors, zum Campus, und-... aaaah. "Sehen Sie mal, Kuro-mune, der Anmeldeschalter!", rief ich fröhlich und zerrte meinen Begleiter am Arm hinter mir her, "Da können wir sicher nach einem Treffen mit dem Direktor fragen!" "Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie hier studiert haben?!" "Spielt das denn jetzt eine Rolle?", gab ich verwundert zurück, "Ich denke, es ist jetzt wichtiger, dass wir an ein Bett-... ähhhh, natürlich an zwei Betten für die Nacht kommen!" "Sehr witzig", schnaubte der Schwarzhaarige gereizt, "Aber wieso haben Sie nicht--..." "Später", fuhr ich ihm in die Parade. Am Anmeldeschalter saß- oder besser stand- ein übermüdeter Sägezahn-Salbei in seinem Blumentopf und starrte uns aus rotgeriebenen Salbeiaugen an. Obwohl es schon später Abend war, trug er eine Sonnenbrille. "Guten Abend!" "Yo. Was'n los?", erkundigte sich der Salbei lahm und reckte uns seinen langen Rankenhals entgegen. "Aaaalso", begann ich und stützte mich bedeutsam auf dem Schalter ab, "Wir beide würden gerne den Direktor sprechen." Der Salbei blinzelte einige Male und schüttelte seine Blätter. "Mann, Alter. Das nenn ich knapp auf'n Punkt gebracht." "Naja, nicht ganz so knapp wie Sie." "Danke, Alter. Ich geb mein Bestes. Ihr Jungs wollt also zum Direx? Das dürft schwierig werden." "Warum denn?" "Najaaaaa, der olle Sack hat immer so derb viel zu tun. Mir würd da ja glatt der Arsch bluten, weißte." "Hast du denn überhaupt einen?", fragte Kurogane bissig. Ich stieß ihm entsetzt einen Ellenbogen in den Magen. "Aaaahahahh-... er hat das nicht so gemeint, er ist immer so, wissen Sie, er ist Choleriker--..." "WAS?!!" "Ihr seid mir vielleicht 'n süßes Pärchen", erwiderte der Salbei kopfschüttelnd, "Solltet mal zum Fernsehn." "Du solltest mal zum Fernsehen", schnappte mein Leibwächter, "Ist jeder Empfangsbubi in Gakoshida so?" "Nö, Alter. Der Direx hat mir die Nachtschicht aufgebrummt, weil ich so red. Der hat gesagt, wenn ich zu viele Leute empfange, denken die womöglich, die Uni wär inkompetent." "Wo er Recht hat...", knurrte der Schwarzhaarige, "Also, können wir jetzt zum Direktor? Es ist dringend." "Der raucht aber schon seine Bett-Zigarre." "Hat's also immer noch nicht aufgegeben", murmelte ich mit einem Schmunzeln vor mich hin. "Was?" "Ach, nichts. Kommen Sie schon, Sie könnten ja wenigstens versuchen, uns anzumelden!" "Von mir aus, Alter. Ich speede mal eben hoch zum Direx und frag ihn. Wenn er ja sagt, schickt er euch 'nen Professor runter, der euch dann hinbringt. Könnte aber sein, dass er euch abwimmeln lässt." "Ach ja?" "Ja, Alter." Ich lächelte und beugte mich vertrauensvoll zu der Kreuzung aus Säbelzahntiger und Salbeipflanze vor. "Wissen Sie was? Wenn der Direx das tut, müssen Sie ihm nur drei Sätze sagen, damit er uns empfängt." "Und wie gehen die, Alter?" "Sie sagen ihm ganz einfach: 'Guten Abend, Smoky. Die männliche Blondine wartet unten und will reingelassen werden. Ach und übrigens, wie geht's der alten Blutpumpe?'." Der Salbei starrte mich verwirrt an. "Und das reicht?" Ich musste unwillkürlich kichern, als ich schon wieder dieses bange Flattern in meinem Brustkorb spürte. "Ich schwör Ihnen beim Henker: das wird reichen." "Sie sollten nicht darauf schwören", grollte ich, "Das letzte mal bei dem Fusselwurm hat das auch nicht unbedingt geklappt." Kein Wunder, dass Fye so verrückt war, wenn er hier studiert hatte. Hier schien wohl jeder einen gewaltigen Sprung in der Schüssel zu haben. "Warum gehen wir nicht einfach dahin und fragen?" "Weil das unhöflich ist, Kuro-ron!", tadelte er und stieß einen Zeigefinger in die Luft, mit dem er vor meiner Nase herumfuchtelte, sodass ich Angst hatte, ihn ins Auge zu bekommen. "Na und? Es würde aber Zeit sparen", murrte ich zurück. Er verdrehte die Augen. "Jetzt haben Sie doch mal ein bisschen Geduld. Ich bin mir sicher – aaaaaah! Sehen Sie – da ist schon ein Professor. Der will uns sicher abholen!" Er deutete auf ein weißhaariges, sehr altes Fossil in abgetragenem beigebraunen Anzug, das sich sehr langsam auf uns zu bewegte. Ich ächzte. "Bis der hier ist, ist es übermorgen..." "Dann gehen wir ihm eben entgegen, kommen Sie", meinte er fröhlich und packte mich am Handgelenk, um mich hinter sich herzuschleifen. Vor dem Professor blieben wir stehen. "Guten Abend", meinte Fye, mit einem breiten zuvorkommendem Lächeln. "Sind sie der Professor, der uns zu Doktor Laurenzio Tunsa bringen soll?" Das Fossil schaute uns aus etwas trüb aussehenden Augen an, schien zu überlegen, ob das der Fall war und nickte dann bedächtig. "Jaaaa...", sagte er – ungefähr in dem Tempo, in dem er ging, also sehr, sehr langsam. "Saaaaaaagen Siiieeee, juuuunger Maaaaaaaan", fuhr er fort und blinzelte Fye an, "Keeeeeeenne ich Siiiiiie niiiiiiicht....?" Fye nickte begeistert und setzte zur Antwort an, doch ich ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Keine Unterhaltung, schon gar nicht mit diesem Urzeitwesen. "Das Büro finden wir sicher allein", grummelte ich und sah meinen Begleiter auffordernd an, "Sie haben ja schließlich hier studiert." Wenn uns dieser alte Professor dort hinführen sollte, kämen wir wohl schätzungsweise erst in hundert Jahren an – und das war mir definitiv zu lange. Ich hatte Hunger, ich brauchte eine Dusche, und vor allem wollte ich schlafen. Und der Blonde schien diesen Gedanken wohl auch zu haben und nickte. "Natürlich. Sehr nett von Ihnen, dass sie sich diese Umstände gemacht haben und hierher gekommen sind, aber wir finden schon allein hin", wandte er sich an das Urgestein, das wieder nickte. Bevor der Professor noch irgendeinen Satz anfangen konnte, was wohl wieder Zeit gekostet hätte, setzte ich mich in Bewegung. "Hey! Sie wissen doch gar nicht, wo wir hinmüssen... oder doch?", rief mein Begleiter und versuchte, mit mir Schritt zu halten. "Doch, Treppe hoch", antwortete ich knapp. "Richtig! Woher wissen Sie das?" "Weil der Professor da eben auch hergekommen ist..." "Was Sie alles mitbekommen, erstaunlich!" "Tsss...", machte ich. Ich bekam lieber mit, was um mich herum passierte. Alte Gewohnheit. Und recht praktisch, so bekam man kein Klavier auf den Kopf oder lief gegen irgendwelche Dinge. Wir stiegen die Stufen der leicht geschwungenen Treppe hinauf, um dann einen Gang zu erreichen, der mit einem blauem Teppich ausgelegt war und sich in zwei Richtungen erstreckte. Fye wandte sich zielstrebig nach links, und ich folgte ihm an einer Reihe von mahagonifarbenen Türen vorbei, bis er vor einer doppelten Flügeltür mit der Aufschrift 'Direktor' stehen blieb. Doch bevor er klopfte, drehte er sich zu mir um. "Kuro-chan, ich bitte Sie wirklich inständigst, sich zurückzuhalten, okay?" "Hnnnn...ich werd's versuchen", gab ich zurück. Fye grinste. "Wunderbar." Er wirbelte schwungvoll zur Tür herum und klopfte. "Herein!", tönte es von hinten, und er stieß die Tür auf. Der Mann, wohl etwa am Ende der Sechziger angelangt, der hinter dem schweren Schreibtisch am Ende des großzügigen, mit Schriften vollgestopfen Raumes saß, auf dem sich Unmengen an Papier und Bücher stapelten, blickte auf und schien – zumindest bei Fyes Anblick – fast einen Herzinfarkt zu erleiden. "Sie!!", japste er, "Was wollen Sie denn hier?“ Er schien Fye wirklich zu kennen. Allerdings hatte ich mir das Zusammentreffen der beiden irgendwie anders vorgestellt. "Jaaa: ich! Es freut mich auch sehr, Sie wiederzusehen!“, erwiderte Fye so überschwänglich und herzlich, dass es mich wirklich wunderte, dass er dem Universitätsleiter nicht um den Hals fiel. "I-ii-ich dachte, es wäre ein Scherz", stieß der Direktor ungläubig hervor, aber es klang eher so, als hätte er es gehofft. "A-also... was wollen Sie hier?", wiederholte er dann. "Ich war gerade hier in der Nähe, und da dachte ich..." "Von wegen in der Nähe!", zischte ich, "Jetzt machen Sie mal ein bisschen hinne, ja?" "Kuro-ne! Beruhigen Sie sich doch. Ach, bevor ich es vergesse...", er wandte sich wieder an den Direktor, "Das ist Kurogane Koimihari, mein Begleiter und Leibwächter. Kuro-chan, das ist Doktor Professor Laurenzio Tunas, Leiter dieser Universität." "Äh... g-guten Abend...", meinte der Universitätsleiter, etwas verwirrt, und ich nickte bloß knapp dazu, denn er schien sich sowieso eher wieder auf Fye zu konzentrieren. Ich fragte mich, warum er sich ihm gegenüber so misstrauisch- um nicht zu sagen panisch- verhielt, wohingegen Fye ungezwungen und richtiggehend entspannt dastand. "Aber um Ihre Frage zu beantworten: Wir wollten ein paar Tage hier in Gakoshida verweilen- und dafür brauchen wir ein Zimmer, am besten am hiesigen Studentenheim." "Zwei!" "… Zwei Zimmer. Und außerdem wollte ich fragen, ob ich ein paar der Campusbeete zum Pflanzen von Heilkräutern zur Verfügung gestellt bekomme. Wissen Sie, Professor, ich bin jetzt nämlich Auftragsarzt und mir gehen daaaaaaaauernd die Medikamente aus – da dachte ich mir, ich sollte mir einen Vorrat und ein paar Ressourcen anlegen. Und wo kann man am besten Heilpflanzen züchten, habe ich mich so gefragt und bin ganz schnell auf die Antwort gekommen: natürlich hier! Also sind wir extra hergereist. Wissen Sie, wir waren vorher nämlich in Kosumoni, die Uhgl Buhgls dort hatten eine Influenca! Aber das war noch harmlos im Vergleich zu dem Askaridenbefall bei den Harpyien, und..." Ich räusperte mich drohend, da er schon wieder unnütz herumpalaverte. Und der Professor schien diesen Redeschwall auch erst mal verarbeiten zu müssen. Das schien mein Begleiter aber als Möglichkeit zu sehen, weiter zu reden. "Nur, leider ist mein Problem, dass wir eine nur sehr geringe Barschaft haben und deshalb dachte ich mir: Fye, warum gehst du nicht zu deinem alten Freund und Direx und fragst ihn? Schließlich habe ich hier studiert und gehöre sozusagen zur Familie. Da ist dann sicher auch ein kleiner Rabatt drin..." "Ähem!", unterbrach diesmal der Direktor in ein wenig hergeholt klingender Autorität den Wortschwall des Blondlings, welcher ihn dann fragend angrinste. "Sie bekommen auf gar keinen Fall ein Beet! Und schon gar kein Zimmer!", sagte er dann, woraufhin Fye entsetzt den Mund aufklappte und er den Direktor mit großen Augen ansah. "Ja aber... ja aber, warum denn nicht?", jammerte er. In den Augen von Herr Tunsa flackerte es. "Das wissen Sie ganz genau! Ich hab Sie sicher nicht umsonst von dieser Uni geworfen!" Ich warf einen überraschten Blick zu meinem Begleiter hinüber und beobachtete, dass sein Kinn kurz zuckte. Interessant – er war also von der Uni geflogen? Hätte ich mir ja denken können. Nur warum, zur Hölle, hatte er mir das nicht erzählt – nicht dass mich das interessierte, aber das hätte uns einige Probleme erspart, weil ich ihn dann nämlich gleich zurück nach Uranoke Sho zurückgeschleift hätte. Soeben verfiel Fye in ein verlegenes Kichern. Es klang ein wenig herbeigezaubert. "Aber Herr Direktor! Das habe ich Ihnen doch schon damals erklärt! Hören Sie, ich habe wirklich nichts mit der Sache zu tun, so wahr wie meine Lunge für den Sauerstoff-Kohlenstoffdioxidaustausch in meinem Körper verantwortlich ist!" "Das behaupten Sie also immer noch! Das ist ja wohl die Höhe!" Mittlerweile hatte der Direktor seine anfängliche Hysterie abgelegt. Er war aufgesprungen und schien sauer zu sein. Ich fühlte mich irgendwie fehl am Platz und uninformiert – so wie meistens, seit ich mit dem Arzt unterwegs war. Allerdings machte sich keiner von beiden die Mühe, mich über den Sachverhalt aufzuklären. "Aber es ist die Wahrheit! Sehen Sie mir in die Augen, können diese Augen etwa lügen?", schnurrte er und starrte den Direx an, als wolle er diesen hypnotisieren. Das schien diesen aber eher kalt zu lassen, denn er erwiderte, während er unwillig mit der Hand in der Luft herumwedelte: "Das haben wir doch lang und breit diskutiert. Da ist nichts mehr dran zu rütteln!" "Das ist unfair!", schmollte der Arzt. "Naja, egal... kriegen wir nun die Zimmer oder nicht?" "Nein!", beharrte der Professor, und ich entschied, mich einzuschalten. "Hören Sie", blaffte ich, "Wir haben einen weiten Weg hinter uns, und dieser Kerl macht mich halb wahnsinnig mit seinem Gelaber, ich habe tierischen Hunger und will einfach nur noch schlafen, also geben Sie uns wenigstens für diese eine Nacht zwei von diesen gottverdammten Zimmern, oder ich vergesse mich!!" Den letzten Teil des Satzes knurrte ich nur noch, weil ich absolut keinen Nerv mehr hatte, weiter hier herumzustehen. Der Direktor zuckte erschreckt zusammen, anscheinend hatte er vergessen, dass ich da war. "Also?", hakte ich nach, als der Direktor immer noch keine Antwort gab. "Äh... Ihnen würde ich ja ein Zimmer geben", meinte er. "Das reicht mir ja", erwiderte ich. "Ich schlaf dann bei ihm", verkündete Fye und klopfte mir auf die Schulter. "VERGESSEN SIE'S!", fauchte ich ihn an. "Seien Sie nicht soooo!", jammerte er und zupfte an meinem Ärmel herum. "Oder kümmern Sie sich wenigsten darum, dass ich auch ein Zimmer kriege..." "Wieso sollte ich?!" "Weil ich sonst entweder bei Ihnen schlafen werde, mein Lieber, oder ich werde die ganze Nacht singend vor Ihrer Tür verbringen, auch wenn Sie mir Pest, Cholera und Tollwut an den Hals wünschen!" "Das tue ich sowieso schon! Aber noch lieber würde ich Ihnen den Kopf abreißen!" "Kommen Sie, das wollen Sie doch nicht wirklich," flötete er. "Und ob ich das will!" "Dann hätten Sie's schon längst getan, und- huuuh--" Er grinste schief, als ich ihn am Kragen packte, und hob die Hände. "Schon guuuuuuuuut, ich weiß ja, dass Sie's wollen!" "Meine Herren, ich bitte Sie...", meldete sich der Direktor zu Wort, sichtlich mit den Nerven runter, "Na schön, na schön, Sie kriegen ein Zimmer für diese Nacht. Aber selbstverständlich müssen Sie die Gebühr bezahlen..." "Oooooooh, Professor! Das ist so nett von Ihnen!", entzückte sich Fye. "Moment! Wir wollen ZWEI Zimmer, zwei!", sagte ich schnell. "Wenn Sie die bezahlen können, von mir aus auch zwei!" "Wie viel wäre das denn?", wollte Fye wissen. "Fünfzig Transkontinental-Dollar pro Nacht", erwiderte er. "Ohhh... äh, wie wär's mit fünfunddreißig?" Das war so ungefähr die genaue Summe, die wir noch hatten. "Für fünfundzwanzig bekommen Sie ein Zimmer", meinte der Direktor und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, "Wenn Sie nicht mehr haben, kriegen Sie auch keine zwei Zimmer." Er deutete auf Fye. "Seien Sie bloß froh! Eigentlich sollte ich Sie widerspruchslos vom Campus schmeißen, Sie Irrer!" Ich seufzte genervt. "Na schön, dann nehmen wir eben dieses eine Zimmer“, knurrte ich schließlich und funkelte Fye an, der meines Griffes wegen immer noch halb in der Luft hing, "Aber einen Mucks von Ihnen und ich murkse Sie ab, verstanden?!!" "Klar und deutlich, so verständlich, wie die Antikörper Viren bekämpfen! Könnten Sie mich dann runter lassen?", fragte er und deutete mit dem Finger nach untern auf den Boden. Ich ließ ihn los, und er richtete sein Hemd. "Ah, dann wäre das ja geklärt", meinte er und wandte sich an den Professor, der die fünfundzwanzig Transkos entgegen nahm, die Fye ihm abzählte und uns im Gegenzug einen Schlüssel überreichte. "Sollten Sie den Schlüssel verlieren, kostet Sie das fünfzehn Transkos für den Ersatz", ermahnte er uns. "Ja, ja", grollte ich und nahm die Schlüssel an mich. Dann wandte ich mich zum Gehen. "Auf Wiedersehen, Professorchen, bis morgen!", meinte Fye vergnügt und winkte ihm noch zu, bevor die Tür ins Schloss fiel. Durch die Tür konnte ich ein nervenschwaches Ächzen vernehmen. Unsere Wohnung war eine typische Studentenwohnung – sofern ich das beurteilen konnte, denn ich hatte noch nie in einer gewohnt – und lag im Wohnhaus Nummer Vier des Campus der Argundus-Universität für Universalmedizin. Nummer vier – das konnte doch nur Unglück bedeuten... Allerdings war diese Wohnung recht gemütlich und es gab ein vernünftiges Abendessen und eine Dusche. Das reichte schon mal, um mich ein wenig gnädiger zu stimmen und Fye legte es erstaunlicherweise wirklich nicht darauf an, dass ich ihm den Kopf abriss. Allerdings lag das wohl eher daran, dass er in Gedanken zu sein schien und ich würde den Teufel tun, das zu ändern, denn so hielt er wenigstens die Klappe. Nachdem ich also frisch geduscht hatte und vom Abendessen kein Krümel mehr übrig war, wollte ich nur noch ins Bett. Ich ging herüber ins Schlafzimmer – und da fiel es mir zum ersten Mal auf. Ein Zimmer hieß ein Bett. Oh nein! "Oh", machte Fye, der just neben mich getreten war. "Oooooooooh." "Ich schlaf auf dem Sofa", grollte ich sofort und wandte mich um. Er hielt mich am Ellenbogen zurück. "Aber warum denn? Ich hab nichts dagegen, wenn wir uns das Bett teilen..." "ICH ABER!" "... und das Sofa ist unbequem, glauben Sie mir! Ich weiß wovon ich rede! Sie werden kein Auge zutun..." "Das werde ich auch nicht, wenn ich die Nacht mit Ihnen in einem Raum verbringen muss!" "... und ich weiß wie wichtig ein gesunder Schlaf ist, ich hab schließlich studiert..." "Dann schlafen Sie doch auf dem Sofa!" "Nein, das ist unbequem, hab ich doch gesagt." "KLAPPE!" Ich funkelte ihn erneut an. "Ich will einfach nur schlafen und das werde ich auf dem Sofa tun, okay? Und wenn Sie mich nicht augenblicklich in Ruhe lassen und aus diesem Zimmer verschwinden, und zwar bis mindestens morgen früh, dann setze ich Sie vor die Tür!" "Ich wollte doch bloß..." "Nein!!" "Aber ich...." Ich stieß ein Zischen aus, dass einer Schlange wahrscheinlich Angst und Bange geworden wäre, und er zog hastig den Kopf zwischen die Schultern und nahm seine Hände von meinem Arm. "Schon gut... bin ja schon weg", maulte er beleidigt, "Kommen Sie mir morgen aber nicht mit Vorwürfen, wie hart das Sofa ist oder dass Sie schlecht geschlafen haben, ich habe Sie ja vorge-..." Ich schob ihn mit einem genervten Ächzen ins Zimmer und schlug ihm die Tür vor der Nase zu, bevor ich mich umdrehte und zum Sofa herüberstapfte, um mich darauf niederzulassen. Wirklich nicht allzu bequem, aber immer noch besser, als die Nacht im selben Raum – im selben Bett!! – mit ihm zu verbringen. Ich erwartete, dass die Tür wieder aufgerissen wurde, aber wundersamerweise geschah das nicht. Anscheinend hatte er meine Warnung kapiert. Sehr gut. Dann konnte ich ja vielleicht doch schlafen. Ich machte mich bettfertig und kramte eine der Campingdecken hervor. Es dauerte nicht lange, bis ich eine einigermaßen bequeme Position auf dem Sofa gefunden hatte und einschlief – gerade, als ich noch im Halbschlaf mitbekam, dass es draußen zu regnen anfing. Kapitel 9: Cole et doce! - 2 ---------------------------- Punktgenau neun Uhr am Morgen. Das Innere der Eingangshalle der Argundus-Universität schwirrte vor Leben. Hunderte von menschlichen, halbmenschlichen und nichtmenschlichen Studenten liefen, flatterten, krochen, hüpften oder schwammen geschäftig umeinander her, die meisten mit schweren Leder- oder Stofftaschen auf den Rücken, um pünktlich zu den ersten Sitzungen zu kommen, von denen die frühesten meistens zwischen halb zehn und zehn Uhr am Morgen begannen. Es verlangte ein enormes Maß an Geschicklichkeit und auch einen gewissen Ellenbogeneinsatz, um sich durch diese Masse aus Grünschnäbeln hindurch zu manövrieren- eine Kunst, mit der ich glücklicherweise immer noch vertraut war. "Guten Mooooorgen! Da sind wir wieder!" Der Sägezahn-Salbei am Empfang, der bis eben damit beschäftigt gewesen war, zwei Studenten mit Prospekten zu versorgen, blickte uns von seinem Posten aus mit schläfrig blinzelnden Augen entgegen. "Yo, Alter." "Was machst du denn noch hier?", fragte Kurogane ganz angewidert und gab endlich den Versuch auf, die tiefen Schatten unter seinen Augen wegreiben zu wollen, "Ich dachte, du hättest Nachtschicht?" "Hatte ich ja auch, Alter. Aber der Direx hat mir noch 'ne zweite Schicht an den Arsch geklebt." "Unser Mitleid hast du auf alle Fälle", versicherte ich dem langhalsigen Säbelzahngewächs, "Jedenfalls sind wir nochmal hergekommen, weil wir ein paar Informationen von dir brauchen, äh-... sag mal, wie heißt du eigentlich?" "Florian, Alter. Die meisten sagen Flori-rin zu mir." "Okay. Ich heiße Fye, und das ist Kurogane. Hör zu, Flori-rin, Kurogane und ich werden jetzt wahrscheinlich ein wenig länger in Gakoshida bleiben, aber weil wir im Moment finanziell ziemlich eng gegürtet sind, wollte ich dich fragen, ob's hier immer noch diese Stellenanzeigenliste für Jobmöglichkeiten innerhalb der Universität gibt!" "Klar gibt's die, Alter", nickte Florian und löste eine seiner langen, biegsamen Rumpfranken aus seinem Blumentopf, um damit eine der weiter oben gelegenen Schubladen zu öffnen und dort nach der Liste zu kramen. "Wollt ihr Jungs etwa 'nen Job hier an der Uni?" "Jepp!", trällerte ich wohlgemut, "Man neigt ja immer gerne dazu, das Naheliegendste zu nehmen, was? Und weil wir zwei hier an der Uni jetzt sowieso öfter zu tun haben werden, wollten wir auch gleich einen Job hier." "Wollen ist gut", knurrte Kurogane abfällig, "Mich haben Sie ja einfach dazu gezwungen!" "Warum denn gezwungen, Kuro-wan?", jammerte ich empört, "Ich hab Ihnen immerhin die Wahl gelassen!" "Bah!! Von wegen!", geiferte der Schwarzhaarige erbost, "Sie haben mich ja nur mal eben um zwei Uhr in der Nacht überfallen und mir beide Ohren fusselig gequatscht, was wir denn jetzt nur tun sollen, ach Gottchen, was denn nur, ach Gottchen! Auf diese Tour! Ich bin total erledigt! Und wenn Sie jetzt 'nein' sagen, hack ich Ihnen beide Hände ab!" Wo Kurogane recht hatte, hatte er leider recht- wir hatten uns dieser Jobfrage wegen die halbe Nacht um die Ohren geschlagen und ähnelten jetzt wahrscheinlich eher depressiven Poltergeistern als Menschen, oder einfach zwei begossenen Pudeln, weil wir heute morgen auf dem Weg zur Universität in eine Regenschauer der infernalischsten Sorte hineingeraten waren. "Es hätte doch auch ganz ruckizucki gehen können!", greinte ich und stieß meinem Begleiter einen Zeigefinger vor die Brust, "Sie hätten mich nur nicht andauernd mit Kissen beschießen müssen! Jetzt sind wir noch nicht einmal zwei Tage hier, und schon sind wir bei den ganzen restlichen Bewohnern zu Staatsfeinden erster Klasse avanciert!" "Das ist ja wohl Ihr Problem!", keifte Kurogane zurück, "Das hätten wir auch ganz einfach beim Frühstück regeln können! Immer brauchen Sie einen, der für Sie Kasperletheater macht, wenn Sie nicht schlafen können!" "Haaaach!!", stieß ich fassungslos hervor, "Dann können Sie sich ja mal zuerst Ihr Rumgeschnarche abgewöhnen!" "WAS?!! Ich schnarche nicht!!" "Ohhhh doch, wie ein Nilpferd mit einem Schinken als Kehlzäpfchen, ich habe fast kein Auge zugetan!" "ACH JA?!! Na, vielleicht liegt das ja an dem Umgang, den ich in letzter Zeit habe!!" "Wie bitte? Hach, Sie sind ja so ein Schuft!!" "Und Sie sind eine linke Bazille!!" Florias fragender Blick wanderte wie bei einem Tennisspiel zwischen uns hin- und her. "Mann, Alter. Was geht'n mit euch? Hat's gestern im Bett nich geklappt?" Kuroganes Gesicht nahm die Farbe eines frisch polierten Granny Smith-Apfels an. "KLAPPE HALTEN!!", keifte er den Sägezahn-Salbei an. "Oh, es war einfach grauenhaft!", seufzte ich mit übertrieben tiefer Schicksalsstimme dazwischen, "Und ich kauf ihm auch noch eine Prinzenrolle zum Frühstück, eine Prinzenrolle!" "KLAPPE HALTEN!!", keifte Kurogane mich an. Florian klappte der Mund auf. "Boah! Was'n Shit, Alter! Wie hältst du's mit diesem Kerl bloß aus?" "KLAPPE!!!", brüllte Kurogane völlig entnervt, diesmal an keinen bestimmten gerichtet, "Ich beschütze ihn, okay??! Deswegen hält er's mit mir aus! Ich will nicht die halbe Nacht über Blumenbeete, Samen und Unijobs gefachsimpelt haben, nur um mich jetzt hier heiser zu schreien!!" "Ist das süß! Ich beschützöööööö ihn!", gluckste Florian, "Okay, Alter. Hab's kapiert. Hier ist die Liste." Ich blinzelte meinen Leibwächter an, während dieser dem Säbelzahngewächs mit einem Knurren die Liste aus den Ranken riss. "Gottchen! War das Ihr Ernst?" "Ich rezitiere nur, was ich in meiner beknackten Berufsbeschreibung gelesen hab!", war die trockene Antwort, "Lesen Sie besser die Liste, ich kann mir keine Silbe daraus entnehmen. Und wählen Sie gefälligst was Gescheites!" Ich musste ein wenig kichern. "Okay, lassen Sie mal sehen!" "Gestern sind 'n paar gute Jobs freigeworden", erklärte Florian lahm, während ich mir den Wisch durchlas, "Kloputzer, Essensausgabe in der Mensa, Sekretär..." "Klingt nicht gerade nach etwas, für das man seinen Grips braucht", entgegnete Kurogane grollend. "Assistenten für Professor Shinsengumi gesucht", las ich laut vor, "Wöchentliches Gehalt dreißig Transkos... Chefredakteur der Universitätszeitung kurfristig krank geworden, Einsprungszuschlag von fünfundzwanzig Transkos... Archivsekretär, fünf Transkos die Stunde... hmmh... am besten wäre natürlich ein Job, bei dem man das Gehalt unmittelbar ausbezahlt bekommt..." "Dafür gibt's 'ne Extrarubrik ganz hinten", erläuterte Florian und zog seine Ranke wieder in den Blumentopf zurück, "Die sogenannten Gratia Honore -Dienste. Das sind aber meistens Jobs für die absoluten Cracks. Die packt 'n Normalsterblicher nicht. Würd ich die Finger von lassen, Alter." "Was meinst du mit Crack?", fragte mein Reisebegleiter, während ich unverzüglich nach hinten blätterte, "Und was bedeutet Gratia Honore?" "Um der Ehre willen", übersetzte der Sägezahn-Salbei, "Und mit Crack mein ich die Vollchecker. Übelster Hardcore, Mann. Bildung und so. Die volle Dröhnung." Bedächtig wanderten meine Augen über die Zeilen- bis sie auf etwas stießen. Ich fühlte mein Herz einen pochenden Aussetzer machen. Ah-... "Okay", brummte Kurogane, "Jetzt bin ich so schlau wie vorher, danke." "Mann, Alter, ich kann dir nur verticken, was ich weiß." "Jaaaaaaaaaa!", jubelte ich plötzlich auf, sodass der Schwarzhaarige zusammenfuhr wie vom Fisch gebissen, "Jetzt haaaaaaaaaaaaab ich's! Das ist der ideale Job!! Das ist ideal im Quadrat! Einfach oberideal! Kuro-chin, Sie werden mir's nicht glauben! Ich habe unsere Rettung entdeckt!! Ich bin ja so überdimensionalisiert genial!" "Jesus, Maria und Josef", ächzte mein älteres Gegenüber, "Okay, ich bin auf's Schlimmste gefasst! Herzeigen, aber dalli!" Mit einem breiten Grinsen drehte ich die Liste um und zeigte auf die Anzeige, die meine Begeisterung entfacht hatte. "Hier! Lesen und jubeln Sie!" DRINGEND!!! Universitätsdozent für Vorlesungen Per Corpore gesucht! Unmittelbarkeitsgehalt von 15 TRANSKOS, gerechnet nach Vorlesungen, MELDEN BIS SPÄTESTENS 13.04.!!!!! Okay – es war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Was wohl auch zu seinem Glück war, denn sonst hätte ich ihn auf der Stelle umgebracht. Ich schlug mir ja nicht die Nacht um die Ohren, latschte durch strömenden Regen hierher und setzte mich mit einem komischen Gewächs am Anmeldeschalter auseinander, um dann womöglich noch Essen in der Mensa verteilen... Doch – eine Vorlesung halten, das war wohl dann doch eher was für ihn. Ich würde mich sicher nicht vor die Studenten stellen und mich zum Affen machen – das konnte der Blondling sowieso viel besser. Obendrein hatte ich keine Ahnung von Medizin, also könnte ich den Leuten hier wahrscheinlich auch überhaupt nichts beibringen. "Schön. Dann melden Sie sich dochdafür", meinte ich, "Ich werde mir sowas nämlich nicht antun." "Das hab ich mir auch schon gedacht, mein Lieber. Sie besitzen ja auch nicht so viel Wissen über Medizin wie ich- noch nicht!", erwiderte er. Dann wandte er sich wieder schwungvoll zu dem Salbei um. "Also, wir wollen noch mal zum Direx, geht das?" "Kommt drauf an, Alter. Der is sicher derbst beschäftigt, Mann! Das ist voll das Arbeitstier, ich sag's dir!" "Aber es ist driiingend", beharrte Fye und das Grünzeug zuckte mit seinen Ranken. "Ihr könnt's ja mal versuchen, Kollegen, aber ich glaub der schmeißt euch eher raus, als ihr checkt was los is", meinte er, "Und, mal ganz unter uns, Alter: der Direx scheint so 'n bisschen groggy, seit ihr da wart. Was habt ihr mit dem Alten gemacht, Mann? Der is völlig down! Panik und so!" "Wir haben gar nichts gemacht!", versicherte Fye ihm mit der lautersten Unschuldsmiene, "Vielleicht hat er einfach vor Freude keine Ruhe mehr... !" "Hm?! Check ich nicht... na, egal. Dann lass uns mal losziehen, ich bring euch hin, Kollegen. Eigentlich darf ich hier ja nich weg, neh, aber ich brauch unbedingt mal 'n bisschen Schwung, sonst penn ich noch weg und ich hab null Bock auf noch 'ne Schicht." Skeptisch beobachtete ich, wie sich der Salbei unter einigen Mühen aus der Erde seines Blumentopfes erhob- untenrum war er so etwas wie ein grüner Ballon aus Pflanzenhaut, umschwebt von zahllosen dünnen Ranken- und uns zunickte. "Auf geht's, Kollegen." Schon bald standen wir wieder im Büro des Dekans, der sich definitiv nicht freute, uns zu sehen. Zumindest nicht, nachdem Fye ihm verkündet hatte, dass wir noch etwa eine Woche bleiben wollten- es war eher das Gegenteil der Fall. "Ich habe Ihnen doch gesagt, mehr als eine Nacht ist nicht drin!", tobte er und war schon hochrot angelaufen, während er auf seinen Schreibtisch hämmerte, als wolle er diesen zu Kleinholz verarbeiten, "Also, verschwinden Sie auf der Stelle oder ich rufe den internen Sicherheitsdienst, damit er Sie rausschmeißt. Florian, was fällt Ihnen ein, die hier raufzubringen?! Ich hatte doch ausdrücklich gesagt, dass ich beschäftigt bin!", fuhr er den Salbei an, der sich automatisch duckte und tatsächlich rot anlief. "Sorry, Boss, aber die beiden waren echt hartnäckig, ich schwör! Ich hatte echt keine Chance, Mann, die haben mich hier hochgeschleift--", antwortete er, "Äh... ich... mach mich dann mal wieder unsichtbar und düs ab auf meinen Posten. Bis dann-..." Damit war das Grünzeug auch schneller verschwunden, als man gucken konnte. So ganz bekloppt war die Topfpflanze also doch nicht – der wusste wenigstens, wann man sich besser zu verdünnisieren hatte. "Wir wollen ja auch gar nicht lange stören, Herr Direktor", säuselte Fye gerade, "Wir wollen lediglich ein Beet und ich wollte mich für die Stelle als Unidozent bewerben", fügte er hinzu und hielt dem Direktor den Zettel unter die Nase. Der keuchte, als hätte ihm jemand einen Stoß vor die Brust verpasst. "D-das geht nicht!", presste er hastig hervor. "Ach? Warum nicht, ist die Stelle etwa schon weg?", erkundigte sich Fye, "Das ist aber schade, tja, dann müssen wir uns woh-..." "Nein! Aber die Einheit, über die zu dozieren wäre, beginnt erst jetzt! Ich kann Sie doch da nicht dazwischenpfuschen lassen!", fiel ihm der Direktor panisch ins Wort, "Schon gar nicht, wenn es dabei um die Familie der Angeli geht!" "Oooh! Sie meinen-... Sie meinen Engel? Ist das Ihr Ernst??" , rief Fye sofort begeistert aus, "Aber das ist doch gar kein Problem! Wissen Sie, ich wollte schon immer mal eine Vorlesung über Engel halten! Sie sind sooo geheimnisvoll und... und außerdem, dann ist es doch perfekt, wenn die Einheit gerade erst losgeht! Außerdem, habe ich diesen Kurs mit Bestnoten abgeschlossen, und--..." "I-I-ich werde Sie auf keinen Fall auf meine Studenten loslassen!", japste der Direktor mit hysterisch bebender Stimme, "Und jetzt gebe ich Ihnen einen guten Rat: Gehen Sie oder ich hole den Sicherheitsdienst!" "Aber Direktor, beruhigen Sie sich doch! Ihr Herz, Sie wissen doch, das ist nicht gut, wenn Sie sich unnötig aufregen! Apropos Herz, da fällt mir ein, Sie schulden mir noch was!" Er strahlte den Direktor an, als hätte er ihm eröffnet, dass er gerade eine Millionenerbschaft gemacht hätte. Der Direktor ächzte nur. "Das ist Erpressung...", stieß er hervor und ließ sich wie ein Kartoffelsack auf den Stuhl zurückfallen. Ein langes, ziemlich unangenehmes Schweigen verging, bis er sich wieder regte. "Also schön...", seufzte er, als würde ein zwanzig Tonnen-Gewicht auf seinen schmalen Schultern lasten, "Dann kriegen Sie halt ihr Beet und von mir aus auch diesen Job..." Seltsamerweise schien Fyes- für mich mal wieder völlig unverständlicher- Einwand gereicht zu haben, um den alten Sack zu überzeugen. In einer fahrigen Bewegung griff er in die oberste Schublade seines überladenen Schreibtischs und förderte ein lausfarbenes Portfolio mit mehreren eng bedruckten Dokumenten darin zutage, um es meinem Begleiter zuzuwerfen. "Hier. In diesem Portfolio finden Sie alles, was Sie benötigen. Verwaltung, Quellen, Termine, und so weiter. Aber jetzt lassen Sie mich um Himmelswillen endlich in Ruhe, sonst erleide ich noch einen Herzinfarkt!" Ich konnte wirklich nachvollziehen, wie er sich fühlte. Passierte mir ja auch stündlich... Fye rollte das Portfolio zusammen und schenkte dem Direktor ein zuvorkommendes Lächeln. "Danke sehr! Sehen Sie, und schon sind wir auch wieder weg! Ach, bevor ich es vergesse, wir bleiben natürlich länger – aber die Zimmermiete zahlen wir bei Abreise." "Ja, ja! Aber jetzt verschwinden Sie endlich!" "Bis daaahaaaann!", flötete er und wandte sich zum Gehen, "Kommen Sie Kuro-pyon, jetzt haben wir schließlich einiges zu tun!" "Ich hab's kommen sehen...", knurrte ich, während ich ihm aus der Tür folgte. Ich würde lieber noch eine Weile schlafen gehen... "Aber schießen Sie doch erst mal los. Wieso sind Sie von der Uni geflogen und was ist das für ein Gefallen, heh?" Bestimmt wieder was illegales... und ich wollte darauf vorbereitet sein. Der Blondschopf jedoch gab keine Antwort, sondern hatte seine Nase in dem Portfolio des Direktors vergraben. "Ah, sehen Sie mal, Kuro-chiimu! Die erste Vorlesung beginnt um ein Uhr mittags... das bedeutet, wir haben jetzt noch knappe drei Stunden für die Vorbereitung!" "Hallo? Ich hab Sie was gefragt!" "... und hier ist sogar eine Liste mit Büchern, die gute Quellen bieten! Also, dann würde ich vorschlagen, wir zwei sausen jetzt erst mal ganz gepflegt in die Universitätsbibliothek und schauen, was wir alles herausbekommen! Und dann sollten wir am besten noch in den Keller, dort werden nämlich die Toten für die Vorlesungen Per Corpore, wörtlich 'Vorlesungen am Körper' aufbewahrt. Und später können wir uns dann auch schon um unser eigenes Pflanzenbeet kümmern!" Der Blondling strahlte mich an wie konzentriertes Uran, und ich gab es auf, weiter fragen zu wollen. "Sie machen ja doch, was Sie wollen." Donk. Donk. Donk. Meine Fingerknöchel schmerzten, als ich dreimal kräftig an die schwere Tür aus kalt funkelndem Titan klopfte. Wenige Sekunden später wurde der Durchgang zu den Universitätskatakomben mit einem ohrenmarternden Quietschen von innen aufgeschoben. Ein zaunsteckendürrer junger Mann mit zerzausten, schwarzen Haaren, einer vernickelten Brille auf der Nase und dem typischen weißen Kittel der Konservatoriumsverwalter starrte uns hinter der Tür hervor fragend entgegen. "J-ja?" "Guten Taaag!", trällerte ich überschwänglich, "Ist dies hier der Eingang zu den unterirdischen Gefilden der Universität?" Hinter dem bebrillten Spargeltarzan tauchte ein zweiter junger Spund auf, auch schwarzhaarig, weiß bekittelt und sehr mager geraten, aber ohne Brille- und offenbar von einem etwas entspannteren Wesen. "Völlig richtig. Können wir Ihnen behilflich sein?" "Das können Sie durchaus!", erklärte ich freundlich, "Wissen Sie, mein Begleiter hier und ich sind vor wenigen Stunden-..." "Sie sind", knurrte Kurogane, sodass ich mich schleunigst korrigierte, "Ähhh, okay, ich bin vor wenigen Stunden von Herrn Tunas zum Ersatzdozent für einige Vorlesungen Per Corpore in der Einheit Angeli auserkoren worden, und wollte daher fragen, ob ihr Jungs da vielleicht etwas für uns habt, immerhin ist es eine Vorlesung 'am Körper'..." "Ah, verstehe, Sie wollen sich mit dem Vorführobjekt vertraut machen", sagte der Brillenlose und kratzte sich am Hinterkopf, "Nun, da haben wir tatsächlich was für Sie. Kommen Sie rein, wir bringen Sie ins Konservatorium. He! Sag doch auch mal was!" Er rammte seinem bebrillten Genossen einen Ellenbogen in die Seite, sodass dieser zusammenfuhr. "'Ähm, 'tschuldigung-... ja, ähh, folgen Sie uns einfach!" "Gern! Vielen Dank! Mein Name ist übrigens Fye de Flourite, und mein Kompagnon hier heißt Kurogane Koimihari!", stellte ich uns vor, während wir das klirrend kalte Innere der Kellerareale betraten und sich die Titantür hinter uns schloss. "Ich bin Domeki, und der da heißt Watanuki", gab der Schmalhans zurück, während er die Tür wieder verriegelte und die schmiedeeiserne Treppe hinabstieg, die uns zu den tief unter der Erde gelegenen Leichenkellern bringen sollten. "Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen, dass ich nicht der da bin?!", fauchte die Brillenschlange gereizt. "Jetzt reg dich doch mal ab", war die geseufzte Antwort, "Du bist immer so abnormal neurotisch!" "Bin ich nicht!!" "Ach ja, und wer macht sich ständig ins Hemdchen, wenn er mal wieder Geister im Keller sieht?" "Aber da sind wirklich Geister, wann kapierst du's endlich?!" Ich blinzelte und sah Kurogane von der Seite an, welcher ebenso befremdet zurückblinzelte. Es war zwar nur ein altes Vorurteil, dass die Jungs, die in den Leichenkellern der Universität ihre Groschen verdienten, allesamt einen gewaltigen Knacks hatten- aber diese beiden Kerle bestätigten dieses Vorurteil leider nur. "Ähm-...", schaltete ich mich daher dazwischen, "Sagt mal, Jungs, darf ich fragen, woher ihr diesen Engel eigenlich habt?" "Unser Bergungsteam hat ihn an der Küste zwischen Uranoke Sho und Yakitaito gefunden!", posaunte Watanuki sofort und warf sich in die Brust, dass es knackte, "Und das Beste ist, dass er nahezu unverletzt war, von ein paar Kratzern mal abgesehen!" Ich hob fragend die Augenbrauen. Domeki bemerkte es und zuckte die Achseln. "Es kam uns auch sehr merkwürdig vor. Es ist ein gerade erst geschlechtsreif gewordenes Weibchen. Wir haben am Strand sofort eine Untersuchung mit ihr durchgeführt, aber wir konnten die Todesursache nicht feststellen. Das Engelsweibchen ist- wenn man mal von der Tatsache absieht, dass sie mausetot ist- vollkommen gesund." Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Kuroganes Kinn ein wenig zuckte. Domeki warf uns einen Blick über die Schulter zu. "Dieses Phänomen ist in der Natur ab und zu anzutreffen. Aber was mich dabei stutzig macht, ist der Fakt, dass immer öfter tote, aber völlig unversehrte Engel an den Küsten gefunden werden." Ich konnte spüren, wie mein Herz einen flatternden Satz machte, aber ich kam nicht mehr zu einer Antwort, da die Stufen uns nun in einen breiten, bleich erleuchteten Gang führten- der Leichenkeller der Universität, auch 'Konservatorium' genannt. Viele weiß verchromte Türen lagen an dem langen, steril wirkenden Korridor an, an der Decke summte ununterbrochen ein Kühlsystem, und die Wände waren von vorn bis hinten mit schweren Aktenschränken zugestellt. Ein paar andere Konservatoren waren auf dem Gang zu sehen, offenbar alle auf das Betriebsamste beschäftigt. "Kommen Sie, hier entlang. Unser Prachtexemplar hat eine Konservationskammer ganz für sich allein", erklärte Watanuki, während Domeki in seiner Kitteltasche offenbar nach einem Schlüssel wühlte. "Ja, aber-... aber was soll das heißen, es werden immer mehr tote Engel an den Küsten gefunden?", hakte ich nach. "Es sind auf jeden Fall mehr als sonst", meinte der schwarzhaarige Schmalhans und zog den notwendigen Schlüssel aus seiner Tasche, "Wenn man bedenkt, dass man heute noch nicht weiß, wo die Gattung der Engel überhaupt lebt!" Ich hielt die Luft an, als wir schließlich vor einer mehrfach abgeriegelten Tür zum Stehen kamen. Es war mittlerweile so kalt, dass unser Atem in Form von Dunstwolken über unseren Köpfen schwebte. "Hier wären wir. Kammer fünfunddreißig", sagte Domeki, bevor er den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Ein Schwall von Kälte drang uns entgegen, als der junge Konservator die Titantür aufzog und uns hineinlotste. Die Konservationskammer hatte- wie jede andere auch- einen großen, metallenen Seziertisch in seiner Mitte, mehrere Schränke mit Leichensäcken, Sezierinstrumenten und Konservationschemikalien, ein Waschbecken, ein eigenes Kühlsystem- und den Leichenschrank. Er war aus hellgrauem Edelstahl, etwa drei Meter lang und hatte eine große Zugklappe, mit der man den Schrank öffnen und die darin untergebrachte Kreatur herausholen konnte. "Aufgeregt?", fragte ich meinen Leibwächter aufgeregt, während sich Watanuki und Domeki Latexschuhe anzogen und die Zugklappe öffneten, "Immerhin bekommen Sie nun einen richtigen Engel zu Gesicht, Kuro-mune!" Mein Leibwächter zuckte die Achseln. "Hab schon öfter Engel gesehen", lautete seine knappe Erwiderung. "Wa--... was?", stieß ich mit großen Augen hervor, "Sie haben tatsächlich schon einmal--..." "Ist 'ne lange Geschichte." "Ist das denn ein Grund, sie unerzählt zu lassen?", wollte ich wissen. Als mein Begleiter nicht antwortete, gab ich es auf, ihn zum Reden bringen zu wollen und rieb mir voller Vorfreude die Hände, als die zwei Konservatoren einen großen, offenbar ziemlich schweren plastikenen Leichensack aus dem Schrank holten und ihn mühsam auf dem Seziertisch absetzten. "Bei dem Engel hier machen die Flügel den Großteil des Gewichts aus", erklärte Domeki, "Einen Moment noch, ich öffne den Sack." Watanuki gab ihm ein Messer, und er schlitzte den Sack mit zwei routinierten Handgriffen auf. Ich holte unwillkürlich tief Luft, als die beiden Jungs die Konservierungshüllen abzogen und ich unter dem durchscheinenden Stoff das kristallene Weiß der Engelsflügel aufleuchten sah. Nach und nach kamen Kopf, Rumpf, Taille und Beine des Engels unter den bleichen Leinen zum Vorschein. Mein Herz machte einen Satz, und ich spürte, wie mir die Augen aufgingen. Es war ein junges Engelsweibchen. Ihr bloßer Anblick, der sich uns nun endgültig offenbarte, war so schmerzvoll und zugleich von solch subtiler Schönheit, dass ich förmlich spüren konnte, wie sich mein Inneres gepeinigt zusammenkrampfte und gleichzeitig vor hilfloser Bewunderung zerfloss. Die Engelin lag mit gefalteten Flügeln auf dem Rücken, sodass ihre Wirbelsäule eine leichte Wölbung beschrieb. Ihre Arme hatte sie sanft über ihrer Brust verschränkt.In den sanften Zügen ihrer Halssehnen, den weichen Rundungen ihrer Hüften und dem milden Glanz ihres Haars lag eine Zartheit, die einen berührte und umfing wie die Arme eines Geliebten, und gleichzeitig solch eine beseelende, inspirierende Frische, dass es nicht schwer war, ihr Geschlecht eindeutig zu erkennen. Ihre Haut glänzte hell wie junges Elfenbein und hob sich gegen das stumpfe Grau des Seziertisches ab wie eine weiße, weit geöffnete Blüte in der Nacht. In den zarten, geschmeidigen Biegungen ihrer Zehen, dem Geviert aus Ellenbogen, Oberarm und Brust, und ihren leicht aneinander gelehnten Fingerspitzen verbarg sich ein Nimbus von solch virginaler Reinheit, so wie eine Perle sich im zärtlichen Mutterfleische einer Venusmuschel verbarg. Eine Reinheit, die sich umso lieblicher offenbarte, je länger man sich ihr öffnete. Ihr etwa hüftlanges Haar, ein Meer aus tausenden schimmernden Perlmuttfäden, lag um ihre zierlichen Schultern ausgebreitet, wanden sich an ihrem schlanken Hals entlang und kitzelten sanft ihr Gesicht, dieses Engelsgesicht mit den weichen Lippen, der hohen Stirn und den hellen, glänzenden Lidern, die auf einem Kranz hell durchscheinender Wimpern ruhten. Die mächtigen, momentan gefalteten Flügel des weiblichen Engels glühten perlweiß wie von einem inneren Feuer erhellt, und die Federn waren teilweise länger als mein ganzer Arm. Angesichts der bloßen, nackten Präsenz schien sich in der ganzen Kammer ein unsichtbares, sakrales Feuer zu entzünden. Mein Herz raste. "Seht euch das an", sagte ich leise, während ich mich in langsamen Schritten dem Seziertisch näherte und das Gesicht des Engels sanft in meine Hände barg, "Seht euch das nur an." Behutsam öffnete ich eines ihrer Lider, unter dem sich eine hell bernsteinfarbene Iris verbarg. In ihrer Mitte schimmerte die Pupille wie ein perlender Onyx. Ihr Haut schmiegte sich an meine Finger, dass es mir vorkam, als würde ich mit Seide verwobene Träume berühren. "Siebeneinhalb Meter Flügelspannweite", erklärte Domeki, der mit Watanuki ebenfalls nähergekommen war, "Und ein Meter fünfundsiebzig Körpergröße." "Sehr schön", sagte ich leise und strich dem Weibchen über den milchweißen Oberarm, "Sehr schön." "Müssen Sie denn so an ihr rumtatschen?", erkundigte sich Kurogane missmutig. "Also bitte! So ein Wesen berühren zu wollen, liegt doch in der Natur der Dinge!" Ich seufzte. Mein Leibwächter schaffte es mühelos, sogar den erhabensten Moment kaputtzumachen. Allerdings verwunderte es mich auch gewaltig, wie er es schaffte, angesichts einer fleischgewordenen Remineszens Gottes so ungerührt zu bleiben. Anscheinend ließ er sich von nichts beeindrucken- bisher deutete alles unweigerlich darauf hin. "Hat sie eigentlich noch Überbleibsel von Odor Angeli in den Flügelporen... ?" "D-... das wäre keine gute Idee", stammelte Watanuki schwach, "Sonst weine ich womöglich noch!" "Hören Sie besser auf ihn", riet Domeki, "Jedesmal, wenn er Odor Angeli zu riechen bekommt, ist es mit seiner Selbstbeherrschung am Ende. Und mit meiner übrigens auch." "Odor was?", fragte mein Leibwächter abschätzig dazwischen. Ich lächelte den Schwarzhaarigen an und legte den Kopf des Engelsweibchens behutsam wieder auf den Tisch, um ihren rechten Flügel zu greifen und ihn ein wenig auszustrecken. "Der Engelsduft, Kurogane. Der Duft des Garten Eden. Haben Sie noch nie davon gehört?" "Ein paarmal. In alten Geschichten und so." Ich nickte. "Das stimmt, der Engelsduft ist oft ein Bestandteil alter Legenden. Er verbirgt sich hier, in den Flaumfedern direkt unterhalb des Rückens. Er ist-..." Ich hielt in meinem Vortrag inne. "Wieso erzähle ich Ihnen das eigentlich jetzt? Sie bekommen es ja in einer Stunde sowieso zu hören!" "Verbazillter Idiot", knurrte Kurogane, sodass Domeki und Watanuki einen befremdeten Blick austauschten, "Sie sind wohl starker Anhänger der Methode des Totschweigens?" Ich lächelte fröhlich. "Genau wie Sie." Ein ziemlich unangenehmes Schweigen verging. Bis sich Domeki wieder zu Wort meldete. "Wenn Sie wollen, helfen wir Ihnen, den Engel in den Hörsaal zu transportieren. Zu viert geht es sicher schneller, außerdem ist der Andrang bei der Engelseinheit immer ziemlich groß. Dürfte Ihnen ordentlich Gehör verschaffen." "Wunderbar", schmunzelte ich und fuhr der Engelin über das schimmernde Haar, "Es würde mich sehr freuen." "Ich wollte aber schlafen...", maulte Kurogane, und ich lachte unwillkürlich. "Nichts da! Sie bleiben schön hier, ich habe nicht umsonst drei Stunden lang über alten Schinken gebrütet!" "Hnnnnhhh... von mir aus..." Ich lächelte. "Ich danke Ihnen!" Als ich jedoch wieder das liebliche, tote Gesicht des Engels musterte, spürte ich deutlich, dass da etwas war, das mir die Freude gehörig vergällte. Auf eine seltsame Weise schien ein Schatten über allem zu schweben. "Alles, was mich dabei stutzig macht, ist, dass immer öfter tote, aber völlig unversehrte Engel an den Küsten gefunden werden." "Wenn wir nur wüssten", murmelte ich leise und strich dem Geschöpf mit einem Zeigefinger über die perlweiße Wange, "Wenn wir nur wüssten, welches Geheimnis dein Tod verbirgt. Ja, wenn wir das bloß wüssten." "Schnell, jetzt beeil dich doch..." "Ich sitze schon längst! Komm, hock dich zu mir." "Okay-... he, siehst du den blonden Kerl dort vorne... ?" "Welchen?" "Den neben diesem schwarzhaarigen Ungetüm, das sich grad da in der ersten Reihe hinhockt." "Ja, seh ich... glaubst du, das ist unser Ersatzprofessor? Sieht mir 'n bisschen kauzig aus..." "Du sagst es. Wie alt der wohl ist? Scheint kaum älter aus als achtzehn zu sein..." Dieses und mehr erreichte aus der Runde der grünschnäbeligen Studenten meine Ohren. Ich lächelte freudestrahlend in die vielköpfige Gruppe- es mochten wohl etwa zweihundert Studenten an der Zahl sein- und schmunzelte innerlich, wenn ich einige Brocken ihrer gemurmelten Gespräche aufschnappen konnte, die sich hauptsächlich um meine dubiose Erscheinung und Zweifel an meiner Kompetenz drehten. Also nichts Neues soweit. Es dauerte seine Zeit, bis jeder Fusselwurm, jede Flederschlange, jede laufende Kaktee, jede Nixe, jeder Mensch und jedes sonstige Wesen seinen Platz gefunden hatte und das summende Stimmengewirr und Papiergeraschel endlich zum Stillstand gekommen war. Ich hatte am Pult Aufstellung genommen und warf noch einen raschen Blick zu Kurogane, der in der ersten Reihe neben einem bärbeißig wirkenden Walross Platz genommen hatte. Ich lächelte unwillkürlich, als er mir ein wenig zunickte. Solange er dabei war- und das war der eigentliche Grund, weshalb ich ihn überredet hatte, mitzukommen, wie ich mir innerlich eingestand- würde ich keine Patzer machen, da war ich mir aus irgendwelchen hirnrissigen Gründen felsenfest sicher. Als ich ebenfalls sicher war, die Aufmerksamkeit der Studenten zu haben, eröffnete ich schließlich das Duell. "Ladies and Gentlemen!", rief ich herzlich in die Runde, "Hallo und guten Nachmittag! Es freut mich außerordentlich, Sie alle zu Ihrer ersten Sitzung in der Einheit der Angeli begrüßen zu dürfen!" Ein wenig zögernd auf die Tischplatten klopfende Fingerknöchel von hunderten Händen war die Antwort. "Nun, um den Anfang gleich vorweg zu nehmen, bevor wir uns bereitwillig im wunderbaren Sumpf der Theorie versenken; einige unter Ihnen werden sich sicher fragen, wer zum Teufel denn dieser blonde Hallodri da vorne am Rednerpult ist! Was ist los, hat sich unser alter Freund Smoky jetzt etwa doch in den Himmel hinaufgequalmt?" Eine leise Kicherwelle brandete auf. Die Studenten lehnten sich in ihren Stühlen nach vorne, und das gefiel mir schon besser. Ich lächelte erneut. "Nun, um zu meiner schlichten Person zu kommen, mein Name ist Fye de Flourite. Ich bin Auftragsarzt und wollte mir einmal den kleinen Luxus gönnen, die hiesigen Studenten in die Tiefen der Engelskunde einzuweihen. Wenn ich Sie mir so anschaue, kann ich keine dummen Gesichter entdecken, und das gefällt mir mehr, als ich sagen kann, darum habe ich nur eine Bitte: seid nett zu mir und ich bin nett zu euch. Übrigens, für das heutige Mal sind Zwischenfragen noch erlaubt, also zögern Sie nicht." Die mittlerweile vollends mobilisierten Studenten kramten eilends ihre Stifte hervor, welche in neugieriger Schwebe über den Notizblöcken verharrten. Ich nickte Kurogane zu, und er schaltete die großen Bildschirme ein, die schräg an der Decke des Saals angebracht waren, sodass auch der hintere Teil des Auditoriums mühelos das Engelsweibchen sehen konnten, das Domeki, Watanuki, Kurogane und ich zu viert heraufgetragen und auf dem Seziertisch direkt hinter dem Rednerpult abgesetzt hatten. Ein lautes Raunen brandete unter den Studenten auf, als auf dem Bildschirm die lieblichen Körperformen des Engels aufflammten. "Ja, allerdings", sagte ich lächelnd, "Dies, meine Lieben, ist das, was in der Wissenschaft als Angelus, oder in den tieferen Wissenschaftskreisen auch als Angelus Caeli oder Angelus Angelus verzeichnet ist. Ein Engel. Das Exemplar, das wir hier sehen, ist ein vor kurzem erst geschlechtsreif gewordenes Weibchen, was Sie sicher an den Geschlechtsmerkmalen erkennen können, die analog zu denen des Menschen sind- Brust, Verhältnis von Schultern und Hüften, Genitalien, et cetera. Beim Verhältnis von Flügeln zur Körperlänge gibt es die beliebte Zwei in eins-Regel: die doppelte Körperlänge ist gleich der Länge eines Flügels. Dieses Exemplar ist etwa einsfünfundsiebzig groß; von Flügelspitze zu Flügelspitze misst er etwa siebeneinhalb Meter." Zustimmendes Gemurmel erklang im Auditorium, als die Schnellsten es rasch im Kopf nachrechneten. "Allerdings muss ich Sie enttäuschen; vieles- sehr vieles!- liegt im Bereich der Engelsforschung noch im Dunkeln und kann allenfalls ins Reich der wilden Theorien verwiesen werden. Zum Beispiel ist bis heute unbekannt, auf welchem Wege sich Engel fortpflanzen. Eine Theorie des Doktor Alexander Teophil Ysop beispielsweise besagt, dass Engel keine Säugetiere sind, sondern Eier legen, was auf ihre Vogelgene zurückzuführen ist. Eine Stütze dieser Behauptung ist der Fakt, dass weder weibliche noch männliche Engel eine Spur von Organellen aufweisen, die zur Nährstoffabgabe bestimmt sind. Wenn Sie sich die sekundären Geschlechtsorgane dieses Engelsweibchens hier ansehen, werden Sie merken, dass ihnen die beim Menschen typischen Knospen fehlen." Ich drehte den Engel behutsam ein wenig an der Hüfte und deutete auf die entsprechenden Stellen. "Das war nur ein Beispiel. Es ist allerdings noch weitaus mehr unbekannt- der Lebensraum, die Brutpflege, das Ernährungsschema und die interne Verständigung, um nur einige zu nennen. Auch weiß man nicht, woher Engel abstammen, und mit welchen Gattungen sie Verwandtschaftsverhältnisse hegen. Die Flügel weisen kein Merkmal auf, das auf eine Vogelgattung schließen lässt, und auch vom generellen Verhalten her können keine Bande geknüpft werden." "Ja, was weiß man denn dann überhaupt?", fragte das grobschlächtige Walross neben Kurogane laut. Ich grinste es breit an. "Eine treffliche Frage! Gut, dann will ich Ihnen hierüber ein wenig erzählen. Man hat in den letzten Jahrhunderten mehrere Entdeckungen gemacht, die uns Aufklärung darüber geben, weshalb Engel von jeglichen anderen Gattungen als eine höhere, quasi göttliche Rasse angesehen werden, Entdeckungen mit sogar höchst biologischen Erklärungen." Ich legte ein kleines Thermoscan-Pad auf die Kehle der Engelin und schaltete den rechten Bildschirm auf Thermofunktion um, sodass man nun einen rötlich schimmernden Querschnitt des Engelhalses sehen konnte. "Sehen Sie diese roten Linien? Das sind die Stimmbänder des Engels. Ich nehme an, einige von Ihnen kennen das berühmte Sonett Du lieblichste Fessel meines Herzens von William A. Vogelschreier?" Abermals zustimmendes Gemurmel. In den heutigen gesellschaftlichen Kreisen war dieses Gedicht so geläufig wie Fuchs, du hast die Gans gestohlen oder Bi-Ba-Butzemann. "Vogelschreier beschreibt in diesem Sonett seine Begegnung mit einem Engel, welches für ihn ein Erlebnis von solch sakrosankter Heiligkeit war, dass er für den Rest seiner Laufbahn als Dichter nur noch darüber schrieb. Die Zusammenfassung seiner Werke- die Amoenitas Caeli - nimmt dieses Sonett als sein Herzstück. 'Oh wie mir ging eine Schauder durch das Herze so bang, / Wie rieselt' es mir in mein verzücket Odem hinein, / Als deiner Stimme Götterchor für mich erklang, / So ward alles auf Erden Meiner umgeistert von göttlich' Schein!'," zitierte ich, "Kommt Ihnen bekannt vor, nicht? Vogelschreier stellt in diesen Versen die Wirkung einer Engelsstimme auf den Menschen dar. In unserem heißgeliebten Fachjargon ausgedrückt bedeuten sie nichts weiter als: der Engel erhob seine Stimme, und zack! auf einmal war es die reine Glückseligkeit. Auch, wenn es von Vogelschreier unbeabsichtigt war- das hat einen sehr komplexen, biologischen Grund: die Beschaffenheit des angelischen Kehlkopfs. Wie Sie wissen, ist der Kehlkopf- Larynx - hauptverantwortlich dafür, in welchen Lauten oder Tonhöhen sich ein Wesen artikuliert. Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen: ein Engel kann sich durchaus menschlicher Sprache bedienen, da seine Zunge groß genug für Artikulation ist, aber sein Kehlkopf sorgt dafür, dass diese gesprochenen Worte in einer ganz anderen Frequenz das menschliche Ohr erreichen, als eine Menschenstimme das tun würde. Es handelt sich um die sogenannte Engelsfrequenz, einem kaum wahrnehmbaren Schwingungsunterschied zu der Schallfrequenz des Menschen, die beim Erreichen des Trommelfells die Gehörhärchen auf eine Weise reizen, die bewirkt, dass die gehörbedingten Eindrücke nur in einen ganz bestimmten Gehirnbereich umgeleitet werden- in den Bereich, welcher hauptsächlich für die Glückshormone zuständig ist. Wird dieses Zentrum auf diese sanfte Weise von der Engelsfrequenz gereizt, schüttet es automatisch massig Endorphine und Oxycotone aus- die Glücks- und Kuschelhormone, die ein unglaublich intensives Empfinden von seliger Geborgenheit, ja nahezu von menschlichem Urglück auslösen. Und je mehr angelische Schallwellen den Menschen erreichen, desto stärker wird dieses Empfinden- eine chemische Spazierfahrt ins Paradies sozusagen." Ich blickte in die Runde und beobachtete, wie zahllose Kugelschreiber und Füller hastig über die Notizblockseiten flogen. "Allerdings", fuhr ich schließlich fort, "Kommt noch verstärkend hinzu, dass dieses 'Garten Eden'-Gefühl nicht allein durch den Gehörsinn unterstützt wird. Hinzu kommt noch ein geruchlicher Aspekt." "Odor Angeli?", warf ein hellblauer Fusselwurm mit einer schweren Hornbrille auf der Nase in den Raum. Ich zeigte ihm den erhobenen Daumen und beobachtete, wie sich Kurogane bei diesen Worten angespannt in seinem Stuhl aufrichtete. "Hundert Punkte für den Kandidaten! Es handelt sich bei diesem geruchlichen Eindruck um den wissenschaftlich als Odor Angeli bezeichneten Engelsduft- ein Körperduft, der jedem Engel offenbar von Geburt an anhaftet und in seiner genauen Zusammensetzung stark variiert. Zusammenfassend kann man jedoch sagen, dass viele ätherische, stark flüchtige Substanzen darin enthalten sind, die es dem Duft ermöglichen, sich über große Entfernungen auszubreiten. Man konnte mittels mehrer Sezierungen feststellen, dass das Produktions- und Ausstoßzentrum dieses Engelsdufts im unteren Rückenbereich eines Engels liegen, direkt an den Flügelansätzen. Dieser Umstand birgt einen zusätzlichen Vorteil, denn somit können Engel durch wiederholtes Flügelschlagen und Auszupfen von duftgetränkten Daunen unglaubliche Mengen dieser Engelspheromone freisetzen. Und die Wirkung an sich ist eines der unbeschreiblichsten Phänomene, die es auf dieser Welt gibt. Odor Angeli ist der Duft Gottes, meine Lieben", sagte ich mit einem Schmunzeln und beobachtete vergnügt, wie die Studenten große Augen machten. "Gibt es dafür irgendwelche geschichtlichen Hinterlegungen?", fragte wieder das fette Walross neben Kurogane. Dieser hatte wieder seinen Menschenfresser-Ausdruck im Gesicht, als hätte er im Moment kein stärkeres Verlangen, als seinem Nebensitzer einen rostigen Grillspieß in den Hintern zu rammen. "Natürlich gibt es die!", erwiderte ich fröhlich, "Anno neunzehnhundertfünfunddreißig. Alle unter Ihnen, die geschichtlich ein wenig bewandert sind, dürften mit diesem Datum etwas anfangen können." "War dasssss nicht die Zzzzeit der grossssen Piratenhinrichtungen?", fragte eine dunkelviolette Flederschlange in der dritten Reihe. "Ganz genau! Zu dieser Zeit, die für die Entdeckung des Engelsdufts solch eine prägnante Rolle spielt, fanden wahre Massenhinrichtungen von jeglichen Gattungen statt, die je etwas mit der Piraterie am Hut gehabt hatten- die Vereinten Landesregierungen sahen sich durch den enormen nautischen Krisenzustand dazu genötigt, sämtliche Sympathisanten der Piraterie hinzurichten, egal ob sie nun Piraten gewesen waren, einem Piraten geholfen hatten, oder das Wort 'Piraten' auch nur einmal benutzt hatten. Und am fünfundzwanzigsten Juni, als die bisher größte Massenerschießung stattfinden sollte- dreiundzwanzigtausend der Piraterie Bezichtigte sollten binnen einer Stunde hingerichtet werden- passierte es." Ich schloss die Augen und konnte zwischen halb geschlossenen Lidern hervor feststellen, dass mich die Studenten aus Augen wie Platztellern anstarrten. Die Frage, was denn jetzt passiert war, klebte ihnen förmlich an der Stirn. "Es geschah gegen Mittag. Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, wurden sämtliche Gefängnisse des Richtplatzes an der Küste von Kongoseki Oka geleert, und die dreiundzwanzigtausend Delinquenten wurden an den hunderten von Galgensträngen aufgereiht und an den fast kilometerlangen Mauern aufgestellt. Der Oberste Richter, der damit beauftragt war, alle Hinrichtungsaktivitäten zu überwachen, hat später berichtet, dass alles mit der großen Stille vor der ersten Erschießung anfing. Die Soldaten legten an und zielten. Das Opfer war ein erwachsener Mann- einer der wenigen 'echten' Piraten unter zehntausenden Unschuldigen. Die Sonne knallte vom Himmel herab, und es wehte ein leichter Westwind. Der Mann erwartete den Schuss- doch er kam nicht. Im Gegenteil, die Soldaten, die schießen sollten, bewegten sich nicht mehr. Die Gewehre zitterten in ihren Händen, und es war unglaubliche Regung auf ihren Gesichtern zu beobachten, die ganze Minuten lang dauerte. Dann begann plötzlich der Jüngste der Soldaten zu schluchzen, und brach in Tränen aus- ein weinender Soldat! Die Gefangenen verstanden die Welt nicht mehr. Aber nach und nach konnte jeder einzelne Mensch auf diesem Richtsplatz spüren, wie es ihm auf einmal so unglaublich weich im Inneren zumute wurde, wie er Lust bekam, die Welt zu umarmen und gleichzeitig all ihre Ozeane mit den eigenen Tränen anzufüllen, wie ihm zumute wurde, als müsse er sich in den Himmel hinein recken, weit nach oben, hinauf ans Licht. Zeugen berichteten später, dass man erwachsene Männer beobachtet hatte, die weinten wie kleine Kinder, gottlose Piraten, die sich auf die Knie warfen und lauthals Stoßgebete gen Himmel schrien, dass Menschen, die sonst nie auch nur ein Lächeln zeigten, sich in nicht zu beschreibender Verzückung wanden; aber in all diesem emotionalen Gewühl gab es eine Konstante: man war sich sicher, vollkommen sicher, dass der Messias im Begriff war, wieder auf die Erde zurückzukehren." Ich öffnete die Augen wieder. Mit einiger Überraschung bemerkte ich, dass mir die Studenten mit einem Ausdruck tiefer, unverhohlener Neugier und Bewunderung ins Gesicht sahen. Ich wusste nicht warum, aber ich hätte in diesem Moment nur zu gern Kuroganes Gesichtsausdruck gesehen. "Der Oberste Richter gelobte bereits eine Viertelstunde nach Eintreten dieses Wunders, dass sämtliche Gefangene freikommen würden", fuhr ich fort, "Und als er den Kopf zum Schwören Richtung Himmel wandte, sah er die Engel. Es war eine ganze Armada aus Engeln, die dreißig Meter über dem Gefängnis kreisten und durch den Flügelschlag ihren paradiesischen Duft mit dem Westwind schickten- und somit dreiundzwanzigtausend Delinquenten, darunter mindestens zweiundzwanzigtausend Unschuldigen, das Leben retteten. Sie sehen also- um die Sache wieder in einen etwas sachlicheren Rahmen zu bringen- zu welch unglaublichen Dingen die Chemie doch fähig ist. Beinahe wieder schick. " Ich schickte ein Lächeln in die Runde, welches von vielen erwidert wurde. "Doch über diesen netten Geschichtchen haben wir die Anatomie völlig vergessen. Hier sehen Sie beispielsweise am Brustbein des Engelsweibchens, dass eine eventuelle Vogelsverwandtschaft doch nicht auszuschließen ist, was Sie an dieser Wölbung hier erkennen-...." Ich hörte noch eine Weile zu, bis ich fand, dass es zu wissenschaftlich wurde und blendete den Vortrag aus. Davon abgesehen war ich müde und schlief eigentlich schon fast... Die Geschichte mit den Piraten war mir schon bekannt gewesen – aber die kannte eigentlich fast jeder, der einige Jahre in Kongoseki Oka verbracht hatte. Natürlich gab es auch hiervon verschiedene Versionen, aber eigentlich waren sie doch alle gleich. Es war knapp fünfundvierzig Jahre her, also war es noch aktuell genug, dass man die Leute darüber reden hörte, sobald das Wort 'Piraten' fiel. Allerdings konnte ich seine Begeisterung für Engel nicht nachvollziehen. Außer, dass sie in der Lage waren, durch chemische Substanzen Glücksgefühle auszulösen, waren sie eigentlich wie jedes Wesen auch – na schön, vielleicht kam noch hinzu, dass sie fliegen konnten und sehr selten gesehen wurden, aber ansonsten waren sie eher unspektakulär. Zumindest meiner Meinung nach. "... das bezeichnende Glücksgefühl freigesetzt. Das verbindet man oft mit durch die Eltern anerzogenen sakralen Vorstellungen und Vorbildern, welche einen dazu bringt..." Und dass diese Spezies noch recht unerforscht war, lag daran, dass die Insel, auf der sie angeblich lebten, sehr schwer zu erreichen war... Und ich wusste, wovon ich redete, ich war bei dem Versuch schließlich dabei gewesen. War wohl auch der Grund, weshalb mir dieser Odor Angeli nichts ausmachte. "... oder auch durch Seefahrer zahlreiche Erkundungsfahrten unternommen, um den konkreten Lebens-, Brut- und Fortpflanzungsraum von Engeln auszumachen, worin allerdings gewichtige Schwierigkeiten bestanden..." Und ob das Schwierigkeiten gewesen waren. Das Schiff war fast gekentert – nachdem die Mannschaft völlig durchgedreht war. Wahrscheinlich wegen dem Engelduft. Ich hatte die meisten von ihnen nie wieder gesehen, seit wir im Hafen angelaufen waren – von einigen wusste ich, dass sie in der Psychiatrie gelandet waren... "... übrigens bereits festgestellt, dass bei den Flügeln keine Variationen in Federzeichnung oder -farbe vorliegen, was der amtlich und international anerkannte Doktor Sigismund Ingbert Phöbus mit der Theorie begründet, dass...", hörte ich Fye gerade weiterschwafeln, was mich aus den Gedanken riss – wie zum Teufel konnte ein einzelner Mensch nur soviel quatschen, und das offensichtlich, ohne zwischendurch Luft zu holen? Aber er schien völlig in seinem Element zu sein. Auch die Studenten schienen völlig gebannt, ihre Stifte flogen nur so über das Papier – oder sie hatten vor Staunen völlig vergessen, zu schreiben. Ich schielte zu meinem Sitznachbarn, dem fetten Walross, herüber, das auch eifrig am Kritzeln war. So langsam ging das Vieh mir echt auf die Nerven. Schien ja ein ausgemachter Streber zu sein. Mein Blick fiel auf seine Notizen. Das waren unglaublich viel – aber nicht über den Vortrag, wie ich feststellte. Ich hob misstrauisch eine Augenbraue, beließ es aber dabei, ihn unauffällig zu beobachten. Natürlich hätte ich ihn auch gleich fragen können, was das sollte, aber da das sicher einen bestimmten Grund hatte, warum er das tat, ließ ich es fürs Erste. Ich konnte genauso gut ein wenig warten, bevor ich ihn mir vorknöpfte. Und außerdem hielt ich es für besser, Fye davon zu erzählen. Den würde das sicher auch interessieren, dass ihn dieses Walross beobachtete – und nicht etwa des Vortrags wegen. "Heee...ich bezahle Sie doch nicht fürs schlafen!", hörte ich Fye, bevor mir eine Hand auf die Schulter gelegt wurde. Ich hob den Blick und starrte ihm missmutig ins Gesicht. "Bisher haben Sie mich noch gar nicht bezahlt. Und anscheinend ist keiner der Studenten Amok gelaufen und hat Sie mit einem Bleistift erstochen", murrte ich und versuchte, erst mal richtig wach zu werden. Dazu waren die Studenten viel zu gebannt von dem Vortrag gewesen... "Na und? Es hätte aber sein können! Sie sollen doch auf mich aufpassen!", jammerte er. "Sie hätten sicher laut genug geschrieen, falls jemand auf Sie losgegangen wäre. Außerdem würde ich so was selbst im Schlaf mitbekommen", gab ich zurück und stellte fest, dass die meisten Studenten – das Walross eingeschlossen – den Hörsaal bereits verlassen hatten. Anscheinend war er endlich fertig. "Ach ja?", fragte er skeptisch. "Ja... Ich hab sogar mitbekommen wie dem blauen Kaktus zwei Reihen weiter oben sein Stift runtergefallen ist – er hat fünfzehn Minuten gebraucht, um ihn wieder aufzuheben...", bestätigte ich. "Aber Sie haben sicher kein Wort von meinem Vortrag mitbekommen", beharrte er – und das stimmte ja auch. "Ab der Piratengeschichte könnten es an die drei Sätze gewesen sein...", meinte ich, "Aber ich bin ja auch nicht hier, um mir Ihr Gelaber anzuhören." "Sie könnten dabei aber auch was lernen!“, ereiferte er sich, "Schließlich sind Sie nicht nur mein Leibwächter, sondern auch mein Assistent!" "Das Meiste von dem, was Sie über Engel erzählt haben, waren doch sowieso nur Mutmaßungen." „Ja, weil sie, wie oft genug wiederholt, fast unerforscht sind, weil noch niemand auf die Insel gelangt ist, auf der sie leben und mit einem lebendem Exemplar hat sich auch fast noch nie jemand unterhalten. Die Insel--..." "... liegt angeblich irgendwo im Kaiyonobannan, ich weiß. Ich war schon mal dort." Wörtlich übersetzt hieß Kaiyonobannan 'Meer der tausend Schwierigkeiten' .Und genau das war es auch, oft war an Namen wirklich etwas dran. Ob es wirklich tausend waren, stand natürlich im Zweifel, aber es waren wirklich eine Menge. "Sie waren auf der Insel?" Er sah mich mit großen Augen an. "Nein. Nicht direkt...aber wohl in der Nähe...", meinte ich. "Ja, so erzählen Sie dooooooooch!", jammerte er, "Jetzt machen Sie's nicht so spannend! Wie sind Sie da hin gekommen? Und wieso überhaupt? Und was ist passiert?" "Na wie wohl? Mit einem Schiff", gab ich zurück – ich hatte keine Lust, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. "Sie werden doch sicher davon gehört haben..." "Die Sache vor ein paar Jahren? Das stolzeste Schiff der Flotte, das hinterher mehr als ein Wrack wiedergekehrt ist?" "Genau das." "Ich hab gehört, die gesamte Crew war völlig verstört und mussten in psychologische Behandlung", meinte er, "Zumindest die Wenigen die überlebt haben..." "Anscheinend nicht alle. Ich hatte lediglich einen Blackout. Ich weiß nur noch, wie wir hingefahren sind – natürlich nicht ohne eine Menge Schwierigkeiten – dann fast gekentert und gesunken wären und dann sind wir irgendwie zurückgekommen. Ich weiß aber nicht genau, wie. Ende der Geschichte", meinte ich. "Sie haben wirklich nicht unbedingt ein Talent dafür, spannende, mitreißende und atemberaubende Geschichten zu erzählen!", beschwerte er sich enttäuscht. "Das ist ja wohl auch nicht mein Job. Und, ach ja – dieses Walross", lenkte ich auf das Thema ab, weil ich das für wichtiger hielt, und deutete auf den jetzt leeren Platz neben mir, "Bespitzelt Sie übrigens." "Was? Sind Sie sicher??", fragte er völlig überrascht. Ich nickte. "Ja, bin ich. Ich könnte Ihnen die Aufzeichnungen zitieren, aber ich glaube nicht, dass es nötig ist. Sie waren definitiv nicht über Ihre Vorlesung, sondern über Sie." "Ja, aber... wieso sollte der das denn tun?" "Das weiß ich doch nicht", meinte ich genervt, "Ich hab ihn nicht gefragt." "Tjaaa... vielleicht war er so überwältigt von mir, dass er ein Buch über mich schreiben will!", meinte er, aber das klang irgendwie gezwungen begeistert und vor allem alles andere als entspannt. "Sicher. Wer will das nicht?", gab ich mürrisch zurück. "Hmn... na ja. Dann behalten wir ihn lieber im Auge! Aaaber zuerst müssen wir uns um das Beet kümmern!" "Sie wollen doch bei diesem Wetter nicht raus?!", fuhr ich ihn an, "Es regnet, verdammt noch mal!" Nun – 'regnen' war untertrieben. Genauer gesagt, stürmte es. "Na und? Das bisschen Wasser! Außerdem müssen wir den Engel noch nach unten bringen und unsere Bezahlung einstreichen!" "Mrrrhhnpff..." Der Blondschopf grinste. "Ich wusste, dass ich Ihren Segen kriegen würde!" "So, Alter, und hier wären wir." Mit diesen Worten ergriff Florian die schneckenförmigen, vergoldeten Türknäufe an der großen, verglasten Tür, die uns zu den exotischen Wintergärten der Universität führen sollten, und stieß sie mit seinen Ranken weit auf. Mir gingen die Augen über, und ich warf in einem Anfall von Begeisterung beide Arme in die Luft. "Woooooow! Sehen Sie sich das an, Kuro-chin! Sehen Sie sich das nur an!" Ein über dreihundert Meter langes und fünfzig Meter hohes Gebäude ganz aus Glas erstreckte sich vor unseren Augen, nachdem wir die Tür hinter uns gelassen hatten, und nahm uns auf wie der Eingang eines kleinen Dschungels. Vier jeweils drei Meter breite, aneinander gereihte Rinnen erstreckten sich vor uns und schienen bis an das Ende des gewaltigen Glaspalasts zu reichen. Sie waren in Abständen von zehn Metern abwechselnd mit Erde, Stroh, Steinen, Wasser, Torf und kleingehackter Baumrinde gefüllt und wanden sich wie schlafende Schlangen parallel nach Norden. Überall in dem Gewächshaus sprudelten kleine Brunnen, an denen ganze Ständer mit Gießkannen waren, daneben standen oft große Kisten mit Spateln, Schaufeln, Sieben und allerhand anderen Werkzeugen. Aber das war nicht das, was meine Augen so gefangen nahm- es waren die Pflanzen. Pflanzen erstreckten sich vor uns in allen Farben und Formen. Leuchtende Blütenkelche, länger als eine Walzunge, meterlange, verschlungene und mit zahllosen Blättern überwachsene Ranken, mächtige Palmen, Schling- und Klettergewächse, die sich bis an die Decke des Glaspalasts emporgewunden hatten, übersät mit duftenden Blüten und Kerngehäusen, die schier aus ihrer Hülle platzten. Früchte, Samenegel, Knospen, Stiele und Stengel, die geerntet werden sollten, in tausenden Farben, Beschaffenheiten und von mannigfaltigen Düften- und trotz all dieser Vielfalt schwebte ein Hauch von Ordnung über diesem domestizierten Dschungel. Überall zwischen diesen Pflanzen, Beeten und Brunnen waren unzählige Studenten aufs Emsigste mit Gießen, Säen, Abernten oder Pflege ihrer jeweiligen Gewächse beschäftigt. Ich warf meinen Kopf in den Nacken und blickte mit großen Augen zur komplett verglasten Decke des Gewächshauses, über das sich eine stolze, gläserne Kuppel erhob, auf deren Spitze eine Fahne mit dem Universitätsemblem angebracht war. Allerdings war sie noch ganz schlaff vom Regen, denn es hatte immer noch nicht aufgehört zu stürmen. Der Regen prasselte unerbittlich auf das Glasdach nieder, während uns Florian zu unserer fünf Quadratmeter umfassenden Erd- und Wasserbeetkombination führte, nachdem wir noch schnell bei Tunas reingeschaut, unser Honorar abgestaubt und die Anpflanzgenehmigung in die Hand gedrückt bekommen hatten. "Ist das nicht absolut unglaublich?", trällerte ich völlig überwältigt, "Ich hatte fast vergessen, wie wundervoll diese Gärten sind!" "Das kannste laut sagen, Alter. Ich verbring meine Kaffeepause immer hier." "Tsss", schnaubte Kurogane lahm, "Gegen einen Dschungel ist das hier nichts." "Aber immerhin etwas!", beschwichtigte ich ihn, "Nun seien Sie doch nicht immer so pessimistisch!" "Was für Pflanzen werden wir überhaupt anbauen?", kam es deutlich angeödet zurück. "Naja, ich dachte an einige exotischere Pflanzen, an die man schwerer herankommt, wenn man gerade unterwegs ist", erklärte ich, als wir vor dem uns zugeteilten Areal stehenblieben, "Zum Beispiel Riesenstäublinge- Langermannia gigantea, Herzgespann- Leonorus cardiaca, Kapuzinerkresse- Tropaeolum majus, ein paar der sogenannten ätherischen Pflanzen wie das Nymphenauge- Ocalulla nymphae, und das Medusenstiefmütterchen- Viola meduseldi. Deswegen auch das Wasserareal: das Nymphenauge und das Medusenstiefmütterchen wachsen nur in submarinen Gegenden." Mein Leibwächter starrte mich verständnislos an. Offenbar ließ er sich auch nicht von Heilpflanzen mitreißen. "Ah ja. Kleine Frage am Rande: haben Sie auch nur irgendeinen Gedanken daran verschwendet, was uns das kosten könnte?!" "Chill, Alter", schaltete sich Florian dazwischen, "Hier kostet ein Viertelpfund Samen grad mal zwei Transkos. Also, Peace." "Es wäre für mich erst Peace, wenn du endlich mal aufhören würdest, an diesen Scheißlottokarten da herumzufummeln!" Florian parierte sofort und steckte die Lose, über denen er bis jetzt gebrütet hatte, in seinen Rachen zurück. "Du spielst Lotto?", fragte ich ganz baff. "Yeah, Alter. Mir fehlt nur noch eine Zahl, dann schick ich's ein." Der Sägezahn-Salbei musterte mich gründlich. "Sag mir, welche Zahl ich nehmen soll, Alter, und wir teilen den Gewinn." "Mhm... wie wär's mit der acht?" "Geht klar." "Bin mal gespannt, ob's klappt!", schmunzelte ich. Allerdings fiel mir das Schmunzeln im Moment ein wenig schwer. Eine Menge Gedanken gingen mir im Kopf herum, denn einige Worte, die heute morgen gefallen waren, ließen mich nicht mehr los. Zum einen dieser Ausspruch von Domeki, dass immer öfter tote, aber augenscheinlich unverletzte Engel an die Küsten von Kongoseki Oka gespült wurden. 'Unseren' Engel schien ein ähnliches Schicksal ereilt zu haben. Dann diese Sache mit Kurogane. Er schien in der Zeit, bevor wir uns kennengelernt hatten, eine Menge Abenteuer bestanden zu haben. Wieso erzählte er mir nichts davon? Er war wahrscheinlich fast der einzige Mensch, der eine Expiditionsfahrt zu der Heimatinsel der Engel gemacht hatte, ohne dabei entweder zu sterben oder verrückt zu werden. Mir explodierten Unmengen von Fragen im Kopf, aber ich wusste ebenso, dass mein Leibwächter wahrscheinlich nicht ums Verrecken erzählen würde, wie genau diese halsbrecherische Entdeckungsfahrt verlaufen war. Und dann natürlich noch dieses Walross. Meine Sitzungen wurden bespitzelt. Es war mir völlig klar, dass mich Tunas seit dieser Sache damals für einen komplett Abartigen hielt, und ich hatte auch nicht erwartet, dass er seine Meinung während meiner Abwesenheit geändert hatte. Aber dass er mir in diesem Maß misstraute, hätte ich nicht gedacht. Für ihn war ich dann also doch sowas wie ein Irrer. "He!", schreckte mich Kurogane plötzlich aus meinen Gedankengängen, "Was ist jetzt schon wieder los?" Ich starrte ihn verwirrt an. Konnte er etwa auch Gedanken lesen? "Ich versteh das einfach nicht." "Eh?", fragte er lahm zurück. "Eh?", echote Florian hinterher. "Woran dieser Engel gestorben sein könnte. Ich meine, sie-... sie sah völlig unversehrt aus!" "Davon hab ich auch schon gehört, Alter", meinte Florian, "Tot und unverletzt. Domeki-kun hat mir 'ne Menge drüber verklickert." Ich sah den Salbei erstaunt an. Oha! Ein Informationskrösus! "Im Ernst? Weißt du noch mehr darüber?" "Man müsste diesen blöden Engel doch nur aufschlitzen, dann erfährt man's in jedem Falle", meldete sich mein Begleiter schroff von hinten. Florian räusperte sich. "Naja, Mann, das dürft ich euch jetzt zwar nicht sagen, aber ich denk mal, ihr verpetzt mich nicht, oder?" "Mein Wort darauf!", trällerte ich fröhlich, und Kurogane stieß ein Stöhnen aus. "Also, Alter", begann Florian verschwörerisch und wich einer Gruppe von Flederschlangenstudenten aus, "Domeki-kun und Watanuki-kun ham mir erzählt, sie hätten vor, den Engel heimlich aufzuschneiden, um die Todesursache rauszufinden." Ich verschluckte mich vor Aufregung fast an meiner eigenen Spucke. "W-wieso heimlich?" "Weil Tunas es für Gotteslästerung hält, einen Engel aufzuschneiden, Mann. Voll der Patriot. Oder nee... wie heißt's?" "Patriarch", knurrte Kurogane. "Konkret. Danke, Alter." In meinem Kopf waren alle Rädchen am Rattern. "Ob sie da wohl noch zwei Leute gebrauchen könnten... ?" "Unterstehen Sie sich!!", keifte mein Leibwächter sofort, "Wir sind für Ihren tollen Direx eh schon die Staatsfeinde Nummer eins! Es wäre verdammt nochmal klüger, ihm nicht auch noch handfeste Gründe für diese Ansicht zu liefern!" "Oh, der ist eh schon misstrauisch genug, Alter", erwiderte Florian beschwichtigend, "Hat ja sogar 'nen Spitzel rangezogen." "Waaas? Weißt du da etwa was darüber?", japste ich. Sogar Kurogane sah gegen seinen Willen überrascht aus. "Naja, ich war dabei. Der Direx sagt zu mir: 'Florian, holen Sie mal eben Bogomil von oben, ich will ihn in die Vorlesungen von diesem Irren setzen.' Dann sag ich: 'Aber Chef, der ist doch gechillt drauf', und Tunas sagt: 'Oh nein, ganz im Gegenteil. Dieser Mann ist ein Teufel, der sich hinter einer grinsenden Maske verbirgt.' " Ich spürte, dass ich blass wurde. "Flori-rin, dürfte ich dich darum bitten, uns in allen Dingen auf dem Laufenden zu halten?" "Wenn ihr mich nich verpetzt, isses gebongt, Alter." Mein Leibwächter starrte mich an. "Tunas hält Sie also für einen Teufel?" "Wir sollten unsere Samenbestellung machen, finden Sie nicht auch?", erwiderte ich lächelnd und wandte mich wieder dem Sägezahn-Salbei zu. "Also, wir hätten gerne jeweils ein Viertelpfund Samen von Kapuzinerkresse, Herzgespann, Riesenstäubling, Nymphenauge und Medusenstiefmütterchen." Florian nickte und kritzelte mithilfe einer seiner Ranken die Namen der Pflanzen auf sein Klemmbrett. "Da gibt's allerdings 'n Problem, Alter... die submarinen Samen sind gestern schon alle gegangen. Die gibt's nich mehr." "Oje! Können wir die nicht irgendwo anders herbekommen? Submarine Pflanzen haben unglaubliche heilsame Wirkungen!" Florian rollte seine Augen gen Decke und kratzte sich mit seinem Kugelschreiber am Kopf. "Mhhm. Also, es gäb ja noch die Variante... mhhm, das is jetzt schwierig..." "Sag's uns einfach!", knurrte Kurogane. Florian blinzelte resigniert. "Naja. Ihr müsstet eine der Unterwasser-Unis besuchen und dort anfragen." Ich konnte förmlich beobachten, wie meinem Begleiter die Augen aus dem Kopf quollen. "WAAAAS?!! Nach-- nach unten?!! In diese Unterwassergrotte?!" "Joap." "Jetzt kriege ich endlich den Beweis, dass hier doch alle 'nen Schaden haben! Wir gehen auf keinen Fall da nach unten!" "Wieso denn nicht?", fragte ich ganz verwundert. Kurogane starrte mich wild an. "Diesem Unterwasservolk kann man nicht trauen! Ich hab schon die wildesten Geschichten gehört! I-... im Ernst!" Als er jedoch sah, dass ich ihn angrinste wie ein Honigkuchenpferd, stieß er einen Wutschrei aus und warf beide Arme in die Luft. "ACH, VERDAMMT!!" "Ganz genau!", strahlte ich, "Flori-rin, besorgst du uns in der Zwischenzeit alle Samen?" "Geht klar, Alter." Ich verbeugte mich wie ein vornehmer türkischer Pascha vor dem Salbei. Dann nahm ich meinen Leibwächter beim Arm und nickte ihm neckisch zu. "Alsdann, Kuro-chii, auf mit uns! Die paar Schwimmzüge werden Ihren Nerven gut tun!" Kapitel 10: Cole et doce! - 3 ----------------------------- "So, hier wären wir! Der Mari-Platz von Gakoshida, eins seiner Wahrzeichen schlechthin!" Ich musterte mit hochgezogenen Augenbrauen den gigantischen, ovalförmig angelegten Platz, über dessen Dächer und Häuser sich unzählige Wasserröhren erstreckten. Wesen und Kreaturen aller Gattungen wimmelten umher, doch das große, kreisrunde Becken in der Mitte des Platzes beanspruchte meine Aufmerksamkeit eher. Es war bis zum Rand mit Wasser gefüllt. "Wie tief geht es da runter?", wollte ich wissen, als wir vor dem Becken stehenblieben. Es hatte einen Durchmesser von schätzungsweise zehn Metern. Über uns befand sich eine große, halbkugelförmige Glaskuppel, auf die noch immer in Strömen der Regen prasselte. In sie hinein mündeten fast alle der Röhren, die sich über den Platz erstreckten, darin tummelten sich einige Wasserwesen, die anscheinend nicht nachtaktiv waren oder eine der Vorlesungen in den Unis oberhalb der Wasseroberfläche besucht hatten. Und auch ein paar Nicht-Wassergeschöpfe wuselten herum, weil sie anscheinend hier arbeiteten – das konnte man gut an ihrer Kleidung erkennen – oder auch, weil sie vorhatten, wie wir die Unterwasserstadt zu besuchen. "So an die tausend Meter. Dort liegt dann die obere Ebene der Wasserstadt und den Universitäten", erklärte Fye begeistert, der übers gesamte Gesicht breit grinste, und sich einige der regennassen Strähnen aus dem Gesicht strich. Wir sahen schon jetzt aus, als wären wir aus dem Becken geklettert, da wir nicht mal einen Schirm gehabt hatten, als wir hierher gelaufen waren. "Es gibt darunter auch einige Ebene, bis runter an die elf Kilometer! Allerdings, bis da unten können wir nicht tauchen. Da ist der Druck einfach zu hoch. Außerdem ist es in dieser Tiefe eh uninteressant. Alles finster und dort gibt es nur eine Uni – die für Tiefseefische und -geschöpfe, die auch nie von dort unten raufkommen. Also, wir werden wohl nur bis auf die zweite Ebene in zwei Kilometer Tiefe tauchen, ab da müsste man schon mit einem U-Boot weiter... aber das brauchen wir gar nicht. Die nächsten Ebenen sind nämlich so aufgebaut wie die ersten, von daher ist das auch unnötig, wissen Sie?", fuhr er in einem einzigen Redeschwall fort. "Aha", machte ich, nachdem ich die unwichtigen Informationen ausgefiltert und wieder vergessen hatte, sodass sich das, was er gesagt hatte darauf beschränkte, dass wir an die tausend Meter runter mussten- und dass es wohl da unten fast so aussah wie hier auch. "Jaha!", machte er begeistert, "Und da unten ist wirklich alles faszinierend! Sie können sich gar nicht vorstellen, was es dort unten alles gibt! Und die Lebewesen erst... einige haben Sie hier oben vielleicht schon gesehen, aber manche Arten kommen gar nicht herauf, die bleiben lieber im tieferen Wasser. Und erst die Bauwerke! Aber was erzähle ich Ihnen das, Sie werden sowieso gleich alles selber sehen! Kommen Sie!" Sein Elan ging mir gewaltig auf die Nerven, und während er mich am Arm packte und auf ein Vieh zu schleifte, das aussah wie eine Kreuzung aus einem Kaninchen und einem Luftballon mit Federn, fragte ich "Warum können Sie da nicht einfach schnell allein runterschwimmen und diese Samen holen? Oder wieso schicken keins dieser Wasserwesen?" "Weeeil wir das auch genauso gut selbst machen können. Und Sie müssen mitkommen, schließlich sind Sie mein Leibwächter. Außerdem: Wenn man schon mal hier ist, dann muss man diese Unterwasserstadt gesehen haben, sonst verpasst man was!", ereiferte er sich und blieb vor dem komischen Vieh, das offensichtlich hier angestellt war, stehen. "Dann verpass ich lieber was", grollte ich. Konnte ich nicht einmal meine Ruhe haben?! "Ach, wieso denn? Oder können Sie etwa nicht tauchen? Das ist ganz einfach... wir bekommen bloß ein Atmengerät und schon kann's losgehen!", meinte er, "Diese Atemgeräte sind wirklich toll! Wissen Sie, man kann sich damit nämlich auch unterhalten und es übersetzt auch alle Unterwassersprachen automatisch." Das bedeutete wohl, dass ich auch unter Wasser sein Gelaber ertragen musste. Ich stieß einen genervten Seufzer aus, während Fye anfing dem Angestellten zu erklären, was wir hier wollten. Bald kam er mit der Ausrüstung zurück. Sie bestand aus einem Atmengerät, nicht größer als eine Mundharmonika und einem Anzug. "Also", fing das Ballonkarnickel an, "Das ist das Atemgerät. Es filtert den Sauerstoff aus dem Wasser und es ist kein Problem, sich damit zu unterhalten. Diese Anzüge gleichen den Druck aus, falls er zu stark wird. Allerdings könnt ihr damit nicht tiefer als zweitausendfünfhundert Meter tauchen. Haltet euch am besten an die Röhren, dann könnt ihr euch auch nicht verschwimmen... wenn ihr die Ausrüstung nicht mehr braucht, legt sie einfach da vorn in die jeweiligen Behälter zurück." "Okay... ehm, ist zurzeit eine der Jetstream-Röhren frei?", erkundigte sich Fye, "Wir haben es ziemlich eilig, und-..." "Nein, tut mir leid. Die Jetstreams sind zurzeit alle besetzt... ihr müsst entweder durch die OS-Röhre oder die CA-Röhre." "Alles klar... dann nehmen wir wohl die OS-Röhre. Haben Sie vielen Dank!" "Gerngeschehn, immer gerngeschehn." Damit übergab er uns den Kram und drehte sich um, um zu gehen. Endlich mal eine klare und kurze Anweisung. "Also dann, Kuro-tan!", sagte mein Begleiter voller Enthusiasmus, "Auf in die Klamotten und runter mit uns!" "Das ziehe ich auf gar keinen Fall an!", protestierte ich, als ich mir die Anzüge näher besehen hatte. Hauteng und aus gottverdammtem Latex! Nein, das kam ja wohl gar nicht in Frage "Aber Kuro-rin, das müssen Sie! Der Druck da unten wird sonst viel zu stark..." "Na und? Ich werde dieses Ding nicht anziehen!!" "Sie sind wohl schüchtern!", kicherte er. "BIN ICH NICHT!" "Wo ist dann das Problem? Das steht Ihnen bestimmt sehr gut! Oder – ziehen Sie doch einfach Ihre Klamotten wieder drüber, wenn Sie das unbedingt wollen... aber jetzt kommen Sie! Wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit. Oder muss ich Sie zwingen?" "Wie wollen Sie mich denn bitte zu etwas zwingen?!", murrte ich. "Oooh...da fällt mir sicher was ein..." Und da war ich mir auch sicher – sein Grinsen gefiel mir gar nicht und da ich ja nie wusste, was in seinem kranken Hirn vor sich ging – das wollte ich meist auch nicht – würde ich es sicher auch nicht darauf ankommen lassen, es herauszufinden. "Na schön...", grollte ich, "Aber nur dieses eine Mal!" Wammm. Mit einem ohrenbetäubenden Klatschen schlug das Wasser über unseren Köpfen zusammen. Millionen und Abermillionen Luftblasen rauschten an uns vorbei und unsere Haare zausten sich im Wasserstrom, als mein Leibwächter und ich von den klirrend kühlen, nach Tang und Nixenhaar duftenden Fluten umschlossen wurden wie zwei Kerzendochte vom Wachs. Ich nickte Kurogane zu, und wir stießen uns mit einem kräftigen Schlag der Beine vom Beckenrand ab, um uns in die Röhre gleiten zu lassen und in ihr abwärts zu tauchen. Sie führte in weit ausladenden Spiralen nach unten, immer tiefer in diese blaue Unendlichkeit, in der das einzige Licht von den kleinen Neonlampen ausging, die an den Außenwänden des Glastunnels angebracht waren. Schon nach kurzer Zeit wurde es dunkler um uns herum. Die Welt des Tags schwand vor unseren Augen dahin. Das Wasser umfing uns wie einziges Universum. Das Sonnenlicht fiel nur noch in spärlichen Streifen herab und warf wellenhafte Reflexionen an die gläsernen Wände des mannigfaltig verzweigten Röhrensystems, das sich in diese dunklen Tiefen hinabwand wie ein Gewirr aus hunderten transparenten, sanft im Strom pulsierenden Schlangenkörpern. In ihnen bewegten sich zahllose Meereskreaturen umeinander, ich konnte etwa zwanzig verschiedene Gattungen unterscheiden, wobei ich am häufigsten Nixen- Virgo Piscicida, Seepferde- Equus Conger, und Medusenfische- Venecia Meduseldi, bemerkte. Dank der hauchdünnen, aber unglaublich reißfesten Latexanzüge, die wir uns über unsere Klamotten gestreift hatten, nahmen wir den Druck des Wassers als solchen nicht wahr- für uns fühlte es sich an, als würden wir uns durch einen Strom kühler Luft bewegen. Die Sauerstoffmasken bedeckten Nase, Mund und Augen und waren mit zwei etwa daumenlangen Sauerstoffdüsen verbunden. Ich tastete mich beim Schwimmen an den Röhrenwänden entlang, während Kurogane da überhaupt keine Hilfe zu benötigen schien. Er stieß gleichmäßig mit den Beinen wie ein Frosch, und ich konnte mühelos beobachten, wie sich die Muskeln seiner Oberschenkel, die dicht unter seiner Haut anlagen, anzogen und wieder entspannten. Als er plötzlich zu sprechen- oder besser gesagt zu blubbern- anfing, fuhr ich zusammen, als hätte man mich bei etwas Verbotenem ertappt. "Ehe ich's vergesse, was war das wieder für Fachjargon, das Sie mit dem Ballonkarnickel da ausgetauscht haben?" "Ach, Sie meinen OS-, CA- und Jetstream-Röhren?", klickzischelte ich zurück, "Das ist ganz einfach. Die Abkürzung CA heißt nicht mehr als Closed Area, was heißen will, dass eine Röhre dieser Art direkt bis in das Zentrum der Unterwasserstadt führt. OS hingegen bedeutet Open Sea- eine solche Röhre mündet bereits nach kurzer Zeit ins offene Wasser. Und eine Jetstream-Röhre ist sowas ähnliches wie ein Expresszug! In ihr zirkulieren starke Wasserströmungen, die einen auf direktem Weg nach unten bringen." Ich deutete auf den anscheinend bodenlosen Wassergraben, der sich unter unserer schwach von innen erleuchteten Röhre auszubreiten schien wie ein gierig aufgesperrter Rachen. "Sehen Sie? Dort unten hört unsere Röhre bereits auf. Den restlichen Weg müssen wir durchs offene Wasser schwimmen. Eine Weile lang führt er noch über ein künstliches Korallenriff, aber dann beginnt bald der Wassergraben." "Wir sollen also aufs Geratewohl unseren Weg suchen, hab ich das recht verstanden?", blubbzischelte Kurogane erbost. Ich kicherte, was vom Geräusch her allerdings eher an eine Fusselwurm-Blähung erinnerte, während wir in schnellen Schwimmzügen die letzten gewundenen Meter der Röhre meisterten und aus der Endöffnung glitten. Um uns herum war nun die offene Grotte, oder zumindest der Anfang davon- ein rauer, zerklüfteter Felsteppich erstreckte sich fünfzig Meter unter unseren Füßen, überwuchert von einer wilden Landschaft aus bizarren Korallengewächsen. Nixen, Seepferde, Haie, junge Robben und zahllose andere Meereskreaturen schossen an uns vorbei und schienen dabei alle zielstrebig eine Richtung anzupeilen. Wir standen wie schwerelos im Wasser und beobachteten dieses weltfremde Treiben, wobei wir uns von den gleichmäßigen Wogen des Unterseegangs treiben ließen. "Die Meeresströmung wird durch Magnetfelder erzeugt!", erklärte ich, "Die meisten der hiesigen Studenten kommen aus dem Kaiyonobannan-Abyss und sind stehende Gewässer nicht gewohnt. Am besten fragen wir eins der Seepferde, ob es uns mitnehmen kann, das geht um einiges schneller." Da mein Leibwächter ausnahmsweise keinen abfälligen Kommentar auf der Zunge zu haben schien, setzten wir uns wieder in Bewegung und schwammen tiefer auf das Korallenriff zu, in dem kleinere Fischschwärme, Muränen und Tintenfische ihren schaukelnden, scheinbar leblosen Tanz mit der Grottenströmung tanzten. "Und wo sind die Universitäten?", zischelte es neben mir. "Die befinden sich in einer Vertiefung der Grotte, die wie gesagt kilometertief nach unten führt. Sie sind wundervoll, Sie werden sehen!", ereiferte ich mich, und während Kurogane mal wieder nur sein unverständliches Gebrummel als Antwort gab, bemühte ich mich, eins der vielen Seepferde anzuhalten, die unter kräftigen Flossenschlägen an uns vorbeirauschten. "Entschuldigen Sie bitte!", gelang es mir schließlich, ein tief ultramarinfarbenes Pferd auf mich aufmerksam zu machen, "Wir suchen die Universität für submarine Botanik! Würde es Ihnen vielleicht etwas ausmachen, uns ein Stück weit mitzunehmen?" Das Seepferd zog bei unserem Anblick belustigt seine lange, weiche Nase kraus und wandte seinen Kopf zur Seite, um uns aus einem großen, rauchblauen Auge anzusehen. Es hatte einen langgezogenen, muskulösen Rumpf, der bald in einen geschuppten Schweif mit drei langen Flossenpaaren überlief, während seine Brustflossen dem eines Rotfeuerfisches gleichkamen. "Sie kommen von oben, nicht wahr?" Seine leise Raspelstimme wollte nicht so recht zu seiner Erscheinung passen. "Jawohl! Wir sind auf der Suche nach submarinen Pflanzen, und man orientiert sich nun mal gerne am Naheliegendsten, was?" "Verstehe. Gut, dann halten Sie sich einfach an meinem Rückenkamm fest, ich bring Sie hin. Ich studiere zwar an der Fakultät für marine Chirurgie, aber bis zur Botanik ist es nur ein Katzensprung. Kommen Sie!" "Haben Sie vielen Dank!", konstatierte ich fröhlich und ließ seinem Angebot sogleich Taten folgen, "Marine Chirurgie also? Das klingt ja wundervoll! Kuro-myu, haben Sie das gehört? Dann können wir dort sogar eine Vorlesung besuchen!" "Waaaaas?!! Auf keinen Fall!!", fauchte der Schwarzhaarige natürlich sofort, "Träumen Sie weiter! Nie und nimmer werde ich d- aaaaaaaaarrrrgh!!!" Die letzten Worte seiner Suada gingen in dem Blasenstrom unter, der uns entgegenpeitschte, als das Seepferd kräftig mit dem Schwanz schlug und im Wasser vorwärts schoss wie eine Rakete. "Juhuuuuuuuuuuh!!", jubelte ich übermütig, obwohl mir die Strömung fast die Haare vom Kopf riss, "Also das nenn ich Spaß!" "Idiot!! Das haben Sie bei den Harpyien auch schon gesagt!!" "Dann hat eben beides Spaß gemacht! Gibt Ihnen das denn keinen Kick?" "Wenn Sie nicht sofort die Klappe halten, verpass ich IHNEN gleich einen Kick, und zwar in den gluteus maximus!" "Hyuuu, welch nobles Vokabular! Sie machen Fortschritte, Kuro-mune!", trillierte ich entzückt und wandte mich rasch an das Seepferd, um einer weiteren Schimpfkanonade zu entgehen, "Wie weit ist es denn noch bis zum Wassergraben?" "Dort vorne ist er!", rief uns das Seepferd über die Schulter zu, während es über einen meterhohen Korallenberg hinwegrauschte. Es sollte Recht behalten- der Felsboden des künstlichen Korallenriffs begann, sich immer rascher abzusenken. Schließlich lief er in eine vollkommen steile Felswand über, und der offene Wassergraben öffnete sich unter unseren Füßen wie ein riesiger, schwarzer Schlund, sodass es in meiner Magengrube augenblicklich zu prickeln begann. Doch mein Blick wurde sehr schnell schon von etwas anderem gefangen genommen- denn nun bemerkte ich den weichen Schein tausender ätherischer, seltsam weltfern wirkender Lichter, die aus den Tiefen dieses Grabens zu uns empordrangen. "Kuro-rin! Kuro-rin, sehen Sie nur!" Mein Begleiter wollte offenbar irgendeine äußerst unfeine Antwort zurückbellen, doch als auch er sah, was ich sah, blieb ihm sein Gegeifer augenblicklich im Hals stecken. "Willkommen in der Caverna Nauticus, der Seegrotte von Gakoshida!", rief das Seepferd und schlug kraftvoll mit den Flossen, um in einem eleganten Bogen kopfüber in den Wassergraben hinein zu rauschen, sodass wir die submarine Universitätsstadt nun aus der Vogelperspektive in all ihrer Schönheit erblicken konnten. Die Universitätsgebäude, die mitten im Herzen dieser Grotte in einem weitläufigen Ring angelegt waren, glichen mehr gigantischen Luftblasen als Häusern, denn sie alle hatten die Form eines perfekten Globus. Kreisrunde Fenster, so groß wie ganze Stadtkapellen und allesamt aus bläulichem, sehr zart wirkenden Glas, waren ebenfalls in der Gestalt von aufsteigenden Blasen über die Außenwände der Universitäten verteilt, sodass sie mehr als zur Hälfte aus Glas als aus Stahl bestanden. Riesenhafte, gespenstisch anmutende Skulpturen aus milchfarbenem Marmor säumten den hell erleuchteten Platz in der Mitte dieses Rings- der sie alle untereinander zu verbinden schien wie eine hauchdünne, schimmernde Membran- und reckten zahllose, endlos lang wirkende weiße Arme weit in das Wasser hinein, sodass man den Eindruck bekam, dass ganze Lichtbahnen um diese weltfremden Fakultäten zu zirkulieren schienen. Auf dem Platz, an den Universitäten, über ihnen und um sie herum tummelten sich Meeresbewohner aller erdenklichen Gattungen und äußeren Erscheinungen. Und all dies war in die weichen Reflexionen eines seltsam blütenfarbenen Lichtes getaucht, das seine unirdischen Wellen in sanften Strahlen aushauchte, ein Licht, das von nirgends und von überall zu kommen schien, und einen in einen Zustand innigster Wärme lullte. Ich fühlte mich unbeschreiblich wohl und verspürte den eigenartigen Wunsch, mich zusammenzurollen wie ein Fötus im Leib seiner Mutter. "Hach! Verdammt, ich liebe diese Stadt!" "Was Sie nicht sagen." "Ich meine immer, was ich sage", erwiderte ich, "Sie werden sehen, die Vorlesung wird Ihnen ganz bestimmt gefallen!" Als mein Leibwächter schon wieder zu schimpfen anfing, beschloss ich ganz einfach, es auszublenden und mich dem warmen Schein dieses Lichts hinzugeben. Demonstrativ schmiegte ich mich enger an den Rücken des Seepferds, das bereits den Platz der Untersee-Skulpturen anstrebte, um zu seiner Universität zu gelangen. Wie lange ich schon nicht mehr hier gewesen war. Nun, das macht ja keinen Unterschied, konstatierte meine innere Stimme, Es hat sich nichts verändert, oder? Allein diese Feststellung genügte mir, um wieder diese Mischung aus Spannung und Unbehagen in mir auszulösen. Schweigend rollte ich mich zusammen und schloss die Augen. "Kuro-chii?" Keine Antwort. Die lavaroten Augen stierten hartnäckig in eine andere Richtung. "Kuro-pyohoooon..." Wieder keine Antwort. Mann, für diesen finsteren Blick hätte ein Folterknecht sicher Millionen gezahlt, falls ein Folterknecht denn soviel verdiente. "Kuurooo-muuuneee!!", quengelte ich und malträtierte die linke Schulter meines Leibwächters mit meinem Zeigefinger, "Jetzt hören Sie doch endlich auf, eingeschnappt zu sein!" "Ich bin nicht eingeschnappt", gab Kurogane sein stählernes Schweigen endlich auf, "Und wenn ich eingeschnappt wäre- was ich NICHT bin- dann hätten Sie sich's auf jeden Fall verdient, weil Sie mich jetzt schon zum -zigsten Mal zu irgendeinem Lumpenkrust schleppen, für den ich mich nicht die Bohne interessiere!! Was bringt es uns, jetzt hier in diesem verdammten Hörsaal abzuhängen?! Darum wäre ich eingeschnappt, was ich aber nachweislich nicht bin!" Ich blinzelte. "Ach so. Sagen Sie doch gleich, dass Sie eingeschnappt sind." "AAAARRRRRRGH!!!" Ich summte vergnügt vor mich hin und ignorierte tapfer den Fakt, dass wir von der guten Hälfte der bereits eingetroffenen Unterseestudenten angestarrt wurden wie zwei benutzte Blasenpflaster. Das Auditorium selbst war in einem mächtigen Ring angeordnet, der sich in stufenweisen Rängen nach oben erhob. In der Mitte des Saals stand das Podium für die Professoren. "Also, mir gefällt's hier", beharrte ich, während sich Kurogane mal wieder alles andere als beeindruckt zeigte. "Wieso können wir nicht einfach nach den Samen fragen und dann wieder verschwinden?" "Weeeeil submarine Vorlesungen erstens superinteressant sind, zweitens, weil es zur guten Sitte gehört, und drittens, weil alle Studenten, die Sie hier sehen, das Ziel haben, Arzt zu werden. Arzt ist Arzt, Kuro-pyon. Sie wollen in dieselbe Richtung arbeiten, wie wir es tun! Sie wollen helfen. Fürsorge zeigen. Heilen. Verstehen Sie?" Kurogane stieß einen Laut aus, der zwischen Ächzen und Knurren schwankte. "Ich werd das Gefühl nicht los, dass Sie alles, aber auch alles, zu etwas Heiligem machen wollen! Kann das sein?! Also, ich bemerke das schon seit ich für Sie arbeite, und--..." Er brach mitten in seiner Kanonade ab, offenbar hatte etwas auf der anderen Seite des Auditoriums seine Aufmerksamkeit erregt. Ich nutzte diese Sprechpause von seiner Seite, um mich gebührend zu verteidigen. "Wieso denn auch nicht?" Ich hielt jedoch bald inne, da Kurogane es offenbar wieder vorzuziehen schien, auf die andere Seite des Hörsaals zu starren. Verwirrt beobachtete ich, wie seine Mundwinkel nach einigen Sekunden Millimeter für Millimeter herabsackten, ebenso wie seine Augenbrauen, als hätten sie vor, sein Kinn zu heiraten. Ergebnis: ein Grabesblick der abartigsten Sorte. "Ähh, halloooh-... ?" "Klappe halten", zischte mein Leibwächter unerwartet scharf zurück, allerdings ohne sich umzudrehen, "Wir werden beobachtet." "Jepp, vom guten Dreiviertel des Hörsaals", bemerkte ich sachlich, "Schön, dass Sie's auch bemerkt haben." Entgegen meiner Erwartung kam keine bissige Bemerkung retour- im Gegenteil, Kurogane biss sich auf die Lippen und starrte auf den Boden. "Dort drüben." Ich reckte neugierig meinen Hals und blickte in die Richtung, in die er möglichst unauffällig mit dem Daumen zeigte. Nach kurzer Suche hatte ich die beiden Objekte, die meinen schwarzhaarigen Weggenossen so störten, bereits erfasst: es waren zwei Nixen. Eine von ihnen, die mir die Ältere zu sein schien, hatte hüftlanges, hell venusmuschelfarbenes Haar, das in sanften Wellen um ihren schönen Kopf wogte, während die Jüngere einen schulterlangen, dunkleren Schopf aufwies. Bis zu den Ansätzen der Taille hatten beide eindeutig menschliche Züge, während ihr Unterleib nahtlos in einen langen, schlanken Fischschweif überlief, der mit einem schillernden Schuppenkleid bedeckt und beinahe schleierhaft zarten Flossen geschmückt war. Das Auffälligste an diesen beiden Nixen war jedoch, dass sie uns eindeutig zu beobachten schienen, denn sie tuschelten und kicherten unübersehbar miteinander und schielten immer wieder verstohlen zu uns herüber, wie das Mädchen nun einmal taten. "Ja und? Wahrscheinlich unterhalten sie sich gerade darüber, wie gut wir beide doch aussehen! Das baut auf, mein Lieber!" Ich winkte ihnen spornstreichs neckisch zu, was von den beiden ebenso augenzwinkernd erwidert wurde. "Was zur Hölle tun Sie da?!!", fauchte mich Kurogane an, "Lassen Sie das!! Das sind Mädchen!!!" Schweigen. Ich spürte dass ich meinen Begleiter aus riesigen Augen ungläubig anglotzte. Was ging denn mit dem?? Da ich mit seiner Aussage nicht viel anfangen konnte, setzten sich meine Logik-Rädchen sofort in Gang. Okay Fye, also, denk logisch: Kurogane hatte gerade gesagt, dass diese Nixen Mädchen waren. Das war an sich gesehen schon mal ein korrekter Fakt, aber vom Tonfall her hätte der Satz ebenso gut Das sind zwei Haufen Schleim mit zehn Augen und dem Körpergeruch von verdorbener Tabasco-Soße lauten können. Daraus ergab sich, dass er den Satz absichtlich mit einer gewissen-... nun ja, Abneigung, gesprochen hatte. Und daraus ergab sich, dass er eine Abneigung gegen diese Mädchen zu hegen schien, obwohl er sie noch nicht einmal kannte, ein bei ihm nicht gerade seltenes Phänomen, wie ich bereits festgestellt hatte. Aber es kam noch ein Aspekt hinzu: er hatte- auf rein wörtlicher Ebene- gesagt 'Das sind Mädchen' und nicht 'Das sind die Mädchen' oder 'Das sind diese Mädchen', oder sogar 'Das sind schon wieder diese Mädchen.' Da er weder einen bestimmten Artikel noch ein Demonstrativpronomen vor dem Substantiv 'Mädchen' benutzt hatte, hatte er mit seiner Aussage nicht beabsichtigt, eine bestimmte Mädchengruppe zu spezifizieren. Das bedeutete, dass es sich bei dem Satz um eine Verallgemeinerung handelte. Und das wiederum bedeutete, dass er gegen Mädchen allgemein eine Abneigung hegte, obwohl er sie noch nicht einmal kannte. Und DAS konnte bedeuten, dass er--... dass er möglicherweise--... Ich starrte meinen Leibwächter nach all dieser Rechnerei ein wenig verdattert an. "Okay, war das ein Geständnis?" Dem Schwarzhaarigen fielen fast die Augen aus dem Kopf. "WAAAAAS?!! S-... soll das ein Witz sein?!!!" "Naja, ich meine, jeder hat doch seine gewissen sexuellen Neigun--" "HIER GEHT'S DOCH NICHT UM DIE SEXUELLEN NEIGUNGEN!!", explodierte Kurogane augenblicklich, "Ich hab keine sexuelle Neigungen!! Das sind süße Mädchen, verdammt nochmal!!" "Was haben Sie denn gegen süße Mädchen?", fragte ich, nun völlig überrumpelt. "Süße Mädchen sind lästig! Süße Mädchen halten niemals die Klappe! ICH HASSE SÜSSE MÄDCHEN!!" Das alles schrie er mir so leidenschaftlich ins Gesicht, dass meine Trommelfelle es schwer hatten, nicht einfach zu zerplatzen. Ich fuchtelte wie wild mit den Händen, um meinen aufgebrachten Leibwächter halbwegs zu beruhigen. "Najaaa, ich dachte ja bloß, dass Sie möglicherweise schw--..." "Sprechen Sie dieses Wort nicht aus!!" "Schon gut, schon guuuuuuuuut...." Ich rieb mir stöhnend meine schmerzenden Ohren und pries den Herrn, dass es in Gakoshida keine Irrenanstalt gab, in die man uns hätte einweisen können. Also, entweder war meine Rechnung nicht aufgegangen, oder Kurogane wollte ganz einfach nicht zugeben, dass-... ich hielt in meinen wilden Überlegungen inne, als ich bemerkte, dass sich die beiden Nixendamen über unseren venären Disput anscheinend köstlich amüsiert hatten und nun beabsichtigten, zu unseren Plätzen zu gelangen. Kurogane wurde starr wie ein Brett, während ich kichern musste und den hübschen Ladies den erhobenen Daumen zeigte. Die Nixe mit den langen, venusmuschelfarbenen Haaren lächelte kokett, als sie bei uns waren. "Hallo, Jungs!" Okay, Fye. Okay. Sei nonchalant wie das periphere Hirnzentrum. Sei cool wie eine tote Niere. Sei ein Gentleman. "Guten Tag, meine Damen!", trällerte ich wohlgemut und zauberte mein bestes Frank Sinatra -Lächeln hervor, während Kurogane den Blick senkte und den Fußboden anstarrte, als bestünde er aus Platin. "Ihr zwei kommt von oben, stimmt's... ?", meldete sich diesmal die augenscheinlich Jüngere zu Wort, "Wir hatten vor einem halben Jahr zum letzten Mal Besuch von oben und wollten unseren Ehrengästen nur mal eben guten Tag sagen!" "Ja wirklich? Na, dann bedanken wir uns für die Begrüßung!", sagte ich fröhlich, "Und was eure Aussage angeht, so kann ich die nur bestätigen! Dann nehm ich mal ganz spontan an, dass ihr von unten kommt?" Die zwei kicherten. "Stimmt allerdings! Mit wem haben wir die Ehre?" "Was mich angeht: Fye de Flourite", stellte ich mich galant vor, "Auftragsarzt von Beruf. Und das ist mein Reisebegleiter und Bodyguard Kurogane Koimihari." "Mein Name ist Océane", erklärte mir die Ältere der beiden Unterwasserdamen, "Und das ist meine kleine Schwester Marina. Wir sind mit unserem Cousin Neferti zum Frühlingssemester nach Gakoshida gekommen, aber er studiert maritime Botanik und besucht nicht dieselbe Uni wie wir. Wir trimmen uns hier auf Chirurgen mit pathologischem Nebenzweig auf ozeanischer Ebene. Was führt euch Jungs hierher?" "Wir wollten die submarinen Fakultäten von Gakoshida besichtigen und bei der Gelegenheit auch ein paar Schösslinge für Unterwasserpflanzen besorgen, oben ist man da gerade knapp am Mann." "Wow! Sie sind echt Auftragsarzt? Wann war Ihre letzte Mission?" "Vor ein paar Tagen, in Kosumoni. Um was geht's in der nächsten Vorlesung?" "Anatomielehren von Kopffüßlern des Kaiyonobannan", eröffnete mir die jüngere Nixe namens Marina. So wie sie es sagte, musste es wohl besonders sexy sein, an einer Vorlesung über die Anatomie von Kopffüßlern teilzunehmen. Ich bemerkte, dass sich die beiden während unseres Smalltalks bereits auf den Plätzen neben Kurogane und mir niedergelassen hatte- Marina zu meiner Linken, Océane zu Kuroganes Rechten, was diesen nicht gnädiger zu stimmen schien. Im Gegenteil, er starrte so hartnäckig Löcher ins Wasser, als hätte er vor, irgendeinen Rekord zu brechen. Den würde ich nicht zum Reden bringen, selbst wenn ich mich auf den Kopf stellen würde, und die zwei Fischfräuleins schienen das auch schnell zu erkennen, denn sie sahen ihn nur kurz aus großen, verwundert blinzelnden Augen an, bevor sie sich wieder mir zuwandten. "Wenn ihr submarine Pflanzen sucht, können wir euch sicher helfen!", schlug Océane vor, "Unser Cousin studiert in dem Zweig und hat da einige gute Kontakte, um euch kostenlos Samen zu beschaffen. Vermutlich für Heilpflanzen, nicht...?" "Ja, wir wollen einige exotischere Heilgenossen in den Gärten der Argundus-Universität züchten, weil man in der freien Wildbahn nur sehr schwer an sie herankommt!", erklärte ich beflissen, "Während unserer letzten Aufträge hatten wir ziemliches Glück, die notwendigen Pflanzen anzutreffen, und damit es da keine bösen Überraschungen gibt, haben wir uns dafür entschieden." "Eine gute Entscheidung!", erwärmte sich Marina neben mir, "Sie scheinen mir sehr erfahren zu sein, Doktor!" "Ich mach es seit ungefähr dreieinhalb Jahren, also noch nicht allzu lange", erwiderte ich bescheiden. "Aaaaaaach, Sie müssen doch nicht so damit hinterm Berg halten!", kicherte Océane, "Wir lieben solche Geschichten, stimmt's, Mari-chan?" "Na klar, Océ-chan! Unser Hauptziel ist es nämlich auch, so etwas wie wandernde Chirurginnen zu werden! Die totale Freiheit, keine Regeln, die man befolgen muss..." "Naja, an einige Schemata muss man sich schon halten", beschwichtigte ich die lebhafte Nixe zu meiner Linken. "Aber an nicht so viele wie als logierender Arzt, nicht? Sie müssen uns unbedingt mehr erzählen!" "Nun--..." Ich hielt in meinem verlegenen Satzanfang inne, als ich aus dem Augenwinkel bemerkte, dass der Professor den Hörsaal betrat. Es war ein stattlicher Kabeljau mit einem langen Kinnbart und weißen, vorgestülpten Kusslippen. "Das ist Professor Bodo", erklärte Océane flüsternd, "Dann wird's jetzt wohl losgehen! Reden wir nach der Sitzung weiter?" "Ahm-... gern!", erwiderte ich fröhlich und konnte förmlich spüren, wie mir Kurogane im Geiste den Hals umdrehte. Ich zog es vor, das Frank Sinatra -Lächeln auf meinem Gesicht kleben zu lassen und meine Aufmerksamkeit Professor Bodo zu widmen, der gerade seine Unterlagen ordnete, während sich die letzten Studenten hastig auf ihre Plätze begaben. Die beiden Damen an unserer Seite nahmen ebenfalls ihre Utensilien hervor. Ich musste unwillkürlich grinsen. Zwei Menschen- einer davon offensichtlich ein eingefleischter Frauenhasser- und zwei Nixen- beide davon offensichtlich vollends von unserer Erscheinung begeistert. Das konnte ja mal was werden. Ich hatte es doch geahnt. Dabei hatte ich ihm doch schon gesagt, dass ich einfach nur diese dämlichen Pflanzensamen holen und dann wieder verschwinden wollte. Aber nein – er schleifte mich zu einer Vorlesung, von der ich nicht mal wusste, über was es gehen sollte und mich obendrein nicht das Geringste interessierte, und dann fing er auch noch an, sich mit Mädchen zu verabreden. Nicht, dass ich etwas dagegen hatte, dass er sich mit ihnen verabredete, da wäre ich ihn zumindest für eine Weile los. Mir ging es allerdings gewaltig gegen den Strich, dass er mich garantiert mitschleifen würde. Dafür könnte ich ihm den Kopf abreißen! Das hatte er wohl auch gemerkt, denn er sah zu dem Fisch-Professor, der eben herein geschwommen gekommen war, seinen Kram hervorsuchte und auf dem Tisch vor sich sorgfältig ausbreitete. Auch die Aufmerksamkeit der beiden Nixen richtete sich auf den Dozenten. Ich hoffte, dass dies eine - zumindest für die anderen – äußerst spannende Vorlesung war. Denn dann kamen sie hoffentlich nicht auf die Idee, mich zwischendurch anzusprechen. Denn ich war mir sicher, dass meine Reaktionen darauf dann nicht sehr höflich wären. Ich hatte nichts gegen die zwei Nixen persönlich. Allerdings hatte ich so einige Erfahrungen gemacht, weshalb ich ein wenig gereizt auf weibliche Personen reagierte. Aber das hieß noch lange nicht, dass ich deshalb auf Männer stand... Vielleicht hätte ich nicht so herumbrüllen sollen, denn hin und wieder spürte ich einige Blick in meinem Nacken, wohl von anderen Studenten, die alles zweifelsohne mitbekommen hatte. Ich tat einfach so, als würde ich es nicht bemerken. Und das fiel mir nicht sonderlich schwer – mich interessierte es schon etwas länger nicht mehr, was andere vielleicht über mich dachten. Die meisten trauten es sich sowieso nicht, es mir offen ins Gesicht zu sagen, und wenn sie es taten, dann konnte ich es ja richtig stellen. Die meisten sahen das auch ein – nun zumindest bisher war das immer so gewesen. Bei Fye klappte das so gut wie nie. Die Tatsache, dass ich hier unten war, bestätigte das. Er schien sowieso nur das zu hören, was er wollte und den Rest so zu drehen, wie es ihm gerade in den Kram passte. Auf dem Weg hierher – einmal durch die halbe Unterwasserstadt und in eine völlig andere Richtung, als die, die wir eigentlich hätten einschlagen sollen– hatte er mir erklärt, dass wir noch einen 'kleinen' Abstecher in diese Universität machen würden. Einen Grund hatte er mir dafür nicht genannt. Ich hatte mich zwar aufgeregt, aber das hatte ihn auch nicht von der Idee abgebracht – wie immer also. Ich allerdings hatte festgestellt, dass es nicht so gut war, sich unter Wasser aufzuregen... Lag wahrscheinlich an dem Druck hier unten und an dem Atemgerät. Der Fisch-Professor fing mit seinem Vortrag an. Anscheinend ging es um Anatomie und Chirurgie – na super, wollte er demnächst einen Fisch operieren? Oder war er etwa hier, um Mädchen aufzureißen... ? Er schien sich hier unten ja auch bestens auszukennen. Ich weniger, ich war früher nur ein paar Mal hier in Gakoshida gewesen, um – "Kommen Sie dann auch mit... ?", riss mich eine glockenhelle Kicherstimme von rechts aus den Gedanken. Bevor ich antworten konnte, klopfte mein Begleiter mir breit grinsend auf die Schulter. "Aber sicher kommt er mit!", verkündete er. "WAS? Das entscheide immer noch ich, ob ich irgendwo hin mitkomme!", fauchte ich ihn an, "Wohin überhaupt?" "Pschhht!", machte er, "Nicht ganz so laut, ja? Ausgehen, natürlich! Einen drauf machen, sich die Gegend ansehen, abhängen!" "Warum?" Leicht fassungslos sah ich ihn an. Wir waren doch nicht hergekommen, um uns zu amüsieren. Anscheinend hatte er das irgendwie verdrängt – und da er sich über sowieso alles amüsieren konnte, schien ihm das noch leichter gefallen zu sein. "Warum? Sie stellen vielleicht Fragen! Die beiden hübschen Damen hier haben gefragt." "So?", machte ich desinteressiert. "Ja!", kam es mit überschwänglicher Begeisterung zurück, dass ich unwillkürlich ein wenig zurückwich. "Ach, bitte! Sie müssen mitkommen!", flötete die Nixe von rechts. "Ich muss gar nichts...", murrte ich. Ich sah wieder zu Fye. "Außerdem – wir sind pleite, das können wir uns gar nicht leisten!" "Aber die beiden haben uns eingeladen!", ereiferte er sich und beide Nixen nickten ebenso enthusiastisch dazu. "Damen lässt man aber nicht zahlen", blaffte ich zurück – und Fye sah mich an, als hätte ich mich plötzlich in Gold verwandelt und die beiden Nixen schienen plötzlich sehr angetan zu sein. "Was haben Sie mit dem echten Kurogane gemacht?", fragte Fye und starrte mich durchdringend an. Ich hob bloß eine Augenbraue und seufzte genervt. "Sie sind ja ein richtiger Gentleman! Wieso haben sie das nicht gesagt?" "Weil Sie nicht gefragt haben, und zweitens, das ist ja wohl meine Sache!" Er sah mich beleidigt an. "Ja, wie soll ich denn bitte auf die Idee kommen, Sie zu fragen, ob Sie nicht vielleicht doch ein paar Manieren haben? Das wäre ziemlich unhöflich! Außerdem – nach Ihrem Auftreten hab ich die gar nicht mehr erwartet!" Ich funkelte ihn sauer an, während die beiden Nixen leise zu kichern anfingen. "Ich bin eben für Überraschungen gut", grollte ich. "Oh, ja! Allerdings." Jetzt grinste er und fing an, mich wieder mit seinem Finger in den Oberarm zu pieken. "Ich hoffe ja mal, dass es noch viel mehr solch positiver Überraschungen gibt!" "Wenn Sie nicht damit aufhören, werden Sie keine weiteren Überraschungen mehr erleben!", knurrte ich und er zog seinen Finger wieder zurück. "Kommen Sie denn mit?", wollte er dann wissen. "Habe ich eine andere Wahl?", fragte ich zurück. "Schön! Dann gehen wir wohl alle zu viert aus! Das wird sicher lustig!", freute er sich. "Wir sind zu fünft", warf eine der Nixen ein – die neben Fye saß. Die rechts neben mir nickte. "Unser Cousin Nerferti kommt wohl auch mit, er kann es nie bleiben lassen, den Anstandswauwau zu spielen“, sagte sie, "Dann könnt ihr euch gleich mit ihm über die Pflanzensamen unterhalten!" "Das wäre wirklich gut! Sagt mal, wo kann man sich denn so amüsieren?", fragte Fye und schon waren er und die drei Nixen in eine angeregte Diskussion vertieft. Ich hörte nur halb hin. Wollten die beiden Mädchen nicht eigentlich nach der Vorlesung darüber reden? Doch anscheinend fanden sie es interessanter, sich mit Fye über die Locations auszutauschen. Was ich nachvollziehen konnte – der Vortrag des Fischprofessors war sehr langweilig. "Also", flüsterte die Nixe namens Océane aufgeregt, "Hier in Gakoshida gibts' eine wirklich angesagte Multikulti-Bar! Wenn man dort nicht gewesen ist, kann man nicht von sich behaupten, Gakoshidas Nightlife zu kennen!" "Na, dann ist diese Adresse ja quasi ein Muss für uns!", erwärmte sich Fye augenblicklich, "Wo ist die?" "In der Innenstadt- das 'Billy Bluefish' ", erklärte Marina. "Alles klar! Billy Bluefish!" Ich runzelte skeptisch die Stirn. Billy Bluefish? Ich hoffte ja, dass der Name nicht alles über diese Bar aussagte, was es auszusagen gab... "Billy Bluefiiiiiiiiiish!", jubelte ich übermütig und warf beide Arme in die Luft, "Jaahaaa!! Wir machen einen drauf!! Wir müssen unbedingt einen Tanzwettbewerb antreten! Und wir trinken, dass die Schwarte kracht!" Halb erwartete ich schon eine gesalzene Schimpfkanonade von meinem schwarzhaarigen Kompagnon- da kam jedoch nichts. Im Gegenteil, er war den ganzen restlichen Nachmittag über- in dem wir die Pflanzensamen von Océanes und Marinas Cousin Neferti abgeholt, unsere Beete gejätet, zur Hälfte bepflanzt und noch zwei weitere Vorträge Per Corpore gehalten hatten- immer stiller und stiller geworden. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, welcher jedoch nicht erwidert wurde- ich sah ratlos zu unseren drei submarinen Weggefährten, welche in einer hell pulsierenden Plexiglasröhre zu unserer Linken neben uns herschwammen, angesichts von Kuroganes Zustand jedoch auch nur die Achseln zucken konnten. "Hey-... Kuro-mune!", versuchte ich es nochmal, "Kommen Sie schon, seien Sie doch keine solche Spaßbremse! Sie tun ja direkt, als wären Sie der eingefleischteste Diskotheken-Hasser, den die Welt je gesehen hat!" "Bin ich auch", lautete die unvermutete und offen gestanden ziemlich trockene Antwort meines Leibwächters, die noch von einem feuergefährlichen Blick untermalt wurde, sodass ich es vorzog, keine weiteren Fragen zu stellen. Mann, der Kerl konnte einem echt den ganzen Abend vermiesen. Was ihm wohl jetzt schon wieder für eine Laus über die Leber gelaufen war? Offenbar würde ich mich eher in eine Rispentomate verwandeln, als das herauszufinden. "Wart ihr schon mal im Billy Bluefish?", wandte ich mich daher an Neferti, der schon vor Beginn des Abends zu uns gestoßen war. Er war ein junger, ein wenig schmächtig wirkender Meermann mit kurzen, rotbarschfarbenen Haaren und einer schweren Hornbrille auf der Himmelfahrtsnase, der im Moment ob dem angeregten Zustand seiner Kusinen ein wenig skeptisch wirkte. "Natürlich waren wir, aber gegen meinen Willen, was auch sonst?", äußerte er sich, sodass Océane und Marina kicherten, "Du glaubst ja gar nicht, mit was für Ballast ich hier gesegnet bin!" "Nefeertiiiiii-chan!", flötete Océane, "Komm schooooon!" "Er ist eine männliche Dancing Queen", erklärte Marina beflissen, sodass ihr Cousin karmesinrot anlief, was gut zu seiner Frisur passte, "Er will es eben nur nie zugeben!" "Oh, das kenn ich", kicherte ich amüsiert, "Aber ich meine, wir sind doch bestrafenswert rationale Leute... ein Botaniker, zwei Chirurginnen, ein Auftragsarzt und ein Leibwächter! Wenn das mal nicht nach einem zellularbiologischen Disput riecht!" Kurogane stöhnte. Marina lachte. "Stimmt! Wahrscheinlich kommen wir da nicht einmal zum Tanzen!" "Du musst uns ohnehin noch von deinen Aufträgen erzählen, Fye-san!", erwärmte sich Océane, "Wir sind doch so neugierig!" "Eins nach dem anderen!", entschied Neferti, der sich offenbar durch seine lieben Kusinen gezwungen sah, zu einem Anstandswauwau extraordinärer Klasse heranzureifen, "Dort vorne ist schon das Billy Bluefish!" "Eeeecht? Jaaaaaaa!!", jubelte ich übermütig und riss beide Arme in die Luft, wobei ich Kuroganes Kinn nur um weniges verfehlte, "Dort vorne! Dort vorne, Kuro-wan, sehen Sie nur!" Man konnte das Billy Bluefish getrost zu einer der besseren Diskotheken von Gakoshida zählen, dazu bedurfte es keiner langen Beobachtung. Der ganze Club war in unterwasserhafter Manier in einer gewaltigen Kuppel angelegt, die zum Teil aus mächtigen, pulsierend blau beleuchteten Aquarien bestand, in denen unzählige Meereskreaturen umeinander herwimmelten und sich zu den dröhnenden elektronischen Rhytmen bewegten, die das ganze Gebäude in seinen Grundmauern erzittern ließen. Auf halber Höhe zog sich eine ein verglaster Streifen um die globusförmige Disko, um einen Einblick in ihr rege belebtes Inneres zu gewähren, und von ihrer verglasten Oberfläche wanden sich Röhren für die submarinen Besucher in alle Himmelsrichtungen davon, was ihr ein bizarres, aber auch sehr anziehendes Äußeres verlieh. Die ganze Disko schien mitsamt der Umgebung in gleißend blauem Licht nahezu zu schwimmen. Es floss, flackerte und pulsierte mit dem Takt der Musik, sodass es fast den Anschein bekam, als ströme ein Herzschlag oder rhytmische Atmung durch ein gewaltiges, lebendiges Wesen, das mit den Fingern nicht zu greifen war. "Wooow, ist das coooool!", entzückte ich mich, während wir uns dem Eingangsportal näherten und das Innere des Clubs betraten. Der Rhytmus ging rasend schnell. Ein stechendes Flackern schwebte über der Tanzfläche, in dem alle Bewegungen, egal ob von Lungen- oder Kiemenatmern, zu einem einzigen Strudel verschmolzen, der einen gnadenlos anzog und verschlingen wollte. Es war mehr als chaotisch. Es überschwemmte mich regelrecht. "Weiter hinten stehen Tische! Wir sollten uns einen Platz besorgen, wenn wir nicht die ganze Nacht stehen wollen!", überbrüllte Neferti die donnernden Lautsprecher, während sich Océane und Marina bereits aufgeregt in schnellen Schwimmbewegungen die Röhre hinaufwanden, um zur Tanzfläche zu gelangen. "Gute Idee!!", brüllte ich zurück, bevor ich meinen Kompagnon am Handgelenk packte, "Kommen Sie schon, Kuro-pyon!!" Mein Leibwächter sträubte sich, jedoch nicht so vehement, wie ich das sonst von ihm gewöhnt war. Ich drehte mich verwundert um, sah ihn an und spürte seine Irritation, das Flackern in seinen Augen. Das wilde, blaue Licht geisterte über die markanten Züge seiner Gestalt und ließ sie mir regelrecht ins Gesicht springen. "Ich hasse das", sagte er tonlos, mit einer Stimme, die kaum mehr war ein Murmeln, aber gleichzeitig den Lärm und das Dröhnen der Lautsprecher mühelos durchschnitt, "Es ist wie eine Gehirnwäsche." Mein Herz machte einen Satz, und ich fühlte, wie sich meine Augen weiteten. Was-... "Hey, wo bleibt ihr Jungs denn?", unterbrach uns Océanes erwartungsvolle Stimme, die sich unerwartet wieder in die Röhre neben uns begeben hatte, "Neferti-chan hat einen Tisch ergattert! Er ist da hinten! Wollen wir hin, oder wollen wir erst tanzen?" "Haaaaach", erwiderte ich fröhlich und zauberte in Sekundenschnelle mein bewährtes Partytime -Lächeln aufs Gesicht, "Tanzen wir uns doch ganz einfach einen Weg zum Tisch!" Für mich stellte das kein Problem dar, im Moment lief Steam Machine, ein Lied, zu dem ich noch als Student getanzt hatte, aber ob der schwarzhaarige Diskomuffel hinter mir schon davon gehört hatte, da hegte ich gewisse Zweifel. Vorsichtshalber beschränkte ich mich darauf, nur mit einem Bein und einem Arm zu tanzen, während ich mit dem anderen Kurogane hinter mir herschleifte, sorgfältig darauf bedacht, dass er mir nicht entkommen konnte. Das irisierende, chaotische Innenleben dieser Bar schien ihn allerdings mittlerweile völlig gelähmt zu haben, sodass er mir widerspruchslos folgte. Auf seinem Gesicht prangte ein Ausdruck, den wohl nur ein Urwaldmensch haben konnte, den man aus dem Urwald geholt und mitten in einer Großstadt abgesetzt hatte. Entschlossen schob ich die Fragen beiseite, die mich überkommen wollten, und schaffte es, Océane durch die Bar Richtung der Tische zu folgen, an dem bereits Marina und Neferti auf uns warteten. Hier hinten konnte man sich wenigstens unterhalten, ohne dabei den Kehlkopf unnötig missbrauchen zu müssen. Der Tisch war zur Hälfte verglast und unter Wasser gesetzt, und der ältere Cousin unserer beiden submarinen Begleiterinnen hatte auch schon an die Drinks gedacht. "Sind Meermenschen immer solch ein Organisationstalent?", erkundigte ich mich fröhlich, während ich mich auf die trockene Seite des Tisches fallenließ. "Sagen wir, das Leben im Kaiyonobannan trimmt den Charakter", erklärte Neferti, "Das Meer birgt immer noch einige Lebensformen, die man besser nicht auf ein Tässchen Tee einladen sollte, von Fressfeinden mal ganz abgesehen. Und dann gibt's natürlich noch diesen populären Irrglauben, dass Nixeneingeweide unsterblich machen..." "Er gibt übrigens immer so an", setzte Marina nach, sodass der junge Meermann entnervt aufächzte und ich kicherte. "Aus welcher Gegend des Kaiyonobannan kommt ihr genau?" "Isola Arcobalena", sagte Océane, "Wir sind dorthin gezogen, als unsere Eltern vor einigen Jahren gestorben sind, und wohnen jetzt bei einer Familie von Medusenfischen. Und ihr beiden?" "Uranoke Sho", erwiderte Kurogane so einsilbig wie üblich, während ich nur lächeln konnte. "Ich bin überall zu Hause. Für mich ist zuhause immer dort, wo ich gerade bin. Ich hatte wohl Glück, dass ich in einem Haus großgeworden bin, in dem Gattung oder Herkunft keine Rolle gespielt haben." "Das erleichtert dir deine Arbeit als Auftragsarzt sicher sehr!", erwärmte sich Marina. "Es bereichert sie sogar", sagte ich fröhlich und nippte ein wenig an meinem Drink, "Warum habt ihr euch für eure Studienfächer entschieden?" "Sie gehen in eine Disko, um zu debattieren?", hörte ich meinen Leibwächter neben mir knurren, der offenbar Teile seiner Fassung bereits wieder gefunden hatte. "Ich weiß genau, was du meinst!", meinte Océane beschwichtigend, "Wir sollten so langsam mal tanzen gehen!" "Das hab ich nicht gemeint", fauchte Kurogane respektlos zurück. "Aber Kuro-chuu!", sagte ich ganz erstaunt, "Sag bloß, Sie können nicht tanzen!" "Natürlich kann ich! Das kann doch jeder!" "Aber?" "Aber ich steh eben mehr auf Gesellschaftstänze als auf diesen Diskoscheiß", blaffte er mich an. "Aber es läuft gerade Steam Machine! Dazu MUSS man tanzen können!" "Wenn Sie mich noch weiter nerven, hat es sich gleich für immer ausgestiimäschiint!" "Ahahahah-... wir müssen ja nicht zwingend-...", warf Neferti von hinten ein, dem das Tanzen ebensowenig zu liegen schien, "Ich meine, dort draußen tanzt doch sowieso jeder für sich, und-..." "Man tanzt für sich?", fragte ich ganz erstaunt, "Das wusste ich gar nicht! Ich dachte immer, man tanzt gemeinsam!" "Man tanzt für sich, genauso wie man für sich studiert", meinte Neferti achselzuckend, "Man macht doch vieles für sich!" "Das mag ja alles sein", erklärte ich überschwenglich und stieß meinen Trinkhalm entschlossen in die Luft wie ein Kapellmeister seinen Taktstock, "Aber es gibt da ein Prinzip, das ich schon seit meinem achten Lebensjahr beobachten konnte, und das immer wieder kennzeichnend für das war, was ich geleistet habe: nämlich das Prinzip des Pluralismus!" "Inwiefern?", fragte Neferti mit gehobenen Brauen, während Kurogane nur mit einem nervenschwachen Ächzen zur Seite blickte, "Der Begriff allein sagt mir nur 'Mehrzahligkeit'." "Genau das ist ja eben: Mehrzahligkeit!", trumpfte ich auf, "Als Arzt beschäftigt man sich vornehmlich mit zwei Dingen: erstens mit der Gesundheit- und zweitens mit der Zukunft der Gesundheit. Zukunft und Fortschritt ist in der Medizin schon immer ein zentrales Thema gewesen, und wird es auch immer bleiben. Denn was wünscht man sich als Arzt mehr, als ein Heilmittel gegen jede Krankheit zu finden?" "Ist es denn dein Wunsch?", erkundigte sich Océane und legte ihre Hände gegen das Glas des Tischaquariums. Ich lächelte ein wenig. "Es klingt vielleicht ein bisschen lächerlich, aber... ich hatte mir damals geschworen, alle Krankheiten auf dieser Welt zu bekämpfen. Ich hatte es mir selbst zum Ziel gesetzt, und das nicht nur für mich." Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Kurogane den Blick hob und mich misstrauisch anstarrte, bevor ich fortfuhr. "Aber mit der Zeit hab ich bemerkt, dass ich es allein nicht schaffe, egal, wie sehr ich mich auch anstrenge. Jedes Wesen glaubt, es lebt für sich allein, aber das stimmt nun einmal nicht", sagte ich und sah mit einem Lächeln in die Runde, "Wir sind durch nichts voneinander getrennt, und jede unserer Taten kann auf den anderen zurückwirken. Und genauso verhält es sich auch mit der Zukunft: der sicherste Weg dorthin führt zusammen. Nach allem, was ich während meiner Amtszeit bereits erlebt habe, ist das für mich bisher die wertvollste Erkenntnis gewesen. Es ist Blödsinn, Geschichten von Helden zu schreiben, die ihre Heldentaten ohne jegliche Unterstützung auf ganz eigene Faust vollbracht haben. Man braucht einander, und ohne einander kann es nicht zu solchen Heldentaten kommen." "Das stimmt!", sagte Marina erstaunt, "Jetzt, wo du's so sagst! Denken wir mal an-... Batman! Batman hat Robin als Gefährten!" "Super-Pig hat Super-Cow." "Holmes hat Watson..." "Und Dick hat Doof." "Ernie hat Bert!" "... Und ihr habt einander", schloss Océane und sah uns mit schiefgelegtem Kopf an. Ich blinzelte ein wenig überfragt zurück, während mein Leibwächter wie so oft nur etwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart hineinbrummelte. "Oh Mann!", unterbrach Marina das zugegebenermaßen doch etwas peinliche Schweigen, "Jetzt haben wir über unserer ganzen Philosophiererei das Tanzen vergessen!" "Stimmt!", ereiferte ich mich sofort, "Das müssen wir nachholen!" "Kein Interesse", kam es sofort unisono von Neferti und Kurogane retour, sodass ich lachen musste. "Aber was machen wir dann, wenn wir schon mal nicht tanzen?" Ich ließ meinen Blick ein wenig schweifen, bevor sich mir das bot, was ich gesucht hatte- das Drinkglas. Unwillkürlich breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus. "Also, mein Vorschlag lautet: wenn wir schon mal nicht um die Wette tanzen... dann können wir doch um die Wette trinken!" Mein Leibwächter stutzte und sah mich skeptisch von der Seite an- ich konnte jedoch nur breit zurückgrinsen. Würde vielleicht doch ein ganz lustiger Abend werden. Kapitel 11: Cole et doce! - 4 ----------------------------- "Ouuuh... mein Kooopf..." Fye kam aus dem Zimmer gewankt, als befände er sich auf einem schaukelndem Schiff und nicht in einem Studentenwohnheim. Ich sah nur kurz auf – wieso hatte ich geahnt, dass er einen gewaltigen Kater haben würde? "Wie spät ist es... und wie bin ich hier her gekommen?", fragte er und hielt sich den Kopf. "Nachdem Sie sich unter den Tisch gesoffen haben und sich dann wie der letzte Idiot benommen haben, habe ich Sie hier her gebracht. Und jetzt nerven Sie mich nicht mit Ihrem Kater, klar?" Denn ich hatte keine Kopfschmerzen, obwohl ich wahrscheinlich mehr getrunken hatte als er. Hätte ich gewusst, dass er nichts vertrug, dann hätte ich mich niemals darauf eingelassen, einen Trinkwettbewerb zu veranstalten – beziehungsweise hätte verhindert, dass er so viel trank. Es war gar nicht so einfach, ihn davon zu überzeugen, zu gehen. "Wo sind wir eigentlich?" Er ließ sich neben mich fallen. "Immer noch unter Wasser – in einem der Wohnheime. Es wäre zu gefährlich gewesen, Sie in dem Zustand nach oben zu bringen." Schließlich war er blau gewesen wie ein Hering und ehrlich gesagt, ich hatte mir es nicht antun wollen, ihn nach oben zu bringen und dann durch die halbe Universität zu schleppen. Und noch weniger, wenn er dabei auch noch ununterbrochen miaut hätte. "Ahhh...", machte er und nickte, verzog dabei aber das Gesicht, anscheinend hatte das nicht gut getan. Sein Problem, wenn er nicht einschätzen konnte, wie viel er vertrug. Im nächsten Moment stellte sich heraus, dass es auch mein Problem war – anstatt wegen seiner Knopfschmerzen die Klappe zu halten, fing er an, mich damit zu löchern, was nach der Diskussion über Vorteile von Körnerkissen gegenüber Wärmflaschen passiert war. "Eigentlich nicht mehr viel! Sie haben sich wie ein Idiot benommen und ich hab Sie hierher gebracht", fauchte ich genervt. "Nicht so laut", jammerte er wehleidig. "Nehmen Sie ein Aspirin und lassen Sie mich verdammt noch mal mit Ihren Kopfschmerzen in Ruhe." Er stand tatsächlich auf und ging auf die Suche nach dem Kopfschmerzmittel, allerdings hatte ich nicht lange meine Ruhe. "Hat Neferti-kun Ihnen die Samen eigentlich gegeben?", fragte er, als er wieder da war. "Ja, hat er. Ist alles dort drüben in der Tasche", meinte ich und deutete darauf. "Wunderbar! Dann können wir ja gleich aufbrechen und wieder zurück nach oben tauchen, um die Samen einzupflanzen!" Woher hatte er bei diesem Kater diesen Elan? Ich nickte aber, da ich schnellstmöglich hier weg wollte. Und da er ja wieder redete ohne Punkt und Komma, schien er ja wohl auch in der Lage zu sein, wieder selbstständig zu schwimmen. "Warum sind Sie denn immer noch sauer?", fragte Fye an mich gewandt. Wir waren mittlerweile ins Gewächshaus zurückgekehrt und waren dabei, die Samen einzupflanzen. Spannend war die Sache nicht gerade, obwohl es meinem Begleiter wohl eine Menge Spaß machen musste, da er ein Tempo und Elan darlegte, als gäbe es nichts Schöneres. Für mich war das völlig unverständlich. Obwohl – momentan hatte er abwehrend beide Hände gehoben und ein schiefes, anscheinend beruhigend wirkendes Lächeln aufgesetzt. Allerdings interessierte mich das in meinem wutentbrannten Ausbruch wenig. "Sie haben WAS getan?!", schnaubte ich. "Na ja – ich dachte, es wäre vielleicht nicht so schlecht, wenn wir Kontakt mit Nerferti-kun, Océ-chan und Mari-chan halten." "Und warum, verdammt noch mal, geben Sie ihnen MEINE Adresse, heh??!!" "Na, warum wohl?", fragte er mit einem tadelnden Unterton, als wäre ich schwer von Begriff, "Das ist doch wohl logisch. Ich habe keine feste Adresse und es würde nichts bringen, die Briefe hierher zu schicken..." "ABER DAS IST NOCH LANGE KEIN GRUND--...!!" "Jo, Alter, was schreiste denn so, relax!", wurde ich unterbrochen und ich drehte mich wütend zu dem Gewächs um, das soeben die Türen des botanischen Zentrums aufstieß und eilig hereingewackelt kam. "Aaaah! Flori-rin!", trällerte ich und winkte dem Sägezahn-Salbei, der wie üblich in Begleitung seiner Sonnenbrille auf uns zugestakst kam, fröhlich zu, "Was gibt's Neues? Wie sieht's mit deinen Lottolosen aus?" "Deswegen wollt ich euch auch sprechen, Mann", lautete die Antwort, während Florian sich neben uns an den so gut wie fertig bepflanzten Beeten niederließ und umständlich seine Ranken aufrollte, "Aber eigentlich bin ich ja hergedasht, um dir zu verklickern, dass du da 'nen Anrufer in der Strippe beim Empfang hast, Alter." "Wer, ich?", fragte ich erstaunt, "Ja aber-... wer würde mich denn anrufen wollen?" "Ihr Hirn, um Ihnen zu sagen, wo Sie's verloren haben!", giftete mein Leibwächter. Ich überhörte das geflissentlich. Heute war offenbar einfach nicht sein Tag. Hatte sicher noch mit gestern Abend zu tun- ich konnte mich immer noch nur sehr verschwommen an den Verlauf des späteren Abends erinnern, und die Gedächtnisstützen, die mir Océane und Marina gegeben hatten, ließen die fürchterlichsten Verdachte in mir aufkeimen. Um es auf einer diskreten Basis zu belassen: meine jahrelangen Vermutungen und Thesen, dass das Betrunkensein nichts weiter war als ein Zustand, in dem man problemlos die Dinge tun konnte, die man bei klarem Verstand nicht mit dem Gewissen vereinbaren wollte, war eindeutig korrekt- und das offenbar sehr zum Ärger meines Begleiters. "Der Typ hat mir gesteckt, dass er dich schon länger kennt, Alter", erklärte Florian soeben bedeutsam, "Hat gesagt, er wäre dein Telegrammbote... hat irgendwas von wegen gebrabbelt, sein Name wär Honda-... oder nee, Mitsubishi..." "Subaru?", setzte ich fragend nach. "Aaaah, genau, Alter: Subaru! War total außer Atem, der Kleine. Hat gesagt, es wäre wichtig, aber mehr wollt er nicht rausrücken. Scheint übelst was Konkretes zu sein, Bruder. Soll ich für dich zum Gewächshaus verbinden oder willste ins Foyer rennen?" "Ähhm... Gewächshaus, wenn's geht. Danke, Flori-rin." "Null problemo, Mann." "Kann uns dieser blau betuchte Kandolinitrottel nicht mal in Ruhe lassen?", knurrte Kurogane, während Florian eilig zum Eingang des Gewächshauses wackelte, wo sich eine mehr als nur altertümliche Fusion aus Faxgerät und Fernsprechanlage befand. Ich blinzelte. "Was um alles in der Welt ist ein Kandolinitrottel?" "Vergessen Sie's", brummte mein Leibwächter und stieß seinen Spaten in die frische Düngererde, die er bis eben umgegraben hatte. Ich wischte mir mit einem erdkrümelübersäten Gartenhandschuh über die verschwitzte Stirn und legte den Samenbeutel zur Seite, um zu hören, was Florian sagte. "Okay, Alter, bist du noch dran? Ich weiß, dass es dringend is, Mann, ich hab dir deinen Chef doch schon rangeschafft. Ja, jetzt beruhig dich mal! Chill, okay? Ja, ich geb ihn dir gleich. Okay, Mann. Gleichfalls. Oy, Alter!", röhrte er schließlich zu mir rüber und schwenkte den rostigen Telefonhörer in seiner Ranke, "Hier is Toyota für dich!" "Subaru." "Mein ich doch." Ich erhob mich eilig und nahm den Hörer entgegen, während sich der Sägezahn-Salbei wieder zu meinem Reisebegleiter gesellte. "Okay, Alter, was das Lotto anbelangt..." Ich entschied, erst einmal den Anruf aufzunehmen, und hielt mir den Hörer ans Ohr. "Hallo? Subaru-kun?" "Hallo, Fye-san!", hörte ich Subarus atemlose Stimme an meinem Ohr, "Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie bei Ihrer Arbeit störe, aber ich dachte mir, das sollten Sie sich vielleicht mal ansehen!" "Kein Problem, worum geht's denn? Ein neuer Job?" Subaru wollte antworten, doch ein ohrenbetäubendes Gejohle im Hintergrund unterbrach ihn. "Ein Joooob, ein Jooooob, wir haben einen Joooohooob--..." "Hokuto-chan, sei leise, wir stören die Nachbarn!!" "BWAHA!! Aber ich war's doch, die den Job besorgt hat, oder etwa nicht?? Hahaha, du hättest diese Macho-Gurus von der Marine mal sehen sollen, als ich-..." "Hokuto-chan!!" Ich hörte geduldig dem unbeholfenen Streit an meinem Ohr zu- Subaru schaffte es nur in den seltensten Fällen, sich gegen seine rigorose Schwester durchzusetzen- und merkte ein wenig verdutzt auf, als ich bemerkte, dass hinter meinem Rücken bereits auch schon der Bär kräftig am Steppen war. "WAS SOLL DAS HEISSEN, DU LEBENDE BIOMÜLLKIPPE?!!" "Alter, du hast ja absolut keinen Stil beim Schimpfen! Und ich hab's dir doch schon verklickert, dass es keine Absicht war!" "Aber du hättest doch-... AAAARRGH!!! Ich bin von Geistesschwachen umgeben!" "Ach ja, wie hättest du's denn dann abgewickelt, Alter?!" "ICH HÄTTE DAS ANDERE GENOMMEN!! Ich würde sogar eher ein Barbie-Reise-Traummobil als Preis akzeptieren als so ein heruntergekommenes, verballertes, ekelgrüneschumpfhgghhffghr-..." Kuroganes Gebrüll ging in einer wutentbrannten Mischung aus Nuscheln, Prusten, Schmatzen und Japsen unter, als Florian ihm kurzerhand eine Ranke um den Mund wickelte und seine Lippen dadurch zum Aufstülpen brachte, als wäre mein Leibwächter kein Leibwächter, sondern ein satanistischer Koikarpfen. Ich blinzelte befremdet, während das Johlen und Toben an meinem Ohr langsam wieder zur Ruhe kam. "Also, Subaru-kun, habt ihr euren Adrenalinspiegel dann soweit wieder beruhigt?" "J-ja. Entschuldigen Sie, es war eine harte Woche." "Oh, für uns auch. Also, kann ich davon ausgehen, dass ihr zwei einen neuen Job für uns habt?" "Ja. Es hat einen Heidenaufwand gekostet, um das Telegramm zu bergen, weil der Absender angeblich sehr gut betucht sein soll, aber Sie wissen ja, kein lebendes Wesen kommt an Hokuto-chan vorbei, wenn's um einen Job geht." Ich grinste in mich hinein. In der Tat, Subarus Zwillingsschwester tat definitiv etwas für ihr Geld- im Postamt von Uranoke Sho herrschte in der Telegrammabteilung oft heilloses Durcheinander, doch sie griff gnadenlos durch. "Wie wär's, wenn du's mir schnell faxt, Subaru-kun? Das Telefon hier hat auch eine Faxvorrichtung." "Oh! Das ist natürlich was anderes. Einen Moment, bitte." Der Apparat verfiel in ein mannigfaltiges Jaulen und Stottern. Kurogane und Florian hatten sich soweit auch wieder eingekriegt und hockten japsend nebeneinander auf dem Beetvorsprung. Mein Leibwächter rieb seinen von der Quetschaktion tomatenrot angelaufenen Mund. Ich unterdrückte ein Kichern und riss den Zettel ab, den die Apparatur soeben unter gequältem Hulchen und Rattern ausgespuckt hatte. Es war unverkennbar ein Arzttelegramm, das folgende Zeilen für mich bereit hielt: UNGEWÖHNL GESUNDHEITSPHÄNOMEN festgestellt stop nässender Hautausschlag Schmerzen beim Blinzeln Atemnot Essbeschwerden stop suche erfah Arzt zur Lösung des Problems stop dringlich da beruflich oft gefordert stop Honorar je nach Mitteleinsatz stop ABSENDER Uil Noctua aus MOLENVRIENDIN in BALKJEBEEKE stop Ich runzelte nachdenklich die Stirn, während ich mir das Telegramm durchlas. Aha, aha. Das klang gar nicht mal so uninteressant. Und dazu wäre das dann unser erster gemeinsamer Auftrag, der uns in ein Land außerhalb von Kongoseki Oka führen würde- nach Balkjebeeke. Das Land des Windes, stampfender Korn- und Wassermühlen, das Land der Eulen und der Volksfeste. Ich war schon öfter dort gewesen, und es würde mir ein Vergnügen sein, mal wieder einen kleinen Abstecher dorthin zu machen, denn mir gefielen die Art von Land und Leuten, und ich hatte dort auch schon diverse Freundschaften geschlossen. Ich bezweifelte jedoch, dass Kurogane schon einmal dort gewesen war, und ich bezweifelte noch stärker, dass er die Aussicht auf tagelanges Wandern durch windgepeitschtes Flachland mit sonderlichem Jubel willkommen heißen würde. Bevor ich jedoch weiter überlegen konnte, meldete sich Subaru an meinem Ohr wieder zu Wort. "Ist es angekommen, Fye-san?" "Ja! Habt vielen Dank, ihr beiden! Hört sich nach einem interessanten Job an!" "Das freut mich. Sie werden sich vermutlich auch heute auf den Weg machen? "Ja, wir kratzen noch alles an Vorräten und Muskelkraft zusammen, die wir haben, und brechen dann sofort auf. Wir haben kein Transportmittel, und der Weg nach Balkjebeeke ist weit. Wenigstens ist das Land eine einzige flache Ebene, da wird das Wandern nicht schwer fallen." "Stimmt. Also, dann wünsche ich Ihnen noch viel Erfolg! Hokuto-chan und ich haben noch einen Botengang zu erledigen." "Danke gleichfalls! Also, man sieht sich!" "Bis bald, Fye-san!" Hochzufrieden hängte ich den Hörer zurück in die Gabel und kehrte zu meinen Kumpanen zurück, die sich von ihrer wilden Schimpforgie schon halbwegs erholt hatten. "Raten Sie, was das ist!", verkündete ich erwartungsvoll und wedelte mit dem Telegramm vor Kuroganes Nase herum. "Ein Papierwisch?", kam es brummend zurück. "Nein, es ist sogar noch mehr: es ist ein Papierwisch, auf dem unsere nächste Mission verzeichnet ist!" Das wirkte. Sofort schnappte mir mein Leibwächter das Telegramm aus der Hand und las es sich durch. "Balkjebeeke?", fragte er zweifelnd und reagierte damit exakt so, wie ich es erwartet hatte. "Ja", nickte ich fröhlich, "Das Land liegt ein wenig weiter im Norden, oberhalb der Meerenge vom Kaiyonobannan! Das Land ist ausnahmslos flach, nur im Westen befindet sich ein größeres Gebirge - das Weerdeuk-Gebirge - über das aber nur die wenigsten Leute reisen, weil es zu den weniger bequem besteig- und begehbaren Gebirgen gehö--..." "KLAPPE!! Sparen Sie sich Ihr Lexikongequatsche lieber für die Fahrt auf!" Ich blinzelte milde verwundert. "Für die Fahrt? Wir haben doch nicht einmal ein Fahrzeug!" "Pah!", schnaubte der Schwarzhaarige nur und zeigte damit anklagend auf Florian wie auf einen Mörder vor Gericht, "Von wegen! Dieses Biogewächs hier ist da offenbar anderer Meinung!" Ich wandte mich mit gehobenen Augenbrauen dem Sägezahn-Salbei zu, doch der grinste nur so breit, dass ich den großzügigsten Ausblick auf seine Säbelzähne hatte. Ich wusste nicht warum, aber irgendwie beschlich mich leichte Skepsis bei diesem Anblick. "Flori-rin... ?" Der exotische Hybrid aus Säbelzahntiger und Salbeipflanze gluckste nur. "Komm schon, Alter, ich muss euch was zeigen." "Das ist ja ein Auto!", rief Fye erstaunt.. "Das ist doch kein Auto!", erwiderte ich aufgebracht, "Das da-..." "Mann, Alter! Das ist das allerneuste Teil!", meinte Florian. "Ach was! Von wegen neu!!", gab ich zurück, "Das Teil ist bestimmt schon ein paar Jahre in Gebrauch! Außerdem – es ist GRÜN!" "Was haben Sie denn gegen grün?", wollte Fye wissen und sah mich irritiert an. "Das ist doch keine Farbe für ein Auto!!" "Ey, Alter, mal nix gegen Grün, ja?! Die Farbe ist total in!", rief Florian dazwischen, "Aber du meinst, das Teil is echt nich neu?" "Nein, ist es nicht...", fuhr ich ihn an, "Das ist Baujahr anno siebenundfünfzig. Ist schon ein paar Jährchen alt." Autos gab es noch nicht sehr lange, etwa zehn Jahre. Zumindest hier in Kongoseki Oka waren sie noch nicht sehr weit verbreitet, da sie teuer waren und nur wenig hergestellt wurden. Dieses hier, vor dem wir standen- ein knallgrüner Bentley, der schon beim bloßen Anschauen auseinander zu fallen schien- ließ sich aber wahrscheinlich schlecht verkaufen... "Sie kennen sich ja aus mit Autos!", meinte Fye anerkennend, "Sagen Sie bloß, Sie können auch noch fahren!" "Ja, kann ich!", blaffte ich, "Aber ich werd es nicht tun!" "Warum, weil das Auto grün ist? Ich find die Farbe passt", verkündete er, "Ich bin für den Namen Kermit!" "Sie geben diesem verdammten Bentley auch noch einen NAMEN?!! Ich bin wirklich von Geistesschwachen umgeben", ächzte ich völlig entnervt, doch zumindest das Gestrüpp schien völlig begeistert davon zu sein. "Yo, Mann! Das mal 'n konkreter Name! Kermit!" "Ja, richtig! Deshalb passt es ja auch!", ereiferte sich Fye vergnügt, bevor er wieder zu mir sah. "Um darauf zurück zu kommen, Sie wollen nicht fahren, weil das Auto grün ist?" "Das hab ich nicht gesagt, aber es ist unter anderem auch ein Grund!", knurrte ich. Grün... und dann auch noch kotzgrün... wie konnte man einen Bentley bitte kotzgrün lackieren?! "Und der andere Grund?", wollte mein Begleiter wissen. "Der geht Sie gar nichts an", fauchte ich. Das würde ich ihm nicht erzählen. Ich erinnerte mich sowieso nicht gern daran. "Nie erzählen Sie was!", protestierte er beleidigt. "Und so schlimm kann's doch gar nicht sein, Alter!", fügte der Salbei hinzu. "Du hast ja keine Ahnung!", fauchte ich und sah ihn drohend an, sodass er doch etwas heller unter der Brille wurde und nervös mit den Ranken zuckte. "Woaaaahhh! Chill! Ich nehm's zurück!" "Das will ich dir auch raten!" "Ehrlich, Mann! Es war nicht so gemeint!" "Ähehehehe- Kuro-nyan! Beruhigen Sie sich...", versuchte Fye mich zu beschwichtigen und wollte mir die Hand auf die Schulter legen. Nach einem Blick von mir überlegte er sich es wohl anscheinend anders, denn die Hand blieb kurze Zeit in der Luft hängen, bevor er sie wieder sinken ließ. Er wandte sich an Florian. "Und du willst es uns wirklich schenken?" "Yo, Mann! Du hast es gecheckt! Ich mein – was soll ich mit dem Schlitten? Ich kann nicht fahren, Kumpel!" "Und es ist wirklich in Ordnung?" "Ja, logo, Alter! Dann müsst ihr auch nicht immer so lang durch die Gegend latschen! Dann seid ihr mobil! Voll angesagt!", winkte er ab, "Außerdem hab ich euch doch mein Wort gegeben, dass ich teile, wenn ich abräume! Also, der Schlitten gehört euch, Kumpel!" Wenn dieses Biomüllgewächs zu einer Sprache griff, in der es in ganzen Sätzen redete, musste ja etwas dran. "Das ist wunderbar! Danke, Flori-rin! Das ist eine große Hilfe für uns, nicht wahr, Kuro-mune?" "Ja... sicher doch. Wenn Sie fahren lernen, mich auszahlen und ich kündige...", grollte ich. "Siehst du, er freut sich auch", meinte Fye fröhlich und schüttelte dem Gewächs die Ranke. "Und Sie sind sicher, dass das hinhauen wird?" "Sicher bin ich mir sicher. Und wenn Sie jetzt so freundlich sein könnten, weiterzumachen? Sonst kommen wir vor heute Nacht nicht mehr von hier weg!" "Kommandieren Sie mich nicht rum", maulte Kurogane und fuhr darin fort, unser ganzes Zeug zusammen zu suchen, das wir- oder besser gesagt ich- während unseres kurzen Aufenthaltes in unserer bescheidenen Räumlichkeit ausgebreitet hatten. Ich saß am Esstisch und war gerade damit beschäftigt, die Adressen unserer drei submarinen Freunde sowie die von Watanuki, Domeki und Florian in mein Adressenbuch zu übertragen. "Hach", seufzte ich zufrieden, als ich damit fertig war, "Und schon wieder sechs neue Bekanntschaften geschlossen." "Als ob wir damit auch nur irgendetwas gewonnen hätten!", fauchte mein Leibwächter ungnädig, während er das Chirurgenbesteck und die zehn Bücher über Vampirsachkunde, die ich in der Bibliothek der Argundus-Universität auf Kredit geborgt hatte, auf unsere Rucksäcke verteilte, "Können Sie sich nicht mal nachdenken, bevor Sie sich wieder einen anlachen?" "Ich lache mir keinen an!", antwortete ich beleidigt, "Sie sind so undankbar! Wir sollten uns freuen, jeder von diesen Sechsen hat etwas Gutes für uns getan und hat dafür nicht einmal eine Gegenleistung erwartet! Watanuki-kun und Domeki-kun schicken uns den Obduktionsbericht des Engels nach, Flori-rin hat uns einfach so ein Auto geschenkt-..." "Aha?! Und diese drei schrecklichen Nixen?" Ich seufzte. Anscheinend hatte Kurogane es bis zum Schluss nicht fertig gebracht, ein gutes Haar an unseren drei neuen Freunden zu lassen. Als Océane und Marina ihn zum Abschied umarmt hatten, hatte er ausgesehen, als müsste er jeden Moment einen Herzschlag erleiden. Die beiden hatten das putzig gefunden, aber offenbar hatte er wirklich was gegen nette, intelligente, süße Mädchen. "Sie sind vielleicht ein kaltherziger Betonklotz", stellte ich bedauernd fest, sodass er ein wütendes Schnauben ausstieß, "Und wenn Sie mich so böse angucken, werden Sie davon auch nicht schöner." "ICH BIN SCHÖN GENUG!!" "Das kann ich nicht beurteilen, und vermutlich darf ich das auch nicht, so wie ich Sie kenne..." "Da haben Sie ausnahmsweise verdammt nochmal recht!!" Für einen Moment versuchte ich, mir seine Reaktion vorzustellen, wenn ich ihm etwas in der Richtung ins Gesicht knallen würde, aber vermutlich würde ich eines gewaltsamen Todes sterben, bevor ich diese Reaktion mitkriegen konnte. "Wir hatten Spaß mit den dreien, reicht Ihnen das nicht?", sagte ich schließlich, "Und außerdem sind sie auf dem besten Wege, gute Chirurginnen beziehungsweise Botaniker zu werden. Wer weiß, vielleicht arbeiten wir ja mal mit ihnen zusammen?" "Tsss...", meinte mein Begleiter nur abfällig, bevor er unser Reisearsenal noch sorgfältig verschloss und sich schließlich zu mir an den Esstisch setzte, "Lassen Sie uns lieber die Reiseroute besprechen, damit es wenigstens da keinen Ärger gibt." Ich grübelte für einige Zeit, bevor ich schließlich meine vergilbte Landkarte aus meiner Rucksackrolle hervorfischte und sie auf dem Tisch ausbreitete. "Hier", sagte ich und deutete auf den langgezogenen Landstrich, auf dem das Kürzel für Balkjebeeke verzeichnet stand, "Hier ist unser Ziel. Balkjebeeke besteht zu achtzig Prozent nur aus Flachland. Die Leute haben sich das zunutze gemacht und haben die Schwerpunkte ihrer Wirtschaft auf internationalen Energiegewinn, Getreide- und Blumenzucht und Landwirtschaft gelegt. Weil das Land am Meer liegt und es auch kaum Wälder gibt, herrschen dort oft sehr starke Winde. Ich glaube, das erste, was Ihnen an Balkjebeeke auffallen wird, sind die Unzahlen an Windmühlen", erklärte ich fröhlich. "Das mag ja alles sein", brummte Kurogane mit deutlichem Desinteresse, "Aber wie sollen wir dort hinkommen? Sie haben gesagt, das Land liegt nördlich von Kongoseki Oka. Reicht's da nicht einfach, wenn wir an der Küste entlang fahren?" "Theoretisch haben Sie recht", räumte ich ein, "Aber hierbei haben wir das Problem, dass unser Zielort Molenvriendin...", damit zeigte ich auf einen der winzigen roten Punkte inmitten des flachen Landstrichs, in dem laut Telegramm unser potenzieller Patient wohnte, "... dass dieser Ort ziemlich weit weg von der Küste liegt. Wir müssten wahrscheinlich tagelang fahren, um auch nur eine Hälfte dieser Strecke mit Kermit zu bewältigen." "Und was schlagen Sie dann vor?" Ich deutete als Antwort auf eine der wenigen als Erhebung schraffierten Stellen. "Hier. Das Gebirge Weerdeuk, im Balkjebeeker Patois 'Wetterbeule'. Wenn wir uns Molenvriendin vom Weerdeuk-Gebirge aus nähern, würden wir erheblich weniger Zeit in Anspruch nehmen müssen, und unser Patient bekommt schneller Hilfe. Natürlich ist es ein gewisses Risiko, mit Kermit über das Gebirge zu fahren, aber es müsste zu schaffen sein." Kurogane starrte mich an, sein Gesicht ein einziges Synonym der unbegrenzten Skepsis. "Wieso hab ich nur das Gefühl, dass ich Ihnen ums Verrecken nicht glauben will?" "Ach, das bilden Sie sich vermutlich nur ein", entgegnete ich großzügig, "Jedenfalls spart es uns wie gesagt eine Menge Zeit, wenn wir den Weg über die Weerdeuk nehmen. Wenn wir erst einmal unten sind, ist der Rest ein Klacks. Dann kommen wir wahrscheinlich noch an mehreren kleineren Städten vorbei..." Ich fuhr mit meinem Zeigefinger über die mögliche Route. "Hier. Zondorp, Delkjendijk, Rustigonte. Und dann kommt auch schon Molenvriendin." Misstrauisch musterte Kurogane die vier roten Punkte, die unsere Reiseziele sein sollten. "Was? Molenvriendin hat nur hundertfünfzig Einwohner und schimpft sich eine Stadt?!", stieß er nach einem Blick auf die Legende entgeistert hervor, "Das-... das ist ja eher ein Kaff als eine Stadt!" "Durch die vielen Stürme dort wäre die Gefahr der Schäden einfach zu hoch", erklärte ich ihm, "Stellen Sie sich nur die Kosten in einer Großstadt vor. Außerdem machen sich die Einwohner die Abgelegenheit der eher bergnahen Städte zunutze, um dort Zuchteinrichtungen anzulegen- Balkjebeeke ist führender Experte in der Aufzucht von Blaustreifeneulen." "Blau was?" "Blaustreifeneulen. In der Fachsprache Strix Venetustria, wörtlich übersetzt 'Schleiereule mit Streifen in der Farbe des Himmels'. Ich hab Ihnen doch erzählt, dass die starken Winde in Balkjebeeke die Schwerpunkte der Wirtschaft darstellen? Das ist vernünftig, weil es dort oft stark stürmt, aber was tun, wenn mal eine Flaute herrscht? Wenn sich das zyklische Tief der Gradientkraft- die Kraft des Luftdrucks- zeitweilig verschiebt, gibt es keinen Wind. Und die restliche Rechnung ist einfach: Kein Wind bedeutet kein Getreide, kein Licht, keine Energie. Und deswegen züchtet man Blaustreifeneulen. Das sind genügsame, ausdauernde Tiere, und wenn mal kein Wind weht, schwärmen sie aus und treiben mit ihrem Flügelschlag die Mühlen an." Ich musste lächeln, als mich mein Leibwächter sichtlich erstaunt ansah. "Die Eulen treiben die Mühlen an?" "Jawohl! Ein altes Sprichwort sagt, 'Der beste Freund eines Balkjebeekers ist eine Blaustreifeneule'. Diese Tiere sind sogar Bestandteil ihrer Kultur, da man es nicht nur als Arbeitstier schätzt. Unser Uil Noctua ist sicher auch ein Eulenzüchter, wenn es heißt, dass er gut betucht sein soll. Blaustreifeneulenzucht ist in Balkjebeeke immer ein lohnendes Geschäft." "Verstehe. Und haben Sie schon Vorstellungen, woran dieser Noctua leiden könnte?" Stirnrunzelnd nahm ich das Telegramm noch einmal in Augenschein. Essbeschwerden, nässender Hautausschlag, Schmerzen beim Blinzeln... "Ich muss ein wenig drüber nachdenken", entschied ich schließlich, "Wenn ich mir die Symptome so ansehe, kommt glücklicherweise nicht vieles in Frage. Aber den Vortrag halte ich Ihnen besser auf der Fahrt, jetzt haben wir noch genug zu tun." "Das da wäre?" "Lassen Sie uns doch folgende Einteilung machen: Sie geben jetzt unsere Schlüssel ab, bezahlen und bringen dann unser Gepäck zu Kermit, während ich nochmal kurz nach unserem Beet schaue." "Was gibt es da noch zu schauen?" "Ich muss jemanden finden, der sich um die Pflanzen kümmert und uns Bescheid sagt, wenn sie erntebereit sind", erläuterte ich, "Wir wollen sie ja schließlich trocknen, um Medizin daraus zu machen!" "Das macht ausnahmsweise Sinn. Aber beeilen Sie sich gefälligst. In einer halben Stunde beim Wagen, verstanden?" "Na schön", gab ich mich geschlagen, bevor ich schließlich aufstand, um Jacke und Schuhe anzuziehen, während sich mein Begleiter sämtliche Rucksäcke auf den Rücken lud, "Aber kommen Sie nicht auf den Gedanken, ohne mich wegzufahren!" "Mhm, das wäre die erste gute Idee, auf die Sie heute gekommen sind", brummte Kurogane boshaft, sodass ich entrüstet nach Luft schnappen musste. "Also hören Sie mal, Kuro-chin! Ich schulde Ihnen noch Geld, vergessen Sie das nicht!" "Schade", lautete die Antwort, "Dann also bis später. Und beeilen Sie sich, kapiert? Ich halt's hier nicht mehr aus!" "Ich tue mein Bestes, wie immer!" "Ich werd Sie beim Wort nehmen! Sie beeilen sich!" "Ich beeil mich." Seufzend setzte ich mich in Trab, während mein Reisebegleiter die entgegengesetzte Richtung nahm. Das kann ja was werden. Kapitel 12: Reactio Insolitus - 1 --------------------------------- Tuckertuckertuckertuckertuckertucker... Ich hielt genüsslich die Augen geschlossen. Zwei meiner Finger hingen noch an seinem Rücken. Dünnes Morgenlicht fiel sanft durch die Fensterscheiben. Seine schaukelnden Bewegungen, mit denen er mich sanft bewegte, fühlten sich so gut an... Tuckertuckertuckertuckertucker-... harrrrrrchhhh. "SCHEISSTEIL!!" Ich schlug überrascht die Augen auf und fuhr aus meiner mehr liegenden als sitzenden Position hoch. Vor Schreck entglitt mir der Grundwortschatz an Beekerisch-Vokabeln, den ich in meinem Halbschlummer nur noch am Rücken festgehalten hatte. Das sanfte Schaukeln kam mit einem gequält hulchenden Ruckeln abrupt zum Stillstand. "W-was ist los?", erkundigte ich mich schlaftrunken und richtete mich mühsam auf dem Beifahrersitz auf. Ich musste mir erst den Sandmännchensand aus den Augen reiben, bevor ich einigermaßen klare Sicht hatte. Kuroganes Gesicht war vor Wut rot wie eine frisch geerntete Rispentomate. "Das ist jetzt schon das vierte Mal, dass mir dieser verdammte Bentley abwürgt!!!" "Det isch net goed", murmelte ich geistesabwesend auf Beekerisch. Unser Patient wartete sicher schon. "WAS?!!" "Das ist nicht gut. Versuchen Sie's doch mit der Notfallzündung, die müsste direkt unter dem Lenkrad-..." "Ich WEISS, wo die Notfallzündung ist!!", blaffte er zornentbrannt, "Aber die ist schon beim ersten Versuch abgerissen, falls Sie's überhaupt mitgekriegt haben!! Sie fanden's ja anscheinend angebrachter, die ganze Nacht mit Lesen zu verbringen! Und ich sag noch, dieses Schrottteil taugt nichts, aber nein, auf jemanden, der halbwegs etwas von Autos versteht, hört man natürlich nicht-..." Ich hörte mir geduldig das Geschnauze meines Leibwächters an und beobachtete ihn, wie er Kermits altertümlichen Zündschlüssel packte und ein ums andere Mal neu herumdrehte, während er mit seinem linken Fuß wie von Sinnen die Kupplung bearbeitete, da sie sich von Hand beim besten Willen nicht bewegen ließ. "Die Grundzüge von Beekerisch lassen sich eben nicht per Fingerschnipsen wieder auffrischen!", versuchte ich, ihn zu beschwichtigen, "Es ist schon Monate her, dass ich die Sprache das letzte Mal gesprochen habe, und wir wollen uns doch einigermaßen verständigen, wenn wir angekommen sind, hmh?" Kurogane antwortete nicht, sondern fuhr darin fort, den Zündschlüssel zu missbrauchen. Ich musterte ihn fragend von der Seite. Schon seit wir losgefahren waren- und das war jetzt immerhin schon gute acht Stunden her- hatte das Verhalten meines Leibwächters Züge angenommen, die man getrost als 'neurotisch' bezeichnen konnte. Ich hatte mich jetzt zwar schon einigermaßen an seine leicht erregbare Person gewöhnt, aber diese Seite an ihm war mir ja nahezu unheimlich. Es erinnerte mich ein wenig an meine erste humanorientierte Lungenflügel-Operation- die hatte ich zwar an einer Leiche durchgeführt, zum Üben, aber trotzdem hatte ich die ganze Zeit über ein nervöses Prickeln im Nacken gehabt, und genau dieses Prickeln war es, das mir in just diesem Moment anhaftete- und von dem ich wissen konnte, dass es nichts Gutes bedeutete. Und leider musste ich Kurogane in dem Punkt, dass unser Kermit wohl doch kein Bentley der neuesten Bauart war, eindeutig Recht geben- die Strecke von Gakoshida bis zu den ersten Erhebungen des Weerdeuk-Gebirges war zwar noch einigermaßen glatt gelaufen, aber kaum dass es in die steilen Engpässe und schmalen Gebirgsstraßen gegangen war, über die wir uns jetzt schon seit vier Stunden hinwegquälten, hatte Kermit eindeutig genug von langen Reisen gehabt und streikte nun wie ein altes Weib. Das schien Kurogane mehr als nur Sorgen zu bereiten, denn an seiner Stirn waren bereits wieder diverse Adern am Pochen. Für einige schreckliche Augenblicke sah es so aus, als würde er sich jeden Moment vor Wut die Zunge durchbeißen, als Kermit auf seine krampfhaften Startversuche nur mit rasselndem Hulchen und Stottern reagierte, das irgendwie an das schmerzgequälte Blöken eines Tiers erinnerte. "He-hey, ganz ruhig!", versuchte ich es zaghaft, "Das geht doch auch sicher etwas sanfter--" "Klappe!! Ich bin sanft genug!!" "Nicht, wenn Sie den Zündschlüssel weiterhin so hart befummeln, Sie unanständiger Junge." "Klappe!!! Wenn ich hart fummeln will, dann fummel ich auch hart, kapiert?!!" "Ich wollte doch nur--..." "KLAPPE HALTEN!!", brüllte Kurogane mittlerweile völlig entnervt zurück, sodass ich sofort zurückzuckte, "Der einzige, der gleich draufgeht, sind SIE, kapiert?!! Sie haben keine Ahnung von Autos und quatschen mir permanent dazwischen, und-... ich, ich-... ich reiß Ihnen den Kopf ab, wenn Sie nicht gleich still sind!!" "Schon gut, schon guuuuut..." Du liebe Güte. Okay, mittlerweile schien wohl auch 'neurotisch' gar kein Ausdruck mehr zu sein. Solch eine Aggressivität hatte ich zuletzt bei einem Milzbrandvirus gesehen. Offenbar schien er der Meinung zu sein, dass Autos sowas wie mechanisierte Mörder waren, so wie er sich gerade verhielt. Naja, zugebenermaßen, einen leichten Hauch von Risiko hatte es momentan durchaus- wir waren vor etwa einer halben Stunde auf dem rauen, windgepeitschten Spitzenplateau des Weerdeuk-Gebirges angekommen, wo die die wind- und wettergegerbten Felsen ihrem Namen- 'Wetterbeule'- auch wahrhaftig gerecht wurden. Zwischen den zerklüfteten Felsnuckeln führten nur wenige, ebenfalls stark ramponiert wirkende Straßen hindurch, offenbar waren die Erbauer der Meinung gewesen, dass hier sicher sowieso nur völlig Geistesschwache durchfahren würden. Ein wenig beleidigt fühlte ich mich bei dem Gedanken ja doch. Kermit hatte sich mittlerweile einige wenige, hoppelnde Sätze weiterbewegt und uns damit in eine Art Schoß aus einem Rund aus vom Wind glattgeschmirgelten Felsen befördert, doch nun schien er uns endgültig seinen Dienst zu verweigern. Er hatte tapfer gekämpft- wie ein gefallener Krieger im Todeskampf gab er ein Heulen und Stöhnen von sich, bei dem sich sämtliche Haare meines Körpers sträubten, und streckte sich unter qualvoll ruckelnden Zuckungen zum Sterben aus. "DU ZUM HIMMEL STINKENDE, DREIMAL VERFLUCHTE MISTKARRE!!! DU ABGEF--..." Ich schaffte es gerade noch, mir die Ohren zuzuhalten, bevor der Rest seiner furiosen Schimpfarie meine Synapsen erreichte. Nach etwa fünf Minuten war er fertig. Ich ließ meine Hände sinken und starrte ihn fragend an. "K-... kuro-rin... ?" "WAS?!!" "Ähhehehe-... was ist passiert?" "Sieht man das nicht?!", fauchte mein Leibwächter verbittert, "Die Karre ist mir verreckt! Aus! Ende! Wir müssen zu Fuß weiter!" "Waaaas? Aber wir können Kermit doch nicht einfach hier sterben lassen!" "Das ist ein verdammtes AUTO, Sie Idiot!!" "Aber--..." "AUTOS STERBEN NICHT!!" "Ja, aber, überlegen Sie doch erst, Kuro-wanko!", bemühte ich mich um sein Verständnis, "Dann hätten wir kein Auto mehr und würden viel länger bis zu Noctua-san brauchen! Und er baut auf uns! Außerdem können wir Kermit doch nicht einfach so lirum-larum aufgeben! Es wäre sicher viel schwerer, an ein anderes Auto zu kommen!" Das wirkte einigermaßen. Immerhin hörte er mit diesem entsetzlichen Schnauben und Zähnefletschen auf. "E-er... ist sicher zu reparieren!", setzte ich möglichst überzeugend nach. Eine schreckliche Stille machte sich breit. Doch plötzlich löste Kurogane seinen Gurt und riss mit einem halblauten Grollen seine Tür so heftig auf, dass sie wohl nur noch von einem gnädigen Schicksal vor dem Abfallen bewahrt wurden. Kaum, dass er draußen war, zerrte auch schon der Wind an seinen Haaren und zog ihm das Hemd halb aus. Ich stieg schnell ebenfalls aus, nur für den Fall, dass mein Leibwächter vorhatte, das Auto mit einem Kampfgebrüll in der nächstbesten Schlucht zu versenken und mich mit ihr. Der Wind peitschte mir augenblicklich das Haar ins Gesicht. "Was wollen wir nun tun?", rief ich gegen die jaulenden Sturmböen an und betete gleichzeitig für unser Gepäck. "Das, was Sie gesagt haben: ich versuche, diese Mistkarre zu reparieren!" "Hier oben?", fragte ich zweifelnd, "Ohne Werkzeug und Öl und so?" "Ja, hier oben! Und im Kofferraum sind ein paar Schraubenschlüssel!", brüllte er gegen den Wind an, "Ich bin kein Mann für halbe Sachen! Entweder repariere ich dieses-...", schon wieder so ein Wort, "... an Ort und Stelle, oder ich jag's zum Teufel!" "Na schön, aber hören Sie doch um Himmelswillen mit diesem Herumgefluche auf!" "Ich fluche soviel ich will! Und jetzt holen Sie mir die Schraubenschlüssel!" Schicksalsergeben umrundete ich unseren mittlerweile komatisierten Kermit und klappte den Kofferraumdeckel auf. Tatsächlich, da drin war tatsächlich eine flache Metallkiste mit einer bescheidenen, aber ausreichenden Werkzeugsammlung. "Hier", sagte ich zu ihm und hielt ihm den Kasten hin. "Stellen Sie's da vorne hin", entgegnete er und zog sich das Hemd aus. Sein Unterhemd war ebenso schwarz. Ich blinzelte ihn milde verwirrt an. "Ölflecken gehen nur schwer wieder raus", entgegnete er kurz angebunden, als er meinen fragenden Blick bemerkte. Dann klappte er den Kühlerdeckel hoch, schnappte sich einen der Schraubenschlüssel und hängte sich über den Motor. "Stimmt", stellte ich kichernd fest, als meinem Leibwächter auch schon nach wenigen Minuten ein sprotzender Ölstrahl aus dem Kühler entgegenschoss und ihn schwarz einsaute, sodass er einen Wutschrei ausstieß. "KLAPPE HALTEN!! Tun Sie von mir aus alles, was Sie wollen, aber kommentieren Sie mich nicht, kapiert?!!" "Okay. Wissen Sie was? Dann lese ich Ihnen eben Beekerisch-Vokabeln vor, während Sie-..." Ein plötzliches Geräusch ließ mich in meinen Worten innehalten. Ein Art Scharren. Es klang, als käme es von den Felsen über unseren Köpfen. Verwundert hob ich meinen Blick und starrte zu der bizarren Steinlandschaft empor, die uns umgab. Es regte sich nichts. Hatte ich es mir nur eingebildet? "... während Sie hier klar Schiff machen", beeilte ich mich schließlich meinen Satz zu beenden, "Beekerisch ist gar nicht so schwer!" "Es reicht mir schon, wenn es etwas verständlicher ist als Harpyisch", knurrte Kurogane zurück, während er mit der Brechzange ein völlig verbogenes Stück Lötdraht wieder in die richtige Form brachte. "Okay, das soll dann wohl 'ja' bedeuten!", trällerte ich wohlgemut zurück und zauberte binnen Sekunden meinen vergilbten Grundwortschatz hervor, bevor ich mich möglichst bequem an Kermits Dach lehnte, "Am besten fangen wir mit ganz einfachen Formeln an. Die kann sich jeder merken!" Ein halblautes Brummen kam retour. Ein Knacken ertönte aus der Kühlerhaube. "Also. Guten Tag zum Beispiel bedeutet Goeden Dack. Guten Abend- Goeden Avand. Du meine Güte- Herrgoetsakra. Du hast Recht- Do hoest Gejusteren. Es freut mich- Frait meh. Schlaf schö--..." Wieder ein Scharren, diesmal deutlich lauter. Ich hob schnell den Blick und starrte auf den Felsen, von dem ich das Geräusch vermutete. Angestrengt versuchte ich, das Geräusch des heulenden Windes auszublenden. Waren da Stimmen? ... Flüsternde Stimmen? Wieder ein Scharren... diesmal von mehreren Felsen... ? Dabei hatte ich gedacht, dass man nur in dunklen, engen Kellern mit der Zeit paranoid wurde, und nicht mitten in den Bergen. Kurogane schien es jedoch ebenfalls bemerkt zu haben, denn als ich mich wieder zu ihm umwandte, starrte auch er argwöhnisch zu dem Felsenrund empor. Er war mittlerweile noch zweimal von einem unerwarteten Ölstrahl getroffen worden. "Da oben ist doch irgendwas." "Das dachte ich mir gerade auch", gab ich zu, "Vermutlich nur ein scheuer Bergluchs. Die kriegen hier selten Autos zu sehen." "Na, wenn Sie mei-..." Ein Krachen. Mit lautem Bröckeln und Klackern kam ein einzelner Stein herabgeschlittert und landete vor unseren Füßen. Kurogane starrte mich an. Ich starrte Kurogane an. "Paranoid, oder was?", fragten wir gleichzeitig den jeweils anderen. "Ich doch nicht!", war die ebenso synchron gesprochene Antwort. Kurogane brummte und lehnte sich wieder über die Kühlerhaube. Ich kicherte. "Na, umsonst gefürchtet. Vielleichten machen wir ja eines Tages Karriere als große Duettsäng-..." Doch noch während ich das sagte, knirschte es auf einmal hinter dem Felsen neben mir. Ich schnappte überrumpelt nach Luft, als plötzlich Atemzüge hinter mir laut wurden- und ich auf einmal den kalten Lauf eines Gewehrs schmerzhaft dicht an meinem Hinterkopf spürte. Mein Herzschlag schoss augenblicklich in meinen Hals hinauf. Doch nicht umsonst gefürchtet. "So so so, wos hom wer denn doa für an blonda Sembachl?", hörte ich eine heisere Stimme im verkorksten Akzent der Balkjebeeker hinter meinem Rücken, "Bua, jets duasch amol doane Flossa ind' Luft! Sonscht werd hier gschossa!" "Klappe jetzt, ich muss mich konzentrieren und da kann ich diesen Schwachsinn nicht gebrauchen", knurrte ich geistesabwesend. Ich war so konzentriert, die Batterie wieder anzuschließen, weil das Kabel verschmort gewesen war, dass ich gar nicht registrierte, dass es nicht Fye war, der da gesprochen hatte. Oder vielleicht lag es auch daran, dass ich nun wirklich absolut keinen Nerv mehr, für das alles hier hatte. Ich war ja schon Anfang an nicht begeistert, aber dieses Land hier war ja wirklich äußerst langweilig. Und die Straßen waren die reinste Katastrophe, eigentlich konnte man das nicht mal Straße nennen... kein Wunder, dass der Bentley streikte. Der hatte ja schon auf gerader Strecke Schwierigkeiten. Vor allem, weil ich Autofahren nicht besonders mochte – genaugenommen konnte ich es nicht mehr ausstehen, seit-- "Äh... Kuro-nyan?" Es klang dringlich. "WAS?!", fauchte ich entnervt und hob den Blick. Oh. Konnte denn nicht einmal etwas glatt laufen?! "Ik han gsait Flossa ind' Luft! Sonscht schieß ik!", wiederholte der Typ, der meinem Begleiter gerade ein Gewehr ins Genick hielt. "Was? Red gefälligst deutlich, verdammt! Man versteht ja kein Wort!", blaffte ich zurück. Ich stellte fest, dass es insgesamt fünf waren. Allesamt schwarzhaarig, allerdings unterschiedlich vom Körperbau und zwei waren bebrillt. Fye sah mich an, als hätte er meine geistige Verfassung gerade entgültig in den Wind geschrieben, aber das war mir egal. Erst diese verdammte Karre, mit der man kaum einen Kilometer kam, dann das ganze Öl und jetzt auch noch dieser... konnte man das Überfall nennen? Die mussten ganz schön verzweifelt sein, zu denken, bei uns gäbe es irgendwas zu holen... Zum einen, weil wir wie immer pleite waren und zum zweiten – ich war sauer. Und die boten sich wirklich zum Abreagieren an. Mein Katana lag auf dem Rücksitz, und die hatten Schusswaffen – allerdings wohl aus optischen Gründen, denn das eine Gewehr war nicht mal entsichert. Und es waren bloß fünf. Dürfte zu schaffen sein. Außerdem standen sie praktischerweise alle schön verteilt. Und sie schienen ziemlich verwirrt darüber zu sein, dass ich mich bisher noch nicht bewegt hatte, um der Anweisung Folge zu leisten. "Öh... Kusanagi, wos grinnikt der do?", fragte ein Junge mit Brille- offenbar der Jüngste im Bunde- und sah etwas irritiert zu einem anderen, dem größten und bulligsten von der Bande, der offenbar sowas wie der Anführer zu sein schien. "Froag meh net so an Schmarrn, Eriol!" Aber anscheinend schien ihnen mein Ungehorsam nicht zu gefallen, denn sie hoben ihre Gewehre noch ein wenig weiter. "Äh... Kuro-rin – tun Sie bitte nichts Unüberlegtes...", bat Fye und schien auch etwas unruhig zu sein. Er schien zu ahnen, was ich vorhatte. „Ich überlege immer was ich tue!“, gab ich zurück- und der Kerl hinter Fye wurde auch schon wenige Sekunden später von einem gezielten Schraubenschlüssel am Kopf getroffen. Er sackte mit einem Jaulen zu Boden und hielt sich die Stirn. Fye erstarrte, als das Ding an ihm vorbeisauste und auch die vier anderen Räuber waren vollkommen überrascht. Anscheinend hatten sie gar nicht mit Widerstand gerechnet. Gut so. Dann kamen sie nicht auf die Idee, hier rumzuballern. Ich wirbelte zu dem mir am nächsten Stehenden herum – er war der andere mit Brille – und entwand ihm sein Gewehr, während ich ihn gleichzeitig zu Boden schickte. Er keuchte auf, als ihm durch den Aufprall die Luft wegblieb. Ich sah schnell zu Fye. "Stehen Sie da nicht so rum wie angewachsen!" Der hinter ihm rappelte sich gerade wieder auf und grinste. Auch der andere erhob sich langsam und rückte seine Brille zurecht. "Enteressont", meinte er bedeutungsvoll, "Niet waar, Kamui?" "Je hebt gelijk, Seishiro", antwortete der Gefragte- eindeutig der am zerbrechlichsten Gebaute in der Runde- "Ik zal het kort maken." "Brauchsch je hulp?", fragte derjenige, der noch nichts gesagt hatte, ein großer Schwarzhaariger mit braunen Augen. "Nee dua!", meinte dieser Kamui wichtigtuerisch, "Dat slagen ik ook alleen, Fuuma!" Dann ging anscheinend eine Diskussion los. Vielleicht waren sie sich nicht einig, wer uns zuerst erschießen durfte? Schien mir doch eine Amateurbande zu sein... Fye jedoch blätterte hektisch in seinem Wörterbuch. "Äh – ich glaube wir kriegen ein Problem", raunte er mir zu. "Aha. Und warum?", wollte ich wissen. "Na ja, wenn ich so nach dem gehe, was sie sagen, wollen sie ernst machen!", antwortete er. "Tsss... sollen sie ruhig herkommen", gab ich abfällig zurück. Doch bevor ich weiter drüber nachdenken konnte, wie die sich wohl anstellten, registrierte ich von hinten eine Bewegung. Blitzschnell wirbelte ich herum und der Kerl bekam meinen Hieb direkt ins Gesicht. Rücklings kippte er um. Fye war überrascht zur Seite gesprungen und starrte erst mich, dann den am Boden liegenden Räuber an. "Sie bleiben direkt da stehen. Rühren Sie sich nicht!", rief ich ihm zu. Hinterher bekam er noch unbeabsichtigt etwas ab. Die anderen Buschklepper kamen jetzt alle gleichzeitig, aber das verunsicherte mich kein bisschen. Den ersten – ich glaube es war dieser Kamui – schnappte ich einfach am Arm und nutzte seinen Schwung aus, um ihn gegen Fuuma zu schleudern, so dass sie beide gegen einen Felsbrocken stießen. Bei dem Knirps reichte ein relativ leichter Stoß gegen die Rübe, und den letzten, Seishiro, der mit seinem Gewehr ausgeholt hatte, um es mir an den Kopf zu hauen, blockte ich. Dann reichte ein gezielter Tritt gegen die Rippen, um ihn los zu werden. Der Erste richtete sich allerdings wieder auf, und hielt sich die Nase. Er sah etwas verärgert aus. Ich griff nach meinem Katana. Ohne würde ich es auch schaffen – aber ich hatte nun wirklich keine Lust, sie so lange zu verprügeln, bis sie keine Lust mehr hatten. "Habt ihr genug, oder wollt ihr noch mehr?!" "EH!! Jetzet hob ik obbr gnuag!!" "Det geiht mr uffn Weggr!! Waarom habbet ihr koane ondren Sembachl, die det maaken?!!" Mit gehobenen Augenbrauen hörte ich dem Gemaule der fünf Strolche zu. "Wos issn des üeberhopt für an Schrottwaaga?!!" "Gloich werd ik--" "KLAPPE HALTEN UND WEITERMACHEN!!" Das wirkte. Die Kerle, die uns noch vor zwei Stunden hatten ausrauben und dann vielleicht auch noch erschießen wollen, brüllten allesamt entsetzt auf, als mein Leibwächter drohend sein Katana über seinem Kopf hin- und herschwang, und legten sich sofort wieder ins Zeug. Der Schweiß rann ihnen schon allesamt von den Gesichtern, die Köpfe waren von der Anstrengung rot wie zum Platzen gefüllte Wasserballons und ihr Gehechel und Geschnaufe erinnerte mich an das einer gehetzten Hundemeute. Doch ihre Furcht vor Kuroganes Katana überwog eindeutig, sodass sie sich auch weiterhin dazu gezwungen sahen, das zu tun, wozu mein Leibwächter sie gezwungen hatte, nachdem er sie allesamt verprügelt und unterjocht hatte- nämlich Kermit zu schieben. Vom Berg hinunter bis in die Ebene, ohne auch nur einmal anzuhalten. Die fünf schnauften und fluchten verbissen vor sich hin, aber sie wussten wahrscheinlich ebenso gut, was ihnen blühte, wenn sie sich weigern würden, unseren geschwächten Bentley bis nach Zondorp, der nächstgelegenen Stadt, zu schieben. Vor einer halben Stunde hatten wir das Gebirgstal erreicht. Ich hatte mittlerweile auf Kermits Dach Platz genommen und besah mir die Landschaft, die sich uns und unseren fünf unfreiwilligen Begleitern auf unserem Weg offenbarte. Der Himmel war zwar zum Teil von schweren, grauen Regenwolken verhangen, und es zerrte uns wie auch schon in den Bergen ein rauer Wind an Haaren und Kleidern, aber es lag der Duft von blühenden Wiesen und ganzen Tulpen- und Weizenfeldern in der Luft, die sich wie ein nahezu endloser vielfarbiger Flickenteppich rechts und links von der breiten Landstraße erstreckten, über die wir gerade fuhren. Immer wieder passierten wir an den Rändern der Weizen- und Tulpenreihen geparkte Karren, an denen aufgezäumte Pferde oder Ochsen friedlich auf ihrem Standbein vor sich hindösten. Auf den Feldern selbst konnten wir oftmals Leute beobachten, die sich rege bei der Ernte befanden- junge Mädchen mit Kopftüchern und großen Körben über den Schultern, kranzflechtende Mütter und Großmütter, mit der Sense Getreide aberntende Männer und tulpenpflückende Kinder sahen neugierig von ihrer Arbeit auf und winkten uns zu, während wir gemütlich an den Feldern vorüberruckelten. Kurogane ächzte nur, während ich fleißig beide Arme einsetzte, um jedem mindestens einmal zurück zu winken. In der Ferne ragten mehrere gewaltige Wind- und Kornmühlen zwischen den Feldern auf wie ein Rund gewaltiger Wächter, deren vier mächtige Arme sich unablässig im Kreis drehten, und kamen langsam näher- ein gutes Zeichen, denn in Balkjebeeke standen die Mühlen oft in der Nähe der Städte. "Sehen Sie die Mühlen dort vorne?", rief ich gegen den Wind an, "Das heißt sicher, dass wir gleich da sind-... gloich hännters gschafft", setzte ich fröhlich im Beekerischen Akzent für unsere fünf 'Gehilfen' hinzu, damit sie sich wenigstens mit der Aussicht trösten konnten, sich bald wieder von uns- und damit von ihrer himmelschreienden Niederlage- loseisen zu dürfen. "Dat hoff ik denn ook", brummte der junge Spund mit dem Namen Kamui- auf unserem restlichen Weg durch die Gebirge hatte ich es zumindest ansatzweise geschafft, ein wenig Konversation mit unseren tollpatschigen Angreifern zu halten und hatte dabei herausgefunden, dass sie Kusanagi, Eriol, Seishiro, Kamui und Fuuma hießen-, als Kurogane jedoch ein bedrohliches Schnauben hören ließ, verstummte er verständlicherweise sofort. Eigentlich kein Wunder- so, wie er sie durch die Luft gewirbelt hatte. Ich hatte in meiner Laufbahn als Auftragsarzt zwar schon eigentliche spektakuläre Kämpfe in der Natur verfolgt- zum Beispiel zwei erregte Pegasushengste im Streit um eine Stute, oder ein Höhlentroll gegen einen ausgewachsenen Basilisken, das kam der Konstellation Kingkong-Godzilla in etwa gleich, vor allem, was den Geräuschpegel anbelangte- aber einen Menschen hatte ich noch nicht auf die Art kämpfen sehen, die Kurogane an den Tag legte. Diese raue, aber wohlüberlegte und vor allem effektive Weise, mit Schwert, Fäusten und Füßen umzugehen, konnte er nur in Todesbedrängnis oder in der Armee- oder gleich in beidem- gelernt haben. Man hatte ihm jedoch angesehen, dass unsere Fünf für ihn nichts weiter als Peanuts gewesen waren. Irgendwie überkam mich der seltsame Wunsch, ihn einmal beobachten zu können, wenn er richtig kämpfte. "Könner mr jetz net amol a Veschperpaus macha?", beschwerte sich Seishiro soeben und riss mich aus meinen Gedanken hoch. "Hättet ihr uns eben nicht überfallen, ihr Trottel!" "Wos hotter gsait?" "Des willsch et wessa", entgegnete ich achselzuckend, "Sei mr et bees, aber dädsch et schnellr schieba?" "Eh kah obbr nemme", fauchte Fuuma mit zusammengebissenen Zähnen, als ein wohlbeleibter Bauer mit seinem voll beladenen Ochsenkarren an uns vorüberfuhr und sich beim Anblick der fünf Räuber ins Fäustchen prustete. Zweifellos wäre es bald zu einer Art Meuterei gekommen, wenn nicht just in diesem Moment endlich die Windmühlen und die ersten strohgedeckten Häuser der Kleinstadt Zondorp- auf Beekerisch soviel wie 'Sonnendorf'- nähergekommen wären und uns somit retteten. Unser kurioses Erscheinen in Zondorp erweckte einiges Aufsehen. Die Leute raunten und die alten Frauen begannen zu tuscheln, als wir mit unserem tapferen Kermit auf den Gassen des Städtchens erschienen, die Kinder drängten neugierig auf die Straße und kamen an die Fenster gerannt, die jungen Frauen verrenkten sich die Hälse nach Kuroganes Erscheinung, man kicherte über unsere fünf inzwischen völlig deprimierten Wegbegleiter. "Goeden Dack!", rief ich fröhlich in die Runde und winkte vom Autodach aus wohlgemut den sichtlich amüsierten Balkjebeekern zu, während unsere Räuber den knallgrünen Bentley unter letzten Anstrengungen auf den Marktplatz schoben. Die armen Kerle keuchten mittlerweile wie alte Reiher und stützten sich auf den Knien ab, als Kurogane ihnen endlich gestattete, die Hände von Kermits Heckfläche zu nehmen. An den Fachwerk- und Strohdachhäusern, die den Platz säumten, kam es binnen Minuten zu dem reinsten Auflauf. Offenbar bekamen Zondorps Bewohner nicht oft solch ein Spektakel wie das, das wir hier gerade veranstalteten, zu sehen. "Also schön", meinte mein Leibwächer mit einem ja doch ziemlich sadistischen Grinsen auf den Lippen und nahm das Katana von seinen Schultern, um es wieder auf die Bande zu richten, sodass alle unisono nach Luft schnappten, "Ich hatte eigentlich vor, euch fünf Buschklepper abzustechen..." "Also, Kuro-rin!", empörte ich mich und kletterte mit Autoritätsmiene von Kermits Dach, "Hören Sie mal, wir können doch nicht noch gemeiner zu ihnen sein, als sie es zu uns gewesen sind!" "Dann regeln doch Sie's!" "Det zwarte Huatsempl ond ik lossn euh nu loffa", erklärte ich den Fünfen ohne weiteres, "Ond seids om Gottswuiln so liab ond üeberfället keene Lüüt meh, hännter des begriffa?" "Wos dr liabe Gott wuill, isch net eure Affär!", lautete Kusanagis zornentbrannte Antwort, während das Gekicher unter den Leuten immer lauter wurde, "Abr ois kann ik euch saga: wenn dr günschtigscht Dag kumma isch, dann werd mer-..." "ZIEHT LEINE!!" Die Räuber kreischten wieder entsetzt auf, als auf diese sogar für sie unmissverständliche Drohung ein mehr als deutlicher Zeig mit dem Katana folgte. Kusanagi fasste mich noch einmal drohend ins Auge, sodass mich ein Schauder überlief. "De eure Tid ward ook noh kumma." Und mit diesen Worten stoben sie pfeilschnell auseinander und rannten unter dem lauten Gejohl und Gelächter der Leute wie gejagte Hasen vom Marktplatz auf und davon. "Ich hab ein ungutes Gefühl bei der Sache." "Das sagen Sie jetzt schon seit fast einer halben Stunde." Ich starrte betreten in meine Kaffeetasse. "Das mag ja sein, aber ich mein's ernst. Ich meine, vielleicht kommen sie zurück und rächen sich!" Kurogane warf mir einen scheelen Seitenblick zu. "Sie scheinen ernsthaft in Erwägung zu ziehen, mich zum Lachen zu bringen." "Um Gotteswillen, Kuro-chin, machen Sie mir keine Angst!" Mein Leibwächter stieß eine Mischung aus Schnauben und Seufzen aus, bevor er sich wieder auf der Bank zurücklehnte, auf der wir uns vor einer knappen Stunde niedergelassen hatten. Es ging bereits auf den späteren Nachmittag zu, und der Himmel über unseren Köpfen erstrahlte in einem weichen Aquariumsblau. Auf dem sonnenbeschienenen Marktplatz tummelte sich ein buntes Völkchen- Schaulustige, die erst von unserer Ankunft erfahren hatten, selbsternannte Autokenner, beflissene Mütter, neugierige Kinder. Nachdem Kurogane unsere fünf unfreiwilligen Helfer mit seinem Katana zum Teufel gejagt hatte, hatte sich die wissbegierige Menge nicht mehr halten können- es hatte nicht lange gedauert, und schon waren wir mit einem guten Dutzend der Stadtbewohner bereits in eine leidenschaftliche Debatte über unsere Herkunft, unser Anliegen und die Reparaturmöglichkeiten für einen Bentley verstrickt gewesen. Fünf oder sechs gutmütige Hausweiblein hatten uns auf die Bank vor einem der Fachwerkhäuser genötigt, hatten uns Tonbecher mit dampfend heißem Kaffee in die Hände gedrückt und uns mit einer großzügigen Auswahl an selbstgebackenen Weizenbrötchen versorgt, bevor sie wieder zurück in die Tulpenfelder mussten. Man hatte uns geraten, dass wir erst einmal wieder ein wenig zu Atem kommen und uns ausruhen sollten, bevor es daran ging, weitere Pläne zu schmieden. Kermit für seine Person genoss im Moment ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, vor allem vonseiten der älteren und jüngeren Herren, die auf den Platz gekommen waren, um sich den Wagen mal von Nahem zu besehen und zu überlegen, wie man ihn reparieren könnte. Zu uns hatten sich mittlerweile einige ältere Damen gesellt und hatten es binnen einer Viertelstunde auch schon geschafft, alles Wissenswerte über uns zu erfahren. Ich verübelte es ihnen nicht, immerhin halfen sie uns in unserer ja doch ein wenig desolaten Situation. "Sollten wir nicht so langsam versuchen, diese Mistkarre wieder flott zu kriegen?", äußerte sich mein Wegbegleiter soeben und richtete sich wieder auf der Bank auf, "Ich würde es begrüßen, wenn wir heute noch nach Molenvriendin kommen!" Ich quengelte halblaut in mich hinein. "Aber jetzt ist es gerade soooo gemütlich hier..." "Keine Widerrede, Sie Klugscheißer. Wer wollte denn unbedingt mit einem Auto durchs Gebirge fahren?" Ein gutes Argument. Leider zu gut. Mist. Gerade wollte mich Kurogane am Handgelenk packen und von der Bank hochzerren, als seine Pläne leider- oder zum Glück?- von einem kleinen Mädchen vereitelt wurden, das neugierig dahergehüpft kam, offenbar einfach, weil unsere ungewöhnliche Erscheinung sie interessierte. Ich lächelte die Kleine an. Sie hatte hellrotes Haar, das zu zwei krausen Stummelzöpfen zusammengebunden war, deren äußerste Spitzen gerade noch unter ihrem bunt gemusterten Kopftuch hervorlugten. Ihre Augen waren groß und dunkelbraun und ihr Gesicht von einem Teppich aus Sommersprossen übersät. An ihrem rot-blau gestreiften Rock klammerte sich ein noch kleinerer Junge mit weißblonden Haaren und einer dunkelblauen Mütze fest. "Goeden Dack!", sagte das Mädel in einem drolligen Brustton der Überzeugung und sah Kurogane so selbstbewusst in die Augen, dass dieser nur milde verwirrt blinzeln konnte. "Hoi", fiepte das kleine Anhängsel an ihrem Rock halblaut hinterher. "Goeden Dack, meene zwee", erwiderte ich freundlich, "Hoe kimmen meen zwarter Kompl ond meh zo dr Ehr?" Der kleine Rotschopf warf sich stolz in die Brust. "Meen Vadder", erklärte sie und zeigte mit einem ihrer kleinen Händchen hinüber zu der Männerversammlung um Kermit, "Meen Vadder hot gsait, er konn eura Schrottwaaga dahanda wiedr recht maaken." "Heilix Blechle, dat käm ons grad just", erwiderte ich lachend, während mein Begleiter wahrscheinlich nur das Gröbste zu verstehen schien, "Wat sin jullie naamen, meene zwee?" "Mijn Naam isch Solveig", stellte sich das Mädel vor, "Ond dat isch meen Broer Urs. Saget Ursi zoem, der isch noh so kleen." "Tjaha, meen zwarter Kompl hier is Kurogane Koimihari ond ik ben Fye de Flourite." "Meene Madder hot gsait du wärsch an Dokter, Fye de Flourite?" "Da hot se Gejusteren. Mer wollet hier an Mann vonra Krankheit hoila. Ond dua kannsch ruhik Fye zo mr saga." "Genug Smalltalk!", zischte Kurogane mir unterdrückt zu, "Fragen Sie die Kleine endlich, was sie von uns will!" "Solveig", sagte ich kichernd, "Meen zwarter Kompl wult wessa, wos dua und deen Ursi von ons wellat." "ARGH!!" Solveig musste giggeln, und auch der kleine Ursi gab ein Fiepen von sich, das ein wenig an Kichern erinnerte. "Meen Vadder will eura Schrottwaaga wiedr zamma meißla. Ond er hot gsait, wenn det Zammameißla lang breicht, hulpt er euch noh Molenvriendin." "Ihr Vater möchte uns behilflich sein, indem er Kermit repariert", übersetzte ich meinem überfragten Leibwächter, "Und wenn das längere Zeit benötigen sollte, hat er sich auch bereit erklärt, uns zu helfen, nach Molenvriendin zu kommen." "Jawoll", krähte der kleine Ursi, "Onsr Vadder hot an ganz tolla Bydlo, met dem kah ook schoh Solveig fahra!" "Sie haben einen Bydlo, mit dem auch schon Solveig fahren kann." "Was ist bitteschön ein Büddlo?" "Ein Bydlo ist ein einspänniger Ochsenkarren. Sehr beliebt hier in Balkjebeeke, vor allem während der Erntezeit." "Mhm. Das klingt ja ganz nett, aber dafür verlangt er sicher auch was von uns! Fragen Sie die Kleine, ob er eine Gegenleistung will!" "Solveig, wult deen Vadder ook, dat wer wat dofür dua?" Der Rotschopf nickte. "Er hot gsait, wenner ehm inne Meddach ond inne Avand beira Ernte hulpt, lässt er euh inne Scheun slaapen. Onsr Haus isch et groß gnuag für zwoi Gescht. Ik sollts euh ausrechta." "Er scheint als Gegenleistung zu erwarten, dass wir ihm mittags und abends bei der Ernte helfen. Dafür will er wohl Kermit reparieren und lässt uns auch in seiner Scheune logieren, weil das Haus nicht groß genug für zwei Gäste ist." "WAS?!! SCHEUNE?!! Tickt der noch richtig??!! Das-... das geht doch--..." "Überdenken Sie das Angebot lieber, bevor Sie's in den Wind schlagen", riet ich ihm, "Bei der Erntezeit braucht man eben jede Hilfe, die man kriegen kann! Und eine Scheune als Quartier ist sicher besser, als irgendwo da draußen im peitschenden Wind zu schlafen! Außerdem kommen wir mit einem Bydlo schneller voran als zu Fuß, und dazu-..." "IST JA GUT!! Dann überlegen wir's uns eben! Fragen Sie Solveig, ob wir das nicht mit ihm persönlich regeln können!" "Dua, Solveig, isch deen Vadder et grad doa?", fragte ich Solveig freundlich, "Könnemer grad amol mit ram sprecha?" "Ha freile, kommet nur met mr met!", ereiferte sich der Rotschopf und nahm mich bei der Hand, "Der isch an sakramentsgoeder Kerle!" Ich lachte, bevor ich auch schon von unseren zwei eifrigen Eroberern fortgezerrt wurde. "Kommen Sie, Kuro-rin! Oder wollen Sie den Abend auch halbnackt und ölbeschmuddelt verbringen?" "Bin ja schon da!", maulte mein Leibwächter genervt, bevor er sich missmutig in Trab setzte, "Aber ich warne Sie, wenn wir uns da auf irgendeinen Mist einlassen, Sind SIE der erste, der dafür bezahlen muss!!" Kapitel 13: Reactio Insolitus - 2 --------------------------------- Später Abend. Wir hatten mit dem Vater dieser Kinder gesprochen, wobei 'wir' dann doch eher der Arzt war. Ich gewöhnte mich zwar an die Sprache und hörte einiges heraus, das ich dann einigermaßen verstand, aber das hielt sich auch in Grenzen. Er meinte, der Bentley würde etwas länger repariert werden müssen. Deshalb hatten wir eingewilligt, bei der Ernte zu helfen, um im Gegenzug dazu den Ochsenkarren und die Übernachtung in der Scheune zu bekommen. In besagter Scheune standen wir nun und ich war gerade dabei, mich umzuziehen. Das Öl war mittlerweile mehr als unangenehm... Das Hemd konnte ich wohl vergessen, dachte ich, als ich es mir über den Kopf zog, um mich anschließend zu waschen. "Sie sollten sich von einer Kuh abschlecken lassen, der Speichel wirkt bakterientötend." "Das ist ja widerlich!" Entgeistert drehte ich mich zu meinem Begleiter um. "Wie kommen Sie darauf, dass ich das nötig habe, häh?", fuhr ich ihn an. "Ich mein ja nur – war ein Vorschlag...", gab er zurück. "Ja, ein verdammt blödsinniger! Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen die Klappe halten, wenn Sie eh nichts Gescheites sagen!" "Das ist aber wirklich so...", fing er an. "Das ist mir egal. Seien Sie bloß still...", unterbrach ich ihn zischend. Ich drehte mich wieder zu der Schüssel mit dem Wasser herum und griff nach dem Lappen. Also echt – wie kam der immer auf so was?! Da waren wohl einige Synapsen seines Gehirns nicht ganz richtig verbunden, dachte ich, während ich versuchte das Motoröl abzubekommen. Was für eine Sauerei aber auch! Und dieser verdammte Bentley lief immer noch nicht! Ich hatte ja gewusst, dass dieses Auto uns nur Probleme machen würde. Ich spürte den Blick meines Begleiters im Nacken. "Was ist?", grollte ich, "Was glotzen Sie denn so?" "Was denn... ist Ihnen das etwa peinlich?", kam es amüsiert zurück, dennoch schwang etwas Überraschung in seinem Tonfall mit – er hatte wohl nicht erwartet, dass es mir auffiel. "Nein, es nervt!", knurrte ich. "Och, geben Sie doch zu, dass Sie schüchtern sind!" "Ich bin NICHT schüchtern!", fauchte ich und fuhr wieder zu ihm herum. Er quittierte das bloß mit einem breiten Grinsen und musterte mich provokativ auffällig. "Sie haben es ja auch gar nicht nötig! Ich meine – bei dem Körperbau un--... umpf!!" Ich hatte ihn mit dem nassen Lappen direkt im Gesicht getroffen. "Halten Sie die Klappe! Tun Sie lieber was konstruktives, anstatt hier dämliche Sprüche zu klopfen!" "Wie soll ich denn was Konstruktives tun, mein Bester? Es ist bald Nacht!", meinte er, nachdem er sich den Lappen vom Gesicht genommen hatte und sah mich fragend an. Ich stieß einen entnervten Seufzer aus. "Sie könnten schlafen gehen, dann halten Sie wenigstens den Mund..." Das war ja nicht auszuhalten... "Ich bin aber noch gar nicht müde!", meinte er fröhlich und warf den Lappen wieder zurück. Ich fing ihn auf und drehte mich wieder um, um mich weiter abzuschrubben. Ziemlich hartnäckiges Öl, aber nach und nach ging es dann doch ab. Ein paar Flecken blieben, doch die würden mit der Zeit wohl wieder weggehen. Ich hängte den Lappen über den Rand der Schüssel und trocknete mich ab, bevor ich mich wieder zu ihm umdrehte. Sein Grinsen wurde ein wenig breiter. "Na, jetzt sehen Sie ja wieder ganz anständig aus!", flötete er und musterte mich erneut. Allerdings blieb sein Blick an meinem Brustkorb hängen und sein Grinsen verblasste ein wenig. "Oh. Was haben Sie denn da gemacht?" "Ooooh!! Do handa! Fye, kiek amol do handa!" "Herrgoetsakra, isch dat an Häusel!" Auf Solveigs und Ursis laute Ehrfurchtsbezeugungen hob ich den Blick von der Lektüre über die Anatomie von Vampiren, über der ich bis eben gebrütet hatte, und ließ meinen Blick über den weiten, windgepeitschten Landstrich schweifen. Und tatsächlich, nur etwa hundert Meter weiter weg, inmitten der gras- und blumenbewachsenen Ebene stand--... "Wow, Kuro-rin, schauen Sie mal!" Mein Begleiter ließ nur ein angesäuertes Knurren hören. "Ich hab das verdammte Anwesen schon längst bemerkt, Sie taube Nuss!" Ich seufzte und stopfte mein Buch zurück in den Rucksack. Also, das war ja mittlerweile nicht einmal mehr mit einer Infektionskrankheit vergleichbar, so wie sich Kurogane aufführte, seit wir in dieses Land gekommen waren. Nun gut, vielleicht war er noch ein wenig genervt von der Fahrt mit dem Bydlo. Zudem war uns nur bis fünf Uhr am Morgen Schlaf vergönnt gewesen, bis uns Solveig und Ursi überfallen und aus der Scheune gezerrt hatten, um uns nach Molenvriendin zu bringen. Die Kleinen waren solche knochenbrechenden Aufstehzeiten schon von der Ernte her gewöhnt- während Kurogane und ich uns nur unter vieltönigem Lallen und Sabbern ins Reich der Lebenden zurückbemühten, hatten die zwei uns mit Proviant versorgt, ihren Ochsen aufgezäumt, ihn vor das Bydlo gespannt und das Scheunentor aufgeschoben. Solveig schien mit dem Umgang von Zügel und Wagenrad bereits vertraut zu sein, denn sie lenkte den Karren stolz wie keine Zweite. Ursi hockte auf ihrem Schoß und hielt die ledernen Stricke ebenfalls mit seinen kleinen Händchen umklammert. Mittlerweile war es schon fast acht Uhr am Morgen, und wir waren gefahren, ohne anzuhalten. Wir hatten die Städte Delkjendijk, Rustigonte und auch Molenvriendin bereits passiert, denn man hatte uns erklärt, dass Noctua-san während der Zuchtsaison- die sich mit der Erntezeit überschnitt- auf seiner Zuchtanlage außerhalb von Molenvriendin logierte, die jedoch aufgrund ihrer Größe kaum zu übersehen sei. Und das da hinten musste sie sein. "Hyuuu! Na, was habe ich gesagt?", trällerte ich daher enthusiastisch, "Da, bitte sehr! Sie sind ein richtiger Glücksbringer, Schwärzli! Ein verzweifelter Gedanke von Ihnen, und schon taucht der Zielort vor unseren Nasen auf!" "Klappe halten! Ich hab keine verzweifelten Gedanken!", fauchte er augenblicklich zurück, "Jedenfalls keine so verzweifelten wie Sie, wenn Sie mitten in der Nacht aufstehen und mich nicht schlafen lassen, nur weil Sie in Ihren bescheuerten Büchern lesen wollen!" "Ich bin eben ein leidenschaftlicher Bücherwurm!", verteidigte ich mich sofort, "Außerdem sind Vampire interessant! Sehr interessant sogar! Sie sind mein Lieblings-Wissenschaftsgebiet! Sie sind--..." "Ach ja? Und warum, wenn man fragen darf?" "Ich finde es eben sehr exotisch! Beinahe magisch!", zwitscherte ich wohlgemut zurück, "I believe it's magic!" "Ha- aaah!", fielen Solveig und Ursi sofort begeistert ein, denn wir hatten die letzten Fahrtstunden fast ausschließlich damit verbracht, uns gegenseitig unsere Lieblingslieder beizubringen- ich hatte dafür gesorgt, dass die beiden moderne Lieder wie Steam Machine und Magic kennenlernten, sie dagegen hatten eher mit volkstümlichen Stücken wie Sieh dich um, der Plumpsack geht rum oder Zehn Balkjebeeker mit dem Kontrabass aufgewartet- natürlich sehr zu Kuroganes Leidwesen. "AUFHÖREN!!!" "Wiesoooo?", kicherte ich fröhlich, "I believe it's magic!" "Ha- aaah!" "I believe it's magic!" Mein Wegbegleiter tobte, wir drei lachten uns jedoch nur eins und trällerten weiter. Singen machte eben Spaß- außerdem bot es eine gute Ablenkung. Meine Gründe für mein reges Interesse an der Gattung der Vampire hatten Kurogane nicht im Geringsten zu interessieren. Entweder würde er mich nur für komplett durchgeknallt erklären- oder Angst vor mir bekommen. Auch wenn ich letzteres rege bezweifelte, denn offenbar tauchte der Begriff 'Angst' in seinem Vokabular nicht auf. Diese Tatsache war vielleicht auch der Grund für diese Narbe gewesen, die ich gestern abend unfreiwillig entdeckt hatte, und die sich über seine Brust den halben Bauch hinunter erstreckt hatte. Man hatte anhand der bereits verheilten Einstiche zwar die fachkundige Hand des Arztes erkannt, der dieses Prachtstück behandelt und vernäht hatte, aber ein wenig stutzig hatte es mich ja doch gemacht. Heiliger zellulärer Defekt, wo zog man sich nur eine Wunde wie diese zu? Ich hatte mir schon längst eingestehen müssen, dass es mich doch irgendwie interessierte, doch ich wusste ebenso, dass Kurogane es mir wahrscheinlich nicht ums Verrecken erzählen würde. Vielleicht war das ja bei dieser Expedition auf die Engelsinsel passiert? Ich wurde jedoch in meinen betriebsamen Überlegungen unterbrochen, als Solveig die Zügel anspannte und somit ihren Ochsen, einen braven braunweißen Schecken, zum Stehen brachte. "Do semmer!", verkündete sie stolz und zeigte auf das Grundstück der Noctuas, das jetzt keine zehn Meter mehr entfernt war. Sechs schlanke Windmühlen aus Backsteinen säumten, in einem wabenförmigen Ring angelegt, das großzügige Anwesen und drehten sich knatternd im rauen Nordwestwind. Am Fuß jeder Windmühle erstreckten sich langgestreckte, niedrige Holzbauten mit Dächern aus kurzen, harzigen Holzrieten, die die Wabenform ergänzten und sich wie ein Ring um den mit Kies gestreuten Innenhof schlossen. Das Hauptgebäude selbst war ein stattliches Fachwerkhaus aus blendend weißem Mörtelstein und dunklem Timberholz. Einige wenige Schwärme aus Blaustreifeneulen zogen hoch oben im grauen Himmel ihre Kreise über dem Anwesen. Diese niedrigen Holzbauten mussten die Brut- und Schlafstätten der Eulen sein, während in dem Fachwerkhaus wohl die Noctuas wohnten. "Gut betucht scheint er ja zu sein", stellte Kurogane treffend fest. "Hobt reachten Dank, meene Leebsten", sagte ich freundlich zu unseren kleinen Begleitern, während ich mir umständlich meinen Rucksack mit dem Nötigsten an Medizin auf den Rücken schnallte, "Gegen de Meddach kummen mr zo eurm Tulpefeld! Sait mr de Grias für eur Madder!" "Maaket mer", erwiderte Solveig strahlend, "Maaket eure Sach, ond goede Morgen!" "Goede Morgen", antwortete ich fröhlich und winkte unseren beiden noch nach, bis der Ochsenkarren in der Ferne allmählich wieder kleiner wurde. Mein Leibwächter schien sich- mal wieder- nichts aus derartigen Verabschiedungen zu machen, denn er befand sich schon längst auf dem Weg durch den weitflächigen Innenhof Richtung Hauptgebäude, sodass ich ihm wohl oder übel nachjappeln musste wie ein Dackel seinem Besitzer. "Kur-... oho-... rin!!" "Ich will nichts hören. Was ist los, gibt's hier keine Alarmanlagen? Nicht einmal Hunde?" "Was Hunde gut erledigen, erledigen Blaustreifeneulen gleich dreimal so gut", erklärte ich wohlgemut, und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis einige der über dem Anwesen kreisenden Eulenschwärme uns entdeckt hatten. Unter lautem Glucksen und Schuhuhen kamen sechs oder sieben Exemplare auf uns herabgeflattert und ließen sich misstrauisch auf unseren Schultern und Köpfen nieder, sodass wir jede einzelne Daunenfeder in ihrer ungewöhnlichen, blau-schwarzen Zeichnung erkennen und in ihre großen, irisierend dottergelb funkelnden Augen sehen konnten. "Blöde Viecher!!", empörte sich Kurogane natürlich sofort, "Haut gefälligst ab! Wir haben nichts zu fressen für euch!" "Besser hüten Sie Ihre Zunge", sagte ich lachend, "Die Strix Venetustria kann zwar nicht sprechen, aber dafür zuhören!" "Mir doch egal!", keifte der Schwarzhaarige und versuchte vergeblich, eine besonders große Eule abzuschütteln, die sich in seinen Haaren festgekrallt hatte, doch sie schaukelte nur umher wie eine Gummipuppe und blieb sitzen, wo sie war. Ihr lautes Gurren und Girren hatte seine Wirkung ebenfalls nicht verfehlt- es vergingen nur einige wenige Minuten, bis die Tür des Fachwerkhauses aufging und ein pompöser, dunkelhaariger Mann hervortrat, offenkundig um nach der Quelle des Gurrens und Girrens zu suchen. Er selbst hatte auch ein wenig das Aussehen einer dicken, missmutigen Eule- seine Stummelarme hingen herunter wie zwei lahme Flügel, er trug eine schwere Hornbrille, die seine Augen unnatürlich vergrößerte und deren Ränder von zwei buschigen, blauschwarzen Augenbrauen überwuchert waren. Wie ein kurzatmiger Pinguin kam er auf uns zugewatschelt. Seine Eulen erhoben sich sofort von unseren Schultern und flatterten zutraulich auf ihren Züchter zu. "Das muss Noctua-san sein!", flüsterte ich meinem Leibwächter zu und winkte unserem potenziellen Kunden fröhlich zu. "Goede Morgen!" "Goede Morgen!", kam sofort die Antwort. Noctuas Stimme erinnerte eher an ein verstopftes Nebelhorn als an eine Eule, und als er uns erreicht hatte und mir die Hand schüttelte, zerquetschte er mir vor Herzlichkeit fast die Finger. "Ah, da sans endlik, meen Leebster! Se send dr Dokter Fye de Flourite, neh? Mijn Naam isch Uil Noctua, mr kennat ons von meenem Poschtpapierle!" "Dat isch just", bestätigte ich höflich, "Meen zwarter Kompl- Kurogane Koimihari- ond ik han dr Ihret Poschtpapierle kriagt und san gloich hergsaut, um Ihne zoem hulpen." "Na heilix Blechle, det isch doch amol goed", erwiderte Noctua sichtlich erleichtert und zuckte ein wenig mit den Schultern, sodass sich seine Eulen gehorsam wieder von ihm abstießen und flatternd zu ihrem Schwarm zurückkehrten, "Ik han ja dr allerhand Leut zoe meh bschtellt, aber Se übertreffet denne ällemol! Na, kummatse, denn fanget mr gloich ah!" "Was sagt der Kerl?", raunte Kurogane mir zu, nachdem sich der Dicke in Bewegung gesetzt hatte und uns nun in das Innere seines Hauses lotste. "Er ist dafür, dass wir gleich anfangen", übersetzte ich ihm. "Haben Sie denn schon eine Ahnung, was es sein könnte?" "Das weniger. Symptome wie Ess- und Schluckbeschwerden sind bei sehr, sehr vielen Krankheiten an der Tagesordnung, und auf den ersten Blick scheint er mir ja doch ganz rüstig auszusehen..." "Na toll", stöhnte Kurogane und patschte sich eine Hand vor die Stirn, "Sie haben also mal wieder keine Ahnung!" "Was heißt da 'mal wieder' ?", empörte ich mich, "Ich hab gedacht, Sie mögen meine Vorträge nicht?" "Das stimmt, aber wenn man nicht einmal weiß, was es sein könnte..." "Ich habe schon längst meine Vermutungen! Und die Untersuchungen werden es zeigen, nicht wahr? Die Fakten sind die Bibel eines jeden Arztes, merken Sie sich das!" Mein Leibwächter rollte nur mit den Augen, bevor er den Rucksack neu schulterte und sich in sein Schicksal ergab. "Also schön, ich merke es mir. Und jetzt los. Diese fette Kreuzung aus Pinguin und Eule ist mir viel zu suspekt." "Ihnen ist doch alles suspekt! Also, kommen Sie...", gab mein Begleiter ungerührt zurück und stiefelte dem Eulen-Pinguin hinterher. In diesem Land waren wirklich alle Leute ein wenig komisch. Passen wir ja super hierher, dachte ich zynisch. Und dass ich kaum was von der Sprache verstand machte die Sache nicht besser. Noctua führte und einen langen Gang herunter, bis in einen Raum, der wohl der Salon war. Ziemlich groß das ganze hier, der Kerl schien wirklich Geld zu haben. Vielleicht würde ich dann auch mal endlich bezahlt werden. Darauf wartete ich nämlich schon viel zu lange. Während Fye den Pinguinverschnitt bat, sich zu setzen um Untersuchungen anzustellen, sah ich mich ein wenig im Raum um. Viel gab es ja nicht zu sehen. Zumindest für meinen Geschmack nichts interessantes. Ein paar Gemälde – auf den Meisten waren Eulen - , offensichtliche teure Möbel aus edlem Holz, einen Läufer auf dem Boden und ein Kronleuchter, der von der Decke hing. Ich wandte mich also wieder Fye zu. Der schien ein wenig ratlos zu sein. Anscheinend hatte er immer noch keine Gründe für die Symptome gefunden. Aber das Erscheinungsbild von Noctua hatte sich gewandelt, seit wir hier drin waren. Er schniefte und hustete und er hatte tränende Augen. Mir sah das aus wie eine Erkältung. Das schien mir aber nicht so dringend zu sein, wie das Telegramm angegeben hatte! Und dafür der ganze Stress? Ich stieß ein leises missmutiges Knurren aus. "Oes de bare Hemml, emmr woen ik de Hof promeniert hänn!", meinte der Eulenpinguin gerade verschnupft. Anscheinend hatte Fye ihn gefragt, wann denn die Symptome auftraten. Nicht, dass ich ein Wort verstanden hätte, aber die Reihenfolge der Fragen, die der Arzt stellte war meistens dieselbe. Besagter nickte nachdenklich. "So... emmer buiten?" "Nee... maar uf de Hof!" "Also, was ist denn jetzt?!", wollte ich wissen und Fye sah zu mir. "Er sagt, die Symptome treten immer nur dann auf, wenn er auf dem Hof ist!" "Aha. Und haben Sie schon eine Ahnung, was es sein könnte?" Er grinste breit. "Nein – nicht die geringste! Ich könnte Ihnen sagen, was es nicht ist." "Das hilft aber auch nicht viel!“, grollte ich, "Für mich sieht das aus wie eine Erkältung!" „Mein Lieber, eine Erkältung hat man aber nicht nur draußen!", meinte er altklug. "Das weiß ich auch!", fauchte ich zurück, als er anscheinend Luft für weitere Erklärungen dazu holte. Wenn es keine Erkältung war, was dann? Der Kerl sah aus, als hätte er sich das Gesicht mit Brennnesseln eingerieben. Außer, dass die Pusteln fehlten... Irgendwie kam mir das bekannt vor... eine Menge Pflanzen gab es hier ja und windig war es auch. "Vielleicht ist es ja Heuschnupfen!", schlug ich genervt vor. "Das bezweifle ich, mein Bester! Das deutet sich durch ganz andere Symptome an! Darüber hab ich Sie doch schon in Gakoshida aufgeklärt!" "Bah!! Kann mich nicht erinnern!" "Also, so langsam bekomme ich den Eindruck, Sie hören mir nie zu, sobald mal etwas Wissenschaftlicheres als Prügeleien oder unapetittliche Gemetzel an der Tagesordnung sind!" "WAAS?!! Wollen Sie mir etwa unterstellen, ich wäre ein Haudegen?!" Ich wackelte aufreizend mit den Augenbrauen. "Uuuhuhuhh... soll ich auspacken, Kuro-mune?" Die einzige Antwort war ein Knurren, als ob eine Gabel in einen Rasenmäher gefallen wäre, und ehe ich mich versah, hatte mich mein gewaltgeiler Leibwächter auch schon wieder beim Wickel. Noctua sah uns ein wenig befremdet bei unseren Sperenzchen zu. Mittlerweile hatten sich wieder vier jüngere Eulen auf seinen Schultern niedergelassen, offenbar gab es keinen Platz im Herrenhaus, an dem die Vögel sich nicht heimisch fühlten, und gaben für ihren Besitzer ein ansehnliches kleines Gurr- und Girrkonzert. "Eh-... eh, meene Herrn, wennse denn so goed wäret ond-... ?" "Ahahah-...", lachte ich unbeholfen und zappelte ein wenig in Kuroganes eisernem Griff, "Det müessetse entscholdigern, mr san halt noh geringfügijk müed von de lange Faahren, ond, ond-..." Noch mitten in meinen- zugegebenermaßen etwas fadenscheinigen- Entschuldigungsversuchen hielt ich inne, als mir plötzlich etwas an Noctuas äußerem Erscheinungsbild aufzufallen begann. Auf seiner krummen Eulennase ging auf einmal etwas vor sich, das man wohl in etwa mit dem Ausbrechen eines Vulkans im Zeitraffer beschreiben konnte. Gewissermaßen ein Mini-Ethna. Eine kleine, rote Pustel bildete sich, der innerhalb kürzester Zeit eine ganze Kolonie ungesund glänzender Kumpane folgte. Seine Haut verfärbte sich wie ein frisch abgekochter Hummer. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Der pompöse Eulenzüchter schien ebenfalls zu bemerken, dass etwas mit ihm vor sich ging, denn er wurde sichtlich unruhig und befingerte nervös die befallenen Stellen mit seinen Fingern. „Wat-… wat um de Kaiser sein Bart is dat?? Oh Goet!! Oh Goet,ik kriags schoh wiedr!! Oh Goet, Dokter, holpet Se mir!! Oh Goet, ik-…“ Weiter kam ihm nicht. Die Luft schien ihm einfach wegzubleiben. Mit einem rasselnden Geräusch kippte er Hals über Kopf von seinem Stuhl und zappelte wie ein hysterischer Weihnachtskarpfen auf dem Trockenen, während die Eulen teilweise unter erschrockenem Schuhuhen davonflatterten oder sich unsere Köpfe als Schutzhort erwählten. Der Ethna auf Noctuas Gesicht breitete sich unterdessen munter aus. Hatte ich so etwas nicht schon einmal gesehen? „Oooh GOET!! Um Goetteswuilln,holpet Se mr doch!!“ In meinem Kopf überschlugen sich die medizinischen Formeln, während ich beflissen auf der Stelle abhüpfte, um meinen Leibwächter zur Hilfestellung zu animieren. „Oh Gott! Oh Gott!! Oh Gott! Kuro-mune, schnell, kommen Sie, Sie müssen ihn beatmen! Reißen Sie ihm das Hemd auf!! Massieren Sie ihm die Brust! Ich denke solange!!“ „WAAAAAAAAAAS?!!“ „Kommen Sie schon, das ist doch nichts anderes als eine Fußmassage!“ „Was hat denn das schon wieder damit zu tun?! Jemanden bei den Füßen zu berühren ist doch ganz anders als-… als jemanden abzuschlecken!!“ „Im Gegenteil, das ist fast das gleiche! Haben Sie noch nie jemandem die Füße massiert?“ Noctua keuchte und zappelte wie ein alter Reiher. Kurogane schien das nicht zu stören. Er bedachte mich mal wieder mit einem seiner infernalischen Todesblicke. „Wie sollte ich dazu kommen, häh?!!“ „Keine Ahnung, vielleicht waren Sie ja mal liiert und hatten-…“ Diese Worte schienen den grimmigen Schwarzhaarigen endgültig zum Überkochen zu bringen. „TUN SIE LIEBER WAS!! Der Kerl da krepiert, und Sie stehen hier und reden über Fußmassagen!! Denken Sie nach, verdammt!!-… UND DU VERSCHWINDEST VON MEINEM KOPF, DU MISTVIEH!! Geh dahin, wo du hingehörst!!“ Mit diesen Worten packte er eine der Eulen, die sich in seinen Haaren festgekrallt hatten, unter den Flügeln wie ein gerupftes Huhn- und rammte sie, natürlich wie immer ohne meine Zustimmung, Noctua geradewegs in das rot glänzende, mit Pusteln besprenkelte Gesicht. Die Eule kreischte. Noctua übertönte sie mühelos. Unter anderen Umständen hätte ich meinen Leibwächter wahrscheinlich für diese Grobheit getadelt, doch nun war ich eindeutig abgelenkt, denn kaum, dass sich die Eule im Gesicht ihres Besitzers wiederfand, schien der Mini-Ethna auf dessen Stirn, Wangen und Nasen geradezu zu explodieren. Die Bläschen quollen so stark auf, dass sie teilweise zerplatzten und wässriges Sekret über die Haut verspritzten, das Krebsrot bekam einen Stich ins Purpurne, und offenbar hatte er immer größere Schwierigkeiten mit dem Luftholen. In meinem Kopf ratterte es, während Kurogane die Eule weiterhin unerbittlich in Noctuas Visage gepresst hielt. Eine unerwartete Reaktion auf etwas völlig alltägliches. Federn fielen nicht in das natürliche Beuteschema des Immunsystems und reagierte daher mit Schwellung der Haut, Bläschenbildung, Atemnot-… Und dann fiel der Groschen. Ich starrte erst Noctua, dann Kurogane und dann die Eulen entgeistert an. „Er-… er ist gegen seine eigenen Eulen allergisch?!!“ Kapitel 14: Reactio Insolitus - 3 --------------------------------- „Hab ich doch die ganze Zeit gesagt, aber Sie hören ja nicht auf mich – wie immer!“, schnaubte ich erbost. Das war doch wohl offensichtlich gewesen – ich hatte nicht Medizin studieren müssen, dass mir das auffiel. „Und jetzt tun Sie was dagegen!“ Der komische Kerl schnaufte schon sehr angestrengt nach Luft, anscheinend stand er gerade kurz vorm Ersticken. Vielleicht lag es aber auch an der Eule. Ich nahm sie Noctua wieder vom Gesicht und scheuchte sie aus dem Fenster, während mein Begleiter sich auf Noctua stürzte, um ihn vor dem Erstickungstod zu bewahren. „Lassen Sie das Fenster auf, Kuro-rin, und helfen Sie mir!“, forderte er mich auf und machte sich daran, ihn von seinem Hemd zu befreien. „Wir müssen seinen Oberkörper hochlagern. Holen Sie Kissen oder so was...“, wies er mich an und prüfte den Puls an der Halsschlagader. Ich zögerte nicht lange und machte mich daran, Kissen und Decken aufzutreiben, während Fye beruhigend auf Noctua einsprach und ihm anscheinend auch einige Anweisungen gab, wie er atmen sollte, denn das heftige Pfeifen und Keuchen ließ nach. Und als ich Noctua einige Kissen in den Rücken schob, beruhigte er sich und seine Hautfarbe nahm wieder einen gesunderen Farbton an. „O Goet...“, japste er. „Wat sollte denn dat? Ik han gedenkt, Se wolltet mr holpet!“ Nachdem wir, oder besser Fye, ihm geholfen, beruhigt und gesagt, dass er sich besser von seinen Eulen trennen sollte, wenn er noch ein paar Jährchen leben wollte, hoffte ich ja, dass wir endlich unser Honorar einstreichen und dann von hier verschwinden konnten. Konnten wir nicht. Und wieder waren die Eulen schuld. Noctua wollte sich einfach nicht von ihnen trennen und machte einen Aufstand. Er hielt uns noch mindestens eine Stunde damit auf, zu lamentieren, ob es nicht noch eine andere Möglichkeit gäbe. So langsam verlor ich wirklich die Geduld. Die Eulen waren schließlich sein Problem und nicht unseres. Mein Begleiter merkte wohl, das meine Laune mit jeder weiteren Minute immer weiter unter den Nullpunkt rutschte und fürchtete wohl wieder einen tätlichen Angriff, denn er lenkte das Gespräch endlich auf das Wichtigste: Die Bezahlung. „Und wagen Sie es nicht, einen Rabatt draufzuschlagen!“, knurrte ich. Sonst standen wir hinterher wieder ohne irgendwas da. Anscheinend ertappt zuckte er ein klein wenig zusammen. „Ist ja gut, ist ja gut! Aber eigentlich hat er das verdient, vor allem nachdem Sie ihm die Eule-...“ Ich feuerte einen tödlichen Blick auf ihn ab. „...Ahaha... jaaa...Sie haben ja recht.“ Er wandte sich wieder an Noctua, um den Preis auszuhandeln. Wieso musste er eigentlich immer alles so kompliziert machen? Aber wenigstens kam er diesmal auf eine recht vernünftige Summe – aber Noctua schien sich gar nicht daran zu stören. „Können wir dann gehen?“, fragte ich, als Fye endlich fertig war. Vielleicht hatten sie ja sogar den Bentley wieder zum Laufen gebracht, was ich allerdings bezweifelte. Selbst wenn, wir mussten ja auch noch bei der Ernte helfen. Eigentlich hatte ich keine Lust, aber Fye würde darauf bestehen und wir hatten nun mal zugesagt... „Meine Güte, Sie sind aber wieder ungeduldig!“, sagte er. „Wir haben doch Zeit. Jetzt entspannen Sie sich doch mal ein bisschen, das würde Ihnen sicher gut tun.“ „Mir würde es gut tun, wenn Sie sich einfach mal raushalten und leise sind!“, schnappte ich zurück. Er sah ein wenig gekränkt aus, klappte den Mund aber zu. Bedauerlicherweise aber nicht für lange. „Also schön! Ich wollte ja bloß ein wenig Interesse an Ihrem Befinden kundtun! Und nicht nur aus rein beruflichem Antrieb! Das wird ja wohl erlaubt sein dürfen!“ „Ehm, wanneer ik met iets bemoeien mag?”, meldete sich Noctua zu Wort. „Ik dank u wel, echter wengens de Uils, da mag iets herdenken!” Fragend sah ich meinen Begleiter an. „Er hat sich bedankt und gesagt, dass er das mit den Eulen noch mal überdenken will“, übersetzte er sofort. Also eigentlich ein indirekter Rauswurf. „Goed, tot ziens un het beste!”, meinte Fye. „Kommen Sie, Kuro-tan!” „Ja, bin ja schon da.“ Noctua führte uns Richtung Ausgang, verabschiedete sich von uns und schaffte es sogar, nicht noch mal von seinen Eulen überfallen zu werden – die interessierten uns mehr für uns. „Na, dann wollen wir doch mal zurück“, stellte mein Begleiter enthusiastisch fest, nachdem wir uns von den Federviechern befreit hatten und vor dem Anwesen standen. Na, das konnte ja lustig werden… „Allergisch gegen die eigenen Eulen!! Dass ich nicht lache!!“ Mit einem zischenden Geräusch sauste die Sense durch das beinahe hüfthohe Meer aus Gerstenähren und mähte im wahrsten Sinn des Wortes eine ganze Tausendschaft von ihnen um. „Nun, Lachen würde Ihnen durchaus mal gut tun, wenn ich mir diese Randnotiz erlauben dar“, merkte ich wohlgemut an und flocht eine weitere dottergelbe Tulpe in den mächtigen Kranz ein, an dem ich zu arbeiten begonnen hatte, „Es ist erwiesen, dass nach einer kräftigen Lachattacke viel mehr Abwehrstoffe im Blut schwimmen als vor--…“ „KLAPPE!!“, bellte Kurogane sofort und setzte die Sense ab, um sich den Arbeits-, oder in diesem Fall wohl eher Zornesschweiß von der Stirn zu wischen, „Dieser Fall von Allergie ist ja noch bescheuerter als diese ganzen ‚Dumm gelaufen‘-Anzeigen in der Tageszeitung von Uranoke Sho!! Gegen die eigenen Eulen allergisch sein und es nicht einmal merken… so eine Pleite kann man nur noch mit Alkohol verdrängen…“ Ich seufzte theatralisch und gab es auf, mich weiter auf den Kranz konzentrieren zu wollen. „So langsam fange ich an, mir ernsthafte Sorgen um Sie zu machen, Kuro-chin! Mal ganz unter uns- Alkohol ist keine Lösung!“ „Ach ja, und was dann?!“ „Ein Destillat!“ Immer wieder beeindruckend, wie infernalisch einen diese Augen anstieren konnten. Belial persönlich hätte solch einer Mordlust Respekt gezollt. Es war nicht schwer zu erkennen, dass mein Leibwächter sein Bestes gab, um genügend Wut für einen Tobsuchtsanfall zusammen zu kratzen. In seinen roten Iriden blitzte es unheilverkündend. „Sie, Sie-… !!“ Für einige Bruchteile eines Augenblicks schwebte sein Zeigefinger noch drohend wie das Schwert des Damokles in der Luft, bevor er ihn schließlich mit einem entnervten Ächzen wieder zurückschwingen ließ. „Ach, vergessen Sie es doch.“ Ich grinste still in mich hinein und widmete mich wieder ganz dem Tulpenflechten. Zwei Stunden war es nun schon her, seit wir mit Solveigs Bydlo nach Zondorp zurückgekehrt und gemeinsam mit den Bewohnern des kleinen balkjebeekerischen Dorfs auf den weitläufigen Tulpen-, Weizen- und Gerstenfeldern eingekehrt waren, die in der näheren Umgebung lagen, um unserer Abmachung mit Solveigs Vater entsprechend bei der Ernte zu helfen. Solveig und Ursi waren ebenfalls schon emsig beschäftigt und hüpften ohne Unterlass die langen Feldreihen entlang, um die Gerstenähren aufzusammeln, die mein übellauniger Leibwächter bereits umgesenst hatte, und sie zu großen Bündeln zusammen zu schnüren. Der Vater der beiden, ein rothaariger Riese mit einem breiten, faltigen Kinn und einem noch breiteren Rücken, hatte gemeinsam mit einer Gruppe anderer Dorfbewohner Kermit gleich auch hier raus gebracht und beratschlagte nun mit ihnen, was am ehesten zu der Reanimation unseres Bentleys beitragen würde. Kurogane hatte sich im Ährenmähen einweisen lassen, während ich das Tulpenpflücken und –flechten vorzog. Es ging gut voran, doch mein werter Herr Reisebegleiter schien wie immer alles andere als einverstanden mit der Situation. „Ich warne Sie, wenn Sie diesem Fettsack auch nur einen Transko Preiserlass einräumen, wird es Ihr letzter gewesen sein“, knurrte er soeben und schwang erneut energisch die Sense, „Wenn ich dieses Mal kein Geld sehe--!!“ „Ist es wegen dieses Gerichtsvollziehers?“, erkundigte ich mich ruhig und schnitt vorsichtig zwei weitere Tulpen, um sie in den Kranz einzuflechten, „Der Kerl sah alles andere als gemütlich aus. Dabei ist Ihr Haus wirklich gar nicht so übel. Waren Sie schon länger verschuldet? Ich hatte nämlich ebenfalls schon öfter Geldprobleme, ziemlich oft sogar, naja, eigentlich fast immer, wissen Sie, und-…“ In den zinnoberroten Augen flammte es gereizt auf. „Was soll das werden, häh?! Ein Frage-Antwort-Spiel?!“, schimpfte Kurogane natürlich sofort, sodass ich mit einem Seufzen die Augen verdrehte, „Und selbst wenn es so wäre, was wäre dann?! Ich hatte eben besseres zu tun, als nur auf meinem Geld herum zu hocken!!“ „Das arme Geld.“ „Ha, ha!!“ Ich klopfte mir väterlich aufs Knie, als wolle ich meinen cholerischen Reisebegleiter dazu einladen, sich auf meinen Schoß zu setzen. „Wissen Sie, was ich denke, Kuro-wanko? Ich glaube, so langsam durchschaue ich Ihr Problem!“ Ein wenig irritiert hielt der Schwarzhaarige in seinem halblauten Gekeif inne und starrte mich mehr als skeptisch an. „Was für ein Problem?“ „Sie haben es noch nicht bemerkt?“, fragte ich mit milder Empörung zurück und reckte bedeutsam einen Zeigefinger in die Luft, „Ihnen fehlen entschieden die zwei wichtigsten Facetten im Dasein eines kerngesunden Lebewesens: zum ersten das Don’t worry, und zum zweiten das Be happy! Und wissen Sie was? Wenn man diese zwei Facetten zusammenfügt, kommt dabei das grundlegendste Gesundheitsprinzip dieser Welt heraus: Don’t worry, be happy!“ „Don’t worry, be happy!“, zwitscherten Solveig und Ursi im Vorbeihüpfen glücklich. Die einzige Antwort meines Leibwächters war ein Blick, als ob ich ihm soeben angekündigt hätte, vor laufender Kamera nackt einen gesalzenen Kaktus zu verspeisen. „Sie glauben mir wohl nicht, was?“, sagte ich fröhlich und flocht zwei weitere Tulpen in meinen Kranz ein, „Nun, seien Sie versichert, als Auftragsarzt kommt man öfter in verzwickte Situationen, als ein Gorilla Haare auf dem Kopf hat, und da gibt es oftmals nichts, was besser wirkt als das! Als ich damals mit fünfzehn Jahren in Gakoshida auf die Fontanus Cetus-Volkshochschule gekommen bin, hat mir mein betreuender Lehrer gleich am Abend meiner Ankunft gesagt: Don’t worry, be happy! Jetzt bist du hier, also vergiss, was bereits war und mach weiter. Was bringt es, dass man sich über ein bereits passiertes Missgeschick alle Haare grau ärgert, wenn schon an der nächsten Ecke wieder das Glück warten kann? Die Welt dreht sich weiter, auch wenn man gerade auf einer Bananenschale ausgerutscht ist. Jedes kleine Ärgernis, jeder kleiner Ausrutscher, alles, was nicht gleich auf Anhieb geklappt hat und über das man einen Schmollmund zieht, gräbt einem nicht nur eine Sorgenfalte ins Gesicht, sondern geht auch hier rein.“ Ich klopfte mir auf die Brust. Kurogane Blick nahm leicht verdutzte Züge an. Erstaunlicherweise schien ihm keine patzige Erwiderung einzufallen, obwohl er auf sichtbare Weise seine Synapsen bemühte, um eine zu finden. Als diese nervale Suchaktion nach genau drei Sekunden immer noch kein Ergebnis hervorgebracht hatte, stieß ich ein bühnenreifes Divenzwitschern aus und schwang meinen Tulpenkranz in triumphaler Geste über meinem Kopf hin und her. „Jubilo! Ein historischer Moment! Ich habe Kuro-pyon für genau drei Sekunden sprachlos gemacht! Das ist der Beginn einer glorreichen Rekordreihe! Was wird die viersekündige Sprachlosigkeit hervorrufen? Erfahren Sie es in der nächsten Folge von ‚Nackter Wahnsinn im Donnertal‘!“ „Waaaaaas?!!!“, fauchte mein Leibwächter, der nun endlich den nötigen Anreiz für den finalen Wutausbruch geliefert bekommen hatte und warf die Sense ins niedrige Gras, „Ich bin so lange sprachlos, wie ich will!! Passen Sie bloß auf, wenn Sie--…“ Mitten in seinem beginnenden Ausbruch hielt er plötzlich inne und starrte nach oben. Ich folgte seinem Blick, und nun sah ich auch, was er sah- Gewitterwolken. Ein scharfer Windstoß fuhr über kräftig über die Gerstenhalme und blies mir sämtliche Haare ins Gesicht, und schon bald begannen die ersten Regentropfen zu fallen. „Regen! Regen!“, trällerte ich und packte ihn kurz entschlossen bei der Hand, „Alles rennet, rettet, flüchtet! Schnell, Kuro-pii, wir müssen uns vor dem Regen in Sicherheit bringen!“ „Idiot!! Wie stellen Sie sich das vor?!“, bellte Kurogane zurück, während die ersten Leute bereits ihre Sensen und Kränze rasch niederlegten, „Hier gibt es doch nirgendwo einen Unterstand!“ „Das will nichts heißen! Wir finden sicher auch was, das neunmal so gut geeignet ist!“ Rasch ließ ich meinen Blick über das Feld schweifen und suchte es nach allem ab, was sich irgendwie als Unterstand verwenden lassen konnte- es musste ja nichts Luxuriöses sein, Hauptsache trocken und einigermaßen warm- bis mir die zahlreichen Ochsen- und Pferdekarren an den Rändern der Gerstenreihen auffielen. „Ins Heu! Ins Heu mit uns!“, zwitscherte ich begeistert und zerrte meinen Reisegefährten wild entschlossen hinter mir her. „Ins HEU!?“, fragte ich entsetzt, als er mich hinter sich herzog. Also ehrlich – dieser Tag konnte kaum schlechter werden. Erst dieser komische Vogel, der gegen seine Eulen allergisch war, dann diese ganze dämliche Gequatsche meines Arbeitsgebers, woran ich mich wohl niemals gewöhnen würde und nun auch noch dieses Gewitter. Heu schien mir nicht unbedingt der beste Unterschlupf zu sein – Gebunden vielleicht, aber lose weichte das doch durch wie Haferflocken in Milch. Doch darüber schien der Arzt nicht nachzudenken, denn er zerrte munter weiter. „Im Übrigen steht die vertebra meines rechten Arms kurz vor einer Fraktur“, fauchte ich. Fye blieb überrumpelt stehen und drehte sich zu mir um. „Was?“ „Hören Sie einfach auf zu zerren!“ Ich entwand ihm mein Handgelenk. „Nein, das da vor! Wiederholen Sie, was Sie davor gesagt haben!“ „Das tut doch nichts zur Sache, ich wollte bloß, dass Sie loslassen!“ „Ja, aber-...“ „Ich sagte: ‚Im Übrigen steht die vertebra meines rechten Arms kurz vor der Fraktur’!“, zischte ich genervt. „Das ist die Verbindung zwischen den Handknochen und der Elle und der Speiche...“ „Das weiß ich“, erwiderte er, leicht verdattert. „Aber warum wissen Sie das?“ „Ist das etwa verboten?“, fuhr ich ihn gereizt an. Für wie blöd hielt der Kerl mich eigentlich? Fye hob beschwichtigend die Hände. „Nein, nein, nein! Das haben Sie missverstanden! Es ist nur.... warum wissen Sie das?“ „Kampfsport“, erwiderte ich knapp. Mittlerweile waren wir nass. Sehr nass, denn der Regen grenzte mittlerweile an einen Monsun. „Aaaaah... verstehe“, gab der Arzt zurück, obwohl sein Blick sagte, dass er es nicht tat. Zumindest nicht ganz. „Ich hab mir schon öfter was gebrochen, gerissen oder gezerrt“, fügte ich hinzu. Blieb nun mal nicht aus... „Ah“, sagte er erneut. „Kommen Sie! Wir werden sonst noch ganz nass!“ „Wir sind schon nass!“ „Na, ein Grund mehr, sich unterzustellen!“ Er grinste, ergriff wieder meinen Arm und zog mich weiter zu dem Heuhaufen. Dort angekommen, kletterte er auf einen der Wagen und winkte mir ein wenig hektisch zu. „Nun kommen Sie schon rauf!“ Damit stürzte er sich dann auch schon kopfüber ins Heu. Seufzend folgte ich seinem Beispiel. Es war tatsächlich trocken – zumindest noch. Aber auch ein wenig staubig und dauernd piekten irgendwelche Halme. Aber eigentlich war es doch recht bequem – auch wenn auf dm Wagen nicht sehr viel Platz war und wir eng zusammenrücken mussten. Mein Begleiter fand das wohl nicht so schlimm, denn er grinste munter vor sich hin. „Sehen Sie, das ist doch wunderbar“, plapperte er drauf los, kaum dass ich mir eine möglichst bequeme Position gesucht hatte. „Es ist trocken und warm und kuschelig!“ „Noch!“, maulte ich. Kuschelig... na toll. Darauf konnte ich auch verzichten. Und so warm war es auch nicht, weil unsere Kleidung regelrecht triefte. „Warum sehen Sie eigentlich immer alles so negativ?“, fragte er und sah mich ein wenig kritisch an. „Ich sehe nicht immer alles negativ“, protestierte ich. Man musste ja wohl nicht alles gut finden... „Aber ziemlich viel! Wissen Sie, das ist mir schon sehr oft aufgefallen und—...“ „Mir ist aufgefallen, dass Sie verdammt noch mal viel zu viel reden! Könnten Sie das vielleicht lassen?“ Er kicherte. „Sie sind wirklich leicht reizbar, was?“ „Na und?!“, fauchte ich. Doch ihn schien das nicht zu stören, im Gegenteil, er wippte munter mit den Zehen, während er die Knie anzog und die Arme darum schlang. „Eigentlich ist das nicht unbedingt nötig, finden Sie nicht auch?“, fragte er. „Entspannen Sie sich doch einfach mal ein bisschen. Dann wären die Reisen auch nicht immer so stressig!“ Damit könnte er vielleicht recht haben – aber es gab einen Haken an der Sache. Er trug ziemlich dazu bei, dass ich Stress hatte... Er ließ sich rücklings ins Heu sinken. „Aber wissen Sie was, genau deshalb hab ich Sie ja auch eingestellt!“ „Nein, Sie haben mich eingestellt, weil ich der einzige Bewerber war!“ „Hmnn~ das auch~“, gab er zu und schmunzelte. „Aber nicht nur!“ „Was für ein Glück...“, meckerte ich ironisch. „Aber ja!“, stimmte er mir wohlgemut zu, ohne auf die Ironie zu achten. „Sie werden schon sehen – irgendwann verstehen wir uns!“ „Ach ja?“, meinte ich. „Dass das in nächster Zeit passiert, bezweifle ich.“ „Ich sagte ja auch irgendwann und nicht sofort!“ Er schien sich durchaus mit diesem Gedanken angefreundet zu haben. Ich konnte nicht sagen, dass es mich stören würde, aber momentan konnte ich mir das wirklich nicht vorstellen. Der Wind wurde stärker, und ein unheilverkündendes Grollen zeigte an, dass das Gewitter wohl mittlerweile genau über uns war. Der Regen nahm nun wirklich sintflutliche Ausmaße an und ich befürchtete, dass das Heu nun wirklich durchweichen würde... Allerdings schwankte ich, ob nicht doch vorher einer der Blitze, die unablässig über den Himmel zuckten, in den Wagen einschlagen würde. Ersteres wäre mir da weitaus lieber. Fye hatte sich inzwischen auch aufgesetzt und blickte zum Himmel – beziehungsweise der Heudecke – hoch, und schien ebenfalls ein wenig beunruhigt. Vermutlich zu Recht. „Ich sage fünfzig.“ „Und ich sage fünfhundert, verdammt nochmal!!“ Ich schnappte entsetzt nach Luft und musste mich voll aufrichtigster Empörung an der Lehne meines Stuhls festhalten, um nicht plötzlich auf schmerzhafte Weise mit dem strohbedeckten Boden der Scheune Bekanntschaft zu machen. „Um Himmels willen, Kuro-mune!! Das geht doch nie und nimmer! Fünfhundert Transkos, das, das-… das ist ja infam! Oder nein, das ist sogar fast schon mehr als infam! Es ist oberinfam!“ Mein Bodyguard ließ sich mit einem nervenschwachen Knurren auf seinem Stuhl nach hinten sinken und knallte die Liste der erforderlichen Medikamente, die ich für Noctua erstellt hatte, auf den grob gezimmerten Holztisch zurück. „Das nennen Sie ‚infam‘? Ich nenne das Geschäftssinn“, entgegnete er abfällig, „Wir haben uns für diesen eulenverrückten Fettsack abgezappelt, und jetzt soll er uns dafür gefälligst eine angemessene Entschädigung sehen lassen! Dienstleistung – Kohle! Das ist doch der Lauf der Welt, zur Hölle nochmal!“ Ich stieß ein langes, lautes Seufzen aus und widerstand nur schwerlich der Versuchung, die Augen zu verdrehen. Kaum zu glauben, jetzt saßen wir schon seit Beginn des Abends in dieser Scheune herum und waren uns immer noch nicht einig. „Aber verstehen Sie doch, Kuro-pyon, es wäre ganz einfach unhöflich, dem Mann solch eine Summe abpressen zu wollen!“, versuchte ich vergeblich den Sturkopf meines Reisebegleiters zu knacken und deutete auf die Liste, „Die Regel in auftragsärztlichen Kreisen ist, dass das Diensthonorar das Dreiviertel der aufsummierten Arzneipreise ausmachen soll, wenn es im Telegramm nicht ausdrücklich anders formuliert wurde. Und hier haben wir Antiallergika, Augentropfen, ein Inhalationsgerät zum Vorbeugen gegen atmungshemmende Schleimansammlung in den Lungenbläschen, und das zugehörige Inhalationsdestillat. Nicht mehr und nicht weniger. Gerundet kommt das Dreiviertel dabei auf ungefähr fünfzig Transkos. Und außerdem wird Noctua-san jetzt jeden roten Heller brauchen! Die Lieferpreise sind im vergangenen Jahr ins Astrologische hochgeklettert!“ Offenbar hatte ich das falsche gesagt. In den magmafarbenen Augen flammte es erbost auf. „Ach ja?! Und was ist mit uns, brauchen nicht vielmehr wir jeden roten Heller?!“, bellte der Schwarzhaarige gereizt, „Benutzen Sie doch ausnahmsweise mal Ihr Hirn, Sie Schöngeist! Sie sind vollkommen pleite, haben nicht einmal einen anständigen Platz zum Schlafen und Schulden bei Gott und der Welt! Und ich?! Ich weiß nicht, wieviel ich noch von meinem Haus vermieten muss, um weiterhin durchzukommen, und dazu sitzt mir dieser-…“, bei dem nachfolgenden Kraftausdruck wurde es mir im wahrsten Sinn des Wortes schwarz vor Augen, „… Gerichtsvollzieher schon seit Jahren im Nacken! Wenn ich ihn nicht bald Geld sehen lasse, kann ich demnächst aus der Dachrinne saufen! Und mein Leben ist mir verdammt nochmal wichtiger als Ihre hochgeistigen Ambitionen, kapiert?!“ Bei der Härte seines Tonfalls klappte mir automatisch der Mund zu. Ich spürte, wie sich irgendetwas in mir als unmittelbare Reaktion darauf schmerzhaft zusammenzog. Musste wohl mein Dopamin-Neurotransmitter sein. Beklommen senkte ich den Blick. „Ihr Leben ist mir doch auch wichtig, Kuro-chiimu“, wandte ich nach einer Weile halblaut ein, „Immerhin-… naja, immerhin passen Sie auf, dass mir nichts passiert. Sie beschützen mich. Und das würde ich wirklich gerne honorieren.“ „Ach, ist das so?“, grollte Kurogane bloß, „Dann honorieren Sie es doch einfach, indem Sie Ihre Sprücheklopferei für sich behalten und mir endlich ein regelmäßiges Gehalt einräumen!“ Schon wieder dieser schmerzhafte Stich. Ich starrte ihn an. Der Blick seiner roten Augen bohrte mir Löcher ins Gesicht. Wieviel Geringschätzung konnte ein menschliches Gesicht ausdrücken? „… Hassen Sie mich denn wirklich so sehr?“, hörte ich nach einem langen, bleiernen Schweigen eine kleine, dünne Stimme fragen, die fast wie die Meine klang. Und dann wieder doch nicht. Klang meine Stimme im Ernst so kläglich? Der Schwarzhaarige sah mich indessen nur mit skeptisch gehobenen Brauen an, als hielte er diese Frage schon seit langem für geklärt. „Lassen wir das besser auf sich beruhen. Ich bin jedenfalls nicht bereit, noch die ganze restliche Nacht mit Verhandlungen zuzubringen. Im Moment will ich eigentlich nur noch zwei Dinge, die Bezahlung und dann die Abreise. Lange halte ich es in diesem Kuhkaff nicht mehr aus.“ So langsam konnte ich es nicht mehr glauben. Vermutlich wäre kein Ironiker dieser Welt solch einem Starrsinn gewachsen. „Sie können sich nicht selbst hören, oder?“ „Häh? Was soll die Frage nun wieder?“, fragte er patzig zurück. Ich verschränkte meine Hände auf dem Tisch und erwiderte ruhig seinen verständnislosen Blick. „Es ist eines der Dinge, die mir mein Lehrer an der medizinischen Hochschule von Gakoshida als erstes beigebracht hat. Manchmal braucht man keine Waffen oder seine Fäuste, um jemandem wehtun zu können. Manchmal reicht auch schon ein einziges unbedachtes – oder bedachtes – Wort. Was glauben Sie, wie die großen Kriege der vergangenen Zeit angefangen haben? Die Stammeskriege zwischen den Harpyienvölkern der Hosho und Masaip? Der Krieg der drei Länder? Der Bischofskrieg?“ „Was hat denn das damit zu tun?!“ „Mehr, als Sie denken. Nun, was glauben Sie?“ Statt einer Antwort verschränkte mein Nachtwächter nur die Arme vor der Brust und starrte hartnäckig in eine andere Richtung. „Ihre Schullektionen interessieren mich herzlich wenig, Doc.“ „Es ist keine Schullektion, Kurogane, es ist schlicht und ergreifend eine Tatsache, wenn auch eine traurige“, erwiderte ich, ohne mich von seinem Geschimpfe aus der Ruhe bringen zu lassen, „Denn in diesen Kriegen fing man nicht einfach plötzlich damit an, sich gegenseitig zu erschießen und zu bombardieren. Es begann mit unbedachten Worten – ganz klein begann es. Und aus genau diesem Grund war mein Lehrer auch der Ansicht, dass man, bevor man selber spricht, erst das Zuhören lernen sollte. Erst sich selbst. Und dann anderen.“ Noch während ich sprach, schien es mir, als würde sich fast so etwas wie eine leise Verwirrung in diese wilden, zinnoberroten Augen stehlen. „Das Harpyienvolk in Shuryotori Aitoki zum Beispiel gehört dem Stamm der Masaip an. Aber haben Sie einen von ihnen auch nur ein schlechtes Wort über den Stamm der Hosho verlieren gehört? Sie beleidigen ihn nicht, denn sie selbst wollen ebenso wenig beleidigt werden. Es ist das Gegenseitigkeitsprinzip der Stoiker. Nach ihm zu leben ist nicht leicht, aber im Grunde ist es wie Laufen – wenn man es erst kann, kommt es einem vor, als hätte man es schon immer gekonnt.“ Schweigen. Man konnte Kurogane förmlich ansehen, dass er in Gedanken nach einer Erwiderung suchte, doch wollte ihm anscheinend nichts einfallen. Gegen meinen Willen musste ich ein wenig schmunzeln. „… Wie wäre es daher mit einem Kompromiss, hmnh? Sie lassen mir die kleine Freude der Sprücheklopferei, und ich bitte Noctua-san als Gegenleistung, uns sechzig Transkos inklusive der anfallenden Benzinkosten für Kermit einzuräumen. Ich habe mit Solveigs und Ursis Vater gesprochen, bis in zwei Tagen sind Motor, Getriebe, Zündung und Kupplung wieder in Stand gesetzt. Dann können wir schon übermorgen wieder nach Uranoke Sho zurückfahren.“ Keine Antwort. Kurogane sah mich immer noch mit diesem nicht zu entschlüsselnden Blick an. Ich nahm einfach mal an, dass das so etwas wie Zustimmung von seiner Seite symbolisieren sollte. „Am besten nehmen wir diesmal die Küstenroute, das würde zwar mehr Zeit in Anspruch nehmen, aber ich schätze mal, vom Gebirge hat Kermit-kun vorerst genug, was?“, fuhr ich daher wohlgemut fort, „Und wenn wir wieder zurück sind, wird erstmal gründlich in die Hände gespuckt! Wir müssen uns nach neuen Aufträgen umsehen, einen Bericht über den Zustand unserer Heilpflanzensaat an der Argundus Sentas-Universität einholen, und uns ganz dringend die Post ansehen! Möglicherweise ist ja eine Benachrichtigung von Crow und seiner Crew angekommen, und vielleicht haben uns Watanuki-kun und Domeki-kun ja auch schon ihren Obduktionsbericht bezüglich des Engelsweibchens zukommen lassen! Und ich denke mal, zehn Transkos von unserem Verdienst können wir auch für Ten-kun abzweigen, hmnh? Sonst erschlägt er uns womöglich noch mit einer seiner Teflonpfannen, dafür soll er unter den anderen Fusselwurmköchen von Uranoke Sho ja berühmt und berüchtigt sein! Hahahah!“ Immer noch keine Antwort. Offenbar hatte es ihm schon wieder die Sprache verschlagen. Zweimal an einem Tag, wirklich keine schlechte Quote. „Aus diesen Gründen schlage ich fürs Erste eine ordentliche Pause vor! Wir müssen doch frisch sein für morgen früh, wenn wir wieder bei der Ernte mithelfen und zu Noctua-san wollen! Dazu kommt, dass wir-…“ Ich hielt milde verwundert inne, als sich der Schwarzhaarige mitten in meinen Ausführungen plötzlich erhob und schweigend die weitläufige Scheune durchquerte, um sich an eines der milchgläsernen Fenster zu lehnen und hinaus zu starren. Aha. Das berühmte In die Ecke-Stellen. Normalerweise nur ein infantiles Verhaltensmuster, doch bei einem Dickschädel dieses Ausmaßes durchaus auch auf Kurogane übertragbar. Ich ließ mich davon nicht beirren und setzte mich auf einen großen Strohballen, ehe ich mein entliehenes Nachschlagewerk über Vampire wieder herausholte. „Okay, einfach bescheid sagen, wenn Sie wieder reden wollen!“, trällerte ich ihm fröhlich zu und vertiefte mich in aller Ruhe in meine Lektüre. Doch seltsamerweise fühlte ich mich bei seinem Schweigen nur halb so allein wie ich es erwartet hatte. Kaum hatte man Geld, war es auch wieder weg. Nicht, dass das sonst auch so war, aber eigentlich hatte ich gedacht, dass ein wenig mehr bleiben würde... Anscheinend mal wieder falsch gedacht. Und außerdem irritierte mich dieser plötzliche Ernst meines Gegenübers von eben ja doch noch ziemlich. Meine Güte. Vor allem fand ich es beunruhigend, da er ja irgendwie recht hatte... Das konnte allerdings warten. „Fünf. Allerhöchstens! Genau das meine ich!“, erwiderte ich frostig, nachdem ich eine ganze Weile geschwiegen hatte. „Sie fangen ja schon wieder damit an...“ So konnte man ja nicht an Geld kommen. Und dann mussten wir auch noch zwei weitere Tage hier bleiben und Zeit verschwenden. Ich musterte den Arzt, der anscheinend darüber nachdachte, ob er mir noch mal eine Predigt halten oder vielleicht auf meinen Vorschlag eingehen sollte, doch etwas mehr zu verlangen. Seit dem Unwetter von heute Mittag war er sowieso noch seltsamer als sonst. Nachdenklicher. Und schweigsamer. Zumindest war er das gewesen, als das Unwetter nachgelassen hatte und wir wieder aus dem Heu gekrabbelt waren und den Rest der Arbeit erledigt hatten, bis es Feierabend gewesen war. Sogar auf dem Weg bis zur Scheune, wo wir jetzt ungefähr seit einer Stunde darüber über unser Honorar diskutiert hatten, hatte er die Klappe gehalten. Dagegen hatte ich im Grunde nichts – obwohl es mich wiederum beunruhigte, weil es nun mal untypisch für ihn war. Hoffentlich wurde er nicht krank... denn den Stress wollte ich mir nicht auch noch antun. „Na, ist ja auch egal“, meinte ich dann und löste mich schließlich vom Fenster. „Ich werde mich jetzt hinlegen und schlafen und wagen Sie es nicht, mich mitten in der Nacht zu wecken, wenn es unwichtig ist!“ Diesmal wurden wir nicht mitten in der Nacht, beziehungsweise fünf Uhr früh, geweckt, sondern erst gegen sieben. Das war zwar immer noch früh, aber zumindest erträglich. Und anscheinend hatte der Arzt meine Drohung wahrgenommen, denn er hatte mich nicht geweckt. Oder er war einfach selbst zu müde gewesen, auf jeden Fall hatte ich durchgeschlafen und war jetzt einigermaßen ausgeruht. Das machte den Morgen ja schon ein wenig erträglicher. Sogar, dass uns die beiden Knirpse lautstark plappernd zum Frühstück schleiften, und Fye natürlich mit gewohntem Elan in die Unterhaltung – von der ich kaum ein Wort verstand – mit einstieg, änderte nichts daran. Aber zumindest wurde ich nicht vollgequatscht und ich konnte in Ruhe frühstücken. Dieses war sogar ziemlich gut – zumindest besser als das, was wir als Proviant herumgeschleppt hatten. Eigentlich war ich nicht so anspruchsvoll was das betraf, aber hin und wieder war ein gutes Essen ja nicht verkehrt. Noch dazu war es ein Grund weniger, schlechte Laune zu bekommen. Die bekam ich sicher noch früh genug – obwohl ich es nicht darauf anlegte. Ich fragte mich, ob der Bentley wieder repariert war, obwohl es ja eigentlich noch bis morgen dauern sollte. Und ich hoffte, dass er zumindest bis nach Uranoke Sho durchhielt – auch wenn wir nicht mehr durch das Gebirge fahren würden. Das war mal ein sinnvoller Vorschlag des Arztes gewesen – auch wenn ich ihn somit länger ertragen musste, aber immer noch besser, als wenn ich mich zusätzlich auch noch über ein kaputtes Auto ärgern musste. Ich sah zu Fye herüber, der sich offensichtlich amüsierte. Und die Kinder kicherten auch schon die ganze Zeit über und hingen nahezu an den Lippen des Arztes – was auch immer er erzählte, vielleicht war es besser, dass ich es nicht verstand. Wahrscheinlich erzählte er von unseren bereits gemeisterten Aufträgen – oder seinen Abenteuern… Oder er lästerte wieder über mich – jedenfalls schienen sie einen Narren an ihm gefressen zu haben. Nun ja, eine Eigenschaft, die als Arzt ganz praktisch war. Das hatte er jedenfalls drauf. Er schien so vertieft in seiner Erzählung zu sein, dass er gar nicht merkte, dass ich ihn schon geraume Zeit beobachtete, denn als er hochschaute und unsere Blicke sich trafen, wirkte er kurz überrascht, bevor er grinste. „Hab ich was im Gesicht?“, fragte er, bevor er sich lachend an die Kinder wandte und es anscheinend wiederholte, weil die Beiden eifrig den Kopf schüttelten. „Abr deen zwarter Kompl heb vandaag an goede sentiment, hoor?“, fragte Solveig Fye lachend. „Het lijkt van wel!“, antwortete er und sah dann zu mir. „Oder etwa nicht?“ „Was denn?“, wollte ich wissen. Dass es jetzt um mich ging hatte ich ja verstanden. „Solveig meinte, Sie hätten heute gute Laune, und ich meinte, dass das wohl so ist. Ist das so?“, erklärte er fröhlich. „Zumindest schauen Sie nicht so griesgrämig drein wie immer. Ich frage mich, woran das liegt! Das ist ja erstaunlich, wissen Sie, ich hätte nicht gedacht, dass – …“ Er brach ab, als ich möglichst genervt eine Augenbraue hob. „Ooh, zijn ie nu boos?“, piepste Ursi und sah mich groß an. „Maar nee!“, Fye schüttelte bloß grinsend den Kopf. „Der zijn nu boos, vermits helemaal geen woord snapt!“ „Häh?“ „Kiekt! Wos hebbt je gezegd?“ Alle drei kicherten. „Ich habe sehr wohl verstanden, was Sie gesagt haben!“, schnaubte ich. Eigentlich war das ein Schuss ins Blaue – ich hatte eigentlich kein Wort verstanden, aber anscheinend war es ein Treffer, denn Fye klatschte begeistert in die Hände. Solveig und Ursi kicherten wieder. „Oi, doa hebts ie abr geschwindlt!“, meinte Solveig dann allerdings zu Fye und grinste. „Koan woord hebts der gsnapt!“ Fye grinste bloß wissend und lehnte sich über den Tisch, um mir die Schulter zu tätscheln. „Mevallen… abr goed naar iets gissen, odr niet?“, meinte er zu dem Mädchen und mir raunte er zu: „Gut geraten!“ „Pah“, grollte ich, was sie aber bloß wieder zum Kichern brachte. „Aaaaaach, jetzt seien Sie doch nicht sooo“, meinte Fye in versöhnlichem Tonfall und tätschelte mir erneut die Schulter. „Woar ja net boos gmoint!“, fiepte Ursi und Solveig nickte eifrig. „Niet de pee in hebben!“ Mein unfreiwilliger Reisebegleiter stieß als einzige Antwort nur ein Knurren aus, das vermutlich selbst dem berüchtigten Biest von N’Galia Respekt eingebläut hätte, offenbar zur eindeutigen Manifestation seines nunmehr arg strapazierten Geduldfadens. Seltsamerweise entschieden sowohl Ursi und Solveig als auch ich noch im selben Atemzug, uns im Schweigen der Philosophen zu üben und es bei dem Verzehr unseres Frühstücks zu belassen, das aus selbstgebackenem Brot, Spiegelei mit Speck, saftigem Mais, selbstgemolkener Milch, Marmelade in verschiedenen Geschmacksrichtungen und selbstimportiertem Tee aus Ghwen-Elfaer bestand. Gedankenverloren tunkte ich mein Brot in meine vorgewärmte Milch. Ein wenig betrübte es mich mittlerweile ja doch, dass Kurogane offenbar nicht den geringsten Sinn für Humor zu besitzen schien – oder zumindest hartnäckig den Anschein erwecken wollte – und, das kam noch erschreckend hinzu, er schien mich mit aller Herzlichkeit und Aufrichtigkeit, deren ein Mensch fähig war, zu hassen. Hassen, Herrgott! Aus irgendwelchen paradoxen Gründen wollte mir das einfach nicht in den Kopf hinein. Was um alles in der Welt konnte man denn an mir hassen? Mit einem resignierten Rollen der Augen schenkte ich mir frischen Tee ein. Diese Frage konnte ich mir sparen, denn sie war rein rhetorisch. Dieser Kerl schien einfach alles an mir zu hassen. Besser fragte ich ihn gar nicht erst danach, wenn ich nicht auf brutale Weise an meinem Ego vergewaltigt werden wollte. „Was schlagen Sie vor, Kuro-nyan?“, erkundigte ich mich schließlich, um diese Gedanken von mir abzuschütteln, „Was wollen wir tun, sobald wir wieder in Uranoke Sho sind?“ Ausnahmsweise bellte mich der Schwarzhaarige nicht sofort wieder in seiner üblichen Manier an, sondern stellte nur seine Kaffeetasse ab und fuhr sich nachdenklich durchs Haar. „Ich muss einige persönliche Angelegenheiten regeln.“ „Oh, gut dass Sie das sagen. Ich auch.“ „… Eh?“ Bei seinem unwillig verblüfften Gesicht entschlüpfte mir ein Kichern. „Hey, man glaubt es zwar kaum, aber auch ich habe etwas, das man durchaus als Privatleben bezeichnen kann!“ „Ich werd nicht mehr“, brummte er abfällig und säbelte eine weitere Scheibe Brot ab, „Als nächstes enthüllen Sie mir wohl, dass Sie in Ihrem früheren Leben eine Kaschmirprinzessin waren, was?“ Nun konnte ich einfach nicht mehr anders, ich musste lachen. „Hehehe, na wer weiß, vielleicht war ich das ja sogar?“ „Jetzt sagen Sie bloß, sind auch noch einer dieser verfluchten Esoterik-Hein--…“, fing er entnervt an, doch ein unerwartetes Rumpeln im Hausflur brachte ihn jäh zum Schweigen. „Wos wor des?“, piepste der kleine Ursi, das runde Gesichtchen auf höchst impressionistische Weise mit Marmelade bekleckert, und ließ vor Schreck beinahe seine Kakaotasse fallen, während Solveig sofort vom Stuhl sprang und lauschte. Hektisches Trampeln von zwei schwer bestiefelten Füßen wurde laut, das rasch näherkam. „Heilands Dunderwedr, Ursi, des Runkeldunk maakt doch nora Vadder!“ „Sell isch gwies, havet dere Hatze?“, erkundigte ich mich ja doch etwas verwundert, da wir Ursis und Solveigs Vater eigentlich als einen ruhigen, methodisch denkenden Menschen kennen gelernt hatten. Viel Zeit zum Räsonieren blieb mir allerdings nicht mehr, da der hochgewachsene rothaarige Mann bereits wenige Sekundenbruchteile ins Zimmer gestürzt kam. Sein harsch geformtes, wettergegerbtes Gesicht glänzte vor Schweiß und sein Atem polterte wie ein Felsen, der einen Abhang hinunterdonnerte, als wäre er meilenweit gerannt. „Maaket jullie auf, doa isch sells nunderkumm! De Noctua isch in Dispaar, jullie müssedse hulpen, rasch, maaket rasch!“ „Wos hod sech älleweil don?“, fragte ich, während ich jedoch sofort seiner Empfehlung folgte und von meinem Sitzplatz hochschoss wie ein angezündeter Knallfrosch, „Isches schlemm?“ „Seene Uilen sind drom am Tod drenn! Des isch lakket we enne Grimpen, oddr enne Feeber!“ Eine gelähmte Stille machte sich ob seinen Worten breit. Hilflos sahen die Kleinen zu ihrem Vater empor, als könnten selbst sie nicht glauben, was er sagte. Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass ich Ursis und Solveigs Vater fassungslos anstarrte. „Wos?“, schaffte ich es endlich hervorzustoßen, „Isch sell gwies?“ „Gwieser els gwies! Rasch, rasch, maaketse, kummatse mit!“ „Schnell, Kurogane, kommen Sie!“, rief ich dem Schwarzhaarigen noch über meine Schulter zu, während sich meine Füße schon längst in Bewegung gesetzt hatten und ich dem aufgeregten Balkjebeeker eilends nach draußen folgte, „Es ist ein Notfall!“ Wenigstens konnte man dem Kerl zugute heißen, dass er einer Aufforderung nachkam, wenn sie ernst gemeint war. „Wieso, was hat er gesagt?“, rief er zurück, während wir zu dritt zu dem Stall der Familie rannten, in dem der Bydlo untergebracht war, „Ich habe kein Wort verstanden!!“ Mit einer weit ausholenden Geste stieß Ursis und Solveigs Vater die Scheunentüren auf und machte sich voller Hast daran, ein geeignetes Pferd aufzuzäumen und vor den Bydlo zu spannen. „Er hat gesagt, dass Noctua-sans Eulenzuchthof etwas Schreckliches zugestoßen sei“, erklärte ich atemlos, wobei ich mich bereithielt, auf Abruf auf den Bydlo zu steigen, „Er weiß nicht, was es genau ist, aber fast sämtliche Eulen auf dem Hof scheinen von einer Art Krampf oder Fieber befallen zu sein! Es sieht aus, als wären sie bereits tot, obwohl sie noch leben!“ Obwohl Kurogane noch immer hinter mir war, konnte ich förmlich spüren, wie er mich auf seine typische Art à la Oh nein, bitte nicht jetzt anstarrte. Er schaffte es jedoch nicht mehr zu protestieren, da unser balkjebeekerischer Informant mittlerweile in aller Eile das Pferd, ein auffallend schmal und schlank gebauter Rappe, vor den Bydlo gespannt hatte und uns unter hastigem Winken dazu aufforderte, aufzusteigen. „Kummatse schnell, wer muassad rasch maaken!“ Mit einem Satz waren wir auf dem breiten Kutschbock, Ursis und Solveigs Vater spannte die Zügel an und schnalzte mit der Zunge, und mit einem gellenden Wiehern ging der Rappe umgehend in den Galopp über. Der Kies spritzte zwischen den Rädern des Bydlos davon, als wir unter ohrenbetäubendem Rumpeln und Poltern aus der Scheune donnerten und in Höchstgeschwindigkeit Zondorp Richtung Noctuas Eulengehöft verließen. „Schnell, Kurogane, kommen Sie!“ „Ich komme ja schon, verdammt!!“ Mein Atem schmerzte mittlerweile in meinen Lungen wie glühende Kohle, dennoch rannte ich weiter. Ursis und Solveigs Vater hatte uns zehn Meter von Noctuas Gehöft abgesetzt, das wir nun so schnell wie nur irgendwie möglich zu erreichen suchten. Glücklicherweise standen die geschwungenen, gusseisernen Torflügel weit offen, als würde uns der unglückselige Eulenzüchter bereits erwarten. Was er offensichtlich auch tat, denn kaum dass wir das Tor passiert hatten, kam er uns augenblicklich entgegengerannt. Von seiner Schwerfälligkeit war nicht mehr das Geringste zu sehen. „Oh, Dokter, ech bittse, um Goeteswuilln, hulpetse mer! Ech han dr Vaddr von dr Solveig gwinscht dasser jullie herschekket“, stieß er hervor, seine Stimme überschlug sich regelrecht in Panik und er rang die Hände wie ein Betender, „Meene Uilen, meene wondrscheenen Uilen, elle sindse omme Tod rom! Oh um Goeteswuilln, maaketse rasch!“ „Zeegetse ons de Stell!“ Unverzüglich setzte sich der pompöse Eulenzüchter wieder in Bewegung und führte uns hastig zu einer der lang gezogenen, niedrig angelegten Stallungen, in denen er seine Eulen untergebracht hatte. Als er die Türen aufriss, empfing uns eine tiefe Stille, Grabesschwärze und der Geruch von aufgeschüttetem Stroh, Mäusegewölle und Eulenmist. Ich blieb im Türrahmen stehen und kniff angestrengt die Augen zusammen, um in der diffusen Dunkelheit etwas zu erkennen, während mein Leibwächter angespannt hinter mir verharrte. An beiden Seiten des weitgestreckten Raumes reihten sich die Nestbauten der Eulen entlang, die jeweils aus einem Geflecht aus Stroh, Mäusegewölle und dem Flachsgewebe von alten Maispflanzen bestanden. An etwa jedem dritten Nest war ein Körner- und ein Wasserspender angebracht. Ein Eulenverschlag wieder jeder andere. Und dennoch stimmte an diesem Bild etwas nicht. Und bereits nach wenigen Augenblicken wusste ich, was es war. Es war die Hitze. Brütend und schwer wie die unsichtbaren Ausschwitzungen eines pestilenzialischen Fiebers lag sie in der Luft, flirrte und gärte über dem Stroh und verwandelte es in eine widerwärtige, feuchtwarm verklumpte Masse, die einen infernalischen Gestank ausströmte. Einen Gestank nach ausgespieener Galle, in ohnmächtigem Schmerz abgeworfenen Afterfedern und aufgerissener Haut. Blut. Ein Gestank, der mir in seiner Bestialität auf eine beunruhigende Weise wohl bekannt war. Bei dieser langsam in mir aufkeimenden Gewissheit, um was es sich hier handeln könnte, setzte mein Herz unwillkürlich für einen Schlag aus. „Was soll das werden, Meditation?“, hörte ich wie von weiter Ferne Kuroganes ungeduldige Stimme an mein Ohr dringen, „Gehen wir jetzt rein, oder was?“ Er wollte sich an mir vorbeischieben und die düstere Stallung betreten, doch ich hielt ihn mit einem Arm zurück. Denn nun hatten meine Augen endlich gefunden, was sie schon die ganze Zeit über gesucht hatten. Schatten. Dunkle, gefiederte Schatten, die wie weggeworfene Lumpen in den Nestern, zwischen den Nestern oder einfach bäuch- oder rücklings auf dem Boden lagen. Fast konnte man meinen, sie wären tot. Doch wenn man sie länger ansah, konnte man sehen, dass sie in unregelmäßigen Abständen konvulsivisch zuckten. „Gehen Sie nicht da rein, Kurogane.“ „Wieso nicht? Werde ich dann zu Tode gepickt?“ Ich wandte mich zu ihm um und schüttelte bestimmt den Kopf. „Nein. Aber ich denke, dass auch Sie draußen bleiben würden, wenn Sie nicht unnötig Ihr Leben riskieren wollen, oder etwa nicht?“ Keine Antwort. Angesichts meines Ernstes schien dem Schwarzen keine Erwiderung einzufallen. Noctua hingegen starrte mich mittlerweile an, als wäre mir ein drittes Auge aus der Stirn gewachsen. „Wos isch? Isches schlemm, Dokter?“ „Lassetse mech en Blick wurfen“, erwiderte ich ruhig und suchte die Taschenlampe aus meinem Rucksack hervor, den ich vorsichtshalber gleich mitgenommen hatte. „Sind Sie wahnsinnig?“, stieß mein Leibwächter hervor, „Wieso gehen Sie da rein, wenn es lebensgefährlich ist?! Wollen Sie etwa sterben?! Wissen Sie überhaupt schon, was es ist?! HE!! Ich rede mit Ihnen!“ Ich gab keine Antwort, sondern knipste lautlos die Taschenlampe an und begab mich langsam in die Dunkelheit der Stallung. Wie das verirrte Flackern eines Glühwürmchens wanderte der Strahl der Taschenlampe über die Holzwände und an den Nestern entlang, bis sie schließlich gefunden hatte, was sie suchte – eine Blaustreifeneule. Wie leblos lag sie auf dem Rücken, halb begraben von zwei Artgenossinnen. Ihre Flügel standen in einem sehr grotesken Winkel von ihrem Körper ab, durch den immer wieder schwache, fiebrige Zuckungen rollten. Ihre sonst so wachen, dotterfarbenen Augen wirkten fahl und bleich wie der Bauch eines Fisches und starrten blicklos an die Decke. Ihre Pupillen – die bei ihrer Gattung normalerweise unabhängig von der Intensität des Lichteinfalls immer rund waren – waren seltsam starr und hatten sich zu nadeldünnen Schlitzen verengt. Bei ihrem Anblick wurde meine Kehle sandtrocken, sodass ich gar nicht merkte, dass mir mein Leibwächter schon längst ins Innere der Stallung gefolgt war. Oh nein. Lass es nicht das sein. Wenn es wirklich das war, was ich vermutete, fehlte nur noch ein letzter Beweis. Vorsichtig griff ich in die Seitentasche meines Rucksacks und zog ein Skalpell mit kurzer Klinge heraus, um mir damit einen Schnitt auf den Handrücken zu setzen. Er war dünn, doch es würde ausreichen. „Was tun Sie da?“, hörte ich Kurogane skeptisch murmeln, doch ich achtete nicht auf ihn und beobachtete meinen Handrücken. Als nach kurzer Zeit ein stecknadelkopfgroßer Blutstropfen aus der Wunde trat, drehte ich meine Hand vorsichtig um und streckte sie aus, sodass sie von dem leichten Luftzug gestreift wurde, der von der Tür ausging, und sich die Geruchsaura meines Blutes in der Dunkelheit verbreiten konnte. „Was soll das?“, wiederholte Kurogane soeben gereizt und legte mir von hinten eine Hand schwer auf die Schulter, um mich zum Antworten zu bewegen, „Hören Sie mir überhaupt zu? Könnten Sie mir endlich verraten, was das-…“ Weiter kam er nicht, denn nun reagierten die Eulen. Ein hysterisches Beben raste durch ihre erschöpften Leiber wie eine elektrische Entladung. Ein jähes gelbliches Glimmen flackerte in ihren leblosen Augen auf, und bevor einer von uns noch reagieren konnte, verfielen sie in ein gellendes, die Ohren marterndes Kreischen, begannen sich zu winden, zu zappeln, um sich zu treten. Weißlichroter Schaum trat von ihren Schnäbeln. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass sie anfingen, auf uns zuzukriechen. „Los, raus hier“, stieß ich hervor und packte Kurogane an der Hand. „Was-…?“ „RAUS HIER!!“ Ich ließ ihn nicht ausreden, sondern schleifte ihn mit aller Gewalt zurück Richtung Ausgang, während das markerschütternde Kreischen und Toben hinter uns nahezu unerträgliche Ausmaße annahm. „Aber warum-...“ „Weil diese Eulen keine Eulen mehr sind! Sie wurden mit Vampirgift infiziert!!“ Kapitel 15: Reactio Insolitus - 4 --------------------------------- „Vampirgift?“, stieß ich hervor, nachdem wir die Tür des Eulenverschlags zugeknallt und uns dagegen gelehnt hatten. Sie erbebte unter den Eulen, die sich heulend und kreischend von der anderen Seite dagegen warfen. Wieso hatte diese Tür denn kein Schloss, verdammt? Zum Glück schienen sie nicht – noch nicht? – in der Lage zu sein, zu fliegen. Denn spätestens dann hätten wir ein Problem. „Heißt das, das sind jetzt….Vampireulen?!“ „Genau genommen sind es ganztierische Vampire, Lamiae Bestiae , oder auch Lamiae Bestiales, und ganz genau genommen Lamiae Bestiae Noctuales. Aber das tut nichts zur Sache.“ Er klang gehetzt, gepresst und vor allem entsetzt. Ich hatte erst einmal mit Vampiren zu tun gehabt – keine sehr angenehme Erfahrung. Allerdings waren es menschliche Vampire und dazu besondere Umstände gewesen. Aber Fye schien so, als wäre er schon öfter welchen begegnet. Zumindest kannte er sich anscheinend sehr gut damit aus – und das sicher nicht nur, weil er dauernd dieses Buch las. Aber ich hatte keine Zeit nachzufragen. Die Tür erzitterte schon in den Angeln. Die mutierten Eulen drehten anscheinend jetzt völlig durch. „Wir brauchen einen Riegel oder so was!“, sagte ich. Der Arzt zeigte keinerlei Reaktion sondern hielt sich bloß starr an die Tür gepresst, kalkweiß im Gesicht und mit einem Blick ins Nirgendwo. „Hey!“, fuhr ich ihn an. „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen! Wir müssen diese Tür verriegeln, damit wir die Fenster da oben auch zu kriegen!!“ Drinnen steigerte sich das Heulen, Kreischen und Kratzen, als wüssten die ehemaligen Blaustreifeneulen was wir – oder zumindest momentan ich – vorhatte. Noctua starrte fassungslos auf die Tür, die mittlerweile knirschte, als wolle sie gleich in Splitter zerbersten. „Wos isses?!“, fragte – nein, eigentlich kreischte er ebenfalls und das etwas hysterisch, doch ich unterbrach ihn. „Holen Sie irgendwas! Einen Holzbalken, Ketten…irgendwas! Los!“ Er sah mich verständnislos an. Verdammt. Wieso verstand er mich denn nicht?! Ich drehte mich halb zu Fye herum. „Tun Sie was! Sagen Sie ihm, er soll irgendwas holen, damit wir die Tür verbarrikadieren können, verdammt! Hey, hören Sie mir zu… !“ Wenn das so weiterging, konnten wir genauso gut die Tür aufreißen und stehen bleiben. Allerdings fürchtete ich, dass uns die Eulen dann in Stücke reißen würden. Zumindest schloss ich das aus Fyes heftiger Reaktion beim Fund und an dem jetzigen Verhalten der Eulen. Ich würde selbst gehen, um irgendwas zu holen, damit wir die Tür verrammeln konnten – aber Fye konnte die Tür allein nicht zuhalten und ich konnte dem Besitzer der Eulen nicht verständlich machen, dass er helfen sollte. Vom Gewicht her traute ich ihm zu, die Tür zu blockieren, aber er war anscheinend zu geschockt, um sich auch nur irgendwie zu rühren. Drinnen wurde Flattern laut. Oh nicht doch…! Ich stieß Fye heftig an. „Jetzt sagen Sie was! Stehen Sie da nicht so rum! Was ist denn los mit Ihnen?!“ Schmerzhaft wie ein jäher elektrischer Schlag holte mich die Stimme meines Leibwächters aus der verworrenen Schwärze meiner Gedanken zurück, die sich wie drückend schwerer Nebel unerbittlich gegen die Innenwände meines Schädels pressten und mir keine Luft ließen. „Ich, es-…“, stammelte ich schwach, wobei der trommelfellzerfetzende Lärm der nun endgültig aufgestachelten Blaustreifeneulen hinter der Tür wie ein verschwommener Luftzug an meinem Ohr vorbei zu rauschen schien, „I-ich-… weiß nicht, was-… ich weiß nicht-…“ „WAS WISSEN SIE NICHT?!!“, brüllte der Schwarzhaarige mich an und packte mich mit einer Pranke hart am Kragen, sodass ich mit einem kläglichen Laut nach Luft schnappte, „Verdammt, tun Sie endlich was!! Sie sind hier der Arzt!! Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, kriegen uns diese Viecher noch!! HE!!“ Dass nun schon mein eigener Angestellter auf mich losging, schien Noctua noch konfuser zu machen, denn er sprang regelrecht von Kurogane weg, als hätte er soeben festgestellt, dass er ebenfalls zu mutieren begann. Kalter Schweiß glänzte auf seiner fettigen Haut. Hinter der Tür hackten die Blut witternden Vampireulen mit wütenden Schnäbeln auf die Tür ein. Das unruhige Flattern und Flügelschlagen wurde immer lauter. Nichts von alldem erreichte mich. Meine Hände und Füße fühlten sich mit einem Mal kälter als Eis an. Fast schien es, als hätten meine Sinne plötzlich die Bande gekappt. Ein Zittern durchlief meinen wehrlosen Körper. „Ich-… i-ich weiß nicht, was ich tun soll!“, hörte ich wie von weiter Ferne wieder diese klägliche Stimme hervorstoßen, die der Meinen so ähnelte, „Ich kann nichts tun!“ Ich konnte Kuroganes Gesicht nicht erkennen. Meine ganze Umwelt bestand nur noch aus einem wilden Karussell aus Farben und Schatten. Und dennoch konnte ich spüren, wie er mich in diesem Moment anstarrte. „Was soll das heißen, Sie können nichts tun?! Haben Sie etwa keine Ahnung, was man gegen diese Viecher unternehmen könnte?!!“ Meine Kehle wurde steintrocken. „I-ich meine, ich-… ich kann nichts für die Eulen tun!“ Es war hart, aber ein Gesetz der Natur ließ sich bekanntlich nicht ändern. Die Mutation war gleichbedeutend für den Tod. So und nicht anders war es schon immer gewesen. Meinen unfreiwilligen Reisebegleiter schien dieser Fakt jedoch herzlich wenig zu interessieren. „Also schön, bitte, wenn es nicht anders geht, müssen wir sie eben töten! Sie können doch sicher so eine Art Biobombe basteln, die werfen wir dann in die Stallung, und dann ist Ruhe im Karton!“ Ein unerträglicher Schmerz krampfte bei diesen ungerührten Worten meine Kehle zusammen. Ich spürte richtiggehend, wie meine Kiefermuskeln hervortraten, als ich hart die Zähne aufeinanderknirschte. „Aber-…“, hörte ich wieder diese Stimme stammeln, „Aber wir können sie nicht töten, es-… es sind doch Menschen, sie-…“ Kuroganes Gesichtsausdruck steigerte sich ins Fassungslose. „Was?!! Sagen Sie mal, sind Sie denn jetzt vollkommen ab vom Schuss? Seit wann sind Eulen denn Menschen? Unternehmen Sie lieber was! Wir müssen die Biester töten!“ „A-aber-…“ „Kein ‚aber‘!! Tun Sie’s einfach!!“ „Aber ich-…“ „LOS!!“ Das grobe Kommando versetzte meinem Denken einen jähen Schub nach vorne. Die Gedanken in meinem Kopf schlugen Purzelbäume. Die mutierenden Eulen töten. Aber wie? Ich hatte doch nur das Rezept mit der Medizin, einige Kräuterbündel, die Skalpelle und die Flasche mit destilliertem Wasser dabei, die Clow mir als Bonus draufgegeben hatte, wie sollte ich damit-… Destilliertes Wasser. Hastig setzte ich meinen Rucksack ab und wühlte die große, plastikene Flasche aus seinen Tiefen hervor, die bis zum Rand mit destilliertem Wasser gefüllt und mit einem schweren Schraubverschluss versiegelt war, während Kurogane sich mit aller Macht gegen die Tür stemmte, die unter den hysterischen Attacken der Eulen förmlich erbebte. Solange sich destilliertes Wasser außerhalb eines mutierenden Organismus befand, konnte es diesem nicht gefährlich werden. Sobald es aber in diesen Organismus hineingelangte… Sämtliches moralisches Wertgefühl, Gewissen oder einfaches rationales Denken schien mich mit wie mit einem Schlag verlassen zu haben, als ich mühsam die Flasche aufschraubte und mir einen neuerlichen Schnitt auf den Handrücken setzte, diesmal jedoch tiefer, um mehr Blut zu gewinnen. Tropfen für Tropfen siegellackrotes Leben sickerte aus meinen Venen und tropfte zielgenau in die Flasche. Hellrote Schlieren breiteten sich in der farblosen Flüssigkeit aus. Wie betäubt sah Noctua mir zu, während Kurogane genügend damit zu tun hatte, die Tür geschlossen zu halten. Zwanzig Tropfen später schraubte ich den Deckel wieder zu. „Werfen Sie mich aufs Dach.“ „WAS?!!“ „Werfen Sie mich aufs Dach“, hörte ich die Stimme tonlos wiederholen, „Ich lasse die Flasche durch die Flugklappe ins Innere der Stallung hinunter.“ Das schien als Erklärung zu genügen. Der Schwarzhaarige warf nur einen kurzen, prüfenden Blick zu dem niedrigen, schräg abfallenden Dach empor, ehe er sich mit dem Rücken gegen die Tür stemmte, mich an den Hüften packte und mit einem einzigen Ruck auf das Dach beförderte. Ich kam unsanft auf der Seite auf und blieb für einige Sekunden wie gelähmt liegen, ehe ich mich wieder berappeln konnte. Die Flugklappe, durch die die Vögel an sonnigen Tagen ein- und ausfliegen konnten wie sie wollten, lag nur wenige Meter entfernt. Benommen wie ein Schlafwandler stolperte ich zu der dunklen Teerbeschichtung der Klappe und stemmte diese ächzend hoch. Die Dunkelheit des Stallungsinneren empfing mich wie der gähnende Schlund einer Bestie. Inmitten all des Lärms, der Hysterie und der Gier nach meinem Blut starrten mich unzählige gelbe Augenpaare aus der Dunkelheit heraus an. Ich starrte wie hypnotisiert zurück. Und plötzlich spürte ich, dass meine Hände den Schraubverschluss öffneten und die Flasche durch eines der Gitterlücken in der Flugklappe ins Innere der Stallung fallen ließen. Die Geruchsaura meines mit dem destillierten Wasser vermischten Blutes sprach eine Sprache, die in ihrer Klarheit jede Form der Zurückhaltung erübrigte. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis die Tiere in einem einzigen kollektiven Manöver von der Tür abließen und sich Hals über Kopf auf die offene Flasche stürzten. Meine Kniee wurden weich. Ein bleischweres Gefühl erfüllte meine Magengegend, während ich mich starr wie ein Toter im Schneidersitz neben der Flugklappe niederließ – und wartete. Diese Eulen waren so gut wie tot. Diejenigen, die am schnellsten zu dem Wasser gelangten, würden darin lediglich das Blut riechen, das ich hineingeträufelt hatte, es somit ohne weiteres als Futterquelle anerkennen, und mit der Gier eines Wahnsinnigen trinken, bis ihr Magen keine Flüssigkeit mehr fassen konnte. Ich war gut genug mit der Wesensart von ganztierischen Vampiren vertraut, um zu wissen, dass diese Wesen in Notzeiten auch das Blut sowie den Mageninhalt der eigenen Artgenossen nicht verschmähten – die Eulen, die nicht schnell genug waren, um die Flasche zu erreichen, würden ihren trinkenden Artgenossinnen einfach Kropf oder Bauch aufreißen, um sich auf diese Weise ihren Anteil abzuzweigen. Das destillierte Wasser würde aufgrund durch die Mutationsvorgänge erhöhten Proteinaktivitäten innerhalb weniger Minuten in ihre Organismen eindringen. Die bereits genetisch veränderten roten Blutkörperchen würden die Destillatmoleküle wegen ihrer ähnlichen chemischen Struktur für ein mutationsstimulierendes Reagens halten – und sich solange damit vollsaugen, bis sie zerplatzten. Innerhalb kürzester Zeit würden sämtliche Arterien, Venen und Kapillargefäße des Körpers vollkommen kollabieren und aufreißen. Die Eulen würden von innen heraus verbluten. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in meinem Kopf aus, als das von Gier durchzitterte Kreischen, Fauchen und Flügelschlagen innerhalb zwanzig Minuten kontinuierlich leiser wurde, bis es schließlich ganz erstarb und Stille sich in der Stallung breitmachte. Totenstille. Mir wurde sterbenselend im Leibe. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass die Eulen nun tot waren. Doch alles, was ich in diesem Moment noch wusste, war die Tatsache, dass ich sie umgebracht hatte. Ich ließ mich schwer gegen die Tür sinken, als das Geheul und Gekreische erstarb und die Tür sich auch nicht mehr rührte. Endlich. Mann, diese Viecher hatten aber immense Kräfte gehabt. Noch ein wenig länger und ich hätte die Tür wohl nicht mehr zuhalten können. Manchmal fragte ich mich wirklich, was der Arzt für verrückte Ansichten hatte… Dabei waren es doch nur Eulen. Na ja – eigentlich war es wohl ebenso die Existenz des Eulenzüchters, der gerade dabei war in fassungsloses Stammeln und Stottern zu verfallen. Allerdings hätten diese Eulen ihn und uns ohne weiteres getötet. Trotzdem – was war in meinen Begleiter gefahren, dass er so langsam und widerwillig reagiert hatte? Und dann noch diese Behauptung. ‚Aber wir können sie nicht töten. Es sind doch Menschen’. Wie war er nur darauf gekommen…? Zu fragen war wohl sinnlos. Ich tat es trotzdem. „He… Was meinten Sie damit, ‚es sind doch Menschen’?“ Vom Dach kam keine Antwort. Wie erwartet. Dann eben nicht. Ich fragte mich, ob wirklich alle Eulen tot waren… Aber drinnen war alles still. Deshalb nahm ich es an und wagte er, mich wieder zu erheben und von der Tür wegzugehen. Ich legt den Kopf in den Nacken, um aufs Dach zu sehen. „Was treiben Sie denn da oben? Kommen Sie schon runter!“, rief ich. Immer noch keine Antwort. „Ich werde nicht raufkommen und Sie runterholen…“, murrte ich, als er nach fünf Minuten immer noch keine Antwort gegeben hatte. Zehn Minuten später war ich dabei, aufs Dach zu klettern. Er rührte sich nicht, sondern saß neben der Klappe, durch die die Eulen ein- und ausfliegen konnten. „Hey!! Der Typ da unten ist ganz verstört und geht mir tierisch auf die Nerven… beruhigen Sie ihn, mich versteht er ja nicht…“, fing ich an, brach aber ab. Er hörte mir anscheinend ohnehin nicht zu. „Ich habe sie umgebracht“, murmelte er plötzlich tonlos, ohne sich zu mir umzuwenden. „Ich habe sie alle umgebracht…“ „Hätten Sie’s nicht getan, hätten die uns getötet“, erwiderte ich. „Außerdem waren sie ohnehin verloren, oder nicht?“ Er wandte den Kopf und sah zu mir hoch. Sein leerer Blick jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. „Ich habe sie getötet. Mit Absicht“, sagte er, aber es schien, als würde er gar nicht mit mir, sondern mit sich selbst reden. „Dabei hätte ich ihnen doch helfen müssen… schließlich bin ich Arzt…“ Seine Hände krallten sich in den Stoff seiner Hose, als er die Arme um seine Beine schlang. „Sie haben ihnen doch geholfen…“ Dass er sich wegen ein paar Eulen so dermaßen schuldig fühlte… Vor allem, weil es anscheinend keine andere Möglichkeit gegeben hatte. „Und jetzt kommen Sie schon vom Dach runter, wir haben schließlich nicht ewig Zeit!“ Nichts zu machen. Er starrte mich bloß weiter teilnahmslos an. Na großartig. Aber wenigstens stürzte er sich nicht in einem Anfall von Selbstmitleid und Schuldgefühlen vom Dach. Ich seufzte. Wie bekam ich ihn nur unbeschadet wieder runter? Tragen kam nicht in Frage, da ich mich sonst selbst nicht festhalten konnte… Na schön. Dann musste ich eben warten, bis er von selbst bereit war, zu klettern. Noctua stand immer noch unten und schien nun vollends verwirrt und zweifelte wohl an unser beider Verstand. Aber er unternahm nichts. Naja – außer sich anscheinend darüber aufzuregen, dass wir seine Eulen umgebracht hatten. Sofern er das schon gemerkt hatte. Vielleicht fragte er ja auch, was wir getan hatten… Ich blendete den Wortschwall, von dem ich sowieso nichts verstand aus und ließ mich neben den Arzt sinken. Okay. Vielleicht sollte ich mich darauf einrichten, einige Stunden hier oben zu verbringen. Hoffentlich hielt das Wetter. Der Blonde schien nämlich nicht gewillt zu sein, irgendetwas zu tun – zumindest nicht in geraumer Zeit. Und solange er nicht gleich Suizid beging, sollte mir das auch egal sein. Die Sonne ging unter. Stück für Stück wie langsam in der Pfanne zergehende Butter verschmolz sie mit dem Horizont und verwandelte mit ihrem letzten warmen Schein den gesamten Himmel in ein fließendes Farbspiel aus weichen Gold-, Violett- und Purpurtönen. Eine Schar flockiger, fliederfarbener Wolken zog langsam an der sich stetig tiefer senkenden Scheibe der Sonne vorbei wie eine Herde fetter, zufriedener Schafe. Der Wind hatte sich gelegt und war zu einer milden Abendbrise verebbt. Schweigend beobachtete ich diesen herrlichen Ausblick. Kurogane tat es mir gleich. Mich wunderte ein wenig, dass er noch immer keinen Versuch gestartet hatte, mich kurzerhand gewaltsam von dem Dach herunter zu bugsieren – ein Mann, der fünf erfolglose Räuber mit einem Schwert wie eine Handvoll Ziegen quer durch ein Gebirge treiben konnte, war sicher auch zu mehr fähig. Doch gleichzeitig spürte ich deutlich, wie dankbar ich ihm war, dass er einfach nur dasaß und nichts sagte. Wartete, ohne mir ein Gefühl des Drucks zu vermitteln. Seine Gegenwart hatte in ihrer schlichten, unaufdringlichen Art eine seltsam beruhigende Wirkung auf mich. Mein Rücken und mein Nacken schmerzten schon seit geraumer Zeit vom stundenlangen Herumkauern auf dem Dach, dennoch blieb ich still sitzen, um das kleine Unikum dieses Augenblicks noch ein wenig länger festzuhalten. Und es funktionierte. „… Kurogane?“, hörte ich mich plötzlich leise fragen. Mit einem undefinierbaren Brummen gab mir mein Leibwächter zu verstehen, dass er mir zuhörte. Offenbar befanden sich die Transmitterrezeptoren seiner Synapsen-Abschlussmembranen gerade in einem etwas kritischen Zustand. „… Wollen Sie nicht wissen, warum ich mich so benehme?“ Die Frage schien ihn zu überraschen. In den flammend roten Augen spiegelte sich sichtbare Skepsis, als er sich zu mir umdrehte und mich ansah. „I-ich meine-…“, stammelte ich unbeholfen, um die doch etwas peinliche Stille zu überbrücken, „Wieso fragen Sie mich das nicht? Jeder würde das doch wissen wollen! Sie-… sie können ruhig fragen ‚Was sollte das, Doktor? Sind Sie eigentlich noch bei Trost? Können Sie mir bitte erklären, was diese stumpfsinnige, der Situation völlig unangemessene Reaktion zu bedeuten hatte?‘ Ich… wäre Ihnen deswegen nicht böse, falls Sie das glauben.“ In Kuroganes Gesicht war während meines Gestotters nicht die geringste Veränderung zu lesen. „Wollen Sie, dass ich Sie das frage?“, erwiderte er ruhig. Ich wusste nicht wieso, aber in diesem einen Augenblick jagte mir der Klang seiner Stimme ein Prickeln wie von tausend krabbelnden Spinnen über den Rücken. „… Ja, das… ich denke, das will ich“, gab ich halblaut zurück. Der Schwarzhaarige sah mich beobachtend von der Seite an „Ich bin aber nicht wie jeder“, erklärte er gelassen und zuckte die Achseln, „Wenn ich es wirklich wissen soll, erfahre ich es eines Tages von selbst. Wenn etwas dafür vorgesehen ist zu geschehen, dann geschieht es auch.“ Ich konnte nicht verhehlen, dass mich solche Worte aus seinem Mund gehörig überraschten. „Sie glauben an höhere Vorsehung?“ „Nein.“ Von einer plötzlichen, beinahe schulmädchenhaften Scheu befallen, die ich von mir kaum mehr kannte, drehte ich mich nun meinerseits zu ihm um. „Woran glauben Sie dann?“ Der Schwarzhaarige antwortete nicht gleich, sondern hob den Blick und starrte in die weite Ebene hinaus, an deren Horizont noch immer die Sonne zerschmolz. „An den Menschen“, hörte ich ihn schließlich sagen, seine Stimme leise und ruhig, und dennoch von einem gewissen Ernst begleitet, „Weil durch sein Handeln und Denken genau das entsteht, was andere ‚Schicksal‘ oder ‚Vorsehung‘ nennen. Jeder Mensch glaubt, er wäre allein auf diesem Planeten, aber das ist Blödsinn. Er ist durch nichts von seinen Mitmenschen getrennt. Nichts von dem, was sie sagen oder tun, bleibt ohne Wirkung, sondern läuft zusammen wie viele einzelne Fäden zu einem Netz, und eine Tat trifft am Ende alle.“ Er drehte sich um und sah mich an. „Und wenn es soweit ist, werde ich es wissen.“ Schweigen. Hatte er das jetzt nur gesagt, um mir eine lange, schmerzhafte Erklärung zu ersparen? Oder, um mir wirklich seine Überzeugung darzulegen? Ich wollte bereits den Mund aufmachen, um etwas zu erwidern, doch dann wurde mir plötzlich klar, dass mir darauf nichts einfiel. Beim besten Willen nicht. Vermutlich wäre mir in diesem Moment sogar ein Eingriff an den Hirnventrikeln einer Blattlaus leichter gefallen. „… Hey, Doc.“ „Ja?“, fragte ich mechanisch zurück. „Hatten Sie schon oft mit Vampiren zu tun?“ Eine jähe, fiebrige Röte stieg mir in die Wangen. Wahrscheinlich glotzte ich ihn gerade an wie ein halb erblindeter Ochsenfrosch, doch im Moment wusste ich eben einfach nichts Intelligenteres zu tun. „Wie-… wie meinen Sie das?“ „Ob Sie schon oft mit Vampiren zusammengekommen sind“, wiederholte mein Leibwächter geduldig. Oh nein. Bitte nicht jetzt. „Wie kommen Sie denn darauf? Können Sie neuerdings auch schon Gedanken lesen?“, versuchte ich es mit einer Gegenfrage, doch er ließ sich nicht von seinem Faden abbringen. „Mit der Situation der Harpyien und diesem singenden Pelzklops sind Sie vollkommen anders umgegangen. Sie lesen ständig dieses Buch über Vampire. Und mal ganz unter uns, vorhin haben Sie sich benommen wie ein rohes Ei.“ Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln. „… So offensichtlich ist das also schon geworden?“ „Ja.“ „Hatten Sie denn bereits mit Vampiren zu tun?“ Auf einmal schien der Schwarzhaarige seinen Daumen in einem nahezu exorbitanten Maß interessant zu finden. „Ja. Und es war nicht gerade eine der angenehmsten Erfahrungen, die ich gemacht habe. Ich denke, manche medizinische Kreise haben zumindest ansatzweise Recht, wenn sie behaupten, Vampire seien eine Gewalt, der man bis heute nicht beikommen kann. Diese Bestien sind das fleischgewordene Chaos.“ Ein kleiner, widerspenstig bohrender Schmerz setzte sich bei diesen ungerührten Worten in meiner Magengrube fest. „Wie können Sie so etwas nur sagen“, hörte ich jene kleine Stimme tonlos fragen. „Haben Sie denn eine andere Meinung über Vampire?“ „Allerdings. Für Sie sind Vampire also fleischgewordenes Chaos? Für mich bedeutet ihre Existenz eine Schönheit, die ich in keinem anderen Lebewesen wiederfinde. Es ist grausam, dass man sie zu dem Leben als ‚Bestien‘ und ‚Ungeheuer‘ verdammt hat, das sie heute auf dieser Welt führen.“ Schweigen. Obwohl ich ihn nicht ansah, als ich dies sagte, konnte ich seinen ungläubigen Blick in meinem Nacken spüren. Zeit für eine Erwiderung ließ ich ihm jedoch nicht, sondern erhob mich und kletterte vom Dach, sodass ihm gar nichts anderes übrigblieb, als mir zu folgen. Noctua hatte offenbar die ganze Zeit damit verbracht, wie eine Salzsäule vor der Tür der Stallung stehen zu bleiben. Auch schien er bereits begriffen zu haben, dass diese plötzliche Erkrankung das Todesurteil für seine Eulen bedeutete. Seine markanten Gesichtszüge wirkten schlaff und willenlos, als er langsam auf mich zukam und mich mit einem fast bittenden Blick ansah, als könnte ich seine Schützlinge wie durch ein Wunder wiederbeleben. „Dokter, send meene Uilen-…?“ Ich nickte nur und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Me hapt en gelik. Se send em Tod drenn. Doa ward keene Hopnung meh.“ „Aver-… aver waarom send se-…?“, stammelte der beleibte Mann hilflos. “Es ward des Feever von de Vampir. Doa isch bis hoid keen Mittel von de Medezin zom des hoilen. Es… es doed mer Leed“, fügte ich leise hinzu. Hinter mir öffnete Kurogane die Tür und warf einen Blick auf die unzähligen Eulen, die in sich bereits wieder lösender Totenstarre um die Überreste der Wasserflasche verstreut lagen. Ohne auf eine Antwort vonseiten des Eulenzüchters zu warten, betrat ich schweigend die Stallung und kam mit einem einzelnen Eulennest zwischen den Armen wieder heraus. Fünf weiße, mit winzigen bläulichen Sprenkeln übersäte Eier lagen in seiner Mitte eingebettet. Innerhalb der Atmosphäre überlebte der Erreger des Vampirfiebers nur etwa fünf Sekunden, sodass die Eier nicht von seinen Auswirkungen betroffen sein würden. „Wos nun ward, könnad mer nemmr ändran“, erklärte ich und erwiderte ruhig Noctuas fragenden Blick, „Aver mer könnad kucken, wos de Zuakonft brenga werd. Se havet de onsere Hulp, Herr Noctua. Der is emmer een nove Begenn. Es gibt immer einen Neuanfang“, übersetzte ich, sodass auch Kurogane verstand, was ich sagte. Der Gesichtsausdruck des Eulenzüchters war nicht zu entschlüsseln, während er die halb im Stroh verborgenen Eier musterte – die letzte Hinterlassenschaft seiner Schützlinge. Doch dann nickte er und nahm mir das Nest ab. „Havetse veelen Dank. Se-… se send een goeder Mensch, Dokter.“ Nun konnte ich nicht mehr anders, ich musste lächeln. Während meiner Zeit als Doktorand hatte ich vor allem eins gelernt – egal, wie schwer eine Krankheit oder Seuche auch wütete, es gab immer jemanden, der überlebte und damit nicht nur sein Leben, sondern auch das Leben seiner verstorbenen Mitgeschöpfe mit sich in eine neue Zukunft trug. Und was versprach diese Zukunft deutlicher als das Heranwachsen eines neuen Lebens in einem Ei? Wir verbrannten die toten Eulen – nachdem Fye sie obduziert hatte -, damit sich die Erreger nicht vielleicht doch noch ausbreiteten und der Züchter das so wollte. Außerdem ging es schneller, als sie alle einzeln zu begraben. Fye schien sich wieder eingekriegt zu haben. Er sah zwar noch ein wenig bedrückt drein, aber zumindest war er vernünftig ansprechbar und redete nicht mehr ganz so wirr. Noctua schien auch wieder gefasster zu sein. Nachdem wir die Stallung komplett desinfiziert hatten, schob der Züchter das Nest behutsam auf einen Balken unter eine der Brutlampen in den hinteren Bereichen der Stallung. Eine Weile betrachtete er es noch, bevor er sich zu uns umwandte. „Komen Se graag“, meinte er und ging in Richtung Wohnhaus. Fye bedeutete mir, ihm zu folgen, was wir dann auch taten. „Hadden Se gretig aine thee?”, fragte er, nachdem wir uns ein wenig frisch gemacht hatten und wieder im Wohnzimmer saßen. „Zielsgraag!“ Der Arzt sah mich an. „Sie auch Tee, Kuro-nyan?“ „Ja, warum nicht.“ „Hij neemt ook eenen, dank u wel.“ „Wonderbaar. Poten u se toch. Ik zette de thee en kome flugs weer achterop.“ „Haast ja maar niet”, meinte Fye, bevor der Eulenzüchter anscheinend in die Küche verschwand. „Wie sind die Eulen denn an Vampirgift geraten?“, fragte ich, sobald der Züchter anfing, in der Küche zu hantieren. Soweit ich wusste gab es in Balkebeekje eigentlich keine Vampire. Der Arzt sah mich ein wenig erstaunt an, wahrscheinlich hatte er die Frage zwar erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt. „Wenn ich das nur wüsste…“, meinte er. „Aber das muss jemand mit Absicht getan haben.“ „Wer sollte denn so was tun?“ Schließlich war das sehr gefährlich, nicht nur für die Eulen. Fye seufzte. „Ich habe keine Ahnung. Aber irgendwas wollte er damit sicher bezwecken – auch wenn ich nicht weiß, was.“ „Vielleicht waren es ja diese Möchtegern-Gangster vom Hinweg?“, vermutete ich, doch er sah etwas zweifelnd drein. „Ich glaube nicht, dass so etwas zu ihrem Repertoire gehört. Das war schon viel zu ausgefeilt… Nein, ich glaube die hätten sich eher persönlich an uns gerächt… Wenn sie es sich denn getraut hätten… Außerdem ist konzentriertes Vampirgift schwer zu beschaffen…“ „Hmn…“, machte ich. Weiter konnten wir aber nicht überlegen, da Noctua mit einem Tablett und dem Tee kam, welchen er auf den Tisch stellte und sich ebenfalls setzte. „Zo, gaat u voor.“ „Das…dat kaan ik niet anneem!“, stammelte Fye. „Und ob Sie das können!“, widersprach ich, als er Noctua die Hälfte des Geldes wieder in die Hand drücken wollte. Dieser schien auch irritiert darüber, dass der Arzt diese großzügige Summe ablehnte. Fünfhundert Transkos. Ohne, dass wir irgendetwas gesagt hatten. „Na maar, ik sta erop!“, beharrte Noctua. Er schien beleidigt. „Dat had veel voiten in de aarde voor u. Se heben alles gemaakt, wos se maaken könne. Dus behaltns.“ „Ja aver…“ „Stecken Sie’s einfach ein und bedanken Sie sich, verdammt…“ Schließlich konnten wir das Geld gut gebrauchen. Und es war ja nicht so, dass wir den Züchter unter Druck gesetzt hatten. Und ich wollte endlich mein Gehalt „Ja, aber… das kann ich doch nicht tun! Das sind fünfhundert Transkos! Fünfhundert!!“ „Soll ich es nehmen? Na los, jetzt seien Sie nicht so!“ Noctua sah Fye erwartungsvoll an. „Det is zoveel…“, fing dieser an, “Aver veelen Dank.“ Er steckte das Geld ein. Na also. „Und wehe, sie lassen es irgendwo liegen“, meinte ich. Bildete ich mir das ein, oder zuckte er tatsächlich etwas ertappt zusammen? Noctua schien auch zufrieden zu sein. „Ik hoop vaan wel dat u goed naar huis kompt.“ Er schüttelte uns die Hand. „Dat hoop ik och. Tot ziens!“ Noctua geleitete uns noch zu Tür und sah uns nach, während wir uns auf den Rückweg machten. „Dann wollen wir doch mal sehen, ob es Kermit wieder besser geht, was?“ „Hmnhmn.“ „Meine Güte, nicht so euphorisch, sonst platzen Sie noch!“ Er lachte. Anscheinend war er wieder der Alte. „Werde ich nicht, keine Sorge…“ Kapitel 16: Interlunium - 1 --------------------------- „… Voraussichtlich wolkenlos, abgesehen von leichten Schauern, die Temperaturen im Landesinneren betragen etwa zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Grad im Schatten. Oh ja, meine lieben Hörer und Hörerinnen, der Mai steht eindeutig vor der Tür, und mit ihm ein langer, brutzelnd heißer Sommer! Die heutige Empfehlung unseres Wettermannes Yoshi-Yoshi lautet: packen Sie Ihre Badehosen und Grillkost aus! Soviel zum Wetter über unserem schönen Kongoseki Oka für heute und die kommende Woche, und bevor es mit ‚Delikatessen und Köstlichkeiten rund um den Erdball – leicht gemacht‘ weitergeht, liefert Ihnen unser Wunschmusik-Guru noch eine saftige Nascherei für das Gehör! Kegawa Hyo und Makura Tora mit ihrem neuesten Diskoknaller, der selbst Sonnenschrecken das Tanzflächenfieber hinter die Fühler brennen würde: ‚Popcorn for my Sugarbabe‘! Viel Spaß beim Gr-…“ „NEIN!!“ Mit einem Schlag, der Kermit bis in sein innerstes Ureisen erbeben ließ, hieb Kurogane auf den ‚Aus‘-Knopf des Autoradios. „Heeeee!“, protestierte ich augenblicklich und riss empört beide Hände in die Luft, als sähe ich mich auf abrupte Weise von einem maskierten Bankräuber bedroht, „Das ist mein absolutes Lieblingslied! Sie sind gemein, Kuro-wanko!“ Mein Leibwächter hatte für meine aufrichtige Enttäuschung nichts weiter als ein abfälliges Brummen und einen scheelen Seitenblick übrig. „Sie wollen mir dieses Disko-Gejaule ernstlich als ‚Lied‘ verkaufen?“ „Ich will es Ihnen nicht verkaufen, ich will es mir anhören!“, maunzte ich beleidigt und unternahm eine Reihe heroischer Versuche, mit einem Finger wieder an den ‚Ein‘-Knopf heranzukommen, doch der Schwarzhaarige scheuchte meine Hand gnadenlos beiseite wie einen lästigen Mückenschwarm. „Pfoten weg. Meine Nerven haben schon genug damit zu tun, Ihr Gerede zu verarbeiten.“ Diese furchtbare Aussage reichte aus, um mich auf das Infernalischste zu verletzen. „Also-…!! Also, das ist ja-… !!“, japste ich, „Asche auf Ihr Haupt, Kuro-mune! Becherweise Asche! Ach, was rede ich da – kübelweise! Nerven, wenn Sie in Ihrer unsäglichen Aussage den Axonhügel und das Axon per se gemeint haben, verarbeiten nicht! Sie leiten lediglich Reize der Sinnesorgane in Form von elektrischen Impulsen weiter, kapiert? Die Erfolgsorgane wie zum Beispiel Muskeln oder Gehirn sind es, die etwas verarbeiten! Großer Phyton, um ein Haar hätten Sie mir die Socken ausgezogen!“ „Es geht auch ohne“, entgegnete mein ungehobelter Reisebegleiter nur knapp und lenkte Kermit um eine weitere langgezogene, schlangenartige Kurve, „Hauptsache, das Radio bleibt aus.“ Kaum zu glauben. Jetzt befanden wir uns schon seit knapp sieben Uhr morgens – also seit bereits guten neun Stunden – an der Küste von Balkjebeeke entlang auf dem Rückweg, hatten vor etwa vier Stunden die Grenzen Kongoseki Okas passiert und würden vermutlich in Kürze ankommen, und ich hatte schon beinahe – man glaubte es kaum! – angefangen zu denken, mein notorisch missgestimmter Bodyguard würde sich momentan in einer Art Stimmungshoch befinden, und dann sowas. „Also schön“, entgegnete ich daher achselzuckend, „Wenn das Radio ausbleibt, müssen wir uns eben miteinander unterhalten.“ Mein Leibwächter glotzte mich von der Seite an, als wäre mir soeben ein zweiter Gluteus Maximus aus der Stirn gewachsen. Fast schien es, als wüsste er nicht, was seines Erachtens nach die größere Nervenplage darstellte – das Radio oder ich. „… Unterhalten? Was Besseres fällt Ihnen nicht ein?“ „Naja, wissen Sie, zu einer Zeit als es noch keine Radios gab, mussten die Leute eben miteinander reden, um sich die Zeit zu vertreiben.“ Der Schwarzkopf ächzte unwillig. „Schon gut, schon gut. Worüber unterhalten wir uns?“ Triumphierend ließ ich meinen Zeigefinger in die Luft schnellen. „Das ist eine treffliche Frage! Und wissen Sie was, ich hätte da sogar schon etwas! Ich habe nämlich nachgedacht.“ Ein skeptisches Stirnrunzeln. „Ahah. Und worüber? Wer die Eulen mit dem Vampirgift infiziert haben könnte?“ „Nein.“ „Worin wir unser verdientes Gehalt investieren?“ „Fehlanzeige.“ „Also über nichts Wichtiges?“ Ich rieb mir voller Vorfreude die Hände. „Haach, Kuro-myu, Sie kleiner Materialist! Natürlich ist es etwas Wichtiges, etwas Brandwichtiges sogar! Und ich bin sogar äußerst präzise an diese Sache rangegangen – eben weil es so wichtig ist! Ich habe meine Reflexionen zunächst mit einer chronologischen Analyse streng nach dem Zeitenstrahl begonnen. Die sich daraus ergebenden Argumente habe ich sorgfältig gefiltert und sie entweder für Pro oder Kontra selektiert – und nachdem diese Selektion beendet war, habe ich die selektierten Objekte in einer strukturell korrekten Erörterung gegeneinander abgewogen. Und schon war es mir wie auf einen Schlag klar! Ich finde, naja-…“ Ich ließ die Hände sinken und sah ihn fragend von der Seite an. „… Also ich finde, wir sollten ‚Du‘ zueinander sagen.“ Stille. Statt einer Antwort stierte mich der Schwarzhaarige nur an, als hätte ich ihm einen feuchten Tonklumpen gegen den Kopf geworfen, vom Gesichtsausdruck ganz zu schweigen. „… WIE bitte?!“, bellte er plötzlich ohne Vorwarnung drauflos, „Sagen Sie mal, sind Sie eigentlich noch ganz dicht, was glauben Sie eigentlich, wo Sie leben?! Im Land der Zuckerherzen etwa?!“ Ein wenig eingeschüchtert von dieser jähen Brüllattacke zog ich es vor, meinen Blick rasch aus dem Autofenster hinaus aufs Meer zu lenken, in dessen tief bewegter, stahlblauer Oberfläche sich das tausendfacettige Schimmern der warmen Nachmittagssonne fing. Ein langes, unangenehmes Schweigen verging. „N-naja, ich meine, wir kennen uns doch jetzt schon seit fast zwei Wochen!“, versuchte ich ihn schließlich vorsichtig über meine Schulter hinweg zu besänftigen, „Ich finde eigentlich, dass ein doch recht kurzweiliges Arbeitsklima zwischen uns beiden herrscht! Hinzu kommt der Faktor dessen, was wir bereits alles zusammen durchgemacht haben, ich meine, das war immerhin nicht ganz ohne! Und als Extrabonus kann ich Sie eigentlich sogar ziemlich gut leiden!“ „Sie kapieren das nicht, oder?“, gab Kurogane nur erbost zurück und klammerte sich mit einer Hand am Lenkrad fest, als hätte er den plötzlichen Entschluss gefasst, es abzureißen, „Was wir hier haben, ist keiner Ihrer ‚Alle meine Freunde‘-Ringeltänze, sondern ein verdammtes Geschäftsverhältnis! Sie sind mein Vorgesetzter, so sehr ich diese beknackte Tatsache auch hasse, und weder duzen Angestellte ihre Vorgesetzte, noch ist es anders herum der Fall!! Ich halte Ihnen auf Ihren Missionen den Rücken frei, und Sie bezahlen mich dafür – und das ist bereits das Ende vom Lied! Aus! Finito! Kapiert?!“ Ich sah ihn aus großen Augen an. „… Darf ich das als ein mögliches Nein auffassen?“ Die einzige Antwort war ein entnervtes Ächzen. „Soll ich etwa noch deutlicher werden?“ Ich blinzelte. Wenn er dieses Löwengebrüll, von dem er alle halbe Stunde Gebrauch machte, ‚undeutlich‘ nannte, wollte ich gar nicht erst wissen, zu welchen Maßnahmen er griff, wenn er ‚deutlich‘ werden wollte. Erneutes Schweigen. „Also schön, Sie können ja machen was Sie wollen, aber ich duze dich jetzt jedenfalls, punktum!“, beschloss ich schließlich und verschränkte stur die Arme vor der Brust, „Nur weil du zu verklemmt bist, heißt das noch lange nicht, dass-..“ „Ich bin NICHT verklemmt!!“, keifte Kurogane augenblicklich, „Oh Mann, wenn Sie gerade wirklich keine anderen Sorgen haben, sind Sie über diese Vampireulen-Geschichte schneller hinweg gekommen, als ich dachte!“ Ich stutzte. Eines musste man diesem Kerl lassen, er brachte es in regelmäßigen Abständen fertig, mich mit seinen Aussagen zu überraschen. „Hattest du erwartet, dass ich noch nicht darüber hinweg wäre?“, fragte ich mit einem Lächeln und lehnte mich in meinem Sitz zurück, um dem Meer beim Vorbeiziehen zuzusehen. In der Ferne, wo die felsigen Strände zum Teil allmählich in glatte, weich geformte Sandbuchten überliefen, konnte man bereits die ersten Häuser von Uranoke Sho erkennen. Möwen kreisten unermüdlich über den Ankerplätzen. Auf dem spiegelglatten Teller des Ozeans häuften sich die Frachter, Schiffe und Fischkutter. Der Schwarzhaarige zuckte indes die Achseln. „Eigentlich schon. Aber ich denke mal, das gehört zu Ihrem Job dazu…“ Ein wenig ärgerte es mich ja doch, dass er sich derartig weigerte, einfach ‚Du‘ zu mir zu sagen, aber da ich keinen unnötigen Streit vom Zaun brechen wollte, ging ich lieber nicht noch einmal darauf ein. „Da hast du recht. Die Fähigkeit, auch ein Scheitern anzuerkennen und es nicht als Strafe, sondern als Möglichkeit zur Verbesserung der eigenen Fähigkeiten zu verstehen, ist ebenfalls etwas, das man sich als Arzt dringend aneignen sollte.“ Ohne mein willentliches Zutun spürte ich, wie sich meine Lippen zu einem kleinen Schmunzeln formten. „Ich beherrsche es bis heute nicht. Jedes Leben, das ich nicht retten konnte, trage ich auf meinem Weg mit mir, von dem Moment an, in dem es die Welt verlässt. Ich sehe jedes Scheitern als Strafe an, weil mein Scheitern immer bedeutet, dass jemand sein Leben lassen muss – egal, ob über kurz oder lang.“ Ich musste meinen Leibwächter nicht einmal ansehen, um zu merken, dass mich sein fragender Blick von der Seite streifte. „Gewiss ist es falsch“, räumte ich ruhig ein, „Aber dennoch glaube ich immer, es tun zu müssen. Manchmal sehe ich in der Nacht ihre Gesichter, und… und dann fällt es mir immer schwer, zu akzeptieren, dass manche Krankheiten unserer Zeit immer noch nicht heilbar sind. Das Vampirfieber – die Febris Ambestricis - ist nur eine davon. Es ist bis heute kein Heilmittel gegen diese Mutation bekannt. Und oft wünschte ich mir, es wäre anders. Es könnte all den Lebewesen dieser Welt so viel Schmerz ersparen, denkst du nicht auch?“ „Ich denke, Sie denken zuviel, Doc“, antwortete Kurogane kurz angebunden, obwohl seine Augen in diesem Moment etwas völlig anderes zu sagen schienen, und lenkte den Wagen um eine weitere Kurve, bevor wir die ersten Häuser von Uranoke Sho passierten. Gegen meinen Willen musste ich lächeln. „… Da könntest du Recht haben.“ Da mein Reisebegleiter offenbar keine Erwiderung parat hatte, riss ich mich kurzerhand zusammen und ließ den Faden los. „Also! Was schlägst du vor, was sollen wir als erstes machen, wenn wir zurück sind?“ Hier schien er bereits präzisere Vorstellungen zu haben. „Wir ruhen uns erst einmal aus, ich rufe meinen Gerichtsvollzieher an und trete ihm eine dieser bescheuerten Ratenzahlungen ab, dann versammeln wir das Material neu und dann können wir von mir aus wieder auf Mission…“ „Und was zu essen kaufen?“, schlug ich vor, „Wie wäre es mit einem kleinen Einkaufsbummel und einem leckeren Abendessen? Ich kann superleckere Fischgerichte kochen, die habe ich während meiner ersten Wochen in Kongoseki Oka gelernt! Mhhhhmh, zum Vergöttern! Komm schon, ich weiß, dass du es auch willst!“ Mein Leibwächter antwortete nicht, sondern starrte nur skeptisch zur Windschutzscheibe hinaus. Neugierig geworden folgte ich seinem Blick. Es dauerte nicht lange, bis ich das gefunden hatte, was seine Aufmerksamkeit offenbar auf sich gezogen hatte – auf der breiten Straße, die in die Kisekino Umi-Allee mündete, hatte sich ein nur schwer übersehbarer Menschenauflauf gebildet, allerdings war nicht auszumachen, was die allgemeine Neugierde derartig geweckt haben konnte. Das konnte ein spinöses Unterfangen werden, uns mit Kermit durch diese wirre Bürgertraube hindurchmanövrieren zu wollen. „Sieh mal, dort vorne! Was da wohl los ist?“ Ich ließ den Wagen ausrollen und fuhr ihn dann an den Straßenrand. Es war eine sehr mitgenommen aussehende Truppe der Armee. Und sie sahen alles andere als glücklich aus, denn sie wirkten ziemlich aufgebracht, wenn auch erleichtert. „…nie wieder dorthin…“ und Sachen wie „…reiner Selbstmord!“ schnappte ich auf, während sie vorbeizogen. An ihren Abzeichen erkannte ich, dass sie in N’Galia stationiert gewesen waren. Das erklärte, warum sie so missgelaunt waren. Und freiwillig hatten sie sich sicher nicht gemeldet. Niemand in der Armee würde sich freiwillig für eine Versetzung nach N’Galia melden. Dort musste wieder einiges los sein, wenn dort wieder Truppen hingeschickt wurden. „Das sind ja Soldaten“, meinte meine Begleiter.“ „Nein, das sind Gefreite und ein Unteroffizier…“, gab ich zurück. Er sah mich groß an. „Du kennst sich aber aus! Sag bloß, dass du-…“ „Ja, ich war in der Armee. Obergefreiter.“ Das lag allerdings auch schon an die vier Jahre zurück. Und ich verband damit ehrlich gesagt auch nicht die besten Erinnerungen. „Ah. Das hab ich mir schon oft gedacht, weißt du?“, fuhr er fort. „Du scheinst ziemlich viel gemacht zu haben, oder?“ „Einiges, ja.“ „Hast du da gelernt so zu kämpfen?“, fragte er. „Das war wirklich beeindruckend!“ „Ich mache das, seit ich sieben war…“, antwortete ich knapp. „Wow! Das ist aber schon ziemlich lange… Dann ist das ja kein Wunder.“ Er schien wirklich beeindruckt. Warum genau wusste ich nicht, aber selbst wenn er es nicht wäre, wäre es mir auch relativ egal gewesen. „Na und…? Dafür sind Sie ein wandelndes Lexikon.“ „Aaach…“, wiegelte er anscheinend verlegen ab. „Ich dachte das nervt dich?“ „Kommt drauf an.“ „Worauf?“ „Ob es sinnloses Gequatsche ist oder etwas Brauchbares.“ Er grinste. „Manchmal ist sinnloses Gequatsche aber auch wichtig.“ „So? Und wann?“, fragte ich skeptisch. Ich ließ den Wagen wieder anfahren – immer mit der Befürchtung, dass er wieder absoff – als der Trupp vorbei war und sich die Menschenmenge auflöste. „Das kommt auch immer drauf an! Aber zurück zu meinem Fischgericht! Du magst doch Fisch, oder? Na ja, du kommst schließlich aus Kongoseki Oka, oder? Dann wirst du es wahrscheinlich lieben…“ Und so ging es weiter, bis ich vor dem Haus parkte und den Motor abstellte. Fast zehn Stunden Fahrt. Das war ganz schön anstrengend. Ich war wirklich froh wieder zuhause zu sein. Zumindest hatte es keine weiteren Probleme gegeben – der Sprit für die strecke hatte uns allerdings einiges gekostet… Ich wuchtete das Gepäck aus dem Kofferraum – es war leichter geworden, der Proviant, den uns die Leute aus Zondorp mitgeben hatten, war nämlich schon seit geraumer Zeit ausgegangen. Obwohl es eine ganze Menge gewesen war. „Ich schlage vor, dass du deinen Gerichtvollzieher anrufst und ich kaufe fürs Abendessen ein“, schlug er vor. „Dann kann ich auch gleich beim Postamt vorbei und schauen, ob da ein Telegramm ist.“ Und ich konnte mich zumindest eine Weile von seinem Gelaber erholen… Ich nickte. „Tun Sie das.“ Eine Weile später fand ich sein Gelaber erträglicher, als das des Gerichtsvollziehers, den ich gerade am anderen Ende der Leitung hatte. Ich war immer erstaunt, dass mein Telefon noch nicht abgeschaltet war, wenn ich es mal benutzte… „Was heißt das, Sie haben keine Zeit?“, fragte ich genervt. Sonst kreuzte er doch dauernd hier auf – und wenn man mal Geld hatte, hatte er plötzlich keine Zeit? „Nein – ich werde es Ihnen nicht schicken…“ Das fehlte ja gerade noch, dass das Geld unterwegs verloren ging oder sie später behaupteten, es sei nicht angekommen. „Ich habe auch keine Zeit, um nach Yakitaito zu kommen…“ Wenn der sah, dass ich ein Auto hatte – er würde mir nicht glauben, dass es erstens nicht unbedingt mein Wagen und zweitens ein Geschenk gewesen war – würde der das womöglich auch noch pfänden. Obwohl – das war keine so schlechte Idee, da wäre ich zumindest einen Großteil meiner Schulden los… Allerdings würde das mein Arbeitsgeber nicht unbedingt gutheißen. Wahrscheinlich sah ich dann in nächster Zeit wirklich kein Geld mehr. Und davon abgesehen – eigentlich war der Bentley ja ganz praktisch. „Überweisen? Die Bank hat schon geschlossen….“ Ich fuhr mir durchs Haar. „Ja…dann eben morgen… nein warten Sie, da hat die Bank geschlossen, morgen ist Sonntag…Verdammt, Sie kriegen Ihr Geld ja…Ja…sonst hätte ich doch nicht angerufen…“ Man konnte es auch kompliziert machen. Und so langsam verlor ich wirklich die Geduld. „Am Montag. Ja, ganz sicher.“ Ich würde ja wohl zwei – na ja gut, einen – Tag auf mein Geld aufpassen können. Ohne weiteres legte ich auf. Am besten fuhr ich den Bentley in die Garage… Als ich nach draußen trat, standen meine Untermieter schon davor. „Sie werden uns jetzt doch wohl nicht rauswerfen, oder?“ Ich muss zugeben – ich wusste nicht, wie sie darauf kamen, auch wenn ich auch diese Idee nicht unbedingt schlacht fand. „Nein – wieso?“ „Na, wegen dem Auto. Wir dachten schon, dass Sie sich das jetzt leisten könnten.“ Die taten ja gerade so, als würde ich es darauf anlegen, Schulden zu haben. Na ja – die Probleme hatten die Beiden wohl eher weniger, sie bekamen ja jeden Monat ihre Rente und brauchten nichts dafür tun. Leider hatte das Ehepaar in den Siebzigern deswegen ziemlich viel Zeit zum Streiten. Allerdings machte es auch nicht den Anschein, dass sie sich in den nächsten Wochen scheiden lassen oder ausziehen wollten. Ich brauchte mir keine Antwort auszudenken, denn Herr Shika fuhr schon fort: „Aber wo Sie gerade hier sind… Der Zustand des Gartens ist katastrophal! Und außerdem kommt unsere Post nie an!“ „Das ist doch nicht mein Problem…“, gab ich unwirsch zurück. Sie beschwerten sich ja sowieso über alles Mögliche. Und das laufend. Außerdem war ich kein All-Inclusive- Hotel. Okay – der Garten hatte wirklich schon mal besser ausgesehen, aber ich hatte weder Lust noch Zeit, mich darum zu kümmern. Und die Post – keine Ahnung. Vielleicht schrieb ihnen auch einfach niemand. „Und wenn Sie der Zustand des Gartens stört, dann schneiden Sie doch ein wenig die Hecken zurück und mähen den Rasen…“, schlug ich vor. Dann hatten sie zumindest etwas Besseres zu tun, als zu streiten. „Solange Sie ihn sonst so lassen, wie er ist…“ Der Garten war – vom Unkraut und den höher- und weitergewachsenen Bäumen und Büschen – noch genau so, wie er schon immer gewesen war, seit ich denken konnte. Und das konnte dann ruhig auch so bleiben. „Es ist doch Ihr Garten!“, empörte sich Frau Shika. „Dann ist es ja auch meine Sache, wie er aussieht“, gab ich zurück. Daraufhin fiel den Beiden wohl nichts mehr ein und sie machten sich auf den Weg ins Haus. Ich stieg in den Wagen und parkte ihn in der Garage. „Kurogane-kuuuuhuun!“, tönte es vom Eingangstörchen herüber, als ich das Tor schloss. Tomoyo Daidoji, meine Nachbarin, kam herüber. „Du hast ja wieder ein Auto!“ „Genaugenommen gehört es nicht mir.“ Das fünfzehnjährige Mädchen sah mich an. „Du hast es geklaut?!“ „WAS?! Nein!“ Manchmal erstaunte sie mich ja immer noch, auf was für Gedanken sie kam. Ich kannte sie, seit ich elf war. Sie und ihre größere Schwester Souma wohnten auch schon jahrelang nebenan. Souma studierte Nautik, während Tomoyo zur Oberschule ging. „Es war ein Geschenk.“ Sie grinste. „Von einem Mädchen?“ „Nein. Von einem Salbei-Gebüsch. Und es ist nicht mein Auto, sondern das von meinem Boss.“ Ein Kilo taufrischer Heilbutt mit Auberginen, Reis, Tomaten und jungem Mais. Ich war in der Tat höchst zufrieden mit mir. Anstatt dass ich einfach stur in die Innenstadt zu einem der zahlreichen Frischfischgeschäfte Uranoke Shos gezockelt war, hatte ich eine kleine Abkürzung durch den Hinterhof eines Kindergartens genommen und war direkt an der Hafenpromenade rausgekommen, wo heute offenbar eine Art Viktualienmarkt stattgefunden hatte, und hatte einem der Fisch- und Gemüsehändler kurzerhand für einen Wucherpreis dessen restliche Ware abgekauft – ein Unterfangen, das weder viel Zeit noch viel Geld gekostet hatte. Diesmal konnte sich Kurogane wirklich nicht beschweren. Und wenn doch, machte sein ohnehin schon extrem kalziumarmer und daher für Aggressionen umso anfälligerer Verstand wieder mal ein Tief durch. Wenigstens fand ich die Straße, in der sein Haus stand, auf Anhieb wieder. Das System der Hausnummernvergabe in Kongoseki Oka – bei dem die Hausnummern danach verteilt wurden, wann ein Haus gebaut worden war – hatte mir seit jeher Probleme bereitet, und obwohl ich in diesem Land meine Studien- und Promovationszeit verbracht hatte, hatte ich diesbezüglich keine großen intellektuellen Fortschritte gemacht. Als ich jedoch um die Ecke bog und somit freien Blick auf die Straße hatte, staunte ich nicht schlecht, als ich das Mädchen an Kuroganes Gartentor erblickte. Sie besaß langes, schwarzes Haar, war sehr schmal gebaut und trug eine der hier landesüblichen Schuluniformen – ein knielanger dunkler Rock mit der berüchtigten Unterhosen-Aufblitzgefahr, schwarze Strümpfe und ein weißes Hemd mit Pullunder nebst einer kurzen Schmähkrawatte. Es erwies sich als großer Nutzen, dass ich im Moment ein Kaugummi mit Ananasgeschmack kaute, sonst hätte ich meinen Mund wohl nur schwerlich wieder zubekommen. Beulenpest nochmal, da sah man doch mal wieder eindeutig, wie sehr man sich in einem Menschen täuschen konnte – erst in meiner Gegenwart den konservativen Asketen mit einem der phänomenalsten Berührungskomplexe spielen, die mir je untergekommen waren, und kaum dass ich ihm länger als zehn Minuten den Rücken kehrte, riss er auch schon das nächstbeste unschuldige Schulmädchen auf, und das auch noch über den Gartenzaun hinweg! Man konnte sagen, was man wollte, ich hatte seinen Hormonspiegel eindeutig unterschätzt. „Hallooohoohh!“, trällerte ich fröhlich, als ich nahe genug an dem Geschehen dran war und warf den beiden ein neckisches Winken zu, „Ich hoffe doch, ich störe nicht?“ „Ich fürchte ja“, seufzte die Kleine bedauerlich und rollte vielsagend die Augen, „Wir wollten gerade heiraten!“ „Tomoyo“, zischte mein Leibwächter augenblicklich, als hätte er eine lebendige Klapperschlange verschluckt und starrte das Mädchen so feuergefährlich an, als beabsichtigte er, sie ungekocht zu verspeisen, doch sie lachte nur ein rollendes, kokettes Lachen und hielt sich dabei auf zierliche Weise eine Hand vor den Mund. „Oooooooooooooohohohoho! Eins muss ich dir wirklich lassen, Kurogane-kun, du hast dich wirklich nicht verändert! Und ich hatte schon angefangen mich zu fragen, was du schon wieder für Scherereien am Leib hast, dass du dich aber auch gar nicht meldest, dabei habe ich Tag für Tag deine heißgeliebten Kümmelkekse gebacken!“ Noch bevor der Schwarzhaarige die nächste Gelegenheit für eine ausreichend bissige Erwiderung beim Schopfe packen konnte, hatte sich seine potenzielle Heiratskandidatin auch schon schwungvoll zu mir umgewandt und bot mir ihre Rechte an. „… Doch bevor es noch Unklarheiten gibt, sollten wir uns lieber erst einmal bekannt machen, hmnh? Mit wem habe ich die Ehre?“ „Fye de Flourite!“, stellte ich mich fröhlichen Tones vor und zeigte mein perfektestes Gentleman- Lächeln, ehe ich ihre ausgestreckte Hand ergriff und kräftig schüttelte – Handküsse an Damen zu verteilen war noch nie eines meiner nennenswertesten Talente gewesen. Doch das Mädchen strahlte. „Tomoyo Daidoji. Nett, Sie kennen zu lernen, Fye-san!“ „Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Tomoyo-chan!“, gab ich aufgeräumt zur Antwort und stellte die schwere Einkaufstüte zu meinen Füßen ab, die ich wie eine Mutter ihr Wickelkind vom Markt bis hierher geschleppt hatte, um für den drohenden Smalltalk beide Hände frei zu haben, „Wie mir scheint, kennt ihr beiden euch schon ein wenig länger, hmnh? Ich hatte bereits auf die Freude gehofft, jemanden aus Kuroganes engerem Bekanntenkreis kennen zu lernen!“ „Ooooooooohohohohoh, wenn Sie damit die segensreichen Kontakte in der nächsten Nachbarschaft meinen?“, gluckste Tomoyo amüsiert retour, sodass ich unweigerlich in ein gewisses Entzücken geriet. „Nein, wiiiiiiiiiiiiiirklich? Ihr seid Nachbarn? Wie lange kennt ihr euch denn schon?“ „Seit ihrer Geburt“, kam die lahme Antwort vonseiten meines Leibwächters, offenbar war sein anfänglicher Zorn zu Resignation verraucht, „Sie hat noch eine ältere Schwester, Souma Daidoji. Aber die ist gerade außer Haus.“ „Ganz genau“, bestätigte Tomoyo, „Sie studiert Nautik, Schwerpunkt Schiffsbau, und weil Gakoshida wegen seiner Lage im Inland keine Studiengänge für diesen Wissenschaftszweig anbietet, wohnt sie während der Sommer- und Wintersemester in Yakitaito!“ Ich konnte nicht umhin zu staunen. Yakitaito war mit seiner während der Sechziger und Siebziger Jahre expandierten Einwohnerzahl, seiner Geschichtsträchtigkeit für Kongoseki Oka, seiner wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung und seiner Nähe zum offenen Ozean zu Recht zur Hauptstadt dieses Landes erklärt worden – auch wenn die fast ebenso große Stadt Funekana ein jahrelanger potenzieller Gegenkandidat gewesen war – , nur hatten mich meine geschäftlichen Tätigkeiten bedauerlicherweise noch nie in diese Metropole geführt. Mich hatte es stets in die Gebiete gezogen, in denen die Vampirpopulation hoch und die Zahl der Opfer groß gewesen waren. Tomoyos gut gelaunte Stimme war es schließlich, die mich wieder aus meinen Gedanken zurückholte. „Sie kommen nicht aus dieser Gegend, nicht wahr?“, erkundigte sie sich sichtlich neugierig und besah sich aufmerksam mein Gesicht, „Sie sehen ganz anders aus als die Leute hierzulande, und Sie haben einen sehr ungewöhnlichen Akzent, den habe ich noch nie zuvor gehört! Kommen Sie vielleicht aus einem der umliegenden Länder? Dem Vulkandistrikt? Balkjebeeke?“ „Von einem der westlichen Kontinente“, antwortete ich. Ich spürte deutlich den Willen zu lächeln, und gab diesem Wunsch auch ohne weiteres nach. „Eeeeeeehrlich?“, erstaunte sich die Kleine, „Und was machen Sie dann hier in Kongoseki Oka?“ „Sei nicht immer so frech, Tomoyo“, brummte Kurogane im ebenso kraftlosen wie vergeblichen Versuch, den Redefluss seiner Nachbarin einzudämmen, während ich über diese jugendliche Wissbegierde lachen musste. „Nun, ich habe in Kongoseki Oka meine Studienzeit und meine Lehrzeit an der medizinischen Akademie von Yakitaito verbracht! Darüber hinaus habe ich hier diverse Prüfungen sowie meine Promovation durchlaufen!“ Das Mädchen machte Augen wie Spiegeleier. „Promovatioooooooon?? Nein, wiiiiiiiiirklich?? Das heißt, Sie-…“ Mitten in ihrem Ausbruch hielt sie inne. Die Blicke aus den großen, opalblauen Augen wanderten rasch zwischen mir und meinem Leibwächter hin und her wie bei einem in exorbitantem Maße spannendem Tennisspiel. Man konnte den Groschen förmlich fallen hören. „Oooooooooooooooooooooooooooohohohohohoho!!“, brach sie plötzlich in überschwängliches – und für ein Schulmädchen erstaunlich geräuschvolles – Glucksen aus, „Soll das heißen, Sie sind Kuroganes Boss??“ „Hervorragend kombiniert!“, lobte ich ihren edlen Scharfsinn und klatschte respektvoll in beide Hände, „Das und nichts anderes bin ich! Sein Boss. Sein Herrscher. Sein Meister.“ Vor lauter Kichern nahmen Tomoyos Wangen die Farbe von frischem Erdbeerpudding an. „Ooooooooohohohohoho, wiiiiiiirklich? Ich kann kaum glauben, was ich da höre! Dürfen Sie ihm denn auch Befehle erteilen? So ähnlich wie ‚Bring mir die Pantoffeln, mach mein Bett, geh das Essen kochen‘??“ „Uuuuuuhuhuhu, ich glaube, wenn ich das wagen würde, wäre ich schon längst nur noch in Form eines Fettflecks auf dem Asphalt zu bewundern!“, stimmte ich in das Gekicher ein, „Wenn du wüsstest, wie schnell er beleidigt ist! Und dann ist er immer so grummelig und brummelig, dass es zum Steinerweichen ist!“ „Oooooooohohohoho, das kenne ich bestens! Hat er schon versucht, Sie umzubringen?“ „Uuuuuuuuuuuhuhuhu, aber natürlich!“ „Ooooooohohoho, wenn du wüsstest, wie oft er das schon mit mir gemacht hat!“ „Uuuuuuuuuuhuhuhu!“ „Ooooooooohohohoho!“ „Uuuuuuuuuuuuhuhuhuhu!“ „Oooooohohohoho! Und in welchen Ländern hat er bisher am schlimmsten gegrummelt und gebrummelt??“ „Ich denke, das fragst du ihn am besten selbst!“ „Ach nein, so ist es doch viel lustiger“, brummte Kurogane dumpf und starrte mich auf ungefähr die Weise an, auf die ein Hautkranker das bei dem Fußpilz tun würde, der ihn schon seit Monaten plagte, „Es ist, als wäre ich gar nicht da.“ „Ooooooh!“, flötete ich auf der Stelle und zwickte meinem Leibwächter zärtlich in die Wange, „Ist Kuro-ta jetzt etwa böse, nur weil wir ein bisschen lustig geplaudert haben? Wir wollen uns doch nur kennenlernen!“ Mittlerweile zogen sich die schwarzen Brauen auf der gebräunten Stirn so finster zusammen, als hätten sie den Beschluss gefasst, sich über der kräftigen Nasenwurzel zu vereinigen, sodass ich meine Hand lieber rasch zurückzog. „Wenn nicht in einer halben Stunde das Essen auf dem Tisch steht, Herr Lustig Geplaudert, dann lernen Sie mich kennen! Und zwar so, dass Sie sich nie wieder davon erholen!! Klar?!!“ „Ist ja gut, ist ja gut“, gab ich mich geschlagen und wuchtete die vollgepackte Einkaufstüte wieder vom Boden hoch, ehe ich mich wieder an Tomoyo wandte. „Willst du nicht noch mit uns zu Abend essen, Tomoyo-chan, wie wäre es? Sonst hockst du ja den ganzen restlichen Abend allein herum!“ „Nein, sie will nicht“, übernahm Kurogane nachdrücklich die Antwort, noch bevor seine jugendliche Nachbarin den Mund aufbrachte, und packte mich energisch bei beiden Schultern, um mich mitsamt meiner Einkäufe durch das Gartentor zu schieben, „Wir haben noch Geschäftliches zu besprechen. Außerdem will ich in Ruhe essen, und wenn ich sage Ruhe, dann meine ich auch Ruhe.“ „Na schöööön…“ „Dann eben auf ein andermal“, meinte Tomoyo und zuckte mit einem nachsichtigen Lächeln die Achseln, offenbar wusste sie nur zu gut, wie grätig der Schwarzhaarige beizeiten sein konnte, „Aber vielen Dank für die Einladung. Ich hoffe, es wird Ihnen hier gefallen, Fye-san!“ „Das wird es ganz sicher!“, trällerte ich noch fröhlich über meine Schulter hinweg, indes Kurogane mich mit gezielten Püffen immer weiter Richtung Haustür drängte, „Ich fühle mich jetzt schon wie zu Hause! Sieh nur, wie lieb er mich hat! Und jetzt will er mich ganz für sich allein, uuuuuuuuuuhuhuhuhu!“ „Oooooooooooooooooooooohohohohoho!“ „KLAPPE HALTEN!!“, bellte mein unfreiwilliger Bodyguard mit geschwollener Zornesader, sodass sich seine Nachbarin schleunigst aus dem Staub machte und flugs hinter der Hecke verschwand, die die benachbarten Grundstücke voneinander trennte. „Du erstaunst mich immer wieder!“, sagte ich wohlgemut, während ich mich im Hausflur angekommen meiner leichten Jacke und meiner schon reichlich ausgetretenen Schuhe entledigte, „Ich hätte niemals gedacht, dass du ein so inniges Verhältnis zu deiner Nachbarschaft pflegst! Du hast Tomoyo-chan sicher schon einen ganzen Riesenhaufen Gefallen getan, stimmt’s? Und sie dir auch!“ Mein Reisebegleiter seufzte lediglich entnervt. „Wollen Sie mir einen Gefallen tun?“ „Na klar, alles was Sie wollen!“, entgegnete ich und wackelte intellektuell mit den Augenbrauen, jedoch war alles, was dieses Zugeständnis bewirkte, ein energischer Fingerzeig nach vorne. Ich folgte mit großen Augen der Bewegung. „Im Moment will ich nur eins, nämlich etwas zwischen die Zähne. Da vorne ist die Küche. Setzen Sie sich in Bewegung!“ Das Wasser im Kochtopf brodelte. Mit einem lautlosen Seufzen verfrachtete ich das mittlerweile vollständig gegarte Gemüse umständlich auf einen ausreichend großen Teller und drehte den Herd ab. Drei. Zwei. Eins… „Wie lange dauert das noch?“ Nummer vierundsiebzig. Hätte ich es doch wissen müssen. „Jeden Moment“, gab ich geduldig zur Antwort und arrangierte das Gemüse inklusive Reis und Fisch auf dem niedrigen, tragbaren Tisch, wie er zur allabendlichen Mahlzeit in Kongoseki Oka üblich war, ehe ich die ganze Schose nach nebenan ins Wohnzimmer verfrachtete, wo mein Leibwächter bereits wartete. Der hungrige Wolf in Angriffsstellung. „Na endlich. Ich dachte schon, Sie hätten sich im Kochtopf ersäuft.“ „Na, na, ganz so leicht mache ich es Ihnen sicher nicht!“, erwiderte ich fröhlich und setzte das Tischtablett behutsam zwischen uns ab, um mich anschließend ebenfalls in einen lockeren Schneidersitz zu begeben und die Essstäbchen zu verteilen. Ich für meine Person hatte mehrere Jahre gebraucht, um die komplexe Handhabung dieser verwunderlichen kulinarischen Werkzeuge fehlerfrei zu beherrschen, doch mittlerweile gelang es mir, ohne dass ich einzelne Bissen mit den Stäbchen durch die Schüssel jagen musste wie eine Katze ihre potenzielle Beute. „So, bitte sehr. Guten Appetit!“ „Gleichfalls.“ Eine geraume Weile lang aßen wir schweigend. Offenbar war Kurogane von der langen Rückreise ebenso hungrig wie ich. Ich nutzte diese seltene Einigkeit zwischen uns und sah mich in dem doch recht knapp bemessenen Teil des Wohnzimmers um, den der Schwarzhaarige noch vor seiner senilen Untermieterschaft hatte retten können. Schon an meinem ersten Abend in diesem Haus war mir die doch relativ auffällige Unordnung ins Auge gesprungen. Hemden, Hosen, Einrichtungsgegenstände und benutztes Geschirr lagen wahllos im Raum herum, waren über die Möbel gehängt oder geworfen worden oder waren in den Ecken zu wackeligen Stapeln aufgetürmt worden. Die abendliche Mailuft ballte sich warm und stickig zwischen den teils vorgezogenen, teils bereits halb zerfledderten Vorhängen und unter der Decke. Dies musste einst ein sehr gemütliches Wohnzimmer gewesen sein, doch nun haftete ihm eine kaum merkliche Emotion der Trostlosigkeit an. Allmählich fragte ich mich, was Kurogane eigentlich für ein Mensch war. Auf der einen Seite war er – vor allem, was das berufliche Gehalt ging – der reinste Narzisst, jedoch grenzte sein Verhalten andererseits schon fast an Selbstaufgabe. Nun kannten wir uns schon seit knappen zwei Wochen, doch war er mir gleichzeitig noch immer fast genauso fremd wie an jenem Tag auf der Hoteltreppe. Bei anderen Menschen und Wesenheiten hatte ich manchmal nur einen einzigen Tag benötigt, um sie wirklich kennen zu lernen, mit all ihren Eigenschaften, Fehlern, Ängsten und Leidenschaften. Ganz und gar. Doch die Gedankenwelt dieses Mannes war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Wenn ich ihm beizeiten ins Gesicht sah und darin zu lesen versuchte, war es mir fast, als könne ich die unsichtbare Grenze sehen, die er wohl schon seit dem Tag unserer Begegnung zwischen uns gezogen hatte. Ob ich über dieses Verhaltensmuster erleichtert oder enttäuscht sein sollte? Ich wusste es nicht. „Ist was?“, riss mich Kuroganes unwillige Stimme unerwartet aus meinen Gedankengängen zurück. Rasch schüttelte ich den Kopf. „Nein, nein. Ich habe mich nur gerade gefragt, ob die Post schon angekommen ist!“ Statt einer Antwort deutete mein Leibwächter nur auf einen flachen, gebündelten Packen Papier, der direkt neben dem Durchgang zum Hausflur auf dem staubigen Boden lag. „Whoooow!“, entzückte ich mich und rappelte mich auf der Stelle hoch, um die Briefe an mich zu nehmen, „Wie viele das sind! Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass es gut ist, viele Kontakte zu haben! Auf die Weise kommt man immer an Informationen heran und hat dazu noch etwas, worauf man sich jeden Tag freuen kann!“ „Gleich kriege ich eine Hirnhautentzündung vor Glück“, brummte der Schwarzhaarige nur und widmete sich wieder seiner Abendmahlzeit, während ich eifrig die Absender der Briefe überflog. Briefe von Neferti, Domeki und Watanuki. Bei dem ganzen Rest musste es sich wohl um Rechnungen handeln… „Wie wäre es, soll ich dir die Briefe vorlesen, oder möchtest du dir lieber eine Freizeitbeschäftigung deiner Wahl suchen, während ich mich um den Papierkram kümmere?“, erkundigte ich mich nebenbei ironisch, was bei meinem älteren Gegenüber jedoch lediglich ein Stirnrunzeln bewirkte. „Doc, wenn ich die Freizeitbeschäftigung meiner Wahl ausüben würde, würden Sie jetzt bewusstlos und zahnlos am Boden liegen.“ Ich blinzelte. „… Also vorlesen?“ „Wenn Sie meinen.“ Ich erkannte einen Rettungsanker, wenn er mir zugeworfen wurde, und öffnete eilig den ersten Umschlag. „Der erste Brief ist von Neferti-kun. ‚Lieber Fye-san, lieber Kurogane-san! Viele liebe Grüße von der Isola Isabel schickt euch Neferti!‘ “ „Isola Isabel? Komischer Name…“ „Die Isola Isabel ist noch der arcobalenischen Inselkette zugehörig“, erklärte ich ihm beflissen und malte mit beiden Zeigefingern die ungefähre geografische Beschaffenheit besagter Kette in die Luft, „Ihren Namen hat die Insel von Isabel Hanno-Andari, der Tochter des Königs Immanuel Hanno-Andari dem Vierten. Er regierte als vierter Abkömmling der Hanno-Andari-Dynastie, als über die Arcobalena-Kette noch Könige herrschten, und benannte eine der zugehörigen Inseln nach seiner einzigen Tochter. Sie war übrigens die letzte Königin des späten Mittelalters, bevor dort die Demokratie ihren Einzug hielt!“ „Ja, ja, was auch immer“, erwiderte Kurogane und tat die Randbemerkung mit einer ungeduldigen Handbewegung ab, „Was schreibt er noch?“ „Er schreibt ‚Ich hoffe, es geht euch gut. Ihr fragt euch sicher, was ich auf der Isola Isabel treibe. Nun, zu meinem reinen Vergnügen ist es nicht, denn ich habe mich bei der Wahl der allsemesterlich anfallenden Facharbeit über submarine Botanik für eine Arbeit über die Amellus Igneus Maritimus, die rote Unterseesternblume, entschieden. Doch weil ich seit jeher großes Interesse an dieser heilkräftigen Pflanze hege, ist es mir ebenso ein Genuss, meine Zeit des freien Studiums hier zu verbringen. Ich wähne mich bereits als stolzer Besitzer einer Kolonie von etwa dreihundert Exemplaren, die Zucht schreitet gut voran. Drückt mir die Daumen für ein gutes Resultat und schreibt mir bald zurück! Reicht eure Antwort einfach beim Postamt der Isola Isabel ein, von dort aus wird es an mich weitergeleitet. Viele Grüße auch von Marina und Océane! Euer Neferti.‘ “ „Was sollte das werden, ein Vortrag oder ein Brief?“, brummte Kurogane nur und machte sich daran, das Tischtablett wieder in die Küche zurück zu bringen, „Haben wenigstens diese beiden Totengräber etwas Vernünftiges zu berichten?“ „Es sind Konservatoriumsverwalter, Kuro-pyon“, beschwichtigte ich ihn geduldig und entfaltete den zweiten Brief, „Und ich bin mir sicher, Neferti-kun wollte uns mit diesem Brief eine Freude machen.“ „Von mir aus… wollten uns die Jungs nicht einen Obduktionsbericht schicken?“ „Genau das wollten sie!“ Aufmerksam besah ich mir die in steifer, wie von unsichtbaren Fäden schräg nach oben gezogener Schrift gehaltenen Zeilen. „Offenbar haben sie es in Form eines Zivilbriefes verfasst, um nicht von Tunas erwischt zu werden… ‚Lieber Fye-san, lieber Kurogane-san‘ “, begann ich vorzulesen, „Ich hoffe, ich erwische mit unserem Schreiben keinen ungünstigen Augenblick. Wir haben es geschafft, die Obduktion erfolgreich durchzuführen, ohne dass uns die Universitätsverwaltung auf die Schliche gekommen ist. Der betreffliche Engel wurde entsorgt, so wie es aussieht wurden bereits neue verfügbare Exemplare an der Küste gefunden. In der Tat handelt es sich bei der inneren organischen Beschaffenheit des betrefflichen Engels um einen äußerst grotesken Sachverhalt. Sämtliche innere Organe und Körperfunktionen wie Leber, Magen, Nieren und Verdauungstrakt sind unverletzt und weisen weder eine Disfunktion noch eine Deformation auf. Mithilfe mehrerer Tests konnten wir nachweisen, dass diese Organe vollkommen ordnungsgemäß funktioniert haben mussten. Jedoch hat sich im unmittelbaren Lungenbereich eine…‘ “ Verwirrt hielt ich im Vorlesen inne und überflog hastig die darauffolgenden Zeilen. Aus dem Augenwinkel gewahrte ich, dass Kurogane im Türrahmen zwischen Küche und Wohnzimmer erschien, die Augenbrauen in sichtlicher Skepsis verzogen. „Eine was?“, erkundigte er sich misstrauisch. „… ‚Jedoch hat sich im unmittelbaren Lungenbereich eine auffallende Deformation gezeigt‘ “, fuhr ich stockend fort, „Die gesamte Lunge war gewissermaßen verkümmert. Für einen ausgewachsenen Engel erwies sie sich durch mangelnde Oberfläche und Durchblutung als viel zu klein, um das Exemplar mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Dazu zeigte sie im Bereich des linken und rechten Unterlappens auffällige, röhrenförmige Fortsätze – umschlossen aus einer extrem robusten, von simultan eingelagerten integralen Proteinen durchzogenen Biomembran – die sich teilweise bis in den Bereich der Subcutis von Unterleib, Brustkorb und Thromborax zogen. Die Endverzweigungen der Fortsätze waren bereits einer Art Verwesung unterlegen und müssen sich demnach ursprünglich bis in die Poren der Epidermis durchgezogen haben.“ „Was ist die Subcutis?“ Kuroganes Stimme klang seltsam fern an meinen Ohren. „Die Haut“, erklärte ich eher mechanisch, während meine Augen noch immer starr an dem Brief in meinen Händen hingen, „Eine der weiter innen gelegenen Hautschichten. ‚Nach einigen Untersuchungen haben wir einen dieser Fortsätze entfernt und aufgetrennt. In seinem Inneren fand sich eine Substanz mit extrem hohem Proteingehalt; kam sie mit der Haut in Kontakt, schwoll diese beträchtlich an, wurde weich und schwammig und sonderte unablässig Schweiß ab. Aufgrund ihrer Beschaffenheit erinnert uns diese Substanz an ein Gift animalischen Ursprungs, doch waren wir nicht in der Lage, dieses Animal genau zu charakterisieren. Dies war jedoch nicht das einzige Befremdliche, das uns an diesem Engel auffiel. Es stellte sich heraus, dass die…‘ “ Es war, als würde mein Herz für den Zeitraum eines Sekundenbruchteils stehen bleiben, um kurz darauf umso schneller weiter zu pochen. „… Das kann doch nicht sein…“ „Was denn?“ Beim Durchlesen der nachfolgenden Zeilen wurde mir seltsam kalt. Schweigend reichte meinem Leibwächter den Brief, der sich mit misstrauisch gerunzelter Stirn die betrefflichen Zeilen rasch durchlas. Es war nicht schwer für mich zu erraten, an welcher Stelle er stockte. „… Die Erbanlagen? Der Engel hatte keine Erbanlagen mehr?“ Ich schüttelte nur stumm den Kopf. „ ‚… vollständig entfernt wurden…‘ “, las der Schwarzhaarige halblaut vor, jedoch eher für sich selbst, „ ‚Jedoch war unersichtlich, ob dies unter Zuhilfenahme chirurgischer Geräte oder durch eine Abstoßreaktion des Körpers geschehen ist… da die durchtrennten Gewebepartien deutlich geriffelte Ränder aufwiesen, gehen wir jedoch eher von Letzterem aus…‘ “ Die restlichen Zeilen las er schweigend. In meinem Kopf schlugen die Gedanken schon längst Purzelbäume. Ein Engel, der eine in diesem Maß deformierte Lunge, ja nicht einmal gesunde, voll ausgebildete Erbanlagen besaß, war so betrachtet nicht einmal lebensfähig. Wie hatte er überhaupt auf die Welt kommen, voll auswachsen und geschlechtlich heranreifen können, ohne dabei durch die verkümmerte Lunge hervorgerufenen Sauerstoffmangel umzukommen? Die äußeren Merkmale hatten auf keine auch noch so unterschwellige Form von Sauer- oder Nährstoffmangel verwiesen… Eine Ungnade der Natur etwa? Es war etwas an diesem Gedanken, das mir einen jähen Impuls nach vorne gab. „Wir müssen ihnen unbedingt antworten.“ „Tun Sie das“, meinte ich – als ob ich ihn davon abhalten könnte… Er stürzte auch sofort los, um sich über seine Reisetasche herzumachen und dort Papier und Stift zu Tage zu fördern. Aber das war nun wirklich ein Ding der Unmöglichkeit. Denn auch wenn ich nicht Medizin studiert hatte, wusste ich, dass selbst ein Engel ohne Lungen wohl kaum leben konnte – und dafür hatte er definitiv zu fit ausgesehen, abgesehen davon, dass er tot war. Es waren schon früher tote Engel an der Küste, oder auch in abgelegenen Landstrichen gefunden worden, doch die Ersten hatten wirklich nach Leichen ausgesehen und waren auch nicht unbedingt sehr ansehnlich gewesen. Doch auch hier konnte die Todesursache nicht unbedingt eindeutig geklärt werden… Die Hysterie unter den betroffenen Küstenstädten war jedoch nach einigen Jahren bereits wieder abgeebbt, da in wissenschaftlichen Kreisen bald die Theorie aufgestellt worden war, dass es sich bei dieser Erscheinung möglicherweise sogar um eine natürliche Todesursache handeln konnte. Wer konnte schon wissen, welche Art zu sterben von Engeln bevorzugt wurde? Wirklich mysteriös. „Ich bringe das schnell zum Postamt!“, riss mich der Arzt aus meinen Gedanken. „Aber das hat doch schon zu“, meinte ich. „Nicht für mich, ich bin Arzt! Da gehen die Telegramme sogar sonntags und feiertags raus!“ Mit diesen Worten hatte er sich auch schon seinen Mantel gepackt und war zur Tür raus. In Ordnung. Wenn das so war… Ich sah mich im Wohnzimmer um. Eigentlich könnte ich, während er weg war, ein wenig aufräumen – nun, das würde nicht viel bringen, außer dass sich die Stapel verschieben würden und vielleicht ein wenig größer wurden… Es war wirklich unpraktisch, wenn der größte Teil der Schränke drüben bei den Nachbarn waren. Sie waren unglücklicherweise nämlich direkt eingebaut und befanden sich hinter den Schiebetüren an den Wänden. Auf dieser Seite gab es nur zwei kleinere Schränke und diese waren bereits voll. Ich sammelte trotzdem alles ein und verfrachtete es in eine Ecke des Wohnzimmers, das Geschirr zumindest in die Küche. Viel besser sah es nicht unbedingt aus, aber zumindest auch nicht schlimm. Wann endlich würde ich genug Geld haben, damit ich meine Untermieter endgültig los war und das Haus wieder für mich hatte? Wahrscheinlich niemals… Es war wirklich frustrierten, im eigenen Haus am wenigsten Platz zu haben und auch immer noch darum kämpfen zu müssen. Irgendwo musste auch noch ein zweiter Futon sein… Dann musste der Arzt nicht wieder auf den Tatami übernachten. Die waren zwar nicht unbequem, aber mit Futon war es sicher angenehmer. Mittlerweile hatte ich im Prinzip nichts dagegen, dass er hier übernachtete – so sparten wir zumindest etwas Geld, wenn er nicht auch noch ein Hotel bezahlen musste. „Zur Bank!“, fauchte ich. „Ja, aber warum denn?“ „Weil Geld nun mal auf die Bank gehört!“, gab ich zurück. Seit mindestens einer halben Stunde diskutierten wir darüber, was wir mit dem restlichen Geld machten. Kaum dass der Blonde zurückgekehrt war, meinte er, dass wir sofort morgen früh wieder aufbrechen sollten. Der Arzt war dafür, die gesamte Summe mitzuschleppen, ich fand, wir sollten es auf die Bank bringen. Auch wenn ich nicht allzu viel von der Bank hielt – die hatte nämlich auch einfach mal mein Konto gepfändet. Doch eine andere Möglichkeit sah ich da nicht, dass das Geld sicher war. „Ja, und wenn wir es brauchen?“, fragte er. „Dann heben wir eben etwas ab!“ „Und wenn keine Bank in der Nähe ist?“ „Dann haben wir eben Pech gehabt! Oder wir schreiben einen Scheck aus…“ „Ich hab aber keine Schecks.“ „Das hab ich mir gedacht.“ „Hast du Schecks?“ „Wieso denn, ich hab doch nicht mal Geld!“ „Warum nicht?“ „Weil die Bank mein Konto gepfändet hat, verdammt!“ Ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Dann vertraust du der Bank noch?“ „Nein, das hab ich nicht gesagt!“ „Wenn du da aufkreuzt, und versuchst etwas einzuzahlen, dann werden die das auch pfänden oder? Nehme ich mal an… so rein theoretisch…“ Da war was dran… „Dann zahlen Sie es halt ein“, knurrte ich. Sein Grinsen wurde noch breiter. „Geht nicht“, sagte er. „Ach, warum? Haben Sie die Bank schon mal überfallen?“ „Nein. Aber ich bin nicht nur kreditunwürdig, sondern auch kontounwürdig. Die werden mir für kein Geld der Welt ein Konto eröffnen.“ „Häh? Das ist eine Bank, die sind dafür da.“ „Tja. Aber mich werden sie wieder rausschmeißen, und zwar hochkant.“ „Warum denn das?“ Meine Güte, als ob wir nicht schon so Probleme hätten… Er antwortete nicht. Zumindest nicht direkt. „Keine Bonität – kein Konto. So einfach…“, kicherte er, obwohl es eigentlich alles andere als lustig war. „Das müsstest du doch auch wissen.“ Ich stieß ein wütendes Schnauben aus und er wich einige Schritte mit beschwichtigend erhobenen Händen zurück. „Schon guuut, schon guuuut, ich nehm’s zurück!“, versicherte er. „Aber ich hab doch recht! Ich kenn das doch auch, und—…“ „Was machen wir dann, wenn wir es nicht zur Bank bringen…?“, unterbrach ich ihn unwirsch. „Mitnehmen. Das mach ich immer!“ „Deswegen sind Sie ja auch immer pleite! Lassen wir einfach einen Teil hier.“ „Was? Hinterher wird es noch geklaut! Ich bin sicher, deine Nachbarn sind noch vertrauensunwürdiger als die Bank, hab ich recht?“ Exakt das waren auch meine Gedanken gewesen. „Ja…“, meinte ich genervt. „Dann verstecken wir es eben am Gartenteich!“ „Ah, wie in diesen Gangsterfilmen im Kino? Mit so Plastikkapseln?“ „Nein, in Papiertüten!“, zischte ich. Ich fühlte mich irgendwie nicht ernst genommen. „Wie viel Geld liegt denn schon in deinem Teich? Vielleicht bist du ja reich, aber du weißt es gar nicht!“ „Na klar… da liegen sicher Millionen“, nickte ich und sah ihn sarkastisch an. „Deswegen arbeite ich ja auch für Sie!“ „H-heeey!“ Er sah mich anklagend an. „Sooo schlimm ist das aber auch nicht, Kuro-ta! Du übertreibst!“ „Ich übertreibe gleich, in dem ich Sie so hochkant rausschmeiße, dass sie nicht mehr aufstehen!!“ „Ähm. Die Idee mit dem Teich war aber gar nicht mal so schlecht…“ Ich seufzte, doch dann nickte ich. Naja – warum auch nicht? Wer versteckte sein Geld auch schon an einem Teich? Kapitel 17: Oodinium Pillularis - 1 ----------------------------------- Die Morgendämmerung brach herein. Wie ein schummriger, fahl silbriger Schleier aus transparentem Stoff lag sie über dem Horizont – der Vorhang, der sich für den Auftritt der Sonne endgültig teilen würde. Die tägliche Lebensvorstellung, Eintritt frei. Von allen Stunden des Tages war mir diese die Liebste, weshalb ich gewohnheitshalber schon vor Sonnenaufgang aufzuwachen pflegte – ein Brauch, der sich seit meiner Promovationszeit über die Jahre hinweg verankert hatte, und den ich stets im Alleinsein genoss. Meine Gedanken hingegen verweilten nicht bei dem Anblick des morgendämmernden Himmels, sondern kreisten bereits jetzt in einem Fort um die nächste Mission, derer wir uns annehmen würden – begleitet von der Frage, ob es nicht besser wäre, vor dem Antreten eines neuerlichen Auftrags ein weiteres Mal mit Clow und dessen Crew in Kontakt zu treten. Nicht, dass es sonderlich nötig gewesen wäre – noch befanden sich unsere abgehandelten Kräuter- und Heilpflanzenvorräte in bestem Zustand – doch ich hielt mich bezüglich dem Stand der Dinge auf See gerne auf dem Laufenden. Eine flüchtige Bewegung aus dem Augenwinkel ließ mich unerwartet aus meinen Grübeleien aufmerken. „… Was tun Sie da schon wieder?“ Ach du je. Ich rollte die Augen. Es fiel mir nicht schwer, anhand des entnervten Tonfalls den Urheber dieser Frage eindeutig zu identifizieren. Mit einem Lächeln wandte ich mich zu Kurogane um, der soeben im Türrahmen des Eingangs aufgetaucht war und mich nun mit argwöhnischen Blicken beschoss wie die Sonne ein vegetabiles Gartengewächs mit Lichtphotonen. „Natürlich die unabdingbare Vermiesung deines Lebens planen. Du hast nicht zufällig Interesse daran, an diesen Reflexionen teilzunehmen?“, gab ich fidel zur Antwort und schlug ein Bein über das andere, was die fleckige Gartenbank, die ich zu meiner Sitzgelegenheit auserkoren hatte – und die wohl vor schätzungsweise zweihundert Jahren zum letzten Mal einen frischen Anstrich verpasst bekommen hatte – bedenklich zum Knarzen brachte. Der Schwarzhaarige ließ ein dumpfes Knurren hören und trat nach draußen in den Garten. „Was Sie wirklich tun, Doc.“ „Na schön, ich warte auf den Sonnenaufgang“, gab ich mich geschlagen und deutete mit einer Hand gen Horizont, „Und ich überlege, wie wir weiter vorgehen sollen. Mein Angebot zur Teilnahme steht jedoch nach wie vo-… ooooh! Wie lieb von dir!“ „Sie geben ja doch keine Ruhe, bis ich eingewilligt habe“, brummte Kurogane nur, der soeben nähergetreten war und sich nun schwer neben mir auf der Bank niederließ, was dieser eine weitere Wimmerarie entlockte. „Also gut, schon bestimmte Vorstellungen?“ „Nun, ich bin gerade zu dem Schluss gekommen, dass wir uns heute vielleicht zwecks Auftragssuche auf dem Postamt nach Subaru-kun und Hokuto-chan umsehen sollten.“ „Klingt vernünftig“, stimmte mein Arbeitspartner zu und verschränkte die Arme vor der Brust, „Wenn wir einen kriegen, sollten wir einen Teil des Geldes abzweigen, um im Notfall flüssig zu sein.“ „Das sind wir doch immer, mein Lieber! Der Körper des Homo sapiens besteht nicht umsonst zu fast achtzig Prozent aus Wass-… ganz ruhig, das ist doch nur Humor!“, fügte ich rasch hinzu, als die Zornesader des Schwarzhaarigen bedrohlich zu pochen begann, „Ich habe den Sinn deiner Aussage durchaus richtig aufgefasst! …Obwohl letztere Aussage an sich wieder als Wortwitz durchgehen könnte, da humor soviel wie ‚Körperflüssigkeit‘ bedeut-…“ „KLAPPE HALTEN!! Noch ein Wortwitz, und ich-…!!“ „Schon gut, schon gut“, seufzte ich ergeben und verneigte mich wie ein Muslime, der seine täglich anfallenden Rakats vollführte, „Du hast ja recht, wir sollten einen Teil des Honorars von Noctua-san mitnehmen, wenn wir einen Auftrag finden.“ „Wieso nicht gleich?“, knurrte Kurogane und fuhr sich entnervt durch das kurze, noch ungekämmte schwarze Haar, „Verpflegung sollten wir ebenfalls besorgen. Und diese grüne Schrottkamelle braucht eine komplette Restaurierung.“ „Da könntest du Recht haben“, gab ich kleinlaut zu. Autos waren ein seltener Luxus – auch wenn sich das vermutlich schon in wenigen Jahren ändern würde, Anzeichen wie zum Beispiel die sich rasant weiter entwickelnde Maschinenindustrie in diesem Land, gab es immerhin genug – und folglich kostete auch jeder Service, der damit in unmittelbarem Zusammenhang stand, eine beachtliche Stange Geld. Es würde ungeheure Summen verschlingen, unseren klapprigen Bentley soweit in Stand zu setzen, dass man damit über Land fahren konnte. „Was schlägst du vor?“, erkundigte ich mich, denn von uns beiden hatte Kurogane noch immer das bessere Händchen für Autos. Dieser lehnte sich grübelnd auf der Bank zurück. „Die Werkstattkosten können wir uns sparen, das kriege ich auch alleine hin“, erklärte er nach einer Weile, „Was wir auf jeden Fall brauchen, sind neue Teile. Bremsbeläge, Stoßstangen, ein besseres Getriebe. Ich kenne jemanden, der solches Zeug zum halben Preis verscherbelt…“ „Eeeeeecht?“, staunte ich und sah meinen Leibwächter groß an, „Woher denn?“ „Hab einige Monate in einem Maschinenwerk gearbeitet“, lautete die knappe Antwort. Fragend beobachtete ich das sich rasch verfinsternde Gesicht meines Reisebegleiters. Da war er schon wieder, dieser Blick. Obwohl er nicht direkt boshaft anmutete, verbot er mir unerbittlich den Mund – und das, ohne Worte zu verschwenden. Frag bloß nicht weiter, sonst setzt es was. „Achso“, sagte ich daher fröhlich und wippte auf der ärmlichen Bank auf und ab, „Prima, dann können wir auf diese Weise sicher eine Menge Geld sparen! Wie wäre es, wenn wir nach jedem Auftrag eine bestimmte Summe für die Reparatur von Kermit zurücklegen? Einhundert bis zweihundert Transkos, so um den Dreh rum?“ „Hmmmnh.“ „Wenn wir mehr als tausend Transkos zusammengekratzt haben, können wir ja einen Abstecher zu deinem Kontaktmann machen!“ „Hmmmnh.“ „Und vielleicht sollten wir auch ein paar Transkos aufheben, damit wir Clow und seine Mannschaft möglichst bald wieder anheuern können…“ „Hmm- was?!!“ Der Schwarzhaarige erwachte so abrupt aus seinem Wachkoma wie ein Schwarzbär, den man in die Schnauze gepiekst hatte. „Sie wollen schon wieder Unterhandel mit diesen Freibeutern betreiben?! Wann begreifen Sie eigentlich mal, dass Sie dabei früher oder später im Knast landen können?! Die Handelsmarine bestraft solche Vergehen wie der Teufel die arme Seele! Wenn Sie Glück haben, werden Sie nur hingerichtet!“ Ich runzelte die Stirn. „Weißt du, seit unserem letzten Abkommen mit Clow habe ich das dumpfe Gefühl, dass du ihn auf den Tod nicht ausstehen kannst“, erklärte ich und rieb mir gründlich die Nase, „Wie kommt das, wenn ich mir diese Frage erlauben darf? Kommt das, weil du aus Prinzip erst einmal jeden hasst, den du triffst, oder hat das tiefergehende Gründe?“ „Liegt das nicht auf der Hand?“, schimpfte mein gereiztes Gegenüber, „Ich lehne Methoden wie Raub, Hehlerei, Erniedrigrung und Ermordung unbescholtener Männer, die ihr tägliches Brot mit dem Überseehandel verdienen, ganz einfach ab! Und zufälligerweise sind es genau diese Methoden, von denen Ihr Handelspartner so fleißig Gebrauch macht, dieser, dieser-… Pirat.“ Verwirrt registrierte ich, dass er das letzte Wort wie ein Schimpfwort aussprach, obwohl es Clow so gesehen korrekt beschrieb. „Und ich hasse nicht jeden, den ich kenne“, fügte er nach einem längeren, ziemlich unangenehmen Schweigen noch hinzu und verschränkte bockig die Arme vor der Brust. Ich ließ ein dezentes Räuspern hören. „Die vorangehende Hetzrede untermauert diese Behauptung auf höchst eindrucksvolle Weise“, stellte ich sachlich fest, „Und darüber hinaus ist und bleibt es Tatsache, dass mein ‚Unterhandel‘ mit Clow und seiner Crew bisher nur Gutes mit sich gebracht hat. Wir kennen uns mittlerweile seit Jahren, und ich habe ihm mein finanzielles Überleben ebenso zu verdanken wie er mir das Seine.“ Keine Antwort. Dann eben nicht. Ich seufzte. „Hör zu… was hälst du von folgendem Plan? Nach dem Frühstück gehen wir zum Postamt und sehen uns nach einem neuen Auftrag um, danach treffen wir alle nötigen Vorbereitungen und sehen zu, dass wir uns zeitig auf den Weg machen, und wenn wir wieder zurück sind und das Honorar bereits berechnet wurde, können wir immer noch sehen, wie es sich am geschicktesten verteilen lässt. Einverstanden?“ Offenbar zog mein Reisebegleiter es vor, noch ein wenig zu schmollen, denn es nahm fast eine Viertelstunde in Anspruch, bis er sich endlich zum Antworten bequemte. „… Einverstanden.“ Ich wusste nicht wieso, doch das dumpfe Murmeln brachte mich zum Lächeln. „Gut. Aber bevor wir unserem Plan folgen, bleiben wir noch ein wenig sitzen, ja?“ „Wieso das denn?“, brummte Kurogane unwillig. Ich deutete als einzige Antwort in Richtung des Horizonts. Noch während wir uns mit Diskussionen über Geld, Autoreparaturen, Gott und die Welt in Atem gehalten hatten, hatte die Morgendämmerung endgültig dem Sonnenaufgang Platz gemacht. Wie eine schmale Scheibe aus purem Gold verließ die Sonne die nächtliche Umarmung des Firmaments und ergoss ihren warmen, ruhigen Schein über das gesamte Himmelszelt. Durchdrang und durchstrahlte die dünnen Wolkenschleier, die ihr schimmerndes Antlitz noch vor der irdischen Welt zu verbergen suchten. Blinzelte und atmete durch den Morgentau, der still über den Firsten der Dächer und auf den Blättern der bereits aufschießenden, auftreibenden Blumen und Gräsern in den benachbarten Gärten lag und das wie sie zur vollen Blüte emporstrebende Licht zu trinken schienen wie ein leises, leichtfüßiges Tier, das Wasser aus einer Quelle trank. Umarmte alles, was sie erreichen konnte, mit ihrer Wärme. In der stillen Straße wurden erste Geräusche von aufgehenden Schindeln und Fensterläden hörbar. Das Leben erwachte, und mit ihm auch seine Geschöpfe. Gedankenverloren sah ich einem einzelnen Zitronenfalter nach, der sich trotz der morgendlichen Kühle bereits aus seinem Versteck hervorgewagt hatte und in schaukelnden Schleifen an uns vorbeiflog, um sich auf Frühstückssuche zu begeben. Wie immer, wenn sich mir die Schönheit der Welt offenbarte, die uns umgab, hatte sich ein dumpfes, unterschwelliges Zwicken in meiner Brust breitgemacht. „Schön, nicht wahr?“, hörte ich mich leise fragen und fühlte das Zwicken stärker werden, „Ghâlil hat einmal zu mir gesagt, dass zu den Stunden des Sonnenaufgangs die Geister aller Lebewesen am stärksten in Verbindung ständen. Das Leben erfüllt sie und stärkt sie für den anbrechenden Tag.“ „Aha“, erwiderte Kurogane lahm und folgte meinem Blick, „Ich habe mir immer nur den Sonnenuntergang angesehen.“ „Ich mir auch. Meistens jedoch allein“, gab ich fröhlich zur Antwort. „Aha. Ich auch.“ „Na, dann ist es doch schön, dass sich das geändert hat, nicht wahr?“ „Hmmmnh.“ Ich musste lächeln und beschränkte mich der Simplizität halber einfach darauf, weiterhin mit meinem Leibwächter die aufgehende Sonne zu beobachten. Es war wahr, und nun konnte auch ich es nicht mehr abstreiten – seit unserem mehr oder weniger unfreiwilligen Zusammentreffen war bereits so manche meiner Gewohnheiten umgeworfen worden. Und mittlerweile hatte ich den Eindruck, dass es nicht nur mir so ging. Doch ob ich mit der Empfindung, diese Veränderung nicht als etwas Unerwünschtes anzusehen, ebenfalls nicht allein war, würde für diesen Morgen – wie so manche andere Frage zwischen meinem neuen Partner und mir – wohl ungeklärt bleiben. „… Zu hundert, eine zu zwanzig, zwei zu dreißig-…“ „Hierher! In den Dschungel bringen mich keine zehn Pferde mehr, verstanden?“ „Bei mir warst du auch noch nicht! Zack zack!“ „Fünf zu sechzig! Wer legt zusammen?“ „Hier drüben, zwei zu fünfundzwanzig!“ Am Postamt war wie immer die Hölle los. Als Kurogane und ich auf der Szene eintrafen, befanden sich gerade drei Abgeordnete der Stadtverwaltung – man erkannte sie an ihren auffallenden, roten Schärpen über den Hakama – dabei, mit der zurückgekehrten Kohorte der Soldaten zu verhandeln, die wir noch gestern in der Stadt gesehen hatten, und die jetzt auf dem schmalen, von Pappeln gesäumten Vorhof des Postamts und dem Fußsteig lagerten. Zwei von ihnen hatten sich von irgendwo zwei alte, abgeschabte Gitarren besorgt und spielten einige veraltete Soldatenmelodien. Eine kleinere Schar Kinder hatte sich um sie versammelt, lauschte und tanzte zu den Liedern. „Was da wohl passiert?“, überlegte ich laut und wich höflich einem an uns vorbeistürzenden Telegrammboten aus, „Klingt ja fast wie eine Auktion!“ „Sie kaufen sich Parzellen von der Stadtverwaltung, um eine vorläufige Bleibe zu finden“, erklärte Kurogane achselzuckend, offenbar wusste er auch auf diesem Gebiet bestens Bescheid, „Wenn sie in der unmittelbaren Nähe des Dschungels stationiert waren, wird von den Lagern nicht viel übrig geblieben sein.“ Dem konnte ich leider nicht widersprechen. Es war auch schon so verwunderlich genug, dass die Soldaten so zahlreich zurückgekehrt waren. Niemand, der den Dschungel von N’Galia betrat, kam lebend wieder heraus. Das war die Regel. Lustig nur, dass schon wieder ich derjenige war, der aus diesem Schema herausfiel. „Sie werden versetzt?“, erkundigte ich mich bei einem der Soldaten, der sich bereits seine Parzelle gesichert hatte und mit dem abgestempelten Schein in der Hand den Platz verlassen wollte, und er nickte. „Ja. Wir werden am Stadtrand untergebracht, bis wir in ein anderes Lager kommen.“ „Ist dort überhaupt genug Platz?“, kam es stirnrunzelnd von Kurogane. „Eigentlich nein, aber zum Glück sind auf diesem Höllentrip genug Männer gestorben, damit es nun genügend Platz für alle gibt. Eine Hälfte kommt in die Parzellen, die andere ins Krematorium.“ Die Stimme des Soldaten troff vor Sarkasmus, sodass mein Reisebegleiter es vorzog, keine weiteren Fragen zu stellen. „Verstehe… nun, auf jeden Fall viel Glück Ihnen!“, gelang es mir nach einer Weile letztendlich doch, das peinliche Schweigen zu durchbrechen. Der Soldat bedankte sich mit einem Nicken und verließ die Szene im Laufschritt, offensichtlich war er das stundenlange Herumlungern vor dem Postamt leid. „Wie das nur passieren konnte, frage ich mich…“ „Wieso fragen Sie sich das noch?“, entgegnete Kurogane geringschätzig, „Sie waren doch auch schon in dem Dschungel. Und Sie wissen, was dort ist.“ Schweigen. Ich beobachtete aufmerksam die Gesichtszüge meines Partners. Seltsamerweise regten mich diese Worte nicht auf, obwohl ich sie mir auch schon von unzähligen anderen Personen hatte anhören dürfen. „Nein“, erwiderte ich schließlich wahrheitsgemäß, „Nein, weiß ich nicht.“ Niemand wusste es. Unser zweifelhafter Disput wurde unterbrochen, als eine zerrupft wirkende Gestalt an der Treppe auftauchte und bei unserem Anblick enthusiastisch einen Zeigefinger in die Luft stieß. „Aaaaaah!! Endlich hab ich euch!“ Ich kam kaum dazu, mich umzudrehen, als die Gestalt auch schon wie von der Tarantel gebissen herangerast kam, mich beim Abbremsen fast von den Füßen riss und sich in eine atemlose Verbeugung warf. „Fye-san, Kurogane-san! Schön, dass ihr wieder zurück seid, ich habe mich schon gefragt, wo ihr eigentlich bleibt!“ Die Gestalt entpuppte sich als einer meiner fleißigen Telegrammboten, wie immer in der properen blauen Uniform mit Schirmmütze und Telegrammtragetasche gekleidet, und dazu noch über das ganze Gesicht strahlend. „Die Freude ist ganz auf unserer Seite, Subaru-kun!“, gab ich fröhlich zur Antwort, nachdem ich mit beiden Füßen wieder sicheren Halt gefunden hatte, erleichtert darüber, dass wir uns nicht erst in das chaotische Innenleben des Postamts vorwühlen mussten. Mein beflissenes Helferlein lachte glucksend. „Ooooohohooho, schon wieder verspielt! Hokuto!“, verbesserte sie mich und klopfte mir übermütig auf die Schulter, „Ich bin schon seit zwei Tagen auf der Suche nach euch, und der Portier des Hotel Grande hat mir gesagt, du wärst schon lange rausgeflogen…“ „Nur keine Panik, ich habe bereits eine neue Bleibe gefunden, Hokuto-chan“, beruhigte ich meine aufgeregte Kumpanin – den Ärger über die Tatsache, dass ich die beiden Geschwister noch nie hatte auseinanderhalten können, hatte ich schon vor Jahren verdaut – und beklopfte meinerseits väterlich die Schulter meines Bodyguards, „Ist es nicht schön, wenn man einen so rücksichtsvollen Angestellten hat?“ „Oooohohoho! Er lässt dich bei sich woooooooooohnen?? Wie lieb von dir, Kurogane-san!“ „Mmmpfh“, grollte Kurogane dumpf, offenbar war es einfach noch zu früh am Morgen, als dass er sich in wirkliche Wut hineinsteigern konnte, „Komm endlich zur Sache! Wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit!“ „Wie der Herr wünschen!“, gab Hokuto aufgeräumt zur Antwort und wühlte geschäftig in den weiten Fächern ihrer Telegrammtasche herum, „Subaru und ich sind während eurer Abwesenheit nämlich nicht untätig geblieben, schließlich arbeiten wir für unser Geld!“ „Will heißen, du hast einen Job für uns?“, hakte ich hoffnungsvoll nach, und das Mädchen nickte. „Hundert Punkte! Und wir mussten nicht einmal drum kämpfen, vorgestern kam die reinste Telegrammwelle rein!“ Stolz wie ein Papagei überreichte sie mir einen der von mir so heiß und innig verehrten Umschläge aus steifem grauem Zellpapier, doppelt abgestempelt von den Postbehörden von Uranoke Sho. „Aaaaaaaaaaaahh! Vielen Dank, Hokuto-chan!“, trällerte ich entzückt, sobald ich das vertraute Gefühl des rauen Papiers unter meinen Fingern spürte und nahm Hokuto fröhlich bei beiden Händen, was bereits nach wenigen Sekunden in eine Art Ringelreihentanz ausartete, „Dieses Knistern, dieses knisternde Knistern, das riecht geradezu nach Abenteuer!“ „Heeeeehehehehe!“ Kurogane sah unserem Tänzchen genau eine Minute lang zu, bis er mir das Telegramm kompromisslos aus der Hand schnappte und es mit den Augen eines misstrauischen Kunstkritikers beäugte. „Das ist der Inlandsstempel von Kongoseki Oka“, meinte er und deutete auf den roten Stempelabdruck am linken oberen Rand des Umschlags, „Das heißt, der Absender logiert in diesem Land…“ „Ganz richtig!“, zwitscherte ich, „Hokuto-chan, dich stört es doch nicht, wenn wir das Telegramm sofort öffnen, oder?“ „Ganz und gar nicht!“, antwortete das Mädchen wohlgemut, „Allerdings ist das nicht das einzige, was ich für euch habe. Da ist jemand, der euch sprechen will! Er schien es ziemlich eilig zu haben, ich konnte ihn kaum zum Warten überreden! Soll ich ihn schnell holen?“ „Jemand, der uns sprechen will?“, wiederholte ich erstaunt, doch dann besann ich mich schleunigst und nickte, „Natürlich, immer nur her mit ihm, solange es kein Schuldeneintreiber ist, wahahahahah!“ „In Ordnung, ich hole ihn schnell, ich muss nämlich noch auf ein paar andertweitige Botengänge. Macht’s gut, ihr beiden, und meldet euch, wenn ihr mit dem Auftrag nichts anfangen könnt!“ „Alles klar! Bis dann!“ Hokuto nickte und machte sich im Dauerlauf auf den Rückweg in das Postamt. Kurogane starrte mich scheel von der Seite an. „Schuldeneintreiber?“ „Oh ja, das ist die Menschensorte, mit der ich in den vergangenen Jahren am intensivsten Kontakt hatte!“, flapste ich und kicherte, als sich die schwarzen Brauen meines älteren Gegenübers augenblicklich erbost zusammenzogen, „Sie müssen mich für außerordentlich sexy gehalten haben, denn sie sind mir zuweilen auf Schritt und Tritt gefolgt!“ „Oh sicher, das wird es gewesen sein“, brummte der Schwarzhaarige nur und machte eine wegwerfende Handbewegung, „Eins sage ich Ihnen, wenn jetzt ein Schuldeneintreiber auf der Matte steht, war es das mit unserer Zusammenarbeit! Dann pfeife ich auf den Kündigungsschutz!“ Ich wollte gerade erwidern, dass solch ein unfeiner Vertragsbruch alles andere als zuvorkommend wäre, doch die Sorge des Schwarzhaarigen erwies sich just in diesem Augenblick als überflüssig. Die Leute am Eingang sprangen erschrocken einen Schritt zurück, als sich etwas Großes, Kräftiges mit einem Satz den Weg zum Portal freimachte, sich mit einigen schnellen Flügelschlägen Auftrieb verschaffte und schwer vor uns auf dem gepflasterten Boden landete. Sowohl Kurogane als auch ich sahen den unerwarteten Besucher überrascht an. Butterfarbene Federn. Lange, knochige Arme. Klauenhände. Ein Vogelgesicht. Eine Harpyie. Während uns die Umstehenden noch immer etwas perplex anstarrten, spreizte die junge Kreatur ihre Federhaube auf und neigte den Kopf vor uns. „Doktor… Fleoratu. So wir uns begegnen… nun erneut.“ Hatte ich diese Stimme nicht schon einmal gehört…? Wie immer ließ mich mein Gedächtnis im Stich, doch nun meldete sich Kurogane zu Wort. „… Gwri, nicht wahr? Wir kennen dich aus Shuryotori Aitoki.“ Die Harpyie nickte und faltete unter schwerem Rascheln ihre langen Flügel. „J-ja, ihr tut. Ich… kehre wieder her… zu euch.“ Mehr bedurfte es nicht, um auch meine grauen Zellen endlich wieder in Gang zu bringen. „Aber natürlich!“, rief ich aus und fasste das junge Wesen bei den sehnigen Klauen, „Gwri! Bitte entschuldige vielmals, dass ich dich nicht gleich erkannt habe, mein Gedächtnis ist nicht das Beste! Al-shaak an nan!“, fügte ich entschuldigend hinzu, doch das Harpyienmädchen schüttelte den Kopf. „Nicht… schlimm, das. Die Zeit, sie fließt. Sehr schnell.“ Ich spürte, wie meine Verwunderung allmählich ins Unermessliche wuchs. Binnen knapper zwei Wochen schien dieser Nestflüchter sowohl mehrere Brocken unserer Sprache als auch das Fliegen erlernt zu haben – ein Prozess, der bei Artgenossen ihres Alters normalerweise fast ein halbes Jahr in Anspruch nahm, wenn nicht mehr, und oft als der quälendste Akt der Jugendzeit in Erinnerung behalten wurde. Meinen Leibwächter schien dieser kuriose Fakt nicht gerade den Stöpsel hinaus zu hauen, denn er runzelte lediglich die Stirn. „… Und was führt dich zu uns?“ Gwri klapperte mit dem Schnabel und musterte den Schwarzhaarigen aus ruhigen, jedoch gleichzeitig aufmerksamen gelben Adleraugen. „Es… mögen eure Geister gewesen, großer Mensch. Krank… ich lag krank, sehr lange. Mein Geist aber blieb, und folgte, denn ihr rettetet ihn. Alle beide!“ Dieses Zugeständnis überraschte mich ebenfalls in gewissem Maß. Es war gemeinhin bekannt, dass Harpyien, vor allem Abkömmlinge des Geschlechtes der Masaip, wie Gwri es war, eine gewisse Begabung zur Telepathie besaßen – jedoch waren die Grenzen ihrer Begabung eng gezogen und erlaubte es ihnen entweder gar nicht oder erst sehr spät, frühestens ab Mitte des sechzigsten Lebensjahres, davon Gebrauch zu machen. Ghâlil hatte mir ebenfalls ein wenig davon erzählt – bei ihm hatte es sich erst kurz nach dem Erreichen seines neunzigsten Lebensjahres herausgestellt, dass er eingeschränkt telepathisch begabt war. Von hundert Harpyien waren nach der unter Studenten sehr beliebten Klingstein-Hutscher-Studie gerade mal fünf Exemplare zum Knüpfen telepathischer Kontakte fähig. Telepathie war in der Universalmedizin ohnehin ein sehr heikles Thema – bis heute war es keinem Forscher gelungen, die Vorgänge im Gehirn während eines telepathischen Austauschs vollständig zu erfassen. Und nun sollte ein gerade mal sechs Jahre alter Nestflüchter bereits Ansätze dieser geheimnisvollen Gabe entwickelt haben? „Wir haben es aber gern getan!“, beeilte ich mich schließlich zu sagen, ehe ich in meinen Überlegungen noch völlig ins Abseits driftete, „Du musst dich deswegen nicht in unserer Schuld fühlen, Gwri! Eryak en kuolei-…“, wollte ich anfangen zu übersetzen, doch die junge Harpyie schüttelte den Kopf. „Nein, Doktor. Sprich zu mir in eurer Zunge. Ich lerne.“ „Hat dir Ghâlil das überhaupt erlaubt?“, fragte Kurogane doch etwas befremdet, der das eigenbrötlerische, selbstbezogene Leben der Harpyien dieses Landes ja nun etwas besser kannte. Gwri senkte den Blick. „Er sagte Ja und sagte, wo ihr lebt. Aber viele Brüder und viele Schwestern wollten nicht, dass ich gehe. Nicht sehr. Sie meinten: Menschen sind es, Gwri, und… Menschen tun Menschendinge. Bleib und tue Harpyiendinge, so wie wir. Aber ich wollte. Mein Geist wollte folgen. Aber… noch mehr will er, dass er weiß wie du nun dich nennst, großer fremder Mann mit dunklen Augen, der mich rettete.“ Bei dem unwillig überraschten Gesichtsausdruck meines Reisebegleiters musste ich grinsen. „Er heißt Kuro-asa-…“, fing ich fröhlich an, doch der Schwarzhaarige knurrte augenblicklich wie ein angeketteter Hofhund, sodass ich meinen Mund schleunigst wieder schloss. „Kurogane! Und dabei bleibt es auch, verstanden?“ Statt einer Antwort wiegte Gwri ihren Kopf fragend von einer Seite zur anderen. „Kura-… Kuraga…?“ „Kurogane“, brummte mein Leibwächter ungeduldig. „Kur Agama.“ „Kurogane…“ „Kur Agane.“ „KUROGANE!!“ Der Nestflüchter machte große Augen. „Großer Mann, du stöhnst und knurrst wie ein großer schwarzer Bär“, stellte sie erstaunt fest, „Das Beste wird wohl, ich nenne nun dich Schwarzer Bär, Kur Agane, denn es ist ein Bär, dem du verleihst deine Stimme.“ „WAS?!!“, stieß Kurogane hervor, „Auf keinen Fall!! Es heißt Kurogane, und nicht anders, kapiert?!“ „Doktor Fleoratu, ist Schwarzer Bär Kur Agane immer so finster?“ „Man könnte es rundheraus so nennen!“, erwiderte ich fröhlich und erntete eine ganze Salve missbilligender Blicke, „Und was planst du nun zu tun, Gwri, wo du uns gefunden hast?“ Die junge Harpyie dachte eine Zeitlang über diese Frage nach. „Ich plane nun zu helfen“, gab sie schließlich zur Antwort, „Ich plane nun, euch zu helfen bei euren Menschendingen. Nur Harpyiendinge… sind zu verliebt in mich.“ Die Worte waren etwas unbeholfen gewählt, doch ich verstand, was sie ausdrücken wollte – sie wollte neue Erfahrungen machen und sich nicht nur auf die Erfahrungen ihrer Artgenossen beschränken, da sie es für egoistisch hielt. „Wir zwingen dich nicht dazu“, sagte ich erneut, doch sie schüttelte wieder den Kopf. „Ich will.“ Ich warf einen kurzen Seitenblick zu Kurogane. Dieser zuckte nur die Achseln, offenbar schien es ihm – mal wieder- am Gluteus Maximus vorbeizugehen. „Also gut, hör zu, wir machen es folgendermaßen, Gwri“, sagte ich schließlich und sah die Harpyie an, „Du kannst uns gerne helfen, wenn du möchtest. Wir haben hier einen neuen Auftrag gekriegt. Du kannst uns entweder begleiten, oder du wartest bis wir dich rufen und kommst dann.“ „Wie soll das funktionieren?“, erkundigte sich der Schwarzhaarige geringschätzig, „Haben Sie ein Walkie-Talkie oder sowas?“ „Nein, aber eine Gelegenheit findet sich sicher“, entgegnete ich, wobei ich mich nicht von dem verächtlichen Tonfall meines Bodyguards aus der Ruhe bringen ließ, „Unmöglich ist nun einmal nichts!“ „Ich warte, bis ihr mich ruft“, entschied Gwri, „Aber wohin muss ich fliegen, wenn ihr ruft?“ „Stimmt, das wäre sicher nicht schlecht zu wissen!“, stimmte ich zu und öffnete den Telegrammumschlag, „Dann lasst uns mal sehen, was der Auftrag sagt!“ Zu dritt nahmen wir das steife, eng bedruckte Blatt in Augenschein, nachdem ich es umständlich aus dem Umschlag befreit hatte. Es enthielt folgende Zeilen: BITTE WAHREN SIE DISKRETION DIES IST EIN AMTLICHES SCHREIBEN stop Notfall in Betrieb ausgesuchtes Fotomodell schwer erkrankt stop Symptomatik Details Voraussetzungen erst vor Ort nennbar stop Diskretion oberste Priorität stop Bezahlung nach Absprache stop ABSENDER F.I.E.S.-GMBH Assistierender Betriebsmanager Shigeru Tsuzukikatsu INSEL SHIMABOKO „Das ist ja wirklich noch in Kongoseki Oka…“, stellte mein Begleiter fest. Genaugenommen gehörte diese Insel zu den Boko-Inseln, eine Inselgruppe im Mittelmeer, welches den Östlichen und den Westlichen Kontinent trennte. Eigentlich lag sie schon eher an der Küste von Kazan Tou, das Nachbarland von Kongoseki Oka, das eigentlich kein Land an sich war, sondern eine ehemalige Vulkaninsel, die, durch die früher häufigen und heftigen Vulkanausbrüchen, mit dem Festland verschmolzen war. Somit waren der einst nördliche Kontinent, auf dem Ghwen-Elfaer lag und der Östliche mit Kongoseki Oka, Balkjebeeke, Ceria und Noreno zu einem einzigen Kontinent geworden. Das Vulkanland hatte sich immer weiter ausgebreitet, bis die Vulkanaktivität nachgelassen hatte und zog sich nun der Länge nach von West nach Ost über den gesamten Kontinent, während eine schmale Magmazunge ungefähr mittig den Nördlichen Kontinent verband, der jetzt allerdings eher als Nordteil des Östlichen Kontinents bezeichnet wurde. Im Süden gab es ebenfalls noch einige Inselgruppen und einen der kleineren Kontinente, tief im Südosten, der allerdings dem Steppenland angehörte. Aber mich interessierte die Geographie eher weniger – der Absender war durchaus interessanter. Die F.I.E.S.-GmbH war ein Familienbetrieb. Ein ziemlich erfolgreicher sogar. Die Insel gehörte quasi der Firma – sie war nicht sehr groß, aber deswegen eignete sie sich wohl gut. Die Familie hatte sich über Jahrzehnte hinweg ein Fotounternehmen aufgebaut – und das Erfolgsrezept war, dass sie die Fotos schon innerhalb einer Stunde entwickelt hatten. Das schaffte noch kein anderer Fotograf. Fotoapparate waren ebenfalls eine recht neue Erfindung – ziemlich praktisch, da man nicht mehr alles zeichnen musste oder zeichnen lassen musste, allerdings auch ebenso aufwändig und wie so oft teuer. Und oft waren die Fotos verwackelt oder über- beziehungsweise unterbelichtet. Außerdem arbeiteten sie mit vielen der führenden Model- und Werbeagenturen sowie mit einer Druckerfabrik zusammen. Sie verlegten Zeitschriften und Zeitungen und hin und wieder auch Bücher. Speziell die, in die Fotos gedruckt werden sollten. „Fa-…Fotomodoll? Was…sein das?“, fragte Gwri holpernd. Sie hatte anscheinend noch nie von Fotos gehört. War auch nicht verwunderlich. Selbst in Kleinstädten würde man wohl auch auf fragende Blicke stoßen und auf dem Land wahrscheinlich sowieso. „Nun… das ist eine Person, die sich fotografieren lässt. Meistens für eine bestimmte Sache“, erklärte der Arzt und Gwri legte fragend den Kopf schief. „Foto?“ „Das ist ein Bild… aber es wird nicht gemalt, sondern mit einem Apparat gemacht. Wie eine Kopie.“ „Tut…weh?“ Fye lachte freundlich. „Aber nein! Es ist nur kompliziert zu erklären.“ „Es wird eine lichtempfindliche Schicht, die üblicherweise aus winzigen Silberhalogenidkristallen in einer Gelatineschicht besteht, auf ein Trägermaterial, meistens Zelluloid, aufgebracht. Dieser ‚Film’ wird mittels einer Kamera belichtet und danach unter Ausschluss störender Lichteinflüsse entwickelt, sowie anschließend fixiert und damit lichtunempfindlich gemacht. Das ist dann das Foto.“ Fye starrte mich an. Gwri tat es ihm nach. „Was denn?“, fragte ich. Warum reagierte er immer so überrascht, wenn ich mal was erklären konnte? „Du hast ja richtig Ahnung!“, begeisterte sich Fye. „Sag bloß, du hast…“ „Ja… ich hab schon mal in dieser Branche gearbeitet…“ Er sah mich bewundernd an. „Ich war immer nur Arzt...“, sagte er. Irgendwie klang es nicht ganz so glücklich, wie ich es erwartet hätte. „Na und? Solang Sie das können, ist das doch egal“, brummte ich. Gwri nickte eifrig. „Doktor Fleoratu…“ Anscheinend suchte sie nach Worten. „ Kanaahn schtriik-tsa… Das Herz ist wichtig… sehr! Und Ziel auch. Beides zusammen…guter Weg.“ Fye lächelte. Anscheinend hatte er verstanden, was die Harpyie sagen wollte. Und auch ich hatte eine Ahnung, auch wenn sie sich vielleicht unbeholfen ausgedrückt hatte. Dann widmete er sich wieder dem Telegramm. „Das Modell muss aber ziemlich berühmt sein, wenn die so ein Geheimnis darum machen…“, meinte er. Dann grinste er breit. „Genau das Richtige für uns, was, Kuro-rin?“ „Es heißt Kurogane!!“, lamentierte ich müde – es schien sowieso nichts zu bringen. Wir waren auf dem Weg zum Markt, um Proviant und einige andere Dinge zu besorgen. Viel brauchten wir wohl nicht, da es ja nicht sehr weit war. Das Problem war wohl eher, dass wir ein Boot brauchten. Und ein Ruderboot würde da nicht ausreichen… „Ich könnte Clow fragen, ob er uns mitnimmt“, schlug Fye munter vor. „Auf gar keinen Fall!“, protestierte ich sofort. „Ja, aber warum denn nicht? Er würde uns sicher gern mitnehmen…“ Er schaute mich fragend an. „Na ja, wahrscheinlich nicht umsonst, aber… du kannst segeln! Das würde schon reichen, damit er uns mitnimmt, denke ich…“ „Ich werde dieses Schiff nicht betreten“, sagte ich. „Warum denn nicht?“ „Weil es ein Piratenschiff ist!“ „Ja, na und?“ „Na und? Ich will mich nicht wegen Piraterie verhaften lassen.“ Das musste nun wirklich nicht sein, und bei so was würde man sich sicherlich nicht rausreden können. Es war ja schon erstaunlich dass wir noch nicht aufgeflogen waren, weil wir mit ihnen Geschäfte machten. Das war – nebenbei – ebenfalls strafbar. Wir diskutierten über die Möglichkeiten, wie wir nach Shimaboko kommen sollten, bis wir den Markt erreichten. Er schien mittlerweile wirklich verzweifelt an meiner Sturheit. „Wieso bist du nur so uneinsichtig?!“, jammerte er und zupfte an meinem Ärmel wie ein Kleinkind. Ich schüttelte ihn ab. „Ich bin nicht uneinsichtig! Ich bin nur vernünftig!“ „Aber--!“ „Kein Aber! Wenn Sie mir damit nur noch einmal kommen, kündige ich!“, unterbrach ich ihn und er sah mich großen Augen an. „Aber!“, versuchte er es noch einmal. Ich sah ihn drohend an und er hob abwehrend die Hände. „Schon guuut, schon guuut…“ Gwri ließ ein amüsiertes Schnabelklappern über unseren Köpfen hören. „Ihr zwei… gut verstehen, ja?“ „Nein!“, sagte ich. „Aber klar!“, sagte Fye zur gleichen Zeit. „Wooow, seht mal da!“ Fye warf die Arme in die Luft und stürzte los – was auch immer er entdeckt hatte. Irgendwann würde ich noch durchdrehen… Nachdem wir auf dem Markt alles hatten was wir brauchten – oder auch angeblich unbedingt haben mussten – schleppten wir es wieder in Richtung Yuugumo Nomichi 125, sprich meine Adresse, und plötzlich blieb er stehen, als hätte sich spontan eine Mauer vor ihm aufgebaut. „Was ist denn jetzt wieder?“, fragte ich und warf ihm einen genervten Blick zu. Die Sachen, die er mir zum Tragen gegeben hatte waren ziemlich schwer. „Mir ist eingefallen, wie wir nach Shimaboko kommen!“, sagte er und grinste begeistert. Ich verzog skeptisch das Gesicht. „So? Wehe, das ist noch so eine Schnapsidee!“ „Aber nein! Komm schon, ich weiß, wen wir fragen müssen!“ Ohne meine Antwort ab zu warten, wandte er sich an Gwri. „Du könntest schon mal vorfliegen, es ist nicht mehr weit. Die Hausnummer ist 125, das findest du ganz bestimmt.“ Dann beschrieb er ihr noch mein Haus, damit sie auch bloß nicht das Falsche erwischte. Nur würde das ihr auch nicht so viel bringen, denn die Häuser in dieser Gegend sahen sich ziemlich ähnlich. Also schrieb ich ihr schnell auch noch meinen Nachnamen auf, damit sie das Schriftzeichen mit dem auf meinem Briefkasten vergleichen konnte. Mit diesem Haufen an Informationen und den restlichen Einkaufstüten, die sie noch tragen konnte, flatterte die Harpyie davon. Und ich stand mit meinem Arbeitgeber und seiner Schnapsidee alleine da. „Und wen müssen wir fragen?“, fragte ich, schon mit der Erkenntnis, dass ich das eigentlich nicht wissen wollte. „Na, wen wohl – Ten!“ „Den Fusselwurm?!“ „Ja, den Fusselwurm! Oder kennst du noch jemand Anderen, der Ten heißt?“, fragte er und machte sich in die Richtung auf, in der sich das Fusselwurm-Lokal befand. „Und wie soll der uns bitteschön helfen, nach Shimaboko zu kommen? Etwa mit einem Floß aus Fusseln?!“, beschwerte ich mich, während ich ihm folgte. Fye schien das witzig zu finden, denn er fing an zu lachen. „Ich glaube nicht, dass das uns weiterhelfen würde… nein… wir fragen ihn einfach, ob nicht einer seiner Lieferanten, für Gewürze zum Beispiel, an der Insel vorbeikommt, oder in die Richtung fährt. Vielleicht können die uns mitnehmen und dort absetzen! Ten schuldet mir noch so einige Gefallen…“ „Sie schulden ihm auch noch eine Menge Geld“, unterbrach ich ihn, doch er redete einfach weiter. „… und ich denke nicht, dass er mir diesen ausschlagen kann. Und eigentlich tut ja nicht einmal er mir den Gefallen, sondern sein Lieferant. Da hätte ich aber eher drauf kommen können!“ Ja. Hätte er wirklich. Die Idee war zumindest nicht ganz so bescheuert wie seine Erste. Hoffentlich funktionierte sie auch. Denn ich würde wirklich eher kündigen, als auch nur einen Fuß auf dieses Piratenschiff zu setzen. „Ten-kuuun!“, flötete Fye, kaum dass wir das Fusselwurmrestaurant betreten hatten. Ten konnte auch nicht so tun, als wäre er nicht da – weil er augenblicklich herumfuhr, erstarrte, bei Fyes Anblick alarmiert schaute und bei meinem prompt hellgrün erbleichte. „F…Fye-kun…ahahaha… wasse für eine Ehre!“, stammelte er, breitete sechs seiner Arme zur Begrüßung aus, sichtlich bemüht, es auch ernsthaft freudig herüberzubringen. Es misslang ein wenig. Aber ehrlich gesagt, konnte ich das durchaus nachvollziehen. „Wasse führt dich hier her, eh?“, fragte er und wackelte hinter den Tresen. Dabei huschten seine Blicke immer zu mir hinüber. „Willsu mir meine Geld zurückzahlen, heh?“, wagte er es doch hoffnungsvoll zu fragen, allerdings sehr leise. „Sage mir bitte nicht, dasse du gekomme bist, um noch mehr Geld zu fordern!“ Fye schien das alles gar nicht zu bemerken, sondern lehnte sich nur grinsend an die Theke, um sich ein wenig vorzubeugen. „Aber nein, Ten-kun!“ Der Fusselwurm seufzte erleichtert. „Gut! Denne ich werde dir nichtse mehr leihen!“ „Aber ich hätte eine Bitte! Wir müssen unbedingt nach Shimaboko! Sag mal, fährt dort zufällig ein Lieferant von dir vorbei, der uns dort absetzen könnte?“ „Eh…ich nicht wisse…“, meinte der Inhaber. „Vielleichte…“ „Würdest du nachschauen? Deine Gewürze… sie kommen teilweise aus Ghwen-Elfaer, oder?“ Das war nicht einmal eine Frage, sondern eine Feststellung. „Ehhh… jaaa….“, meinte Ten gedehnt. „Ich schaue nach, eh?“ „Natürlich, tu das.“ Fye lehnte sich noch ein wenig weiter vor und tuschelte ihm – laut genug dass ich es allerdings auch noch mitbekam –, während er auffällig unauffällig in meine Richtung deutete zu: „Aber denk an seinen Geduldsfaden….der leidet in letzter Zeit wieder so…..“ Ten keuchte auf, bevor Fye den Satz beendet hatte und verschwand blitzschnell im Hinterzimmer, in dem er eine Weile zu kramen schien, bis er mit einem dicken, in abgegriffenes Leder eingeschlagenen Wälzer wiederkam und ihn aufschlug. „Ahhh… hier eh? Heute mittag… da kommte Matz und bringte mir neue Ladung Kräuter. Frage den, eh?“ „Oh, danke, Ten-kun! Du bist meine Rettung!“ Fye klopfte ihm überschwänglich auf die fusselige Schulter. „Ich bin dir was schuldig!“ „Si, sechsundzwanzigtausendsiebenhundertunddreizehn Transkos!“, war die Antwort. Ein typischer Nachmittag an den Ankerplätzen Uranoke Shos. Für so manchen Touristen, Lakai, Matrosen oder Seemann bedeutete dies ein vielfarbiges, multikulturelles Treiben aus unzähligen Frachtern, Kuttern, Fähren, Schiffen und Fischerbooten, in dem man selbst mit den ungewöhnlichsten Wünschen etwas Verwendbares aus dem förmlich überquellenden Warenangebot herauspicken konnte, egal ob man marinierte Riesenschnecken im Glas suchte, fließend feine Stoffe aus Musselin und Azetatseide von den südlichen Kontinenten, Schuhe aus Perlmutt und Seegras, Säcke voller Nachtigallenzungen, eigens für Straußenspiegeleier angefertigte Pfannen, Schnauzenbalsam gegen Wildschweinherpes, Ketten, deren Perlen so groß wie der Kopf eines Menschensäuglings waren, kleine Hunde, Kätzchen in allen Farben, die sich maunzend in der Mittagssonne balgten, bunt durcheinanderflatternde Vögel in hölzernen Käfigen, deren Federkleid den Anschein eines Farbkastens erweckte, der das Fliegen gelernt hatte, wallende Kleider, Togen, Tuniken, Kimono… Kurzum: es war für jeden Geschmack etwas dabei. Die umtriebige Geschäftigkeit, dieses Überquellen des Lebens in all seinen Farben am nahen Hafen, bedeutete für einen Bewohner von Uranoke Sho jedoch anscheinend nichts als eine Hypertrophie der nervlichen Belastung. Und so wie es aussah, bekam ich just jenen Fakt heute am eigenen Leib zu spüren. „… Und Sie sind sich sicher?“ Ich rollte seufzend mit den Augen und schulterte meinen bis zum Gehtnichtmehr mit Medikamenten, Heilkräutern, Toilettenartikeln und meinem geliebten Chirurgenbesteck vollgepfropften Rucksack neu. „Gwri hat es uns selbst versichert, falls du dich erinnerst“, versuchte ich meinen – wie so oft missgelaunten – Reisebegleiter zum gefühlten tausendsten Mal zu beschwichtigen und wich höflich einer Gruppe Wüstenwachteln aus, die sich lauthals schnatternd mit einem Stadtplan auseinandersetzten, „Sie bleibt bei uns zuhause und passt auf das Haus auf, bis wir wieder zurück sind! Du tust ja direkt, als hätten wir uns den leibhaftigen Luzifer ans Bein gebunden…“ Die Augenbrauen des Schwarzhaarigen hoben sich bedenklich. Für einen Moment verharrten sie fast schüchtern in den oberen Breitengraden seiner Stirn, ehe sie sich in exekutionshaft anmutender Radikalität wieder nach unten senkten. Ich hatte bereits festgestellt, dass es mir ein gewisses Vergnügen bereitete, die kurvenreichen Wanderungen seiner Brauen zu beobachten, doch leider war es eine nur allzu kurze Verlustierung, da auf solch eine Wanderung meistens eine gesalzene Schimpftirade folgte. „Bei uns zuhause?“ „Na schön, na schön, bei dir zuhause“, korrigierte ich mich seufzend, um den Vulkan am Ausbrechen zu hindern, und ließ schicksalsergeben die Schulter nach unten sacken, „Ist es dir denn derartig zuwider, dass wir sie damit beauftragt haben, ein Auge auf das Haus zu haben, während wir auf Shimaboko sind?“ „Wir sie damit beauftragt?“ „Na gut, also fein, ich sie damit beauftragt!“ Allmählich litt auch mein Geduldsfaden unter einer gewissen Abbreviation, oder wie Wissenschaftler sagen würden, unter einer Verkürzung. „Du legst wieder äußerst pestilenzialische Verhaltensweisen an den Tag, mein Lieber!“, warnte ich ihn daher mit energisch erhobenem Zeigefinger, „Hör zu, wir haben gemeinsam entschieden, dass Gwri während unserer Abwesenheit dafür sorgt, dass unserem Haus nichts zustößt, und ebenso haben wir entschieden, dass wir mit der Unterstützung von Ten-kuns Geschäftsfreund Matz nach Shimaboko gelangen! War das jetzt genug erste Person Plural, Herr Hochwürden Majestät Motzpräsident?“ Statt einer Antwort schnappte sich Kurogane nur mit einem langgezogenen Seufzen den Fresszettel aus der Hand, auf den uns Ten-kun in aller Eile die wichtigsten Dinge aufgeschrieben hatte, die wir wissen mussten. „Wo müssen wir überhaupt hin?“ „Ha!! Aha!!“, triumphierte ich augenblicklich, „Du hast wir gesagt!“ „Kein Wunder, nach der grammatischen Gehirnwäsche“, brummte der Schwarzhaarige und überflog unter gerunzelter Stirn das fahrige Gekritzel unseres Fusselwurmfreundes, „Hat er überhaupt einen Namen?“ „Wer?“, fragte ich ahnungslos. „Na, er!“ „Wer er?“ „Der Kutter, Sie Pillendreher!“ Ungeachtet dieser höchst unqualifizierten Beleidigung nahm auch ich das Gekrakel in Augenschein, das Ten uns als Informationsgehalt mitgegeben hatte. Laut ihnen zeichnete sich der Kutter seines Geschäftsfreundes Matz Zenko als Träger des Namens ‚Otter‘ und pflegte an den vieldockigen Kais der Hafenstraße anzulegen, gar nicht weit von der kaputten Straßenlaterne, die die Stadt noch immer nicht gegen eine Neue eingetauscht hatte… Noch während ich diese Zeilen las, spürte ich unwillkürlich, wie sich ein kleines Lächeln auf meinen Lippen formte. Mein Leibwächter registrierte es ebenfalls und sah mich fragend an. „Was ist?“ „Ich glaube, ich weiß, wo wir hinmüssen!“, gab ich fröhlich zur Antwort und fasste ihn kurzerhand am Ellenbogen, um ihn im Steilflug quer durch die belebte Masse hinter mir herzuzerren, „Es ist gleich dort vorne! Komm!“ Kuroganes Augenbrauen schnellten sichtlich skeptisch nach oben, doch ich lächelte nur. Wie sollte ich den Ort vergessen können, an dem wir uns zur ersten gemeinsamen Arbeitssuche verabredet hatten? Ich vergaß niemals einen Ort, an dem ich je gewesen war. Eine Tatsache, die mir auch heute noch sowohl Freude als auch Magendrücken zu bereiten verstand. Es war eine Angelegenheit von lediglich zehn Minuten, bis wir uns erfolgreich aus dem geschäftigen Alltagspulk herausgewühlt, die betreffliche Straßenlaterne erreicht und die von Meereswasser und Algen glitschige Steintreppe an der Promenadenbrüstung hinabgestiegen waren, wo uns die langen, hölzernen Planken des Piers mit ihrem sanften Schwanken im ruhigen Auf und Ab des Wellengangs empfingen. An ihren Seiten waren in gleichmäßigen Abständen entweder Signalbojen, Rettungsringe oder kleinere Fischer- und Transportboote vertäut, und an der viertletzten Planke von außen war-… „Hallohooooh!“, juchzte ich augenblicklich und schwang zum Winken beide Arme wild in der Luft herum, sodass mein Leibwächter augenblicklich in Deckung gehen musste. Der tief maronenfarbene, gut drei Meter lange Fusselwurm, der bis eben noch damit beschäftigt war, mit einem tüchtig mit rutschfester Seife eingeriebenen Wurzelbesen den Pierboden zu schrubben, drehte sich bei meinem Zuruf schwungvoll zu uns um und kam unter Zeichen der verhaltenen Neugier näher. Und der grobe, hölzerne Kahn mit dem doppelt mannshohen Schleppmast, der keine zwei Meter weiter weg vertäut lag, konnte nichts anderes als die ‚Otter‘ sein. „Aah! Hiere Sie nun vielemehre endgültige seie!“, begrüßte uns der Fusselwurm mit weit ausgebreiteten Beinpaaren, wobei sein pompöser Fusselbart bei jeder Lippenbewegung erzitterte, als würde er frieren, „Iche Sie habe bereits erwarte! Ihre Name seie Doktore Fye de Flourite und Kurogane Koimihare, isse nicht wahr? Und Sie seie Geschäftefreunde meines gutes Freundes Ten, isse nicht wahr?“ „Das ist es in der Tat!“, bekräftigte ich fröhlich und schüttelte die – zum Glück schmierseifenfreie – Pfote, die mir angeboten wurde, „Und Sie müssen demzufolge Matz Zenko-san sein!“ Der Fusselwurm nickte und beförderte mit einem gezierten Zucken seiner gewaltigen Schnobernase die halbmondförmige Brille, die seine bernsteinfarbenen Augen unnatürlich vergrößerte, an ihren richtigen Platz zurück. „Isse vollkommene richtig! Fühle Sie siche so frei, miche Matz zu nenne! Ten habe mir bereits vor wenige Minute gesagt, dass Sie baldigst komme werde, um zu gelangene nach Shimaboko, isse nicht wahr?“ „Absolut korrekt!“, bestätigte ich keineswegs verwundert – die Tratschsucht meines alten Geschäftsfreundes Ten war eben ein nicht zu unterschätzender Informationsfaktor –, „Ich hoffe doch, dass Ihnen das keine Umstände bereitet?“ „Aber keineswegse!“, beschwichtigte uns Matz sofort und führte uns mit wichtiger Miene über den Pier zu dem dort vertäuten, breitbauchigen Kutter, „Miche und meine Otter sinde mehr alse froh, Ihne helfe zu könne, vorausgesetzte Sie mache keine Blödsinn währende der Fahrte!“ Für meinen Leibwächter konnte ich nun wirklich nicht sprechen, dennoch nickte ich. „Wir werden unser Möglichstes tun, Ihnen nicht im Wege zu stehen.“ „Dasse freute mich. Es gibte jedoch eine winzkleinige Probleme“, erklärte unser Geschäftspartner in spe Ernst und strich sich über den fusseligen Schnauzer, „Meine Befugnisbereiche füre den Kaiyonnobannan endete bereitse eine bis zwei Kilometer vor Shimaboko, da ich, wie Sie vielleicht bereitse wissene, meine Lieferwege inne die nördliche Gewässer einschlagene. Und deshalb-…“ „Na wunderbar!“, fiel Kurogane ihm patzig ins Wort und funkelte ihn finster an, „Ein bis zwei Kilometer, selten so einen Blödsinn gehört! Wir sollen die restliche Strecke bis nach Shimaboko wohl schwimmen, was?“ Es gelang mir nur schwerlich, das Seufzen meiner Resignation angesichts Kuroganes Verhalten abzudämpfen, während Matz vor verletztem Stolz anschwoll wie ein Ballon, den man mit Teppichfransen beklebt hatte. „Ahhh!! Das isse ja kaum zu glaubene, Sie bösgemeine Ignorante! Iche wollte doch gerade sage, dass es eine Lösung gebe!“, empörte er sich und warf beleidigt den Kopf in den Nacken, „Ich wollte gerade sage, dass seit mehrere Woche etwa eine bis zwei Kilometer vor Shimaboko eine große, überaus stattliche Schiff ankere! Ich beabsichtige, Sie dort abzusetze, damitte Sie von dorte aus Shimaboko endgültige erreiche könne! Oder isse das etwa nix, häh?!“ Rasch ging ich dazwischen, ehe mein Bodyguard eine unnötig bissige Antwort zurückbellen konnte. „Aber gewiss ist das etwas!“, versicherte ich eilends im überzeugendsten Ton des Geschäftseifers, „Auf jeden Fall ist es eine gute Alternative! Wissen Sie möglicherweise, was genau auf diesem Schiff vor Shimaboko vor sich geht?“ „Nichte genau“, gab Matz zu, „Aber auf jede Fall seie es groß und überaus stattlich. Und nun folge Sie mir, Zeite iste Gelde, und Gelde iste Zeite!“ Nun ja. Besser als nichts. Mein übellauniger Kompagnon schien das jedoch anders zu sehen und motzte solange halblaut irgendetwas von wegen dreimal verfluchten Fusselwurmgeschäften und höllischer Schinderei, bis Matz ihn mit einem Silberblick beschoss, bei dem sogar er sich wieder zum Schweigen bequemte. Die Liebe auf diesem Pier war so deutlich zu spüren, dass es mir nahezu die Socken auszog. Diese Gedanken verzogen sich jedoch glücklicherweise wieder ins Abseits, als ich das Wassergefährt näher in Augenschein nahm, mit dessen Hilfe wir näher an unseren Zielort gelangen sollten. Wie alle Kutter besaß die ‚Otter‘ eine pfeilgerade, scharf geschnittene Rumpfform, die sich am Bug zu einem steilen, fast senkrechten Vorsteven – die vordere Rumpfverlängerung – aufwölbte und dem ansonsten truthahnhaft plumpen, schwerfälligen Schiffskörper die nötige Wendigkeit verlieh, um sich auch auf hoher See behaupten zu können. Da die Tide heute sehr gleichmäßig kam und ging und der Seegang für die Maienzeit erstaunlich still ausfiel, war nur eines der schweren, gischtfleckigen Rahsegel am wichtigsten und einzigen Mast, dem Schleppmast, gehisst und blähte sich zuweilen leicht in der warmen Brise. Der gesamte Rumpf des Kutters sowie die kleine, windschiefe Führerkabine und der Treppengang in den Schiffsbauch waren fleckenhaft weiß getüncht, bis auf die schmalen roten Schriftzeichen rechts Backbord, die ihm seinen Namen verliehen. Nicht gerade ein Luxusdampfer, aber auf jeden Fall ausreichend. „Man möchte bitte an Deck zu komme!“, ließ Matz hören und stieg gekonnt über die hölzerne Planke an Deck. Wir folgten kurzerhand seinem Beispiel. „Würde es Ihne etwasse ausmache, die Leine loszumache, wenn wir-…“, fing der maronenfarbene Fusselwurm an Kurogane gewandt an, doch auch diesmal ließ dieser ihn nicht ausreden. „Ich weiß, wann man die Leinen loszumachen hat“, erwiderte er ungerührt, „Falls ich es vor lauter Estragon nicht vergesse.“ Irgendwie hatte ich es mir bereits denken können, dass ihm der auffallende Kräuter- und Gewürzgeruch, der wie eine unsichtbare Glocke über dem Kutter hing, sauer aufstoßen würde, doch hätte er bescheidentlich angemerkt gar nicht viel Anderes erwarten können, wenn Ten uns den Kutter bereits als ‚Gewürzkutter‘ beschrieben hatte. Der beizende, appetitstimulierende Geruch von Estragon, Kardamom und schwarzem Pfeffer überwogen, doch es waren auch leichte Nuancen von Koriander, Zimt und Luzerne in dem wilden Durcheinander von Gewürzdüften wahrzunehmen. „Aaaahh!! Sie!!“, keifte Matz sofort wieder los, der die Bemerkung meines Leibwächters freilich nur als Beleidigung auffassen konnte, „Sie habe keine Ahnunge, welche Kostbarekeite iche hier mitte mir transportiere! Diese Gewürze betreibene eine gesamtene Gastronomie! Dasse iste infame! Dasse, dasse, dasse-…!!“ „Dessen sind wir uns vollstens bewusst“, lenkte ich ein und lud mit unternehmungslustigem Klatschen zum Aufbruch ein, „Und daher würde ich doch vorschlagen, dass wir nun die Leinen losmachen und das Meer uns leiten lassen!“ „Leinen sind schon los“, brummte der Schwarzhaarige abfällig und hielt demonstrativ das dicke Tau hoch, das bis eben noch an einem der Täuknäufe des Piers befestigt gewesen war. Matz warf ihm einen giftigen Blick zu und marschierte hoch erhobenen Hauptes in die Führerkabine, um das Steuerrad zu übernehmen. „Ganze rechte! Leine lose! Und gute festhaltene, vor allem Sie!“ Trotz meines Missmuts konnte ich deutlich spüren, wie sich der Schiffsrumpf unter unseren Füßen unter hohlem, knarrenden Ächzen und Stöhnen allmählich, von dem sanften Wind angetrieben, in Bewegung setzte. Na also. Shimaboko, wir kommen. In meinem Nacken spürte ich Kuroganes vorwurfsvollen Blick und wandte mich fragend zu ihm um. „Was gibt es?“ „Bis nach Shimaboko auf einem Gewürzkutter!“, schimpfte der Schwarzhaarige, „Die Idee kann nur von Ihnen gewesen sein! Und wehe, ich höre jetzt erste Person Plural!“ Gegen meinen Willen musste ich grinsen und schenkte meinem muffeligen Wegbegleiter einen treuherzigen Blick, während die Planken des Piers zunehmend weit hinter uns blieben. „Aber aber, Kuro-wan, bedenken Sie die Alternativen! Entweder können wir auf einem Gewürzkutter nach Shimaboko fahren, auf dem es aus unerfindlichen Gründen nach Gewürzen riecht, oder Sie freunden sich mit einem Delfin an und legen den Rest der Strecke schwimmend zurück! Na, wie klingt das?“ „Arrrrrrrrrrrrgh!!“ Erbost wirbelte mein Bodyguard herum und stieg, wie um seine Ruhe vor mir zu haben, kurzerhand die Treppe in den plumpen Bauch der ‚Otter‘ hinab. Ich ließ es geschehen und sah ihm fröhlich hinterher. Es mochte auf dieser Fahrt kommen, was wollte – fest stand, dass dank mehreren Pfund Estragon, Koriander, Kardamom und Zimt nun auch in dieser Gleichung das ‚wir‘ eindeutig dominierte. Kapitel 18: Oodinium Pillularis - 2 ----------------------------------- Später Nachmittag. Der Himmel wölbte sich über uns. Unendlich blau, unendlich weit. Die Sonne flutete über ihn hinweg wie gleißendes Silber, sammelte sich in den blendend weißen Wolkenbergen, die wie gewaltige Schiffe auf windgeblähten Segeln stolz über das Firmament zogen, und warf ein perlendes, tausendfacettiges Glühen über die spiegelglatte, azurblaue Oberfläche des Ozeans. Die ganze Welt über uns und unter uns. Der hohe und der tiefe Himmel, nur getrennt durch das unsichtbare Band des Horizonts. Und zwischen diesen Extremen die Welt, unser Boot und wir. Heute gehörte das Meer uns allein. Alles war, wie es sein sollte. „Dooooktooooor!!“ Naja. Zumindest fast alles. Seufzend richtete ich mich von dem frisch geschrubbten, harzduftenden Deck des gemütlichen kleinen Gewürzkutters auf – und wurde wenige Augenblicke später bereits fast von Matz erschlagen, der sich über mich warf, als ginge es um sein nacktes Überleben. Was in sich eine korrekte Annahme war, da noch im selben Sekundenbruchteil etwas, das einer großen hölzernen Tonne nicht unähnlich war, dicht über unsere Köpfe hinweg zischte und unter tosendem Klatschen im Meer landete. „Sie! Siiiiiiiiiiiiiiiiie!!“, kreischte Matz sofort hysterisch und schüttelte wütend sein vorderstes Paar Fäuste in Richtung Achterdeck, ohne sich aus seiner – für mich doch etwas unkomfortablen – Position herauszubewegen, „Ich werde Sie lehre, Tonne nach mire zu werfe, eh!! Dasse war hochexquisite Estragone, der Beste in ganze Kongoseki Oka! Schande, dasse!!“ Als ich als Antwort nur ein undefinierbares Ächzen hören ließ, sah unser kastanienfarbener Kapitän ein, dass es meiner Atmung möglicherweise nicht sonderlich zuträglich wäre, wenn er mich weiterhin unter seinen unzähligen Arm- und Beinpaaren begraben ließ und rückte von mir ab, sodass ich mich aufsetzen konnte. Gerade rechtzeitig, um Kurogane auf das Hauptdeck herabsteigen zu sehen, am Ende seiner Nerven und wütend wie eine Wespe. „Ich werfe nur unnötigen Ballast ab!!“ „Waaaaaaaaaaasse?!“ „Haben Sie es etwa immer noch nicht kapiert?!“, fauchte mein Leibwächter erbost, während er dicht vor unserem Übersee-Chauffeur zum Stehen kam und ihm einen Zeigefinger in die fusselige Brust stieß, „Dann sage ich es Ihnen nochmal ganz langsam!! Dieses – Schiff – stinkt!! Und nun tun Sie endlich etwas dagegen!!“ „Waa--?!! Höre Sie, Doktor, wie miche diese Schuft beleidigt?!“, japste Matz auf das Tödlichste verletzt, „Sage Sie ihm, er solle aufhöre!!“ „Dann sagen Sie ihm, dass er etwas gegen den Gestank auf seinem Schiff tun soll!!“, feuerte der Schwarzhaarige zurück. „Sage Sie ihm, dasse er siche dasse sonste wohin stecke kann!!“ „Sagen Sie ihm, dass er ein Idiot ist!“ „Sage Sie ihm, dass iche zahllose bessere Beleidigunge kenne!! Idiote, wie einfallslose!“ „Sagen Sie ihm, er soll sie ausspucken, diese zahllosen besseren Beleidigungen!!“ „Sage Sie diese, diese-… Superidiote, dasse ich dasse mit Freude tue werde!!“ Ich wagte es nicht, die Stimme zu erheben, sondern klopfte nur geduldig die dunklen Fusseln von meiner Hose und wartete, wenn auch vermutlich umsonst, darauf dass meine beiden Kompagnons von allein in ihrem zweifelhaften Disput innehielten. Seit wir von Uranoke Sho aufgebrochen waren, um uns mit Matz‘ Hilfe möglichst nahe Richtung Shimaboko vorzuarbeiten – und das war nun immerhin schon zwei Tage her – schienen sich er und mein Leibwächter unter der Hand den Krieg erklärt zu haben, denn es vergingen keine zwei Stunden, ohne dass sich die Beiden in die Haare gerieten, und das hauptsächlich wegen des strengen Odeurs nach Kräutern und Gewürzen, das der Kahn Tag und Nacht in die Atmosphäre hinaustranspirierte. Ich persönlich hatte keine nennenswerten Probleme damit, doch im Gegensatz zu mir schien Kurogane eine regelrechte Phobie gegen Fusselmwurmkost und deren Ingredenzien entwickelt zu haben – kein Wunder also, dass ihn das Gewürzaroma auf diesem Kutter richtiggehend rasend machte. Eine Gefühlsregung, die von Matz ebenso herzlich erwidert wurde. Oh ja, die Liebe auf diesem Kahn war deutlich zu spüren. „… Nun, meine Süßen, wie wäre es, wenn ihr euch nun die Hand gebt und es gut sein lasst?“, erkundigte ich mich nach einer geraumen Weile, in der sich Kurogane und Matz geradezu peinlich kindische Beschimpfungen an den Kopf geworfen hatten, und schenkte ihnen mein schönstes Lächeln, „Seht mal, wir sind nun schon fast an unserem Zielpunkt angelangt, sollten wir da nicht zumindest in Freundschaft auseinanderge--…“ „Freundschaft, dass ich nicht lache!“, schnaubte Kurogane augenblicklich erbost, „Haben wir überhaupt einen Grund, diesen Superidioten als unseren Freund zu betrachten?!“ „Aber ja“, erwiderte ich sachlich und deutete gen Horizont, „Deswegen.“ Das genügte bereits, um die beiden Streithammel herumwirbeln und meinem Fingerzeig folgen zu lassen. Noch während sie in ihren Streitereien sämtliche Variationen bemüht hatten, die im entferntesten Sinne mit ‚Idiot‘ zu tun hatten, war bereits unser Zielpunkt langsam und allmählich am Horizont aufgetaucht – das Schiff. Es lag mitten auf dem Ozean vor Anker und machte, Matz‘ Beschreibung entsprechend, wirklich einen sehr ‚großen und überaus stattlichen‘ Eindruck. Es war ein mächtiger Zweimaster mit ausladenden weißen Segeln, die im Moment jedoch nicht gesetzt waren, sondern sich wie lose Riesenfallschirme in der ruhigen Mittagsbrise bauschten und bewegten. „Sehen Sie mal, die Gallionsfigur!“, rief ich überrascht aus und bearbeitete fleißig den Arm meines Bodyguards mit dem Zeigefinger, „Es ist ein Abbild von Philius Argundus Sentas! Das kann nur bedeuten, dass es sich um ein Schiff von einer Organisation für marine Forschung handeln kann!“ Auf solch einem Schiff war ich während meiner jüngeren Jahre bereits zu Gast gewesen. Wenn ein Übersee-Trupp von Marinforschern hier vor Anker lag, konnte das nur bedeuten, dass hier etwas sehr Vielversprechendes entdeckt worden war. Meinen Leibwächter schien das jedoch nicht gerade aus den Socken zu hauen. Mit einem undefinierbaren Brummlaut wischte er meine Hand beiseite. „… Dann gehe ich unsere Sachen holen.“ „Matz, wenn Sie in der Zwischenzeit so freundlich sein könnten und versuchen, so nahe wie möglich an das Schiff heranzukommen?“, bat ich unseren Kapitän, „Allem Anschein nach handelt es sich um Zunftsbrüder meiner Fakultät, dort werden mein Partner und ich gewiss nicht auf Ablehnung stoßen. Und zum Dank für Ihre Unterstützung zweigen wir zehn Prozent unseres Honorars für Sie ab, einverstanden? Wir übergeben es Ten-kun, er soll es Ihnen persönlich aushändigen.“ Matz machte Augen wie Spiegeleier, doch seine arttypische Freude an schnellen Geschäften überwog schließlich doch, sodass er eifrig nickte und mir mit seinem vordersten Beinpaar beide Hände gleichzeitig schüttelte. „Die Firma dankte, Doktor! Endliche jemand, der mir den nötige Respekte erweise! Ten-kun hatte Rechte, Sie sinde in der Tate eine ehrliche Haute! Also gute, heranmövriere, heranmanövriere…“ Von der Aussicht auf Profit restlos beseelt – nur gut, dass Kurogane nichts davon mitbekommen hatte – zwängte er sich in die Kapitänskabine und drehte schwungvoll am Steuerrad. Wie ein großes, geschmeidiges Tier glitt die ‚Otter‘ durch das warme, von der Sonne tausendfach reflektierte Wasser immer weiter auf das pompöse Forschungsschiff zu. Sentas XIV stand in großen, weithin sichtbaren Schriftzeichen auf dem breiten Bug. „Sentas XIV?”, las Kurogane sichtlich befremdet, der soeben mit unserem sämtlichen Reisegepäck im Schlepptau an die Reling zurückgekehrt war, und sah mich fragend von der Seite an, „Klingt mir verdächtig nach Ihrer Universität, Doc.“ „Hundert Punkte!“, bestätigte ich fröhlich, „Dieses Schiff hier gehört der sogenannten Sentas-Reihe an, die aus einer finanziellen Kooperation zwischen Gakoshida und Yakitaito entstanden ist! Die Schiffreihe – es gibt bisher insgesamt zwanzig Exemplare davon – soll dem Zweck der maritimen sowie submarinen Forschung dienen. Und mal ganz unter uns, welcher Name eignet sich da besser als der unseres lieben Philius Argundus Sentas?“ „Stimmt“, brummte der Schwarzhaarige und kratzte sich im Genick, „Wenn die hier auf dem Meer herumforschen, haben die sicher was Heißes entdeckt. Ein Beiboot können die sich sicher für uns entbehren.“ „Hoffen wir es! Heeeeeeeeyy!!“, jodelte ich vergnügt in Richtung Reling hinauf, nachdem sich die ‚Otter‘ an die Seite der ‚Sentas XIV‘ geschmiegt hatte wie ein Schiffshalter an die Finne eines Grauwals, „Haaaaalloooooh! Meine Herren! Meine Herren! Ein Zunftsbruder bittet um Einlass!“ Wie um mein Rufen zu unterstützen, betätigte Matz von seiner Kabine aus das Kutterhorn. Zwei dumpfe, stöhnende Hornsignale quälten sich aus dem engen Lautschlot der ‚Otter‘ hervor wie aus dem Rachen eines Kamelbullen und verloren sich in der wohlig warmen Mittagsluft. Keine zwei Minuten später tauchte an der Reling auch schon eine menschliche Gestalt auf. Sie – oder besser gesagt er – besaß von Wind und Wetter sichtlich zerzaustes, hell maronenfarbenes Haar, ein gutmütiges Gesicht mit auffallenden Lachgrübchen an beiden Wangen, und aufmerksame, von einer randlosen Brille umrahmte kastanienbraune Augen. „Ah, sieh an, wir haben Besuch?“, stellte er gut gelaunt fest und warf uns einen Wink zu, „Guten Tag, meine Herrschaften! Womit kann ich Ihnen an solch einem schönen Tag behilflich sein?“ „Guten Tag, der Herr!“, rief ich fröhlich zurück, „Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sind wir nur zwei bescheidene Figürchen auf Reisen, die sich von einem Zunftsbruder der Sentas-Universität für eine halbe Stunde Asyl auf diesem prächtigen Schiff erhoffen!“ Der bebrillte Pfiffikus an der Reling lachte. „Nun, wenn es nichts weiter ist? Für einen Zunftsbruder habe ich immer ein paar Tampen übrig! Wartet nur einen Augenblick, ich werfe es Ihnen gleich hinunter!“ Geschäftig begann er in einer der ausladenden Kisten zu wühlen, die unter den hölzernen Stufen lagen, die zum Achterdeck hinaufführten. „Nun! Iche sagte doch, dasse Sie hier mit Freude aufgenomme werde!“, brüstete sich Matz, der sich in der Zwischenzeit wieder zu uns gesellt hatte, „Wenne Sie miche nichte gehabt hätte, also ich wüsste nichte-…!“ „Wir genauso wenig, mein lieber Matz!“, versicherte ich unserem fussligen Kapitän strahlend und schüttelte beseelt seine rechte oberste Pfote, „Sowohl mein Gefährte als auch ich bedanken uns sehr für Ihre Unterstützung!“ „Hmmmhnh“, brummte mein Leibwächter nur dumpf und ließ sich gnädigerweise zu einem Nicken herab. Wenige Minuten später schlängelte sich auch schon ein dicksträngiges, starkes Tau von der Brüstung der ‚Sentas XIV‘ bis zu unseren Füßen hinab. „Immer nur herauf mit Ihnen!“, rief unser bebrillter Gastgeber von oben. Ohne zu zögern griff Kurogane nach dem Strang und wollte sich daran hinaufziehen. „Ha-halt, Kuro-pyon!“ „Was ist denn nun schon wieder?!“, bellte er ungeduldig über seine Schulter hinweg. Ich scharrte verlegen mit meiner Fußspitze auf der Suche nach imaginären Staubfusseln auf dem blank gewienerten Holzboden der ‚Otter‘ herum. „N-nun, ähh… um ganz ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie man einem Tau hochklettert…“ „Was?!“ „Hey, es kann immerhin nicht jeder so ein Tausendsassa sein wie du!“, verteidigte ich mich gekränkt, „Wenn ich auf ein Schiff wollte, wurde ich bisher immer hochgezogen! Wie eine Zikade an einem Strohhalm, um dir eine Vorstellung zu geben!“ Mein Reisebegleiter schien von diesem geistreichen metaphorischen Wortspiel nicht sonderlich viel zu halten, denn er stieß ein Knurren aus, ließ das Seil wieder los und stellte sich breitbeinig vor mir in Position. „Dann nehme ich Sie Huckepack. Na los, machen Sie schon.“ Dieses Angebot klang schon besser. Rasch schulterte ich meinen Rucksack neu, schwang mich auf Kuroganes Rücken und schlang Arme und Beine um ihn. „Aufhören!! Sie drücken mir die Luft ab!!“, protestierte er augenblicklich. „Besser als dass ich baden gehe, oder?“, entgegnete ich, „Und jetzt hüh, mein Kuro-Pferdchen! Oder sollte eher sagen mein Kuro-Kletteräffchen?“ Statt einer Antwort grollte der Schwarzhaarige nur eine halblaute Verwünschung in sich hinein, schnappte sich das Seil und begann daran aufwärts zu klettern. „Viel Glück auf Ihrer weiteren Reise, Matz!“, rief ich unserem Kapitän noch über die Schulter zu, „Wir werden an Sie denken!“ „Ebeso, ebeso! Und viele Erfolge auf Ihre Missione!“ „Besten Dank!“ Während sich die ‚Otter‘ unter uns allmählich wieder in Bewegung setzte, zog sich Kurogane in gleichmäßig kraftvollen, routinierten Bewegungen an dem Saligentau empor. „Hyuuu, hyuuu! Es geht aufwärts! Es geht aufwärts!“, jubilierte ich aufgeregt. „Klappe halten!“ „Dasselbe muss es sein, auf den Fittichen eines Engels getragen zu werden!“ „Fresse!!“, keifte der Schwarzhaarige gereizt und überwand mit gefletschten Zähnen die letzten Meter, nahm beim Aufstieg auf die Reling jedoch ein wenig zuviel Schwung, sodass er an der glatten hölzernen Brüstung abrutschte und wir beide in einem einzigen Knäuel aus Armen und Beinen mit Getöse auf Deck aufkamen. „Hyuuuu! Kletterst du immer so, Kuro-Kletteräffchen?“ „Klappe halten!!“, fauchte er zurück und schüttelte mich unbarmherzig ab, ehe er sich erhob und nachdrücklich den nicht vorhandenen Staub von den Kleidern klopfte. Unser beherzter Kontaktmann, der der ganzen Prozedur sichtlich interessiert zugesehen hatte, half mir auf die Beine und schüttelte mir bei der sich bietenden Gelegenheit sogleich die Hand. „Alle Achtung, vom gemeinschaftlichen Klettern verstehen Sie was!“, lobte er freundlich, wobei er ein kleines schalkhaftes Zwinkern nicht unterdrücken konnte, „Fujitaka Li mein Name, Gratia Honore –Dozent in submarinen Wissenschaften an der Philius Argundus Sentas-Universität, jedoch hauptberuflich Maritim- und Submarinforscher im Auftrag Gakoshidas und Yakitaitos“, informierte er uns herzlich, „Aber fühlen Sie sich doch so frei und sagen Sie Fujitaka zu mir, wo man hier doch unter Zunftsbrüdern ist, wenn ich das von meinem luftigen Beobachtungsposten aus richtig verstanden habe!“ „Völlig richtig“, bestätigte ich mit einem Lächeln und erwiderte den Händedruck, wobei ich versuchte, mich nicht über seinen Nachnamen zu wundern – hatte ich den nicht schon irgendwo gehört…? „Es ist uns eine Freude, Fujitaka-san! Mein Name ist Fye de Flourite, ebenfalls Gratia Honore- Dozent an besagter Universität und hauptberuflich Auftragsarzt, doch denke ich, dass Fye vollauf genügen wird. Und dies hier ist mein wagemutiger Weggefährte und Leibwächter Kurogane Koimihari, kurz Kuro-mu--…“ „Freut mich“, unterbrach mich Kurogane energisch und gab Fujitaka ebenfalls die Hand, „Wir brauchen ein Boot für eine Fahrt nach Shimaboko.“ „Also Kuro-myu!!“, empörte ich mich fassungslos, nachdem ich den Schock über diese boden- und gnadenlose Direktheit erst einmal verdaut hatte, „Das kann man doch auch ein bisschen höflicher sagen, oder? Wie wäre es mit einem Konjunktiv oder kollektivem Plural, oder-… bitte verzeihen Sie, er ist ein wenig raubeinig“, wandte ich mich mit einem leicht gequälten Lächeln an Fujitaka und tätschelte verlegen an Kuroganes Arm herum, „Es grenzt schon nahezu an ein medizinisches Wunder, welch sensationell niedrigen Zucker- und Kalziumwerte ein Mensch haben kann, ohne dabei an den eigenen Wutanfällen zugrunde zu gehen, ahahahha-…!“ Kurogane stieß – fast wie zur Bestätigung – ein Knurren aus, das meine sämtlichen Körperhaare zu Berge stehen ließ, während Fujitaka jedoch nur versöhnlich lachte und uns die Hände auf die Schultern legte. „Ein Auftragsarzt und sein Leibwächter also!“, stellte er wohlgemut fest und sah aufmerksam vom einen zum anderen, „Das sind immer noch meine Lieblingssorten Menschen, dann kann ich auch über den einen oder den anderen Kalziummangel hinwegsehen!“ „Und über Hirnmangel?“, grollte Kurogane erbost, was ich jedoch geflissentlich überhörte, da mich ersteres Zugeständnis weitaus mehr interessierte. „Wirklich?“ „Aber ja doch! Sie sind oftmals weit gereist, haben eine Menge Lebenserfahrung und darüber hinaus auch noch die tollsten Geschichten zu erzählen!“, erklärte der Submarinforscher freundlich, „Es ist wirklich bedauerlich, dass Sie schon so schnell weitermüssen… aber trotzdem soll es deswegen nicht an mir scheitern. Sie benötigen also ein Boot, um nach Shimaboko zu gelangen?“ „Ja, und das schnell“, bekräftigte der Schwarzhaarige, der sehr froh darüber zu sein schien, dass man endlich zur Sache kam, „Man hat uns gesagt, dass es von hier aus nur noch ein oder zwei Kilometer Ruderstrecke bis nach Shimaboko dauert.“ „Nun, dann hat man Sie korrekt informiert“, erwiderte Fujitaka mit einem Nicken, „Von der ‚Sentas XIV‘ aus ist es noch ein knapper Kilometer. Allerdings sind die fünf Beiboote unseres Schiffes mitsamt meinen sämtlichen Kollegen ausgerückt, um sich mithilfe unserer Taucher die Gegend ein wenig näher zu besehen, damit wir die Arbeit bewältigen und nicht die Arbeit uns! “ „Klingt vernünftig“, pflichtete ich bei, „Wenn das so ist, warten wir selbstverständlich, bis uns ein Boot geliehen werden kann. Darf man fragen, wie lange die Boote noch in Benutzung sein werden?“ „Oh, das kann Ihnen mein Sohn sicher eher sagen als ich. Seine Aufgabe ist die Funküberwachung“, meinte Fujitaka mit einem Lächeln, das vom ersten Moment an den Vaterstolz verriet, „Er steht über unser Funktelefon an Bord permanent mit jedem Boot in Verbindung, trägt alle für unsere Forschung relevanten Koordinaten ein, leitet wichtige Nachrichten weiter und hält stets die Karte bereit, falls Hilfe nötig ist. Wenn jemand weiß, wann die Boote wieder zurückkehren, dann er.“ In beflügelten Schritten eilte er zu den eisengestärkten Holztüren unter der Front des Achterdecks, die den Durchgang zu dem Gang bildeten, der unter Deck führte. „Sohn!! Würdest du kurz für einen Augenblick heraufkommen? Wir haben Gäste!!“ „Was genau erforschen Sie denn hier?“, fragte ich neugierig, nachdem er wieder zu uns zurückgekehrt war, da ich meine Neugierde nun beim besten Willen nicht mehr länger bezähmen konnte. Auf dem gutmütigen Gesicht des Submarinforschers erschien ein vielsagendes Lächeln. „Einen Unterwassertempel.“ „Whoooooooow!“, stieß ich augenblicklich hervor und sah ihn aufgeregt an, „Einen Unterwassertempel? Hier so nahe an der Küste?“ „Aber ja, mein Lieber!“, versicherte Fujitaka, offenbar schien es ihn sehr zu freuen, dass ich Anteilnahme an seiner Arbeit zeigte, „Einen Unterwassertempel von gigantischen Ausmaßen! Unsere Taucher haben bereits vor zwei Tagen damit angefangen, die Grenzen der Tempelanlagen abzustecken! Heute rechnen wir schon mit über zwanzig Hektar Ruinenlandschaft, und noch immer ist kein Ende in Sicht!“ Ich konnte einfach nicht anders als zu staunen. „Und haben Sie bereits Vermutungen, wann dieser Tempel ungefähr errichtet wurde, oder welcher Glaubensrichtung oder welchem Gott er geweiht war?“ Wieder dieses verheißungsvolle Lächeln. „Nun, meine Kollegen und ich vermuten, dass der Zweck dieses Tempels möglicherweise nicht einmal religiösen Vorstellungen folgte. Was wir mit der näheren Erforschung der Anlagen zu erreichen wünschen, ist eine Widerlegung der-… ah, hier ist er ja nun endlich! Wurde aber auch Zeit, dass du auftauchst, mein Junge!“ Unsere angeregte Unterhaltung wurde von dem gellenden Quietschen der Türen unter dem Achterdeck unterbrochen. Fragend wandte ich mich um – und kam nun beim besten Willen nicht mehr aus dem Staunen heraus. „Shaolan-kun??“, japste ich, und selbst Kurogane schien gegen seinen Willen ein wenig überrascht, wie ich an dem Runzeln seiner Augenbrauen zu erkennen glaubte, „Beim großen Phyton, welcher Seewind hat dich denn hierher getrieben?“ Es war tatsächlich der zweite Maat und Mitpirat meines alten Freundes Crow. Statt seiner see- und windgegerbten Piratenkleider, derben Lederstiefel und grobschlächtigen Waffengürtel, Pulverbeutel, Schutzbrille und des Mottenasyls, das andere Leute als ‚Kopftuch‘ bezeichnet hätten, trug er nun ein einfaches, kremfarbenes Baumwollhemd und dunkle Hosen, eine Garderobe, die ihn etwas weniger bärbeißig aussehen ließ – und mit der ich ihn so gar nicht kannte. Auch mein Bodyguard schien gewisse Probleme zu haben, ihn mit dieser harmlosen, ja fast schon teenagerhaften Bekleidung wieder zu erkennen. „Ich glaube, diese Art von Seewind nennt man Neugierde, Fye-san!“, erwiderte der Junge soeben gut gelaunt und erwiderte den überschwänglichen Händedruck, dem ich ihn sofort unterzog, so gut er es vermochte, „Wenn ich auf jemandes Urteil vertraue, was lohnenswerte Forschungsreisen angeht, dann auf Vaters! Jetzt wollte ich dir meinen alten Herrn schon seit Jahren vorstellen, und jetzt habe ich es doch glatt verpasst! Ah, Kurogane-san!“ „Tag.“ „Ihr kennt euch bereits?“, schaltete sich Fujitaka dazwischen. Shaolan nickte. „Darf ich vorstellen, Vater? Der brillianteste und pleiteste Auftragsarzt, mit dem Clow-sama jemals Geschäfte gemacht hat“, erklärte er ernst, „Wir kennen uns schon seit Jahren. Er hat einmal einem unserer Freunde geholfen, als es ihm schlecht ging. Stimmt’s, Fye-san?“ „Ganz richtig“, bestätigte ich fröhlich, „Es war euer Narwal. Wie hieß er doch gleich…? Kujou, genau! Ich hatte vor etlichen Jahren die Ehre, Kujou-kun zusammenzuflicken. Ein Seeschlangenbiss direkt hinter der Finne, ziemlich böse Geschichte.“ „Dann hat Clow-san einen guten Riecher bewiesen“, stellte Fujitaka lächelnd fest, „Heute hagelt es ja nahezu Überraschungen!“ Kurogane teilte unseren gemeinschaftlichen Frohsinn – wie so oft – nicht, sondern starrte den Submarinforscher an, als wäre ihm soeben ein drittes Auge aus der Nase gewachsen. „Sie wissen, dass Ihr Sohn Pirat ist?“, stieß er entgeistert hervor, „Und Sie unternehmen nicht einmal etwas dagegen?!“ „Ich akzeptiere seine Entscheidung, unter Clow-sans Befehl zu agieren“, erwiderte Fujitaka ernst und legte Shaolan eine Hand auf die Schulter, „Und ich bin stolz, dass er sich so beherzt und gewagt der Profitgier der Handelsmarine widersetzt.“ „Danke, Vater“, sagte der Junge doch etwas verlegen, doch sein alter Herr winkte ab. „Ich sage nur, was ich meine, mein Sohn. Nun aber zum eigentlichen Thema: wurden dir schon Informationen durchgegeben, wann die Boote zurückkommen?“ „Ja, in knappen zehn Minuten will das Team wieder vollständig für die nächste Lagebesprechung anrücken. Die Taucher haben weiter Flächengrenzen abgesteckt, aber anscheinend ist da noch immer mehr.“ „Heiliger Dreizack!“, begeisterte sich Fujitaka, „Dann wäre das ja die größte Tempelanlage, die jemals so nahe an der Küste zum Festland entdeckt wurde! Ich wittere vielversprechende Erkenntnisse!“ „Sie sagten vorhin, dass der Tempel Ihren Vermutungen zufolge keinen religiösen Zwecken dient?“, erkundigte ich mich, und der bebrillte Forscher nickte. „Ja, zumindest hoffen wir es.“ „Wieso das denn?“, knurrte Kurogane abfällig. Fujitaka lächelte. „Ich bin Fischist.“ Der Schwarzhaarige glotzte ihn an wie ein dreiköpfiges Kalb. „Was, Sie sind Faschist?!!“ Es dauerte seine Zeit, bis ich mein Gewieher wieder einigermaßen in den Griff bekam. „Aber nein, Kuro-pyon!“, rief ich vergnügt, „ ‚Fischist‘ ist in den submarinen Wissenschaften ein Spitzname für Vertreter des Wissenschaftszweigs des Ozeanismus, der der Überzeugung folgt, dass die heute geläufige Evolutionstheorie – die Theorie von der Entstehung der Arten – als solches nicht korrekt ist. Laut der Lehre des sogenannten Ozeanismus – im Volksmund ‚Fischismus‘ genannt – stammt der Mensch nicht vom Affen ab, sondern kommt aus dem Meer.“ „Besser hätte ich es nicht ausdrücken können“, lobte der Submarinforscher, und ich strahlte, „Zwar besagt auch die allgemein übliche Evolutionslehre, dass das Leben, wie wir es heute kennen, im Meer seinen Anfang genommen hat, doch meine Kollegen und ich sind wie viele andere Submarinwissenschaftler der Überzeugung, dass der heutige Mensch, Homo Sapiens, ein Kind des Ozeans ist – genau wie alle anderen halbmenschlichen Lebensformen, Engel und Vampire mit eingeschlossen.“ Bei dem Wort ‚Vampir‘ fühlte ich mein Herz augenblicklich einen nervösen Satz vollführen. Bemüht schluckte ich den kalten Kloß hinunter, der sich in meiner Kehle bilden wollte. „Sie glauben, dass… Engel, Vampire und Menschen unmittelbar miteinander verwandt sind, und… aus dem Meer stammen?“, hörte ich mich fragen. „Ja, das auch“, antwortete Shaolan statt seines Vaters, „Und wir glauben auch, dass alle drei Arten einen gemeinsamen Vorfahren haben.“ „… und dass diesem gemeinsamen Vorfahr auch der Tempel geweiht wurde, den wir hier entdeckt haben!“, fuhr Fujitaka fort, „ Unter Ozeanisten wird dieser Vorfahr als Proteus Thalassinus bezeichnet. Eine Urkreatur, die sowohl menschliche als auch vampir- und engelsähnliche Merkmale aufwies und deren Blütezeit noch vor der der Saurier lag.“ „Gibt es schon… Befunde, dass diese Kreatur auch wirklich existierte?“ „Ja, wenn auch nur sehr wenige“, gab der Submarinforscher zu, „Und von den meisten weiß man nicht einmal, ob sie überhaupt der Art angehören, die wir suchen. Aber ich bin mir sehr sicher, dass wir mit dieser Tempelanlage auf eine heiße Spur gestoßen sind! Die Heißeste, die wir jemals hatten!“ Kurogane, der unserem wissenschaftlichen Disput bisher nur sehr halbherzig gelauscht hatte, klopfte mir von hinten auf die Schulter, ehe ich noch etwas erwidern konnte, und brachte mich dazu, mich umzudrehen. „Da hinten kommen die Boote.“ Ich musste nicht lange suchen, um sie zu finden – aus allen Himmelsrichtungen kamen sie angeschippert, fünf große dunkelblau glänzende Schlauchboote, in denen jeweils zehn Personen saßen, von denen immer vier damit beschäftigt waren, die Ruder zu rühren. „Ach herrje, das ist mal wieder zu typisch“, seufzte ich und blickte betreten auf den Boden zu meinen Füßen, „Gerade jetzt, wo es spannend wird!“ Fujitaka lachte jedoch nur versöhnlich und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Kopf hoch, Fye-san! Wissen Sie was? Mein Team und ich werden in der nächsten Zeit mit Sicherheit alle Hände voll zu tun haben und gewiss nicht mehr so schnell wieder von hier aufbrechen… schauen Sie nach der Beendigung Ihrer Mission doch noch einmal vorbei? Mein Sohn und ich freuen uns über Ihre Gesellschaft!“ „… Und in fünf Tagen kommen doch die hohen Tiere von den Unis und dieser genetischen Forschungsgemeinschaft, um sich unsere Fortschritte anzusehen, Vater“, bemerkte Shaolan und sah erwartungsvoll zu seinem alten Herrn hoch, „Ich wette, die wären völlig aus dem Häuschen, wenn Fye-san und Kurogane-san noch dazustoßen!“ „Nun ja, völlig aus dem Häuschen vielleicht nicht“, wehrte ich mit einem bescheidenen Lächeln ab, „Aber wir würden uns über eine Einladung zu solch einem Anlass in der Tat sehr freuen und beitragen, was wir nur beitragen könnten!“ Es reizte mich nicht schlecht, bei diesem Treffen zugegen sein. Alles, was auch nur entfernt mit Vampiren zu tun hatte, reizte mich. Anders war es nie gewesen. Fujitaka schien für eine Weile scharf nachdenken zu müssen, doch dann nickte er. „Gut, einverstanden. Wenn Sie bis dahin Ihren Auftrag erfüllt haben, sind Sie beide herzlich zu der Zusammenkunft eingeladen.“ „Und in der Nacht darauf kommt auch die Crew, um mich wieder abzuholen“, fügte Shaolan hinzu, „Das heißt also, wenn ihr in fünf Tagen alles abgewickelt habt, kann euch Clow-sama bei der Gelegenheit wieder nach Uranoke Sho bringen. Und für dich hat er garantiert wieder ein paar heiße Schnäppchen auf Lager, Fye-san.“ Ich strahlte wie eine Christbaumkugel. Endlich hatten wir mal wieder Glück. „Kann ich denn da noch ‚Nein‘ sagen? Kuro-chii, was hältst du von diesem-… Kuro-chii?“ „Anleinen!“, rief mein Leibwächter energisch die Reling hinunter, wo sich Forscher sowie Taucher bereits an den Saligentauen zu schaffen machten, „Machen Sie lieber einen doppelten Knoten! Und Sie, lassen Sie die Ruder gleich draußen, wir nehmen Ihr Boot! Ja, wir haben die Befugnis!“ Zwei Augenblicke lang sahen wir der Darbietung meines Begleiters noch leicht überfordert zu, bis Fujitaka schließlich lachte und mir die Hand anbot. „… Nun, dann bleibt mir wohl nichts mehr anderes übrig, als Ihnen bis zu unserem nächsten Treffen viel Erfolg und Durchhaltevermögen zu wünschen, Fye-san!“ „Vielen Dank!“, erwiderte ich fröhlich und schüttelte die mir dargebotene Rechte, „Und Ihnen bisweilen eine reiche Ausbeute! Bis bald, Shaolan-kun, hmnh?“ „Bis bald, Fye-san. Und lass dich nicht von Kurogane-san fressen.“ „Keine Sorge, ich bin schwer verdaulich! Das durfte die Bestie von N’Galia auch schon mehrmals feststellen!“, versicherte ich mit einem Augenzwinkern und machte schließlich, dass ich meinem Leibwächter hinterherkam, der bereits dabei war, sich in eines der Boote abzuseilen. Sah aus, als konnte es weitergehen. Ich sah nach oben, als ich die Planken des Ruderbootes unter meinen Füßen spürte. „Wollen Sie da oben übernachten, oder worauf warten Sie?“, fragte ich. Der Arzt stand nämlich noch immer an Deck herum. „Nein, nein, ich bin ja gleich da…“, rief er zurück und packte den Tampen, um sich daraufhin über die Reling zu schwingen. Leider war er schneller unten, als uns Beiden lieb war – er hatte wohl vergessen, dass es so etwas wie Schwerkraft gab und sich irgendwann nicht mehr vernünftig festgehalten. Oder er hatte einfach keine Kraft mehr gehabt – wahrscheinlich beides. Er landete mit Karacho auf mir und riss mich um, glücklicherweise ging ich dabei nicht über Bord. Das Ruderboot schaukelte nur bedrohlich und ich stieß mir den Ellenbogen an einer der Bänke. „Passen Sie doch auf!“, fauchte ich und versuchte mich, wieder aufzurappeln, was nicht ganz einfach war, weil ich mich erst einmal unter ihm hervor winden und meine Arme und Beine entknoten musste. „Danke fürs Fangen…“, hörte ich ihn sagen, als ich mich hochstemmte. „Tzz… das war kein Fangen!“, knurrte ich. „Ich stand nur ungünstig…“ „Ich hab das noch nie gemacht!“, verteidigte er sich und blieb sitzen, weil das Boot noch immer schwankte – allerdings lag das auch ein wenig an den Wellen. „Das hab ich gemerkt!“ „Es tut mir ja Leid! Hast du dir wehgetan?“ Er streckte die Hand nach meinem Arm aus, aber ich drehte mich weg. „Geht schon“, erwiderte ich und griff nach den Riemen. „Diesmal werden Sie auch rudern! Das mach ich nicht allein!“ Schließlich waren genug Paddel da… „Das habe ich aber auch noch nie gemacht“, verkündete er grinsend und ließ sich auf die Bank mir gegenüber fallen. „So schwer ist das nicht…“ Er zuckte mit den Schultern. „Na gut, ich probier’s mal…“ Wahrscheinlich würde ich sowieso den größten Teil übernehmen. Aber immerhin… Ich stieß ein Seufzen aus. Na gut. Eigentlich mehr ein Grollen. „Lassen Sie’s… LEGEN SIE DIE RUDER WEG!“, schnauzte ich dann. Es war hoffnungslos. Anstatt zu helfen, arbeitete er bloß gegen mich. Wir waren zwar schon einige Meter von der ‚Sentas XIV‘ fort, aber zügig vorankommen war etwas anderes. Anscheinend schien er es einfach nicht zu verstehen, dass man gleichmäßig und vor allem gegen die Fahrtrichtung rudern musste… „Ja, aber, ich dachte, ich soll dir helfen…“, fragte er verdutzt und sah mich groß an. „Das tun Sie aber nicht“, gab ich unwirsch zurück. „Legen Sie die Ruder einfach weg…“ Er schien gekränkt zu sein, holte aber die Riemen ein und legte sie ins Boot. Dann drehte er sich zu mir um. „Also schön! Aber meckere hinterher nicht, dass du nicht mehr kannst! Ah, du musst übrigens ein wenig nach links…!“ „Ich weiß was ich tue“, knirschte ich. „Wenn ich direkt auf die Insel zuhalte muss ich bloß gegen die Wellen rudern, das ist viel zu anstrengend…“ Wieso hatte diese Nussschale kein Segel? Ein Kleines hätte ja gereicht… Aber ohne die ‚Hilfe’ des Blonden kamen wir wesentlich schneller voran. Die ‚Sentas XIV‘ wurde immer kleiner, verschwand irgendwann hinter den Wellen. Weit konnte es also nicht mehr sein. Hin und wieder vergewisserte ich mich mit einem Blick über die Schulter, dass ich noch halbwegs auf dem richtigen Kurs war. Eigentlich wäre das gar nicht nötig, aber das ständige ‚Links!’, ‚Nein, rechts…’ oder ‚Jetzt nur noch geradeaus’ meines Begleiters verwirrte mich nur und ein wenig tat ich es auch aus Prinzip. „Können Sie wenigstens einen ordentlichen Knoten machen, damit uns das Boot nicht wegtreibt, falls das Wasser bis hier hin kommt?“, fragte ich, nachdem ich es an den Strand gezogen und mir dabei die Hosenbeine bis über die Knie nassgemacht hatte. Außerdem war das Wasser eisig kalt. Weshalb ich mich auf den Rand des Bootes gesetzt hatte und sie notdürftig auswrang. Klappte nicht unbedingt sehr gut, da ich die Hose noch anhatte, aber immerhin. Als ich aber sah, dass er schon völlig falsch anfing, erhob ich mich genervt. „Lassen Sie mich das lieber machen, sonst sitzen wir am Ende noch hier fest…“ Ich fragte mich wirklich, ob er sich absichtlich dumm anstellte um mich zu ärgern oder ob er es wirklich einfach nicht auf die Reihe bekam. Er mochte ja als Arzt begnadete Fähigkeiten haben aber bei allem Anderen war ich mir nicht sicher, ob er überhaupt von irgendetwas eine Ahnung hatte. Außer vielleicht noch die Sache mit dem wandelnden Lexikon… Allerdings schien er den Großteil seines theoretisches Wissens nicht wirklich in die Praxis umsetzen zu können. Er sah zu den Firmengebäuden der F.I.E.S-GmbH hinauf, die auf den Klippen hinter uns lagen. Ein kleiner schmaler Weg und eine anschließende Treppe ohne Geländer ein kleines Stückchen führte gewunden dorthin hinauf. „Wooow. Das ist ja riesig!“, stieß er begeistert hervor, während ich den Knoten festzog. „Mhn. Das sind bloß die Verwaltung und die Lagerhallen“, meinte ich und schnappte mir einen Teil unseres wenigen Gepäcks. „Und jetzt stehen Sie da nicht rum und schauen, sondern nehmen Sie den Rest.“ Ich deutete aufs Boot und wandte mich dann Richtung Treppe um. „Wie kriegen die denn ihre ganzen Materialien hier her und ihre Produkte von hier weg?“, fragte er, während er den verbliebenen Rucksack schulterte. „Auf der anderen Seite gibt es einen Frachthafen.“ „Warum sind wir denn nicht dort an Land gegangen? Dann müssten wir jetzt nicht da hoch!“ Er deutete anklagend auf die Treppe. „Sind Sie verrückt? Ich rudere ganz sicher nicht einmal um die Insel! Wissen Sie wie groß die ist?!“, fuhr ich ihn an. „Und so schlimm ist das gar nicht!“ Er nahm den Zeigefinger wieder herunter und sah jetzt eher abschätzend zu mir herüber. „Du hast gut reden, du kannst ja auch klettern! Und außerdem warst du ja schon mal hier!“ Er setzte sich hastig in Bewegung, damit ich ihn nicht abhängte. „Wo warst du eigentlich noch nicht?“ „Am Nordpol“, knurrte ich, aber eigentlich eher, damit er nicht wieder damit anfing, mich mit Fragen zu bombardieren. „Heehhee~ vielleicht ändert sich das ja auch irgendwann mal“, meinte er vergnügt, als wir damit begannen, den Weg zu erklimmen. „Was will ich denn am Nordpol?“, fragte ich zurück. Das war einer der letzten Orte, an den es mich hinzog… „In Caer Gaead Tyrmin leben durchaus Menschen und die werden sicherlich auch mal krank…”, meinte er. „Dann haben sie aber sicher keine Zeit, auf einen Arzt zu warten…“, meinte ich. „Die haben da sicherlich jemanden, der sich auskennt.“ In diesem Land lebten nur die Eingeborenen und einige Forscher, die verrückt genug waren, es in dieser Kälte auszuhalten. Viel schien es in diesem Land aber auch nicht zu sehen geben, außer Schnee, Eis, Wind und einige Tiere, die es schafften dort zu überleben. Die Temperaturen erreichten selbst im Sommer maximal minus zwanzig Grad Celsius. Nicht unbedingt ein Traumreiseziel. „Mhn… da könntest du recht haben…Aber vielleicht erkältet sich ja ein Forscher?“ „Wegen einer Erkältung werde ich nicht zum Nordpol reisen!“ „Ja, aber wenn doch ein Telegram kommt und wir das abkriegen?“ „Trotzdem nicht!“, beharrte ich. „Sie wollen anscheinend unbedingt dahin, was?“ „Ja, warum auch nicht?“ Er grinste. „Ich will überall gewesen sein. Deshalb bin ich ja auch Auftragsarzt geworden!“ „Ach ja? Ich will aber nicht da hin.“ „Es ist sicher nicht so schlimm dort, wie du es dir vorstellst….“ „Ich will es nicht rausfinden. Ich bin mit meiner Vorstellung schon zufrieden. Wahrscheinlich ist es sogar noch viel schlimmer…“ Wenigstens waren wir, während wir diskutiert hatten, oben angekommen und mein Begleiter hatte keine Zeit gehabt, sich über die wacklige, rutschige, geländerfreie Treppe zu beschweren, falls er das vorgehabt hatte. „Beeindruckend“, stellte er fest, als wir vor dem Verwaltungsgebäude standen. „Und du hast hier wirklich mal gearbeitet?“ „Ja. Wenn man Schulden hat, muss man ja irgendwie an Geld kommen…“ „Sag mal, was hast du eigentlich sonst noch so gemacht?“, fragte er weiter, während wir durch die Tür gingen, die in ein Foyer führte, an dessen Ende sich eine Rezeption befand. „Eine Menge. Die Meisten waren Gelegenheitsjobs.“ Im Prinzip war das sogar richtig, allerdings steckte noch etwas Anderes dahinter, doch das ging ihn nichts an. Und irgendwie musste man sich ja über Wasser halten… „Dann haben wir ja noch etwas gemeinsam!“, meinte er und grinste. „In meinem Beruf ist das ja genauso. Obwohl, jetzt ist es wohl unser Job!“ Dieser Gedanke schien ihm zu gefallen, denn er sah zufrieden aus. Ob mir der Gedanke gefiel – vielleicht ein wenig. Aber er hatte Recht. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“, erkundigte sich die Dame an der Rezeption. „Oh, ich hoffe doch!“, antwortete Fye. „Wir sind hier wegen dem Telegramm – ich bin Doktor Fye De Flourite und das ist mein Begleiter Kurogane Koimihari.“ „Ah, wunderbar. Ich werde sofort dem Direktor bescheid geben, einen Moment bitte.“ Sie verschwand durch eine Tür, anscheinend ein kleines Büro. „Gehört sie auch zur Familie?“, fragte er mich, während er sich gegen den Empfangstresen lehnte. „Nein, nicht dass ich wüsste“, antwortete ich und schüttelte den Kopf. „Sie muss wohl neu sein, ich kenne sie nicht.“ Aber es war schließlich auch eine Weile her, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Die Rezeptionistin erschien wieder, im Schlepp den Manager – ihn kannte ich natürlich noch. Und sein kurzes Zögern sagte mir, dass er auch noch wusste wer ich war. „Tsuzukikatsu-san, das sind Doktor De Flourite und sein Begleiter.“ „Ah!“, rief Tsuzukikatsu mit einem herzlichen Lächeln aus und reichte mir spontan die Hand, „Welch eine Freude! Wir haben Ihren Besuch bereits heiß und innig erwartet, Doktor! Sie sind unser Lebensretter!“ „Absolut nicht der Rede wert, Tsuzukikatsu-san“, tat ich die generöse Bekundung mit einem nonchalanten Lächeln ab und ergriff mit seiner Hand gleichzeitig die Gelegenheit, ihn mir ein wenig näher zu besehen. Er war ein kleiner, stämmig gebauter Mann in den späten Vierzigern mit lebhaften hellgrünen Augen, dem vorspringenden Kinn eines Philosophen und einem breiten, volllippigen Mund, in dem seine Zähne glitzerten wie polierte Klaviertasten. Er besaß jenen gesunden, sonnengebräunten Teint, den man nur durch wochenlangen Urlaub in wahrlich gut situierten Ferienwohnungen erwarb; sein exquisiter samtgrauer Haarschnitt, die zahlreichen Ringe an seinen schlankgliedrigen Händen mit den proper gepflegten Fingernägeln, sowie das goldene Kettchen, das an dem Tascheneingriff seiner teuer aussehenden Weste baumelte und auf eine Taschenuhr schließen ließ, unterstützte diesen Eindruck nur noch. Dieser Mann hatte Wohlstand erlangt und zauderte auch nicht, freimütig damit hausieren zu gehen. „Nun, ich will doch hoffen, dass Sie eine angenehme Reise hatten?“, plauderte er ganz im Tonfall des Mannes von Welt munter drauflos, nachdem er auch Kurogane die Hand gereicht hatte, „Wir hätten Ihnen nur zu gern ein Boot zur Verfügung gestellt, wenn wir gewusst hätten, dass Sie aus nächster Nachbarschaft zu uns stoßen würden, aber da solch ein Telegramm ja gewissermaßen ein Schuss ins Blaue ist, konnten meine Familie und ich nicht viel mehr tun als die Daumen zu drücken, aaahahhahah!“ Sein Lachen klang sonderbar gequält. Statt einer Erwiderung sah Kurogane ihn nur bewegungslos an. „Die Reise war alles andere als angenehm, Tsuzukikatsu-san. Und nun würden wir gerne ein Zimmer zugewiesen bekommen.“ „Aaaaber natürlich!“, beeilte sich der Manager sofort zu sagen, „Ich habe Ihnen beiden bereits eines der besten Zimmer unseres Wohntrakts reservieren lassen!“ „Elektrisches Licht und fließendes Wasser würden uns bereits genügen“, antwortete der Schwarzhaarige trocken. „Oh, das ist doch das Mindeste! Wir haben Sie im zweiten Stock einquartiert, die einzelnen Stockwerke des Wohntrakts sind über den Paternoster zugänglich“, erklärte Tsuzukikatsu beflissen und unter weitausholenden Gesten, während wir uns von der Rezeption entfernten und unter seiner Führung gemächlich durch das Foyer in Richtung einer der Türen schlenderten, die an der weitläufigen Halle anlagen, deren Wände mit unzähligen großformatigen Fotografien behangen waren, die hauptsächlich Landschaften Kongoseki Okas zeigten, „Radio, Dusche, Whirlpool, ein Doppelbett-…“ Oha. Die alte Problematik. „… und natürlich frei wählbare Mahlzeiten zu jeder Uhrzeit! Meine Tochter wird Sie hinbringen und einweisen, es wird ihr eine Freude sein!“, fuhr er unbeirrt fort und lächelte, dass seine perlweißen Zähne nur so blitzten, „Es ist bereits halb sechs und unsere Herren und Damen Fotomodelle müssen sich von den Strapazen des Tages erholen; dürfte ich Ihnen daher vorschlagen, sich für den Rest des Tages noch nach Belieben auszuruhen? Es wird Ihnen gewiss guttun!“ „Mit Vergnügen“, gab Kurogane ungerührt zurück, bevor ich den Mund aufbrachte, und Tsuzukikatsu strahlte. „Hervorragend! Und morgen früh geht es auch sofort an die Arbeit, man will ja schließlich keine Zeit verschwenden – wie wäre es mit neun Uhr? Mizuki-chan!!“, brüllte er energisch in Richtung des Ganges, auf den wir uns zubewegten, noch ehe einer von uns antworten konnte, „Komm her!! Der Doktor, nach dem wir geschickt haben, ist angekommen und wünscht sein Zimmer zu sehen!!“ „Ja, Vater…“, kam die Antwort halblaut um die Ecke gebogen, dicht gefolgt von einer jungen Frau in einem unscheinbaren grauen Hosenanzug. Sie besaß einen langen, verletzlich anmutenden Schwanenhals, spinnendünne Finger, von denen man erwartete, dass sie jeden Moment zersplittern mussten wie Glas, schulterlange haselnussfarbene Haare und große, ungewöhnlich blasse Augen, bei denen man erst auf den zweiten Blick erkannte, dass ihre Farbe zwischen hellgrün und grau schwankte. Mit ihren langen, schlanken Gliedern, den kaum erkennbaren Hüften und den eng anliegenden Hosenbeinen machte sie den Eindruck eines eingekleideten Besenstiels. Dem Mädchen wäre es gewiss nicht schwer gefallen, ihren Morgenkaffee aus der Dachrinne zu trinken. „Flourite-san, Koimihari-san, wenn ich Ihnen nunmehr meine Tochter Mizuki vorstellen dürfte?“, erläuterte unser Auftraggeber gutgelaunt und nahm die junge Frau bei der Hand wie ein junger Spund seine Verlobte, „Sie ist die stellvertretende Leiterin der Entwicklungsabteilung, behält alle Bestellungen im Auge und kümmert sich unter anderem auch um das Marketing! Mizuki-chan, das sind Doktor Fye de Flourite und sein Begleiter Kurogane Koimihari!“ Obwohl nicht einmal ich einen beiläufigen, unverfänglichen Tonfall ohne Weiteres auf die Reihe bekommen hätte, konnte ich für den Bruchteil eines Augenblicks die Verunsicherung in den nahezu farblosen Augen des Mädchens erkennen, leise und schwankend wie ein Zittern, das über die Oberfläche eines Weihers lief, als sie meinem Leibwächter ins Gesicht sah. „… Guten Tag“, brachte sie schließlich den Mund auf und verneigte sich leicht vor uns, „Es ist mir eine große Freude, wir hatten Ihr Kommen schon lange erwartet, Doktor.“ „Oh, es ist vielmehr mir eine Freude!“, erwiderte ich wohlgemut und verbeugte mich ebenfalls, „Nett, Sie kennenzulernen, Tsuzukikatsu-san!“ „Ja“, schloss sich mein Begleiter einsilbig an. Mizuki nickte. „Es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen Ihr Zimmer zu zeigen. Und… dürfte ich Sie morgen früh vor Arbeitsantritt auch zu einem kleinen Rundgang auf der Insel einladen? Die architektonische Verwaltung würde sich sehr über Ihr Urteil freuen.“ Ihre Stimme klang eigenartig tonlos, als hätte sie die letzte halbe Stunde damit verbracht, diese wörtliche Rede von einem Zettel auswendig zu lernen. „Das klingt ja nahezu pompös!“, begeisterte ich mich, um die Stimmung wieder ein wenig aufzuhellen, „Wir nehmen mit Freuden an, nicht wahr, Kuro-mune?“ „Hmmnh“, erwiderte der Schwarzhaarige und nickte. Es kostete mich eine gewisse Mühe, ihn nicht verwundert anzustarren. Wo blieb das ‚Nennen Sie mich nicht so‘? „Einverstanden“, sagte Mizuki und wandte sich zum Gehen um, „Folgen Sie mir, der Wohntrakt ist nicht weit entfernt. Soll ich nachher noch zu der Besprechung kommen, Vater?“ „Es wäre mir sehr lieb“, meinte Tsuzukikatsu und verabschiedete sich noch mit einem Händedruck von uns, „Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt. Man sieht sich morgen in neuer Frische!“ „Mit dem größten Vergnügen!“ „Hier entlang, bitte“, sagte Mizuki und wies uns den Weg. Schweigend folgte ich ihr sowie meinem Bodyguard – der allem Anschein nach keiner Führung mehr bedurft hätte. Ich versuchte auf die mannigfaltigsten Arten, seinen Blick auf mich zu lenken, während wir das Hauptgebäude verließen und Mizuki über die sauber gepflasterte und geteerte Straße folgten, die uns zu den Wohntrakten führen sollte, doch der Schwarzhaarige starrte stur geradeaus und reagierte nicht einmal, als ich die Methode einsetzte, die sich bisher als am effektivsten herausgestellt hatte – meinen linken Zeigefinger. Keine Reaktion. Sein Blick klebte so starr an Mizukis spindeldürrem Rücken, als hätte ihn irgendjemand dort festgeschweißt. Mit einem lautlosen Seufzen gab ich auf und fügte mich – wie so oft – in mein Schicksal. Wieso wurde ich nur den Gedanken nicht los, dass mir mein Partner irgendetwas verschwieg? Kapitel 19: Oodinium Pillularis - 3 ----------------------------------- Mizuki hatte ziemlich abgenommen – nicht dass sie früher nicht schlank gewesen war, aber nun wirkte es tatsächlich kränklich. Und sie wirkte noch verschlossener als noch vor ein paar Jahren. Ich musste unbedingt mit ihr reden… „Bitte sehr, hier wären wir“, sagte sie höflich, aber leise, und vermied es regelrecht, in meine direkte Richtung zu schauen. „Wenn Sie etwas brauchen, dann können Sie das Haustelefon benutzen.“ „Vielen Dank!“, erwiderte Fye überschwänglich und strahlte sie an, als ginge es um ein Casting für eine neue Zahnpastawerbung. Sie schaffte ein zögerliches Lächeln und stolperte dann wieder davon, während Fye die Tür zu unserem Zimmer öffnete und ich ihr nachdenklich nachsah. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie deinem Typ entspricht“, meinte mein Begleiter amüsiert und steckte den Kopf aus der Tür. „Was?“, fragte ich verdattert. „Na, so wie du ihr nachschaust.. Aber eigentlich hatte ich gedacht, dass du eher auf junge, anmutige Schulmädchen oder Studentinnen stehst—…“ Er flüchtete sich ins Zimmer, knapp bevor ihn der Rucksack von den Beinen reißen konnte. Den Rucksack hatte natürlich ich geworfen. „Sie ist nicht mein Typ! Und ich stehe auch nicht auf Schulmädchen!“, fauchte ich. „Aber auf Studentinnen?“, kicherte er und ging hinter dem Bett in Deckung, falls ich vorhatte, noch irgendwas nach ihm zu werfen. „Kuro-myu, das war doch nicht ernst gemeint! Es ist mir völlig egal auf wen oder was du stehst ….ahahaha….“ Ich gab nur ein abfälliges Schnauben von mir und schloss die Tür. Er bettete die Unterarme auf der Bettkante und sah mich an. „Aber ich nehme an, du kennst Mizuki-san?“ „Ja.“ Er sah mich an, als hätte er eine längere Antwort samt Enthüllungsstory erwartet. „Sie ist die Tochter des Direktors…“ „Ja, das weiß ich doch! Erzähl mir, was ich noch nicht weiß!“ „Sie müsste jetzt vierundzwanzig sein und sie hat noch mehr abgenommen… Anscheinend hat sie immer noch Probleme…“ „Immer noch? Sie hatte früher Probleme? Welche?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen. So was wie Schweigepflicht sollte Ihnen ja bekannt sein.“ „Oh. Ja, natürlich…“, meinte er und nickte. Allerdings konnte ich sehen, dass er vor Neugierde fast brannte. Vermutlich hätte nicht mehr viel gefehlt, und die Augen wären mir aus dem Kopf geploppt wie reife Kirschen. Wenn dieser Kerl eines verstand, dann war es die Kunst, einen mit noch unerzählten Geschichten auf die Folter zu spannen. Erst diese Sache mit der Engelsinsel, seine vielen Jobs, und nun die Tochter des Managers der F.I.E.S.-GmBH – wie so oft beschlich mich das klammheimliche Gefühl, meinen Leibwächter überhaupt nicht zu kennen. Wieder einmal und mehr denn je. Und wenn ich mir den Gesichtsausdruck näher besah, den er in diesem Moment wieder an den Tag legte, würde sich dieser Sachverhalt wohl auch so schnell nicht ändern. Mit dem verkniffenen Mund und dem abgewandten Blick erschien mir dieser seltsam verschlossen, abweisend – und sprach gleichzeitig eine vollkommen klare, verständliche Sprache. Frag bloß nicht weiter, sonst setzt es was. „… Du willst es mir nicht erzählen, stimmt’s?“ „Erraten“, erwiderte Kurogane ungerührt und machte sich daran, das Wenige an Gepäck aus unseren Rucksäcken in den beiden Schränken zu verteilen, die zur Linken und Rechten des Doppelbettes standen, das die gesamte Nordseite des Raumes einnahm – auch wenn er es allem Anschein nach nur tat, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen. „Auf dieser Welt gibt es Dinge, die nicht einmal Sie unbedingt wissen müssen. Also finden Sie sich damit ab.“ „Du bist ganz schön gemein!“, quengelte ich und schlüpfte aus meinen derben Wanderschuhen, um mich im Schneidersitz auf das Bett sinken zu lassen, dessen Laken und Kissen mit zahlreichen gelben und roten Blumen bestickt waren, „Ich habe doch nie gesagt, dass ich alles wissen will! Ich möchte dich doch nur ein bisschen besser kennen lernen, damit wir uns gut verstehen und unseren Job ordentlich machen können! …Und vielleicht sogar Freunde werden!“, setzte ich nach kurzem Überlegen spontan hinzu, auch wenn ich nicht wusste, woher ich diese Worte plötzlich nahm. Wenngleich es vermutlich nur eine Idée fixe gewesen war – mehr als einen abfälligen Blick von der Seite brachte es mir nicht ein. „Freunde werden, so so. Sie überraschen mich, Doc.“ „Inwiefern?“, fragte ich, gegen meinen Willen irritiert. Kurogane zuckte mit den Achseln und räumte mein Chirurgenbesteck in den Schrank zu seiner Rechten ein, offenbar hielt er es für unnötig, mir ins Gesicht zu sehen, wenn er mit mir redete. „Sie sind Auftragsarzt, haben die halbe Welt bereist und unzählige Menschen kennen gelernt… und trotzdem haben Sie nicht die leiseste Ahnung, wie der Mensch funktioniert.“ Ich wandte den Blick von seinem Rücken ab, noch ehe er ausgeredet hatte. Der Pfeil saß, doch ich wollte ihm unter keinen Umständen zeigen, dass ich getroffen war. „Natürlich weiß ich, wie der Mensch funktioniert!“, protestierte ich und verbohrte eine Hand in die Decke unter mir, um den plötzlich aufkommenden Ärger unter Kontrolle zu halten, „Soll ich dir etwa einen biochemischen Vortrag halten? Das könnte allerdings ein paar Stunden dauern!“ Wütend wandte sich mein Leibwächter zu mir um. Hatte ich es also doch geschafft. „Sie wissen genau, wovon ich rede“, sagte er mit gefährlich leiser Stimme und sah mich bewegungslos an, „Ich rede nicht von Biochemie. Ich rede nicht von Formeln oder Gebrauchsanleitungen. Ich rede davon, was der Mensch wirklich ist. Und das ist meiner Meinung nach ein bisschen mehr als Biochemie.“ Ich schaffte es einfach nicht, ihm in die Augen zu sehen. Es war die reinste Qual, seiner Stimme lauschen zu müssen. Hätte er unsinnig herumgebellt, mich angeschrieen oder beleidigt – ich hätte es ohne weiteres geschluckt. Kaum zu glauben, jeden Tag nahm ich mir aufs Neue vor, mich nicht von diesem Kerl aus der Fassung bringen zu lassen, und dennoch gelang es ihm immer und immer wieder. „… Und kein Mensch würde sich ohne Weiteres hinsetzen und Ihnen seine Lebensgeschichte erzählen, so wie Ihre Harpyien oder diese Pelzklopse das tun würden“, fuhr der Schwarzhaarige fort, ohne sich von meinem starren Blick beeindrucken zu lassen, „Sie selbst sind da keine Ausnahme. Sie haben genauso wenig vor, mir etwas von Ihnen zu erzählen.“ Er trat einen Schritt näher auf das Bett zu. Verunsichert zuckte ich vor ihm zurück. Die kühle, so berechnend anmutende Gelassenheit in diesen flammend roten Augen war direkt gewalttätig in ihrer Schlichtheit. „Glauben Sie, ich bin so blind, dass ich es nicht sehe?“, fragte er ruhig und verschränkte beide Arme vor der Brust, „Sie weichen mir aus. Sie reden über alles, nur um nicht über sich selbst reden zu müssen. Jedes Mal, wenn die Gefahr besteht, Klartext reden zu müssen, wird aus dem Arzt ein Clown…“ Kalt. Seine Stimme klang so kalt. Wie von weiter Ferne konnte ich spüren, dass mein Herz wie besessen gegen meine Rippen pochte. „… Aber das stimmt doch gar nicht!“, unternahm ich einen kläglichen Anlauf, der stoischen Überlegenheit meines Partners die Stirn zu bieten, „Ich habe dir schon jede Menge über mich erzählt! Dekadenweise! Es ist einzig und allein dein Problem, wenn-… wenn du mir nie-…“ Hilflos hielt ich mitten im Satz inne. Mein Begleiter hob abwartend die Brauen. „Ich höre Ihnen also nie zu? Dann helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge.“ Statt einer Erwiderung wandte ich den Blick von der geblümten Decke ab und starrte hartnäckig zum Fenster hinaus, gen des sich stetig verdunkelnden Abendhimmels, an dem gerade noch die letzten weichen Strahlen der untergehenden Sonne zu sehen waren, als stünde dort die passende Antwort mit roter Tinte auf die Wolken geschrieben. Bis ich plötzlich voller Entsetzen den verdächtigen, steinharten Kloß in meiner Kehle bemerkte. Und das Schlimmste war, dass Kurogane es ebenfalls zu sehen schien. „… Sieh an.“ Schritte entfernten sich. Eine Hand legte sich auf den Knauf der Eingangstür. „Dann werden Sie gewiss nichts dagegen haben, wenn ich mir die Gegend ein wenig ansehe.“ Ich gab keine Antwort. Meine Kehle fühlte sich wie eingefroren an. Der Schwarzhaarige schien mein Schweigen jedoch als ein ‚Nein‘ zu interpretieren, denn er öffnete die Tür und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer – und ließ mich mitsamt einem Kopf voller Gedanken allein. Die Stille legte sich über den Raum wie ein Meer über Täler. Alles schwamm. Die Welt schwamm vor meinen Augen, genau wie das erste Mal, als ich sie unter Wasser gesehen hatte, und dennoch sah ich es nicht. Ich wusste nicht, wie lange ich so dasaß – beide Hände fest in die Decke vergraben, die Beine schmerzhaft eng verschränkt, den Kopf gesenkt – doch die Sonne war schon längst untergegangen, als ich bemerkte, dass sich meine Wangen sonderbar feucht anfühlten. Mit einem lautlosen Seufzen reckte ich mich, um den Drehknopf des Radios zu erreichen, das auf dem Nachttisch neben dem Bett stand, und nach einem Kanal zu suchen. Die dritte Folge Kimono Girls. Drei jugendliche Heldinnen gegen einen nimmersatten Drachen, der meinte, infolge mangelnder Nahrung den Erdball verschlingen zu müssen. Träge lauschte ich der dynamischen Erkennungsmelodie, ohne sie wirklich zu hören. Alles, was ich noch zu hören glaubte, war die Stimme meines Leibwächters. Leise. Besonnen. Und dafür umso brutaler. Sie reden über alles, nur um nicht über sich selbst reden zu müssen. Und das Herz wurde mir schwer, tonnenschwer, als mir klar wurde, dass er Recht hatte. Ich warf wütend die Tür ins Schloss, ohne sie zu laut zu knallen. Schließlich musste nicht die ganze Etage mitbekommen, dass wir uns – mal wieder – in den Haaren hatten. Ich war mir sicher, mit dem was ich gesagt hatte, Recht zu haben. Trotzdem fühlte ich mich seltsam unwohl dabei. Doch um ins Zimmer zurückzukehren, war ich zu stur und vor allem zu aufgebracht. Natürlich brauchte ich mich hier nicht mehr umsehen, da ich mich bereits hier auskannte. Ich könnte mit Mizuki sprechen, aber wahrscheinlich war sie bereits in die Familienwohnung zurückgekehrt und da es schon später war, wollte ich nicht unnötig stören. Außerdem – wenn sie irgendetwas Wichtiges hätte, dann würde sie mir wahrscheinlich ‚zufällig’ über den Weg laufen. Direkt ansprechen würde sie mich wohl kaum, ihr schien die ganze Sache von früher noch immer unangenehm zu sein. Was durchaus verständlich war. Oder es hatte wieder angefangen. Doch das glaubte ich nicht unbedingt…. Wenn, dann versteckten sie alle hier sehr gut. Ich würde sie bei Gelegenheit einfach darauf ansprechen… Doch was tat ich bis dahin? Zurück wollte ich noch nicht – ich wollte nicht wieder mit Fye reden oder auch anschweigen. Und außerdem liefen im Radio gerade die Kimono-Girls. Das musste ich mir nicht antun… Auf dem Gang herumstehen war allerdings auch nicht unbedingt die beste Lösung. Am besten war es wohl, dass ich ein wenig spazieren ging. Ich kehrte erst weit nach Mitternacht ins Zimmer zurück. Das Radio lief noch immer, allerdings war die Sendezeit längst vorbei und es kam nur noch ein knisterndes Rauschen aus den Lautsprechern. Fye schlief, er hatte sich auf dem Bett zusammengerollt und das Gesicht in den Armen versteckt. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich vermutete mal, dass er vor Enttäuschung und Erschöpfung irgendwann eingeschlafen war. Da er das Bett völlig in Beschlag genommen hatte, ließ ich mich daneben auf den Boden sinken und lehnte mich mit dem Rücken gegen das Bett, nachdem ich das Radio ausgestellt hatte. Ich verschränkte die Arme und schloss die Augen. Besser, ich schlief ein bisschen, der Tag würde wahrscheinlich anstrengend werden… Ich wusste nicht, wie Fye reagierte, wenn er aufwachte. Wahrscheinlich würde er so tun, als wäre nichts gewesen. War für den Auftrag hier vielleicht nicht mal verkehrt, aber trotzdem konnte ich dieses aufgesetzte Getue nicht leiden. Vorhin hatte ich Fye wahrscheinlich ziemlich verletzt, mit dem, was ich gesagt hatte – aber es war nun mal die Wahrheit. Ich wusste das und er wusste es wohl auch. Über diesem Gedanken schlief ich ein. „Hey…“ Eine Berührung an der Schulter weckte mich. Fye hockte hinter mir auf dem Bett. Er sah ein wenig verschlafen aus, als ich mich über die Schulter hinweg zu ihm umsah. Aber er grinste. Ich konnte es in der leichten Dämmerung sehen. „Was machst du denn da auf dem Boden..? Das ist unbequem und schlecht für die Wirbelsäule und den Rücken!“ Er griff nach meinem Oberarm, anscheinend, um mich aufs Bett zu ziehen. „Wie kannst du bloß so schlafen…?“ „Wie kommen Sie dazu, mich mitten in der Nacht zu wecken, nachdem ich es geschafft hab, einzuschlafen?“ Es war genaugenommen vier Uhr morgens. Viel zu früh… Wieso war er wach…? „Tut mir Leid…“, meinte er. „Ach ja?“ „Ja… komm schon… ich hätte mich nicht so breit machen sollen…“ Er rückte auf die eine Seite des Bettes und klopfte mit der flachen Hand auf die andere Seite. „Ich werd dich auch nicht wieder wecken.“ Ich hievte mich aufs Bett. Der Boden war wirklich nicht unbedingt bequem. „Das hoffe ich für Sie“, murrte ich und drehte mich auf die Seite, während ich die Decke über mich zog. Ich spürte, wie er sich ebenfalls hinlegte. Allerdings schien es ihm ein wenig unbehaglich zu sein, auch wenn er versuchte es zu verbergen. Wenigstens sagte er nichts mehr. Doch ich konnte nicht schlafen – und er ebenso wenig. Er lag zwar ruhig da, aber offensichtlich wach. Ich drehte mich zu ihm um. Wie erwartet hatte er die Augen auf und starrte die Decke an. „Weißt du, Kuro-ne… du hattest recht. Ich rede über alles, nur nicht über mich“, fing er leise an. „Aber glaub mir, das tue ich nicht, um dich zu ärgern. Es ist einfach so…. Du hast sicher auch deine Gründe, nicht viel über dich zu erzählen, oder?“ „Hmn.“ Damit hatte er wohl recht. „Zum Beispiel…die Narbe. Oder woher du Mizuki-san kennst… Und ich habe meine Gründe, nicht über meine Vergangenheit zu sprechen. Es … es tut einfach zu weh, weißt du?“ „Ich habe nie danach gefragt“, gab ich zurück. Er sah mich an. „Nein, das hast du nicht. Aber ich weiß, dass es dich interessiert. Ich bin auch neugierig, aber ich werde auch nicht mehr fragen. Einverstanden…? Irgendwann…irgendwann werde ich es dir vielleicht erzählen. Alles, meine ich. Meine Gründe. Aber noch nicht jetzt. Und… ich würde mich freuen, wenn du dann auch etwas über dich erzählst…“ „Ist das so?“ „Ja. Wenn es so weit ist…“, meinte er und sah wieder zur Decke. „Wenn es nicht mehr so wehtut.“ „In Ordnung.“ Das brachte ihn zum Lächeln. „Ich hätte nicht gedacht, dass der bloße Gedanke hilft. Nicht allein zu sein… dass man nicht der Einzige ist, dem Schlimmes passiert ist, auch wenn man denkt, dass man der Einzige ist, den so etwas trifft…. Dir geht oder ging es genauso, hab ich recht…?“ Er schien keine Antwort zu erwarten, trotzdem nickte ich. „Ja.“ „Mehr will ich gar nicht wissen“, sagte er. „Mehr wollte ich auch nicht sagen.“ Wieder umspielte ein Lächeln seine Lippen. „Wir sind uns ähnlicher, als wir dachten, mhn?“ „…jetzt reden Sie wieder Unsinn“, murrte ich. „Ja… vielleicht tue ich das. Sonst rede ich doch noch über mich.“ „Dann halten Sie die Klappe und schlafen…“, meinte ich. Er lachte leise. „Ja, das sollte ich tun. Gute Nacht.“ „Hmn.“ Um acht Uhr fühlte ich mich nicht wirklich ausgeruht, aber zumindest war ich wach. Fye sah so aus, wie ich mich fühlte. Vielleicht auch ein wenig schlimmer. Doch er war anscheinend wieder der Alte, was hieß, dass ihn das keineswegs erschütterte. „Also dann!“, meinte er, als wir mit dem Frühstück fertig waren. „Dann wollen wir uns das Model mal ansehen, was? Aber nicht, dass du dich noch darin verknallst und mich verlässt!“ „Ich wird mich zurücknehmen“, murrte ich sarkastisch. „Ahahaha! Na, aber sicher doch…“ Er klopfte mir auf die Schulter und zog mich hoch. „Komm schon, nicht so faul~“ „… Und hier drüben hätten wir die Archive und das Verwaltungsgebäude.“ „Hyuuu! Das sieht ja geradezu bombastulös aus!“, trällerte ich wohlgemut und bestaunte die für yakitaitanische Architektur überraschend fortschrittlich gestalteten Gebäude mit den großzügigen Glasflächen, den flügelförmig gestalteten Eingängen, und den großen Zimmerpflanzen, die hinter fast jedem Fenster zu sehen waren. In einem der kleinen, proper gepflegten Gartenanlagen im Eingangsbereich war ein Gärtner, ein mageres kleines Männlein mit einem gewaltigen Pickel am Kinn, gerade dabei, den Rasen zu mähen, wobei er immer wieder Gefahr lief, seine weite Schürze mit der handlichen Sense im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig zu verstümmeln. „Guten Morgen, Daijou-san“, grüßte Mizuki ihn im Vorübergehen. „Ah, Tsuzukikatsu-san, guten Morgen“, erwiderte der Alte mit einem flüchtigen Nicken, ehe er uns stirnrunzelnd musterte. „Ist ja putzig, ich wusste gar nicht, dass Sie jetzt auch wieder Führungen für Oberschüler veranstalten.“ Auf Kuroganes Schläfe begann es bedrohlich zu pochen, sodass ich ihn lieber rasch weiterzog. „War das nicht ein Riesenaufwand für die architektonische Abteilung?“ „Aber natürlich, der Bau hat mehrere Jahre in Anspruch genommen.“ Das wunderte mich nicht. Hohe Gebäude waren in ganz Kongoseki Oka nicht sonderlich beliebt und waren eigentlich nur in Großstädten wie Funekana oder Yakitaito anzutreffen, da man für eine schnellere Bewältigung der Etagen stets gezwungen war, einen Paternoster einzubauen, einen gewaltigen hölzernen Kasten, der in einem Schacht mithilfe mechanischer, mit Stahlseilen gesicherter Rasterrollen unermüdlich seine Runden drehte und zu einer Seite offen war – die Seite, über die man die Korridore der einzelnen Etagen betreten konnte. Man musste sozusagen nur im richtigen Moment aussteigen, um zum gewünschten Stockwerk zu gelangen, doch leider hielt so ein Paternoster nicht sonderlich viel Gewicht aus – ich hatte leider schon bei mehreren nicht sehr appetitlichen Zwischenfall in Funekana den Notarzt spielen müssen, obwohl die auf radikale Weise in die Welt des Zweidimensionalen versetzten Opfer jedes Mal bereits bei Petrus vorsprechen mussten, als ich den Anruf erhalten hatte – und verursachte dazu ein unverhältnismäßig hohes Maß an Krach, wenn er rumpelnd in den Hochhäusern seine Bahnen zog. Mizuki jedoch schien meine Gedankengänge bereits zu ahnen. „Unsere Paternoster zählen zu den komfortabelsten und sichersten Modellen, die bisher in Kongoseki Oka existieren, Doktor“, erläuterte sie, während sie sich wieder in Gang setzte und wir ihr spornstreichs nachzockelten, „Wir unterhalten bis heute sehr gute Beziehungen mit einigen technischen Instituten in Noreno.“ Ich staunte nicht schlecht – Noreno galt als einer der fortschrittlichsten Kontinente, was die Produktion von Automobilen, unfallsicheren Fahrstühlen, Ferntelefonen, Radios und vor allem von absolut deliziösen Süßigkeiten anbelangte. „Das klingt in der Tat vielversprechend, Tsuzukikatsu-san!“, erwiderte ich fröhlich, während wir der jungen Frau den sauber asphaltierten Fußweg entlang folgten, der sich wie der verwundene Leib einer Schlange über die gesamte Insel zog und zu jedem Gebäude der F.I.E.S-GmBH führte, wenn man nur genug Geduld an den Tag legte, „Sie haben hier wirklich den Durchblick, alle Achtung! Wie eine wahre Visionärin! Bei diesem Verwaltungsaufwand wäre ich hier wohl schon lange rettungslos verloren! Stimmt’s, Kuro-tan?“ „Mmhn“, brummte mein – wie so oft missgelaunter – Leibwächter nur unbestimmt und starrte mit finsterem Gesicht und tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen an irgendeinen Punkt auf der Insel, den außer ihm vermutlich niemand sehen konnte. Mizuki hingegen schien dieses Kompliment auf gewisse Weise zu schmeicheln, denn auf ihren schmalen, farblosen Lippen flackerte für den Bruchteil eines Augenblicks etwas auf, das man mit etwas Fantasie als ein Lächeln deuten konnte. „… Danke sehr. Ist in den Beruf eines Arztes nicht auch ein gewisser Verwaltungsaufwand miteinbegriffen?“, erkundigte sie sich höflich, und ich lachte. „Ja, in gewisser Hinsicht schon, aber in diesem Bereich gibt es einige ziemliche Unterschiede – der ganze Papierkram, wenn ich es mal so salopp formulieren darf, bleibt in den meisten Fällen an den logierenden Ärzten hängen, also den Ärzten, die einer festen Praxis arbeiten und sich um viele Patienten gleichzeitig kümmern müssen“, erzählte ich, „Der Beruf eines Auftragsarztes ist es eher, sich auf einen kleinen Patientenkreis abzustimmen. Er bekommt die Botschaft und macht sich auf die Reise – über Berge, durch Täler und an Meeren entlang. Der Weg zu dem Patienten, für den man von seinen Telegrammboten ausgesucht wurde, ist fast so etwas wie eine Vorbereitung. Eine Vorbereitung auf den ganz bestimmten Patienten und sein ganz bestimmtes Problem. Denn man darf nicht vergessen, dass hinter jedem Patienten ein Individuum steht, das es kein zweites Mal auf der Welt gibt.“ Schweigen. Als ich den Blick wieder herunternahm, den ich für längere Ausführungen für gewöhnlich auf irgendeinen Punkt am Himmel fixierte, sah ich, dass Mizuki mich wortlos betrachtete. Es lag ein seltsamer Ausdruck auf ihrem Gesicht, den ich auch schon bei Kurogane hatte beobachten können. Eine leise, verhaltene Neugierde, wie bei einem kleinen Kind, das aus einem fremden Buch eine noch nie zuvor gehörte Geschichte vorgelesen bekommen hatte, und nun noch mehr hören wollte, mehr von diesen fremden, aufregenden Worten, dieser unbegreiflichen und dafür umso schöneren Geschichte – und gleichzeitig Angst hatte, als Antwort auf sein Bitten nur einen Schlag auf die Finger zu bekommen. „… Wirklich?“, wagte die junge Frau schließlich zu fragen. Ihre Stimme klang leise und dünn. „Ist es nicht… beschwerlich, solch lange Reisen zu unternehmen?“ Ich nickte. „Aber natürlich, beschwerlich ist es auf jeden Fall. Und es ist auch nicht immer lustig, vor allem, wenn das Wetter schlecht ist, oder man gerade feststellen durfte, dass einem der Proviant ausgegangen ist! Aber alles in allem könnte ich mir meinen Beruf ohne das Reisen nicht mehr vorstellen. Es ist… wie soll ich sagen? Es gehört bereits zu mir dazu. Zu meinem Leben.“ Wieder dieses kleine, farblose Schmunzeln. „Das sieht man Ihnen auch an, Doktor.“ „Bitte?“, fragte ich verwundert, doch Mizuki schüttelte nur scheu den Kopf. „Man sieht es Ihnen an. Dass es zu Ihrem Leben dazugehört, meine ich. Sie… Sie kommen von Weitem. Und Sie gehen ins Weite.“ Ich musste trotz meiner Überraschung lächeln, doch Kurogane schien es überhaupt nicht zu gefallen, dass ich mit der Tochter des leitenden Managers solch eine unkonventionelle, wenn nicht gleich – Herrgott! – vertrauliche Konversation führte, denn plötzlich senkte sich seine Hand warm und schwer auf meine Schulter. „Und was ist das da vorne?“, fragte er mit unüberhörbarem Nachdruck in der Stimme. Innerlich seufzte ich tief. Aha. Anscheinend hatte unser Gespräch mal wieder nicht das Geringste bewirkt. Jetzt war Mizuki schon seit sieben Uhr am Morgen damit beschäftigt, uns über die Anlage zu führen, seit knappen anderthalb Stunden also, und uns dabei gemäß dem Wunsch ihres Vaters alles aus dem Ärmel zu schütteln, was sie über die einzelnen Gebäude, die Gewinne, Verluste, Verbindungen, Höhen und Tiefen des Familienbetriebs wusste – und das war bescheidendlich angemerkt eine ziemliche Menge – und der Schwarzhaarige hatte außer verschiedenen Variationen seines düsteren Basis-Brummens noch keinen Laut von sich gegeben. War es noch immer wegen unseres Gesprächs, oder weil er schon wieder schlechte Laune hatte? Und warum in aller Welt hoffte ich, dass es sich um Ersteres handelte? Mizukis Stimme war es schließlich, die mich wieder aus meinen Gedanken riss. „… Es handelt sich um das sogenannte Fies-Village“, erklärte sie auf Kuroganes Frage hin und deutete auf die kleine Ansammlung von Häusern, die etwa dreißig Meter von der Verwaltungsabteilung entfernt errichtet worden war, „Es umfasst die Wohnareale der Mitarbeiter, die für den gewöhnlichen Arbeitsweg per Boot zu weit im Inland wohnen, und darüber hinaus auch einige Filiale größerer Einkaufsketten, um einen Ausgleich zum Arbeitsalltag zu schaffen.“ Die kleinen Bauten wirkten mit ihren verschiedenfarbigen Fassaden, spitzen Giebeln und bunt gemusterten Ziegeldächern seltsam zusammengewürfelt und hatten in ihrem Gegensatz zu den unerhört großen, unerhört futuristischen Verwaltungs- und Produktionsgebäuden etwas Niedliches, beinahe Puppenhaftes – was bereits genügte, um meine ungeteilte Begeisterung zu wecken. „Hyuuuu! Nein, ist das niiiiiedlich!“, entzückte ich mich und warf hingerissen beide Arme in die Luft wie ein Cheerleader auf dem Weg zur Hyperventilation, sodass ich meinem Reisegefährten beinahe eine ungewollte Maulschelle verpasst hätte, „Seht euch das nur an, ist das nicht kuschelig?? Das sind die putzigsten Häuser, die ich jemals gesehen habe, ach! Man will sie am liebsten in den Armen wiegen, sie auf den Schoß nehmen, ihnen eine Geschichte vom großen bösen Mundmediziner Dschingis-Zahn vorlesen und ihnen dann zur Nacht einen dicken fetten Schmatz aufdrücken! Ist es nicht so?“ Bei Kurogane verfehlte mein Sturm der Heiterkeit mal wieder um Meilen sein Ziel, da er sich offenbar dazu entschlossen hatte, einen neuen Schweigerekord aufzustellen, und für meine Bemühungen nur ein weiteres, dumpfes Brummen übrig hatte – doch zumindest bei Mizuki schienen meine Bemühungen endlich Wurzeln zu schlagen, denn sie senkte mit einem matten Schmunzeln den Blick. „Die Architektur geht auf einen Vorschlag unseres ältesten Baumeisters zurück“, erklärte sie leise, „Er wollte einen Kontrast zu den Verwaltungsgebäuden schaffen.“ „Und was gibt es dort so an Läden?“, fragte ich neugierig weiter, denn ich hatte bereits feststellen können, dass das Mädchen sich offenbar immer noch am wohlsten fühlte, wenn es Vorträge halten konnte. Je länger man selbst an einem Problem zu kauen hatte, desto dringlicher wurde der Wunsch, es zu lösen – wenn auch nur bei anderen Personen als bei sich selbst. „Neben einigen herkömmlichen Wohnhäusern sind einige Tochterläden bekannter Kollonialwarenketten dort angesiedelt, unter anderem auch ein Melrose -Filiale, wegen unserer Verbindungen zu Nore--…“ „Melrose??!“, stieß ich nun vollends beseelt hervor, „Ist das nicht dieser Super-Duper-Süßigkeitenladen?? Das Noreno-Paradies, in dem man sich verirren kann, wenn man nicht aufpasst?? Und in dem es diese göttlichen Naschereien zu kaufen gibt??“ „Nun ja-…“ „Nun hören Sie schon endlich auf, Mann“, ließ sich mein Bodyguard, dem es anscheinend nicht in den Kram passte, dass Mizuki und ich uns besser verstanden, als er es erwartet hatte, endlich zu einer verbalen Äußerung herab, die aus mehr bestand als nur aus undefinierbarem Gebrummel, „Wenn Sie sich die Größe dieser Hütten ansehen, werden Sie sich in dem Melrose -Schuppen wohl kaum verirren können! Und darüber hinaus ist das Zeug, das man dort kaufen kann, nicht göttlich, sondern ekelerregend“, schloss er mit einem Unterton, der so vernichtend anzuhören war, dass er wohl jeden noch so dreisten Imperator durch seine bloße destruktive Aura vom Pferd geworfen hätte. Ich war zwar kein Imperator, doch auf mich hatte es in just diesem Augenblick eine doch recht ähnliche Wirkung. „Waaaaaaaaaaas??“, „Das Zeug ist nicht göttlich, sondern ekelerregend!“ „Was hast du…?“ „Nicht göttlich, sondern ekelerregend!!“, wiederholte der Schwarzhaarige gereizt. Es stimmte zwar, dass die für Noreno landestypischen Süßigkeiten nicht jedermanns Sache waren, da sie sich durch exorbitante Geschmackskombinationen und einen Zuckergehalt auszeichneten, der jeden Diabetiker ohne Umwege unter die Erde befördert hätte – beispielsweise war ein ‚normaler‘ Noreno-Lutscher von Melrose von oben bis unten mit kandierten Kirschen, Pflaumen und in Honig gerösteten Erdnüssen bedeckt, mit Marshmallowmasse überzogen und mit mindestens drei verschiedenen Sorten Fruchtsirup garniert – doch dafür hatten sie mindestens ebenso viele treue Verehrer, mich mit eingerechnet. „Diese Wörter…!“, stammelte ich fassungslos, „Kann man die überhaupt in einem Satz-…?“ „Und wie man das kann!!“, bellte Kurogane augenblicklich, „Was so ein cholesterinverseuchter Krempel nur für einen Nutzen haben soll!“ „Einen mannigfaltigen Nutzen!“, trällerte ich beschwichtigend und hängte mich unter Mizukis fragenden Blicken an den Arm meines Leibwächters, „So viele verschiedene Arten von Nützlichkeit, dass ich dir bis morgen nicht alle aufzählen könnte! Und davon abgesehen ist ganz einfach gut für dich!“ „Ach ja? Ist es etwa gut für mich, wenn ich einen Schwabbelbauch, Gurkenbeine und Waschlappenarme bekomme?“, fragte der Schwarzhaarige nur lahm zurück. „Aber nein, natürlich nicht, ich meine-… gut für die Seele!“, gab ich sanft zur Antwort und sah ihm mit dem treuherzigsten Blick in die Augen, dessen ich gerade fähig war. „Gut für die Seele, von wegen!“, schnappte er jedoch nur, „Ich hab keine Seele!“ Ein entsetzliches Schweigen machte sich breit. Ich glotzte meinen Bodyguard an, und erwartete schon fast, dass die ersten sich kräuselnden Rauchfahnen der Hölle aus seinen Nasenlöchern aufquollen, dass ihm gewundene Hörner aus den Ohren wuchsen, oder irgendetwas anderes grauenvolles passierte. Als sich keine meiner Horrorvisionen bewahrheiteten, fand ich meine Stimme wieder. „Was, im Ernst?“ „Wie, ‚Was, im Ernst‘?!“ „Du hast im Ernst keine Seele?“ Der Schwarzhaarige stöhnte. Heute rangierten bei ihm wohl ausschließlich Gutturallaute auf der Top Ten seiner verbalen Äußerungen. „Sehe ich für Sie etwa nicht ernst aus?“, gab er entnervt zurück. Ich musterte ihn. Ein Grabesblick, für den sich kein Sensenmann hätte schämen müssen, struppige schwarze Augenbrauen, die zusammengekniffen über den Lidern hingen wie ein Gewittergewölk und mit ihnen wetteifern zu schienen, wer es eher bis zur Nasenwurzel hinunterschafften, und eine gefährlich zuckende Ader an der Stirn. „Eh… doch.“ „Na also.“ „Aber glaub mir, es ist schön, eine Seele zu haben!“, beteuerte ich eifrig und konnte es nicht verhindern, dass sich mein Zeigefinger verselbstständigte und munter die Wange meines Reisegefährten zu bearbeiten begann, „Man sieht alles gleich viel optimistischer! Außerdem hat man eine größere Chance aufs Himmelreich! Wie wäre es, wenn wir nach der Erledigung des Auftrags kurz bei Melrose vorbeischauen und uns jeder einen groooooßen, leckeren Candypop Bud ho-…“ „Nur über meine Leiche“, zischte mein Bodyguard augenblicklich, „Bevor ich mich mit diesem todgetränkten Müll verseuche, arbeite ich lieber in, in-… einem Fusselwurm-Restaurant!!“ „Wir gehen ins Melrose!“, zwitscherte ich unbeeindruckt. „Nein!“ „Wir gehen ins Melrose, Kuro-wanko! Und dann essen wir Chocolate Marshmallows, Dream Cream Cakes, Candypops-…“ „NEIN!!” „Wir gehen, wir gehen, wir gehen! Dies ist eine Seelenrettungsmission! Wollen Sie vielleicht mitkommen, Mizuki-san? Wir müssen Kuroganes Seele retten! Oder nein, was heißt da retten, wir müssen sie gebären!“ „AAAAAARGH!!“ Die Hände des Schwarzhaarigen zuckten unverheilkündend, als klammerten sie sich bereits um einen imaginären Hals, doch bevor er daraus einen echten Hals machen konnte, piepte plötzlich etwas in der Hosentasche von Mizukis dunkelgrauem Hosenanzug. „Hey, in diesem Land ist Kükenschmuggel verboten!“, rief ich tadelnd aus, und Mizuki lachte – zum ersten Mal an diesem Morgen. Klein, verloren, doch immerhin tat sie es. „Aber nein, Doktor, es handelt sich um die Signaluhr, die mir mein Vater mitgegeben hat“, erklärte sie höflich und zeigte mir die kleine, schwarze Gerätschaft, die in der Tat gewisse Ähnlichkeiten mit einer Uhr aufwies, dafür jedoch viel mehr Knöpfe besaß, „Sie ist auf exakt acht Uhr fünfundvierzig gestellt, damit Sie das Einweisungsgespräch nicht versäumen. Es wäre sowohl meinem Vater als auch mir ein ganz besonderes Vergnügen, Ihnen das Model vorzustellen, um das es in unserem Schreiben ging.“ „Ah, verstehe! Na, dann nichts wie auf mit uns, was?“, erwiderte ich fröhlich und schlug geckenhaft meine Hacken zusammen, „Wir wollen doch schließlich nicht zu spät kommen! Eh-… würde es Ihnen etwas ausmachen, uns dorthin zu begleiten, Tsuzukikatsu-san?“ „Sagen Sie ruhig Mizuki zu mir“, gab die Tochter des Managers freundlich zur Antwort, „Und es macht mir nichts aus, im Gegenteil. Es wäre mir eine große Ehre, zugegen zu sein, wenn Sie unsere Diva persönlich kennen lernen. Und… u-und die Einladung nehme ich gerne an. Die Einladung ins Melrose, meine ich. Ich… weiß zwar nicht, ob ich gut darin bin, Seelen zu gebären, aber…“ „Ach, das macht doch nichts!“, beschwichtigte ich sie vergnügt, „Das erledigen bereits die Chocolate Marshmallows! Sie werden sehen, so eine Seele ist schneller geboren, als ein Hefepilzgeflecht im-…“ „Wo werden wir erwartet?!“, unterbrach Kurogane mich zornschnaubend und setzte der Unterhaltung radikal ein Ende, bevor sie überhaupt richtig hatte anfangen können. „In den Aufnahmestudios“, erklärte Mizuki gehorsam und wies mit einer knappen Handbewegung auf eines der ausladenden, u-förmigen Gebäude, die wir vor einer guten Stunde noch als Touristen besichtigt hatten, „Bitte, wenn Sie mir nun folgen wollen?“ Mit diesen Worten setzte sie sich in Bewegung. „Wie ist das Model so?“, fragte Kurogane nach einem längeren, doch etwas unangenehmen Schweigen skeptisch – allem Anschein nach hatte sich seine allgemeine Aversion gegen Frauen wieder in Gang gesetzt und schraubte nun hinter seiner Stirn an sämtlichen Rädchen. „Oh, sie ist etwas sehr Besonderes. Sie werden sie gewiss sehr gut leiden mögen“, entgegnete die Tochter des Managers jedoch beruhigend, „Sie ist genügsam, gut zu den Fotografen, stellt keine hohen Ansprüche… nun, sie ist vielleicht von etwas ausladendem Wuchs, aber genau deswegen haben wir sie auch hier eingestellt.“ „Ehrlich?“, staunte ich, „Ein großes Mädchen also? Wie heißt sie denn?“ Mizuki drehte sich nicht um, doch an ihren deutlich hervortretenden Wangenknochen konnte man sogar von hinten erkennen, dass sie schmunzelte. „Nemopilema Nomurai Gigantea“, sagte sie. Und das genügte bereits, dass bei ich endlich verstand. „Waaaaaas, im Ernst?? Na sowas aber auch, du liebe Zeit!“, trällerte ich begeistert, „Na, dann brenne ich erst recht auf das Vorstellungsgespräch! Bestimmt ist sie eine wahre Göttin, stimmt’s?“ „Oh, das ist sie, Sie werden sehen.“ Kurogane, der meine Freude wie so oft nicht teilen konnte, hob lediglich misstrauisch die Augenbrauen. „Ein verdammt komischer Name für ein Model“, stellte er stirnrunzelnd fest, „Ist das etwa so eine Art Schönheitstitel, oder was?“ „Aber nein, Kuro-wan, ganz und gar nicht!“ „Was soll es dann bitteschön bedeuten?“ Ich sagte es ihm. Man konnte den Groschen förmlich fallen hören. Doch anscheinend war er für einen ausgewachsenen Tobsuchtsanfall früh am Morgen einfach noch zu müde, obwohl er sich sichtliche Mühe gab. Mit einem bodenlosen Seufzen winkte er schließlich ab. „… Na ja. Ich hab ja erwartet, dass da irgendetwas faul ist. Aber dass sie eine Riesenqualle ist…“ Kapitel 20: Oodinium Pillularis - 4 ----------------------------------- Es war unerhört. Der gepflegte graue Haarschnitt des leitenden Managers bebte förmlich vor Begeisterung, als wir zu dritt die Eingangshalle des Aufnahmestudios betraten, durch deren weitläufigen Fenster die Sonne des frühen Mittags einfiel und den gesamten Raum in weiches, ruhiges Licht tauchte. „Aaaah, hier ist ja meine Prinzessin!“, rief der sonnengebräunte Mann mit einem Lächeln, das seine gepflegten Zähne nur so blitzen ließ, und nahm Mizuki bei der Hand, „Und unsere beiden Retter in der Not hat sie auch mitgebracht! Kommen Sie, meine Herren, hier entlang, immer hier entlang! Ich bringe Sie zu unserer Diva!“ „Mit dem größten Vergnügen!“, erwiderte ich gut gelaunt, indes Kurogane nur eines seiner undefinierbaren Brummlaute hören ließ, die mich immer an einen missgelaunten Kodiakbären denken ließen, und verschränkte wohlgemut die Arme auf dem Rücken, während wir Tsuzukikatsu senior durch den Eingangsbereich in einen hohen, leicht abgedunkelten Gang folgten. Im Gegensatz zu dem Foyer entbehrte er jeglicher unnötiger Einrichtungsgegenstände, sondern beherbergte zahllose, unter schweren, schwarzen Tüchern verborgene Gerätschaften, manchmal nur faustgroß, manchmal von den Ausmaßen einer jungen Giraffe. „Arbeitsmaterial“, erläuterte Tsuzukikatsu, des Eigenlobes niemals müde, „Ausfahrbar, tragbar, und für unsere Fotografen unersetzbar. Hier bei F.I.E.S arbeiten wir nur mit den effizientesten Apparaten, um für unsere Kunden die größtmögliche Aufnahmequalität zu erzielen, was Bildschärfe und Farbenfülle anbelangt. Sie können sich äußerst glücklich schätzen, normalerweise dulden unsere Fotografen bei ihrer Arbeit nicht die geringste Unterbrechung…“ „Woran arbeiten Sie zurzeit?“, dämpfte Kurogane mit gnadenlos trockener Rationalität die Begeisterung unseres selbsternannten Führers. „Zurzeit nehmen wir an dem interkontinentalen Fotografiewettbewerb ‚Die wundersame Welt des Meeres‘ teil“, erklärte der Manager, während wir vor einer niedrigen, gebeizten Tür zum Stehen kamen und er in seinen Jacketttaschen nach dem passenden Schlüssel wühlte, „Zu diesem Zweck haben wir unser größtes Aufnahmestudio in ein Aquarium umfunktioniert und zwanzig verschiedene Arten von Meereskreaturen aus dem Kayionobannan hier einquartieren lassen, weil Fotoarbeiten auf hoher See unseren Kostenrahmen gesprengt hätte.“ „Wir haben natürlich streng darauf geachtet, jedes unserer Fotomodelle artgerecht zu halten und zu ernähren“, fügte Mizuki hinzu, „Und bisher gab es auch keinen einzigen Fall von Krankheit, bis auf…“ „Bis auf die Nemopilema“, ergänzte ich und rieb mir nachdenklich die Nase, „Nun, dann werde ich mir die Unterkunft wohl ebenfalls ansehen müssen. Ich hoffe, ich habe hierfür Ihr Einverständnis?“ „Aber natürlich, Doktor“, meinte Tsuzukikatsu mit einem weiteren zuvorkommenden Lächeln, während er die Tür aufschloss und uns durchwinkte, „Kommen Sie! Ich bin mir sicher, dass Ihnen unsere kleine submarine Ausstellung gefallen wird!“ Und das tat es auch. Kaum, dass wir hinter dem leitenden Manager die langgezogene, von kühlem Meerwasser- und Seetangduft erfüllte Galerie betraten, war ich bereits vollständig davon eingenommen. Der gesamte Boden war mit glatten, opalblau glänzenden Fliesen ausgelegt, ebenso wie die Wände, in die in regelmäßigen Abständen mächtige Aquarien eingelassen waren, in denen das Meerwasser in einem künstlichen Gezeitenrhythmus wogte und unter Saugen und Schmatzen gegen das verstärkte Glas klatschte. Ein einziges Geflecht von schillernd hellen Reflexionen tanzte an der bogenförmig geschwungenen Decke hoch über unseren Köpfen und spiegelte sich in den Fliesen und auf unseren Kleidern. Doch das war noch lange nicht das Interessanteste, denn in jedem Aquarium schwebte, tanzte, glitt und trieb eine einzige Arten- und Farbenpracht der verschiedensten Meeresbewohner. In einem Becken glitt mit geblähten Brustsegeln eine ganze Schule arcobalenischer Feuerfische an uns vorbei, deren langgezogene, geschmeidige Schuppenleiber wie lebendig gewordenes Magma glühten, während am Aquariumsboden tief tintenschwarze Gründlerwelse auf Steinen und zwischen Wasserpflanzen verborgen lagen, die schleierförmigen Flossen eng an den breiten Rücken gezogen. In einem anderen Becken jagten sich vier spielende Nixenkinder mit weißsilbrig schillernden Fischkörpern und fast hüftlangem, seidig schimmerndem Haar durch das Wasser und ließen sich vergnügt in der Tide treiben – Kurogane zerrte mich energisch weiter, als ich meine Nase an die Scheibe drückte und ihnen zuwinkte -, mächtige Tritonschnecken saugten sich gemächlich an den gläsernen Aquariumswänden entlang und stellten uns ihr farbenprächtiges Gehäuse zur Schau, Teufelsrochen zogen in anmutigem Segelflug in einem Becken ihre Bahnen, das in der Decke eingelassen war, ein Rudel speerdünner Katzenhaie mit scharf geschnittenen Brustflossen und kleinen, weißen Bärten kreuzte unseren Weg, ganze Schwärme winziger, schillernd bunter Schiffshalter tanzten ihren schwerelosen Tanz, stoben jäh auseinander und sammelten sich wieder, in einem Rhythmus, den allein sie wahrnehmen konnten. Mizuki bemerkte meine wortlose Begeisterung und lächelte flüchtig. „Es hat uns sehr viel Zeit und Mühe gekostet, unsere Modelle unbeschadet hierher zu transportieren und komfortabel unterzubringen.“ „Aber das ist Ihnen dafür auch nach Strich und Faden gelungen!“, lobte ich die blasse, junge Frau überschwänglich, „Das ist ja nahezu haarsträubend lebensecht! Wenn das schon hier so wunderbar aussieht, wie werden dann erst die Aufnahmen aussehen?“ „Wir tun, was wir können“, meinte Tsuzukikatsu mit einem werbungsreifen Lächeln, ehe er in einer grandiosen Geste die Arme ausbreiteten, „Und hier haben wir sie, unsere Divenhalle!“ Noch während er sprach, verließen wir den Gang, der nun eine langläufige, trapezförmige Halle überlief, deren Innenraum stark abgedunkelt worden war und durch ein einziges, gigantisches Aquarium fast vollständig eingenommen wurde. Und in diesem Aquarium schwebte… „Whoooow!“, rief ich impulsiv aus und musste unwillkürlich den Reflex unterdrücken, beide Arme in die Luft werfen zu wollen, „Das ist ja gigantisch!“ Ein besseres Wort konnte es einfach nicht geben, denn das gewaltige Lebewesen, das da in dem ausladenden Rund des Aquariums schwebte wie eine Königin auf ihrem Thron, war genau das. Durch die samtige Dunkelheit, die die gesamte Halle ausfüllte, war der mächtige, gelatinös durchscheinende Korpus der Tiefseequalle in einen weichen, milchig bläulichen Schimmer getaucht, der sie ganz zu überziehen schien wie eine Aura. Ausgehend von der riesenhaften, pilzförmigen Kuppel ihres Hauptschirmes über ihren fast endlos lang wirkenden, von flachen gallertartigen Auswölbungen umkränzten Magenstiel bis hinab zu den langen, fangarmartigen Tentakeln, die ihren gesamten Körper umgaben wie ein Spiel aus zahllosen transparenten Bändern, musste sie mindestens zwanzig Meter messen. Durch sanftes, wellenförmiges Zusammenziehen ihrer Schirmlippen glitt die gigantische Qualle wie in Zeitlupe durch das dunkle Becken, während sich die blütenartigen Endlappen ihrer Tentakel in einem endlosen, bizarr anzusehenden Rhythmus öffneten und wieder schlossen. Bei jedem Öffnen glommen zwischen den Endlappen winzige, aber deutlich in der Finsternis erkennbare Lichtpünktchen auf. „Biolumineszenz“, flüsterte ich meinem Begleiter zu, „Die Fähigkeit, selbst oder mithilfe eines Symbionten Licht hervorzubringen. In der Tiefsee benutzt diese Quallenart diese Eigenschaft zum Anlocken von Beutetieren. Anschließend lähmt sie ihr Opfer mithilfe des Giftes ihrer Nesselzellen und führt sie zu ihrer Mundöffnung, die sich ganz unten am Magenstiel befindet. Ist sie nicht wunderschön?“ „Hmmh“, brummte Kurogane, ohne den Blick von der Qualle abzuwenden, „Ganz schön dick.“ Selbst in der Dunkelheit konnte ich die verdutzten Blicke unserer beiden Auftraggeber spüren, und unterdrückte nur mühsam ein empörtes Aufjapsen. „Also, Kuro-nyan! Quallen wie diese sind allenfalls groß, aber doch nicht dick!“ „Ach ja?“ „Ja! Ein Bär ist dick, eine Hummel ist dick, und vielleicht ist auch ein Mensch dick, aber eine Qualle? Ich dachte, das mit dem Differenzieren hättest du schon längst drauf!“ Ein abfälliges Seufzen. „Tsss. Ich bin auch nicht dick.“ „Habe ich auch niemals behauptet!“ „Aber Sie haben gerade gesagt-…“ „Ausnahmen bestätigen nun mal die Regel!“ „Ha! Wer lässt denn jetzt wen hier nicht ausreden?“, fuhr mir Kurogane schadenfroh in die Parade. „Ich bin Arzt, ich darf das!“, verteidigte ich mich sofort, „Und das war gerade ein Oxymoron, mein Bester!“ „Häh?!! Was für’n Ochse??“ Ein dezentes Hüsteln vonseiten des leitenden Managers unterbrach uns in unserem kleinen Disput. „… Meine Herren…?“ „Aber ja doch!“, brachte ich mich schleunigst auf den Boden der Tatsachen zurück und verschränkte beflissen die Hände vor der Brust, „In Ihrem Telegramm, Tsuzukikatsu-san, haben Sie geschrieben, dass Sie mit Details erst vor Ort aufwarten würden. Wenn ich Sie nun bitten dürfte, mir diese Details zu nennen? Es würde die Untersuchungen um einiges erleichtern.“ Der Mann nickte. „Mizuki-chan?“ „Nun, einige Wochen, nachdem wir die Nemopilema hier auf dem Firmengelände untergebracht hatten, fiel uns auf, dass sie sich zunehmend weniger bewegte und auch kaum mehr etwas zu sich nahm“, erläuterte Mizuki gehorsam. „Apathie und Appetitlosigkeit“, murmelte ich und zupfte an meiner Unterlippe, um meine grauen Zellen in Gang zu bringen, „Darf ich fragen, womit Sie sie füttern?“ „Mit Lebendfutter“, erklärte die junge Frau, „Fische, Schnecken, kleinere Quallen. Wir haben uns von einem Meeresbiologen beraten lassen, wie sich diese Quallenart in freier Wildbahn ernährt, und haben uns weitgehend danach gerichtet.“ „Verstehe… aber das normale Beutefangverhalten ist noch vorhanden?“ „Ja“, erwiderte Mizuki mit einem Nicken, „Sie fängt und betäubt ihr Futter noch immer, aber der Verzehr ist seit drei Wochen bereits ausgeblieben.“ „Und haben Sie die Qualle selbst schon untersuchen lassen?“ „Nein. Das nötige Hilfsmaterial ist allerdings vorhanden.“ Ich nickte wohlgemut und dehnte meine Fingerknöchel, dass es nur so krachte. Sehr schön. Endlich wieder etwas zu tun. „Einverstanden, dann wird es mir ein Vergnügen sein, mich persönlich darum zu kümmern!“ Mein Bodyguard starrte mich von der Seite an, als wäre mir soeben ein zweiter Kopf gewachsen. „Sie wollen was?!“ „Na, in das Becken, wohin sonst?“, gab ich im lautersten Unschuldston zurück, „Solange ich die Nemopilema nicht untersucht habe, kann ich keine Diagnose anstellen!“ „Sind Sie jetzt völlig übergeschnappt?!“, wetterte Kurogane augenblicklich los, „Das Vieh wird Sie fangen und mit Gift zupumpen, sobald Sie ihr zu nahe kommen!“ Mit großen Augen sah ich zu meinem erzürnten Reisebegleiter empor. „… Du musst dir keine Sorgen um mich machen, Kuro-rin.“ Der Kopf meines älteren Gegenübers erglühte bis unter die Haarwurzeln. „Sie-…!!“, stieß er heftig hervor, blieb jedoch bereits im Anlauf stecken und wandte sich schließlich gereizt ab. Mizuki sah ihm milde irritiert dabei zu. „Es gibt einen speziellen Blocker, den man auf die Haut auftragen kann und der verhindert, dass die Nesselfäden in die Haut eindringen und das betäubende Sekret injizieren können“, erklärte sie, wie um ihn zu besänftigen, „Und wir können selbstverständlich auch eine Sauerstoffmaske zur Verfügung stellen. Flourite-san wird nichts zustoßen, haben Sie keine Angst.“ „Mmmhhh“, murmelte Kurogane nur dumpf und starrte hartnäckig in eine andere Richtung, während die Tochter des Managers sich still entfernte. „Es wird nicht lange dauern“, versicherte ich unserem Auftraggeber, indes ich mich unter seinen skeptischen Blicken bis auf die Unterhose entkleidete, „Sobald mich die Nemopilema eingefangen hat, komme ich ihr nahe genug, um eine hinreichende Untersuchung durchzuführen.“ „Haben Sie das denn schon einmal gemacht?“, erkundigte sich Tsuzukikatsu doch etwas argwöhnisch, während seine Tochter mit einer großen, gelben Tube sowie einer Tauchmaske zurückkam und mir beides sogleich überreichte. „Oh ja, während meiner Promovationszeit“, erwiderte ich fröhlich und rieb mich sorgfältig mit dem Blocker ein – eine transparent durchscheinende, jedoch wachsdicke Masse, die sich starr und zäh wie Siegellack um meine Haut schloss, „Zwar an einem etwas kleineren Exemplar, doch ich denke mal, dass ich mit diesem Kaliber auch noch zurechtkommen werde. Also dann!“, ich stemmte beide Hände unternehmungslustig in die Seite und warf beide Beine für einige Aufwärmübungen in die Luft, „Darf man sich erkundigen, wo es hier ins Becken geht?“ „Gleich da hinten ist eine Leiter für das Personal, das sich um den Wasserwechsel kümmert.“ Rasch warf der Manager einen Blick auf seine Handuhr. „… Sieht so aus, als wäre es wieder Zeit für mich. Mizuki-chan, du bleibst hier, falls die Herren eine Frage haben. Ich muss wieder zurück ins Verwaltungszentrum. Viel Erfolg Ihnen, Doktor.“ „Besten Dank!“ Ich warf meinem noch immer beleidigten Leibwächter sowie unseren beiden Auftraggebern ein neckisches Winken zu, ehe ich mich dem Aquarium näherte und mich leichtfüßig auf die metallene Leiter schwang, die hinauf zum Beckenrand führte. Tief und von dem sanften Wogen der künstlichen Tide erfüllt tat sich das Wasser vor mir auf und schloss mich in eine kühle Umarmung, als ich die Tauchmaske aufsetzte und mich mit einem Hechtsprung hineinstürzte. Myriaden winziger Luftbläschen rauschten an mir vorbei. In langsamen Schwimmzügen stieß ich mich von der gepanzerten Glaswand ab und ließ mich in die Dunkelheit des Aquariums hinabsinken. Gewaltig und von gespenstisch bläulichem Licht erfüllt wie ein mächtiger Dom empfing mich die Riesenqualle mit dem sonderbar kalten Blinken und Funkeln ihrer Tentakel. Zeit, das Opfer zu spielen. Spornstreichs supste ich eine der geöffneten, weit ausgestreckten Tentakel an, die mir entgegenwuchs wie eine Blüte aus Glas, und drehte mich mehrmals rasch um meine eigene Achse. Wenige Sekunden später lösten sich auch schon zwei der kalt leuchtenden Fangarme aus ihrer Starre und glitten langsam auf mich zu, legten sich wie in Zeitlupe um meinen Rücken und zogen mich Stück für Stück tiefer, Richtung Magenstiel. Bald schon fand ich mich an den gelatinösen, glitschig weichen Leib der gewaltigen Wasserkreatur gepresst wieder, ihre giftigen Tentakel um mich gewunden wie in einer Umarmung. Tödlich fest, und gleichzeitig auf groteske Weise zärtlich. An meinem gesamten Körper spürte ich das hauchfeine Prickeln der unzähligen, haardünnen Nesselharpunen, die wieder und wieder aus ihren Zellen herauskatapultiert wurden, um sich in meine Haut zu graben, und dabei an der dicken Blockerschicht abprallten. Dicht unter meinem Bauch konnte ich die ‚Haut‘ des Magenstiels fühlen – eine kaum mehr als fingerdicke, gallertartige Membran, die jeder noch so kleine Fisch hätte durchbeißen können. So eine gewaltige Kreatur, und gleichzeitig so zart. Verletzlich. Ich spürte mein Herz flattern und saugte tief den komprimierten Sauerstoff in meine Lungen, um mich zu konzentrieren. Vorsichtig, denn ich wollte die Magenmembran des Tieres nicht verletzen, rutschte ich um ein Weniges aus der schleimigen Umarmung der Qualle heraus, um mir die Auswölbungen ihres Magenstiels näher zu besehen – und stutzte. Der gesamte Leib der Qualle war von winzigen, kaum erkennbaren Pünktchen übersät. Gelblich-weiß und körnig wie winzige, kreisförmig angeordnete Kokosflocken hoben sie sich von ihrer transparenten Körperhülle ab. Sofort untersuchte ich die fingerdünnen Tentakeln, die sich mittlerweile um meinen Fuß gewunden hatten – sie wies keine Anomalie auf. Unruhig warf ich einen Blick zum Kopfschirm des Tiers hinauf. Gelbe Verfärbungen überall. Aus der Ferne waren sie wegen der Biolumineszenz kaum zu erkennen, doch aus der Nähe waren sie deutlich sichtbar. Apathisch, appetitlos, grießartige Sprosse und gelbliche Verfärbungen am Körper. Wenn meine Vermutung stimmte, konnte es eigentlich nur noch eins sein. Wie um mir die nötige Bestätigung einzuholen, warf ich einen Blick zu den bauchigen Wänden des Aquariums, wo Kurogane noch immer mit Mizuki stand. In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, doch seltsamerweise wäre es genau das gewesen, was ich mir gewünscht hätte. Ich warf hin und wieder einen Blick zum Aquarium herüber – nicht dass die Qualle den Arzt doch noch fraß. Nun – wahrscheinlich wäre es zu spät, wenn ich das bemerken würde, aber ich wollte dann zumindest aus Prinzip darauf achten, dass das nicht passierte. Der Aufstand wegen den paar Fischen eben hätte er sich ja auch sparen können, obwohl es zugegebenermaßen eindrucksvoll war, was sie hier geschaffen hatten. „Wir werden versuchen, Farbfotos zu entwickeln….“, erklärte Mizuki gerade. Farbfotos waren weitaus schwieriger, selbst schwarzweiß war schon kompliziert und eben nicht immer gestochen scharf. Und dann auch noch bei sich bewegenden Objekten… Doch die F.I.E.S-GmbH hatte da schon immer eine Menge Selbstvertrauen gehabt, weswegen sie wohl auch so erfolgreich waren. Fye untersuchte die Unterseite der Qualle, zwischen den Tentakeln, und der Blocker und auch die Maske schienen zu helfen, denn er soff weder ab, noch wurde er von der Qualle gefressen. Er schien eine Menge Spaß zu haben und sehr fasziniert zu sein, den Eindruck hatte ich zumindest. „Willst du reden?“, fragte ich Mizuki unvermittelt, da wir momentan allein in diesem Raum waren – genau genommen war das Aquarium ja ein Raum für sich allein und durch das Glas und das Wasser konnte uns Fye sicherlich nicht hören. Mizuki sah mich ein wenig überrumpelt an und stockte in ihrer Erklärung, was es für F.I.E.S. bedeuten würde, diese Fotos nicht binnen einer Woche gemacht, entwickelt und gedruckt hätten. Und sie wirkte mittlerweile nicht mehr so nervös und angespannt. „Bist du deswegen hier…?“, fragte sie leise. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, dieses Mal ist es Zufall. Ich mach den Job von früher nicht mehr“, antwortete ich. „Aber es interessiert mich trotzdem, ob alles in Ordnung ist.“ Sie schien zu überlegen, nur ganz kurz. „Es ist alles in Ordnung“, sagte sie. „Es…es ist nicht wieder vorgekommen, seit damals…“ Ich sah sie forschend an, aber es schien zu stimmen, also nickte ich. „Das ist gut.“ „Ja, das ist es. Du hast mir sehr geholfen. Und ich konnte mich noch nicht dafür bedanken. Ich bin froh, dass ich es jetzt kann.“ Zögernd griff sie nach meiner einen Hand und drückte sie kaum merklich. „Danke.“ „Keine Ursache.“ Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht und sie schien auf gewisse Weise erleichtert zu sein und sah weit weniger unglücklich aus – auch wenn es sich nicht unbedingt in ihrem Gesicht abzeichnete. Es war eher innerlich, und vielleicht fiel es auch nur mir auf, da man wirklich genau hinsehen musste. Und es war eher ein Fühlen als direkt ein Sehen. Ein Plätschern und ein Prusten lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Becken. Fye war wieder aufgetaucht und schwamm jetzt zu der Treppe, um aus dem Becken zu steigen. Und ich wusste, dass er herausgefunden hatte, an was die Qualle litt – sein zufriedenes Gesicht konnte man bereits von hier aus erkennen. Tropfend schwang er sich von der Leiter und griff nach dem Handtuch, das Mizuki bereitgelegt hatte, in das er sich einwickelte und zu uns herüber kam. „Und?“, fragte ich, als er da war. „Oodinium pillularis – die Samtkrankheit!“, sagte er und setzte seinen Lexikon-Blick auf, „Oodinium pillularis ist ein bei Zierfischen und bestimmten Arten von Salzwassertieren ziemlich häufig auftretender Erreger und ein pflanzliches Geiseltier – und das Beste kommt noch, es sind Parasiten. Das parasitäre Stadium ist im ausgewachsenen Zustand nicht mal einen Zehntelmillimeter lang. Sie setzen sich auf der Haut des Fisches fest und wandeln sich zu birnenförmigen Parasiten um und wachsen dort ziemlich schnell heran. Oodinium pillularis kann auch in das Bindegewebe eindringen und dort Entzündungen hervorrufen.“ Er drehte sich zur Qualle um und breitete schwungvoll die Arme aus. „Von hier kann man es nicht sehen, wegen der Biolumineszenz und weil sie so klein sind, aber von Nahem kann man den gelblichen Hautbelag sehen. Und wenn man genauer hinschaut, kann man sogar erkennen, dass dieser sich schon in kleine Knötchen auflöst. Die befallenen Fische scheuern sich oft an Steinen oder Blättern und haben ausgefranste Flossen – bei dieser Qualle hier sieht man es nicht so sehr, da sie sich wegen ihrer Tentakel nicht scheuern kann. Aber stellenweise hat sich die Haut schon abgelöst… ach ja, und die von Ihnen beschrieben Apathie und Appetitlosigkeit passen perfekt ins Bild, das sind zwei der klassischen Symptome. Wären mehrere Tiere in dem Becken, würde eines nach dem anderen verenden.“ Mizuki sah sehr schockiert drein. „Sie wird sterben?“, fragte sie entsetzt und sah zu der Riesenqualle, die immer noch elegant durchs Becken schwebte und alles andere als krank aussah. „Aber nein! Die Krankheit lässt sich behandeln und da sie allein in diesem Becken ist, brauchen wir auch nur sie zu behandeln“, beruhigte der Arzt die junge Frau, „Ich empfehle ein Dauerbad mit Trypaflavin – das ist ein Antiseptikum, das auch in der Humanmedizin zur Desinfektion eingesetzt wird. Ich kann nicht garantieren, dass danach die Krankheit nicht wieder ausbricht, aber ich denke, wenn Sie die Behandlung ein wenig länger als vorgeschrieben durchführen, müsste es funktionieren.“ Er legte Mizuki die Hand auf die Schulter. „Keine Sorge, das Medikament lässt sich ganz schnell und sehr einfach herstellen.“ „Dann bin ich aber froh!“, erwiderte Mizuki sichtlich erleichtert. „Die Dosierung beträgt nullkommasechs Gramm auf hundert Liter Wasser“, fuhr Fye fort, „Man mischt das Trypaflavin mit ein wenig Wasser und gibt es ins Becken – allerdings sollten Sie die Temperatur auf Dreißig Grad Celsius erhöhen, und darüber hinaus muss es mindestens zwei Wochen auf das Tier einwirken.“ Mizuki nickte. „Würden Sie uns das aufschreiben, Doktor? Dann vergisst es niemand.“ Sie schien beeindruckt zu sein, dass er das alles im Kopf hatte. Nun – zugegebenermaßen war es das ja auch. Wer merkte sich denn bitte schön solch eine Krankheit, die nur bei Fischen vorkam, wenn man nicht gerade Tierarzt war? Wobei selbst die im Lexikon nachgeschlagen hätten, vermutete ich. „Und wo bekommen wir dieses Tyr….try….“ – „Trypaflavin“, half Fye ihr freundlich nach – „J-ja, bitte entschuldigen Sie… wo bekommen wir das her?“, wollte Mizuki wissen. „In der Apotheke. Ich habe leider keines dabei, ich verwende andere Desinfektionsmittel.“ „Wie viele Liter sind denn in diesem Tank?“, mischte ich mich ein. „Tausend? Zehntausend?“ „Sogar zwanzigtausend“, sagte Mizuki. „Das war gar nicht so einfach, aber die Nemopilema braucht eine Menge Platz.“ „Dann brauchen Sie hundertzwanzig Gramm Trypaflavin, mindestens!“, meinte Fye. „Die Mindestverkaufsmenge ist meist fünf Gramm, ich denke, hundertzwanzig Gramm sind eine ungewöhnliche, aber nicht unmögliche Menge.“ Logisch – wer hatte auch schon Platz für ein Zwanzigtausend-Liter-Aquarium? „Wann wollen Sie anfangen zu behandeln?“, fragte Mizuki, als wir beim Mittagessen saßen. „Sobald das Trypaflavin eingetroffen ist“, erwiderte Fye und versuchte zum wiederholten Male die Nudeln auf dem Weg zum Mund nicht wieder von den Stäbchen zu verlieren. Er schien immer noch Probleme damit zu haben – ich wusste nicht, wie lange er schon in Uranoke Sho lebte, aber man sah deutlich dass er es nicht von Anfang an gelernt hatte, mit Stäbchen zu essen. „Es ist eigentlich gar nicht kompliziert, aber wo wir schon mal da sind, wollen wir schließlich auch was für unser Geld tun.“ Er grinste und machte eine kleine Bewegung mit den Stäbchen. Und wieder verlor er die Nudeln. Wenn das so weiter ging würde er noch beim Essen verhungern. Es war erstaunlich interessant, ihm bei seinen Versuchen zuzusehen. Solange er sich auf die Stäbchen konzentrierte klappte es ganz gut, aber nebenbei noch etwas anderes zu tun, das schien er nicht zu beherrschen. Er schien zu merken, dass mich das amüsierte, denn er sah mich anklagend an. „Lach nicht, Kuro-nyan! Du könntest das sicher auch nicht, wenn du so gut wie nie mit Stäbchen isst!“ „Mhn. Keine Ahnung. Ich kenn’s nicht anders.“ Na ja, zumindest nicht wirklich. Natürlich gab es in andern Ländern Besteck, aber damit klar zu kommen war ja auch wesentlich einfacher. Auch wenn es mir leichter fiel, Stäbchen zu benutzen. „Siehst du! Du könntest mir wenigstens helfen.“ „Was soll ich denn da groß helfen…?“ „Keine Ahnung. Gib mir eben ein paar Tipps oder so….“ Mizuki schien ein wenig irritiert über diese Diskussion aus heiterem Himmel, mischte sich aber auch nicht ein, sondern aß weiter. „Tipps?“ Ich seufzte. „Konzentrieren Sie sich aufs Essen und reden Sie nicht dabei, dann klappt das ja schon ganz gut…“ Aus welchem Grund auch immer brachte ihn das zum Lachen. „Einen Versuch ist es wert. Aber leider bin ich nicht gut darin, schweigsam zu sein. Das kannst du auch viiiiiel besser als ich!“ Wieder schwang er seine Stäbchen wie ein Dirigent seinen Taktstock. „Außerdem unterhalten wir uns immer beim Essen.“ „Wir nicht.“ „Merkt man. Aber du unterhältst dich ja sowieso kaum.“ Es klang, als ob das eine Straftat wäre. „Sie reden ja auch genug“, feuerte ich zurück. „Na, einer muss es ja tun“, meinte er melodramatisch und grinste Mizuki an. „Und deswegen habe ich diese schwere Bürde auf mich genommen.“ „Haha. Schwere Bürde…als ob….“, murrte ich. „Dann kannst du sie mir ja mal abnehmen!“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil.“ „Weil…?“ „Weil.“ „Aber!“, empörte er sich. „Das ist doch kein Argument.“ „Doch. Oder können Sie da widersprechen…?“ Ich wollte gerade ein saftiges Gegenargument zurückfeuern, als das Geräusch von eiligen Schritten auf dem Gang vor der Kantine mich aufmerken ließ, sodass ich meine Nudeln prompt erneut von den Stäbchen verlor. Es war Mizukis Vater. Allem Augenschein nach schienen die Dinge im Verwaltungszentrum für ihn sehr gut gelaufen zu sein, denn er pfiff vor sich hin wie ein Kaminfeger, als er die Kantine betrat und in langen Schritten auf unseren Tisch zusteuerte. Offensichtlich musste man auf dieser Insel einfach nur existieren, um zu jeder Uhrzeit von ihm gefunden werden zu können. „Nun, meine Herren!“, begrüßte uns der Manager mit einem breiten, zähneglitzernden Lächeln und ließ sich am Kopfende des Tisches nieder, um uns alle im Blick haben zu können – klarer Fall von Konferenzkrankheit -, „Wie stehen die Dinge? Ich hoffe doch, dass Sie für das Prachtstück unseres Projekts alles wieder ins Lot bringen können?“ „Keine Sorge, das können wir“, versicherte ich Mizukis Vater wohlgemut und gab es auf, schon wieder mit den Stäbchen nach den Nudeln pieken zu wollen, „Die Nemopilema leidet an der sogenannten Samtkrankheit, soviel ist sicher. Die Krankheit kommt nicht nur bei Zierfischen und Süßwassertieren, sondern auch bei Bewohnern des Salzwassers ziemlich oft und gern vor und wird durch einen Parasiten übertragen, Oodinium Pillularis. Am häufigsten tritt die Krankheit unter Stress und nach Transporten auf, sozusagen das maritime Burnout-Syndrom, wahahahah…! Haha…! Ha…“ Schweigen und Blinzeln von allen Seiten. Ich räusperte mich verlegen. „… Nun, um es auf den Punkt zu bringen, lässt sich diese Krankheit jedoch leicht behandeln, solange man gründlich und gewissenhaft vorgeht“, wich ich sämtlichen wissenschaftlichen Details kurzerhand galant aus, da ich schon wieder Kuroganes Blick wie zwei Hornissenstacheln in meinem Nacken spürte, „Und zwar mithilfe eines Antiseptikums namens Trypaflavin. Die Behandlung wird etwa zwei Wochen dauern, doch es wird keine negativen Nebeneffekte mit sich bringen, das versichere ich Ihnen.“ Keine Antwort. Bei dem Wort ‚Antiseptikum‘ kühlte Tsuzukikatsus joviales Lächeln um einige Grade ab. „… Antiseptikum?“, hakte er mit gerunzelten Brauen nach, „Und wo gedenken Sie dieses Antiseptikum zu besorgen, wenn ich fragen darf? Ich dachte, Sie wären wie jeder andere Auftragsarzt selbst imstande, Medikamente herzustellen, und nicht auf Apotheken angewiesen!“ „Ich bin sowohl befugt als auch in der Lage, Medikamente selbst herzustellen“, erwiderte ich, doch etwas verwundert über den plötzlichen Umschwung seiner Laune, „Aber in einem Fall wie diesem empfiehlt es sich einfach, das Arzneimittel in der Apotheke-…“ „Ach ja?“, fiel mir Tuszukikatsu verärgert ins Wort, „Und wieviel von diesem Trypsaflammin-Zeug beabsichtigen Sie zu bestellen? Allein der Name klingt ja schon schamlos teuer!“ Hinter meinem Rücken spürte ich, wie Kurogane sich in seinem Sitz aufrichtete und Mizuki betreten den Blick senkte. Aha. Daher wehte also der Wind. Es ging mal wieder – schon wieder – ums Geld. „Die Bestellung ist bereits abgeschickt“, gab ich so ungezwungen wie möglich zur Antwort, „Wenn ich Arzneien per Einschreiben bestelle, tue ich das immer bei der Igazenko-Apotheke in Yakitaito. Sie ist sehr gut sortiert und liefert auch für meine Zwecke schnell genug. Die normale Verkaufspackung enthält etwa fünf Gramm Trypaflavin, aber da das Aquarium der Nemopilema knappe zwanzigtausend Liter fasst, habe ich hundertzwanzig Gramm best-…“ „WAS?!“, fuhr der Manager der F.I.E.S.-GmBH fassungslos auf und starrte mich an, als hätte ich ihm soeben gestanden, im neunten Monat schwanger zu sein, „Hundertzwanzig Gramm?! Das sind vierundzwanzig Packungen von diesem Zeug! Wieviel wird diese Gaudi dann überhaupt kosten?!“ „Um den Daumen gerechnet etwa zweihundert Transk-…“ Wieder fuhr mir Mizukis Vater über den Mund, er ließ mich einfach nicht ausreden. So viel also zum pfeifenden Kaminfeger. „Wie bitte?!!“, bellte er mich quer über den Tisch an, „Zweihundert Transkontinental-Dollar?! Wo sind wir hier, bei der Wohlfahrt? Sie sind Auftragsarzt, Himmel nochmal! Sie könnten dieses blöde Antiseptikum problemlos selbst herstellen, aber nein, Sie müssen unser Unternehmen mit so einer wahnwitzigen Bestellung schröpfen! Haben Sie eigentlich den Verstand verloren, Sie Intelligenzbestie, Sie hirnlose?!“ „He, mäßigen Sie gefälligst Ihren Ton, kapiert?“, entgegnete Kurogane kalt und legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter, „Er hatte nie im Sinn, Sie zu schröpfen. Er weiß genau, was er tut. Wohl schon wieder vergessen, wer hier wem einen Gefallen tut, was?“ Tsuzukikatsu wurde rot bis über beide Ohren hinauf. Man konnte ihm ansehen, dass er bereits zu einer deftigen Erwiderung ansetzte, doch der kühle, berechnende Blick meines Leibwächters genügte, damit ihm der Mund von selbst wieder zuklappte. Lähmendes Schweigen machte sich breit. Mizuki war blass geworden, jedoch war sie damit nicht die einzige. An meinem Innenohr konnte ich meinen Puls wie verrückt hüpfen hören. Kurogane schien es ebenfalls zu bemerken, denn ich konnte spüren, wie sich seine Hand leicht um meine Schulter schloss. Beruhigend. Und überraschend warm. Es irritierte mich, doch gleichzeitig lenkte es mich gerade so weit ab, dass ich das Gewirre meiner Gedanken ordnen und dem Manager ohne Vorbehalte in die Augen sehen konnte. „Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass Ihnen das Wohlbefinden Ihrer Schützlinge wichtig ist, Tsuzukikatsu-san.“ „In erster Linie ist mir das Wohlbefinden unseres Unternehmens wichtig, Doktor“, gab der Manager kühl zurück und erhob sich wieder von dem Tisch, um seine Krawatte zurecht zu rücken, „Die Wirtschaftslage ist auch ohne einen holdnaiven Medikus, der mit dem Geld anderer Leute um sich wirft, für unsere Branche schon hart genug. Es mag sein, dass die F.I.E.S.-GmBH ihren Gürtel straffer geschnallt hält als andere Unternehmen, aber dafür haben wir im Konkurrenzkampf auch die Nase vorne! Und eins sage ich Ihnen, diese Position gebe ich nicht einfach auf, nur weil Sie sich zu fein sind, sich vor den Mörser zu setzen!“ Er warf seiner Tochter einen Seitenblick zu. „Mizuki, du machst sofort diese Bestellung rückgängig. Ich bin nicht gewillt, zweihundert Transkos einfach zum Fenster hinauszuwerfen. Und sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede.“ Scheu hob Mizuki den Blick und sah zu ihrem Vater empor. Für einen flüchtigen Moment glaubte ich, Angst in ihren blassen Augen lesen zu können. „… Ja, Vater.“ „Sehr gut.“ Tsuzukikatsu nickte befriedigt, ehe er sich mir wieder zuwandte. „Und an Sie stelle ich folgende Bedingungen, Doktor – entweder Sie kratzen alle Pflänzchen zusammen, die Sie brauchen und stellen dieses dumme Zeug selbst her, oder Sie packen Ihre Koffer und verschwinden. Einen zweitklassigen Stümper, der nicht einmal in der Lage ist, ein Antiseptikum zusammen zu pantschen, werde ich nicht bezahlen. Und jetzt machen Sie sich an die Arbeit.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er die Kantine. Seine Schritte hallten wie Hammerschläge in meinen Ohren nach, während langsam aber sicher Gewissheit in mir emporkroch. Tsuzukikatsu hatte uns belogen. Er hatte uns nicht herbestellt, weil er das Schaffen der Auftragsärzte dieses Landes schätze. Er hatte gehofft, durch uns von einer unnötig hohen Rechnung verschont zu bleiben. „Alles in Ordnung?“, hörte ich unvermutet Kuroganes Stimme hinter meinem Rücken. Als ich mich umdrehte, blickten mich die zinnoberroten Augen ruhig an. „… Ja, ich denke schon“, brachte ich nach einem Augenblick der Verwunderung schließlich hervor und nickte, „Danke.“ „Wofür?“, wollte der Schwarzhaarige wissen. Ich zuckte die Achseln. „Dass du mir… Rückendeckung oder so gegeben hast. Danke.“ „Schon gut. Das ist mein Job“, erwiderte er und nahm seine Hand wieder von meiner Schulter. Ich wusste nicht wieso, doch seine Worte versetzten mir einen leisen Stich. „Und was machen wir jetzt?“, wollte Mizuki zaghaft wissen. Ohne mein willentliches Zutun stieß ich ein Seufzen aus. „… Nun, wenn wir nicht auf die Bedingung Ihres Vaters eingehen, ist damit niemandem geholfen“, stellte ich fest, „Weder uns noch Ihnen, und am allerwenigsten der Nemopilema.“ „Was bedeutet?“, hakte Kurogane mit gerunzelter Stirn nach. „Dass wir die Dinge in die Hand nehmen“, erwiderte ich schon etwas bestimmter, „Ich ertrage ja so manches, aber von einem aufgeblasenen Profitwichtel als zweitklassiger Stümper beschimpft zu werden? Nie, chéri.“ Ich nickte der blassen jungen Frau zu. „Machen Sie die Bestellung rückgängig, Mizuki-san. Und wir kümmern uns in der Zwischenzeit darum, dass alles in die Wege geleitet wird.“ „Und wie wollen Sie das anstellen?“, wollte mein Leibwächter nüchtern wissen, „Etwa auf dieser Insel nach Heilpflanzen suchen?“ Ich spürte, wie das Lächeln auf meine Lippen zurückkehrte, und schüttelte den Kopf. „Oh nein, mein Bester. Sie vergessen, dass wir nicht allein sind.“ Fragend sahen mir Kurogane und Mizuki dabei zu, wie ich in den weiten Taschen meiner hellen Hosen herumkramte, bis ich schließlich fand, was ich gesucht hatte. Unser Funktelefon. Mit einem neckischen Grinsen wedelte ich damit vor Kuroganes Nase herum. „Was meinen Sie? Wollen wir unsere gefiederte Freundin anrufen?“ Kapitel 21: Oodinium Pillularis - 5 ----------------------------------- Kapitel 21 Ich nickte. „Ja“, meinte ich. Keine schlechte Idee. Und Gwri würde es sicherlich schneller als der Blitz besorgen. Und hoffentlich auch das Richtige… doch die junge Harpyie war ja nicht blöd. „Aaaaalles klar!“, meinte Fye voller Elan und stellte die Frequenz ein. „Gwri? Kannst du mich hören? Ich bin’s, Fye…“ Es knackte und rauschte eine Weile im Funkgerät, doch dann ertönte Gwris Stimme. „Ja, ich kann dich hören Doktor Fleoratu!“ „Sehr gut. Hör mal Gwri… du musst einige Besorgungen für uns machen, ist das in Ordnung?“ „Aber natürlich. Gwri hilft gern. Was soll ich tun?“ Er erläuterte der Harpyie, was er brauchte, wo es zu finden war und wie es aussah. „Ich werde es sofort suchen, Doktor Fleoratu“, versprach die Harpyie, nachdem er seine Erklärungen beendet hatte. „Und dann komme ich direkt zu euch und bringe es!“ „Danke, Gwri! Du bist wirklich eine sehr große Hilfe. Ich wüsste gar nicht, was wir ohne dich machen sollten“, bedankte sich Fye überschwänglich. „Ich tue das gern. Ich will viel Gutes tun für euch. Ihr habt mich gerettet. Und jetzt will ich helfen.“ „Sehr gut. Du weißt ja wo wir sind. Komm her, sobald du alles hast.“ „Natürlich Doktor Fleoratu. Wir werden uns bald sehen. Darauf freue ich mich schon.“ „Und wir uns erst. Bis dann Gwri!“ Er schaltete das Gerät aus. „Na also. In ein paar Tagen wird sie wohl hier sein“, meinte er und nickte zufrieden vor sich hin. Wenigstens ersparte uns dies das Hin- und Hergeschippere. Ja, es war schon praktisch. „Flori-rin wird ihr sicher unter die Arme…äh, Flügel greifen“, fuhr er fort. „Wenn sie sagt, dass sie von uns geschickt wurde, ganz sicherlich.“ „Vielleicht sollten Sie ihn vorwarnen…“, meinte ich. Der Salbei war wohl einiges an Gestalten gewöhnt – aber eine Harpyie…? Na ja. „Mhn…“, machte Fye. „Stimmt. Ich wollt ihn sowieso noch mal fragen, ob Watanuki-kun und Doumeki-kun in der Engelssache weitergekommen sind….“ Er sah sich nach einem Telefon um, dafür brauchte er ja das Funkgerät nicht. Kurze Zeit später hing er schon am Hörer und telefonierte eifrig mit Florian. Der schien eine Menge interessantes Zeug zu erzählen, denn Fye stieß immer wieder beeindruckte Laute aus. Kurogane schien tatsächlich anzunehmen, dass es sich um ein wichtiges Telefongespräch handelte, denn er ging ausnahmsweise mal nicht dazwischen. Und diesen kostbaren Umstand galt es zu nutzen, obwohl ich mich bereits fragte, ob sich Florian des Öfteren Zigaretten nach eigenem Rezept drehte. Etwas weniger elegant ausgedrückt – er klang so zugedröhnt, als würde er bereits seit Stunden in einem mit den Ausdünstungen diverser Gräser vollgepumpten Gewächshaus sitzen, was ich ihm sogar durchaus zutraute. „… schon zum sechsten Mal in dieser Woche angefragt, aber glaubste, der olle Zigeunerbart lässt mich ins Kino gehn?“, jammerte seine schleppende Stimme träge an meinem Ohr, „Dabei issas ‘ne Sondavorstellung vonnen Kimono-Girls, Shit Mann, die Kimono-Girls sin sowas von korrekt, Mann, und weißu auch warum? Weil da gibt’s noch ‘n Glauben annas Gute inner Welt, so richtig Kampf für Friede und so! Shit! Aber nee, dieser abgebleierte Weltraumaffe sagt, ich darf nich gehen… dabei wärs doch nur Gerechtität und Sozialigkeit am Arbeitsplatz… oder nee, wadde, wie heißas… Gerechtismus und Sozologie… Gerechtologie und Sozismus…?“ „Gerechtigkeit und Sozialität?“, schlug ich behutsam vor, sodass das Salbeigewächs ein Johlen der Begeisterung ausstieß. „Oh Mann, du klatschs den verdammten Nagel wie imma auffe Rübe, Alter! Kuhmist, wo wär ich nur ohne dich Mann, ich liebe dich… ey Mann, hasu schon ‘nen Freund? Shit, wie ich dich liebe, Affenmist Mann, ich will mit dir für Frieden kämpfen-…“ „Naja, so ein Kampf für Frieden ist eine komplizierte Angelegenheit“, gab ich zu bedenken, „Wenn du mir fürs Erste Watanuki-kun oder Doumeki-kun ans Telefon holen würdest, wäre das doch schon mal ein guter Anfang, meinst du nicht?“ „Oh Alter, du triffs es sowas von! Anfang im Kleinen, das is die absolute Vergeilung!“, triumphierte Florian, und im Hintergrund war das laute Scheppern mehrerer Blumentöpfe und diverse Male ‚Idiot!‘ oder ‚Pass doch auf!‘ zu hören, als sich das tropische Gewächs ungelenk von seinem Lagerplatz erhob, „Okay, wadde, ich schaff dir die Weißspargel schneller ran, alsde Kurziwix sagen kannst!“ „Ähm… meinst du vielleicht ‚Kruzifix‘…?“ „Shit Mann, du redes ja schneller wie die Sau im Weltall!“, beschwerte sich der Salbei und kam bedrohlich ins Schnaufen, als er die schweren Glastüren des universitären Gewächshauses aufstemmte, „Dabei sollteste mit solchn Aktionen vorsichtig sein, kleiner Tipp von der Pflanze mit dem großen Gehirn! Sonst kriegt die Zigarrenfresse am Ende noch was stumpf… nee, spitz…“ Ich spürte, wie meine Kehle sich verengte. „Tunas? Hat er-… hat er etwa Fragen gestellt?“, wollte ich mit belegter Stimme wissen. Hinter meinem Rücken konnte ich hören, wie sich auch Kurogane bei der Nennung des Dekans unwillkürlich aufrichtete. „Mann, der hat das gar nich gern, dassde anner Uni wars“, erklärte Florian mit gewichtigem Unterton, „Haste damals irgendwas voll Verschärftes ausgefressen, weil der so tut, als wärsde der letzte Vollparasit?“ Statt einer Antwort starrte ich nur abwesend auf den Boden unter meinen Füßen. Ob es wohl als ‚voll verschärft‘ galt, wenn man für einen zum Tode verurteilten und letztlich auch hingerichteten Mörder gehalten wurde? „… Hat er nun etwas herausgefunden oder nicht?“, hakte ich schließlich tonlos nach und verweigerte mich nur mühsam den Erinnerungen, die in mir aufkommen wollten. Die erste Erwiderung bestand in einem Japsen, dicht gefolgt von einem langgezogenen Poltern und mehreren unterdrückten Flüchen. Offenbar war Florian gerade auf den Treppen zum Konservatoriumskeller angekommen. „Nee, hatter nich. Für dich schweig ich doch wie der toteste Zombie, Mann!“, versicherte er schließlich etwas atemlos, „Aber ich sag dir, wenn der anfängt mit Nachbohren, dann issas gar nicht gut! Dann is der Affe sowas von auser Flasche! Die zwei Weißspargel ham auch kein leichtes Leben unter dem... oh wadde, da drüben sind sie. HE!! Wattenmoor!!“ „Es heißt Watanuki, du wandelndes Kifferkraut!!“, keifte es im Hintergrund, „Herrgott, wie viel Kilo Gras hast du diesmal weggequalmt?!“ „Mann, jetz werd doch nich gleich gammlig… hier is jemand anner Muschel für euch, Doktor de Malachit…“ „Flourite?“, mischte sich noch eine dritte Stimme dazu. „Ja, so hatters glaub ich gesagt…“ „Gib her, ich übernehme das. Und du kümmerst dich weiter um Kammer zwölf, klar?“ „Ich hab ‘nen Namen, wann kapiert ihr das endlich?!“ „Häng dir doch ein Schild um den Hals… Doktor, sind Sie das?“, meldete sich schließlich eine Stimme an der Hörmuschel, die ich sofort als die Doumekis erkannte, „Was gibt es? Haben Sie unseren Obduktionsbericht erhalten?“ „Ja, allerdings, den habe ich bekommen“, erwiderte ich, „Genau darüber wollte ich auch mit euch sprechen. Dieser Befund hat mir einfach keine Ruhe mehr gelassen. Konntet ihr noch irgendetwas herausfinden?“ „Der Verwesungsprozess war schon zu weit fortgeschritten“, gab Doumeki zurück, „Wir mussten den Körper entsorgen, weil sich das Fleisch bereits aufgelöst hat. Aber lange mussten wir uns darüber gar nicht ärgern…“ Im Hintergrund war das Geräusch einer zuschlagende Tür zu hören. Anscheinend betrat Doumeki gerade eine der Konservierungskammern. „Wieso, was ist passiert?“, wollte ich wissen. „Es wurden neue Engel an der Küste gefunden.“ Es war kaum mehr als eine schlichte Feststellung, doch irgendetwas an Doumekis Tonfall wollte mir nicht gefallen. „Ehrlich? Wo genau?“, fragte ich daher weiter. „An der Küste westlich von Yakitaito. Fast derselbe Platz, an dem wir unser erstes Exemplar gefunden und konserviert haben.“ „Und wie viele?“ „Neunzehn.“ Mein Herzschlag versagte für einen Moment. Plötzlich klebte meine Zunge wie Beton an meinem Gaumen. „Was…?“, hörte ich mich ungläubig nachhaken. „Neunzehn“, wiederholte Doumeki ruhig, „Und das allein in dem Areal, das uns die Universität zugeteilt hat. Es lag derselbe Sachbestand wie bei unserem ersten Engel vor – tot, aber vollkommen unversehrt.“ „Haben Sie die Kadaver einer Routineuntersuchung unterzogen?“ „Natürlich, allein schon des ganzen Formalitätskrams wegen. Wie Sie vielleicht wissen, nimmt es Tunas-sama mit solchen Dingen sehr genau“, erläuterte der Konservatoriumsangestellte mit ungewohnt düsterer Stimme, „Allein schon die Obduktion des Erstexemplars war ohne die erforderliche Genehmigung eine sehr kitzlige Angelegenheit.“ „Und konnten Sie neue Erkenntnisse daraus ziehen?“, wollte ich wissen. „Bisher nicht“, räumte der junge Pathologe ein, „Es ist uns allerdings gelungen, eine Probe dieser stark eiweißhaltigen Substanz zu extrahieren, die wir in den deformierten Lungenflügeln vorgefunden haben. Aber um ehrlich zu sein können wir nicht viel damit anfangen.“ Ein Seufzen drang durch die Leitung an mein Ohr. „Es muss sich um irgendein Gift handeln, soviel ist klar, aber… haben Sie je von Engeln gehört, die in der Lage sind, Gifte in ihrem Körper entstehen zu lassen? Ich jedenfalls nicht. Die Sachlage ist in sich unschlüssig, und das lässt nur sehr wenige mögliche Lösungen in Frage kommen.“ Geistesabwesend strich ich mir einige lästige Haarsträhnen aus der Stirn, während ich nur mit halbem Ohr zuhörte. Doumeki hatte Recht – betrachtete man es rein biologisch, gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten, wenn einzelne Vertreter einer Art Merkmale oder Eigenschaften aufwiesen, die von denen der Artmehrheit abwichen. Die betroffenen Individuen konnten entweder Mutationen sein, bei denen einige Aminosäuresequenzen des genetischen Codes durch fehlerhafte Transkription vom genetischen Raster der Art abwichen und anormale Eigenschaften entstehen ließen, oder es war die Nachkommenschaft einer Kreuzung zwischen zwei eng verwandten Arten, deren genetische Codes genügend gleiche Sequenzen aufwiesen, um kompatibel zu sein. In der Natur waren solche Kreuzungen gang und gäbe, zum Beispiel zwischen Pferden und Eseln oder Hunden und Wölfen. Die neue Generation, die aus einer solchen Kreuzung hervorging, wies zwar Eigenschaften von beiden Elternteilen auf, konnte jedoch auch völlig eigene Merkmale entwickeln. So viel zu den bestehenden Möglichkeiten. Tatsache war jedoch auch, dass man in wissenschaftlichen Kreisen so gut wie gar nichts über das Paarungs- und Reproduktionsverhalten von Engeln wusste. Weder war bekannt, wie Engel sich fortpflanzten, noch wusste man, ob der Paarung erst eine Balz oder ein Werbeverhalten vorausging, ob die Weibchen lebend gebären oder ihre Jungen auf anderem Weg zur Welt brachten, wie lange die Brutpflege andauerte – oder wie viele Jungtiere die durchschnittliche Nachkommenschaft eines Elternpaares ausmachten. Theorien zu diesem Thema gab es noch und noch, man hätte ganze Bibliotheken mit den Hypothesen selbsternannter Engelsexperten füllen können, doch harte Fakten waren auf diesem Gebiet eher die Ausnahme. Ging man nach dem bisherigen Wissensstand, konnte ein Engelsweibchen mit einem Wurf ebenso gut zwei wie zwanzig Nachkommen in die Welt setzen – und diese Unklarheit war bereits das entscheidende Detail. Denn wenn, wie in diesem speziellen Fall, eine sehr große Zahl von Individuen einer Art existierte, die abweichende Merkmale aufwiesen, standen einem völlig andere Möglichkeiten offen. „Glauben Sie, es könnte eine unbekannte Spezies sein?“, hörte ich mich fragen. „Diesen Gedanken hatten wir auch schon“, erwiderte Doumeki, während im Hintergrund weiterhin Schritte zu hören waren, „In Anbetracht der Tatsache, dass die Zahl dieser anormal geformten Individuen immer weiter zunimmt, könnte es sich tatsächlich um eine neue Subspezies des Angelus Angelus handeln. Allerdings gibt es bei dieser Vermutung ein kleines Problem – es existiert keine bisher entdeckte Art, deren genetischer Code mit dem eines Engels kompatibel ist. Jeder Versuch einer natürlichen Kreuzung würde tödlich ausgehen.“ Tut es das nicht sowieso schon? Ich schaffte es gerade noch, die kleine gehässige Stimme in meinem Hinterkopf auszuknipsen, bevor mir ihre Worte aus dem Mund flutschen konnten. In der Telefonleitung entstand ein langes Schweigen, lediglich gefüllt von Vermutungen, Gedanken, Befürchtungen. „… Und welche Schritte wollen Sie als nächstes unternehmen?“, fand ich nach endlosen Minuten schließlich die Sprache wieder. „Wir versuchen, die Substanz zu analysieren“, gab Doumeki zur Antwort, „Und falls wir ausnahmsweise mal eine Genehmigung von Tunas-sama bekommen, nehmen wir einen Abgleich der individuellen DNS-Codes vor, um klarzustellen, ob es sich um einzelne Mutationen oder Angehörige derselben Art handelt. Wir lassen wieder von uns hören, sobald es zu neuen Fortschritten kommt.“ „Darüber würde ich mich sehr freuen“, zeigte ich mich erkenntlich, erleichtert, dass ich ihn nicht erst beknieen musste, „Mein Begleiter und ich werden in absehbarer Zeit wohl ohnehin nach Gakoshida zurückkehren, vielleicht ergibt es sich ja, dass wir eine Obduktion zusammen durchführen können?“ „Eine Option wäre es natürlich“, stimmte Doumeki zu, „Auch wenn ich an Ihrer Stelle etwas vorsichtiger wäre, Doktor. Seit Ihrem letzten Besuch an der Universität macht Tunas-sama einen doch etwas… gereizten Eindruck. Er wäre wahrscheinlich nicht sehr erfreut, Sie allzu bald wieder zu sehen.“ Ich spürte, wie sich in meinem Hals ein kleiner, lästiger Knoten zusammenzog. Was für ein Witz. Wie sollte Tunas sich freuen, mich wiederzusehen, wenn er jahrelang davon ausgegangen war, dass ich schon gar nicht mehr unter den Lebenden weilte – abgesehen davon, dass er mich für einen hingerichteten Schwerverbrecher hielt? „… Das Risiko wäre es mir wert“, entgegnete ich gelassen, „Ich studiere nicht mehr an der Argundus Sentas-Universität, und was Tunas-san über mich denkt, bedeutet mir nichts. Was mir wirklich etwas bedeutet, ist Klarheit zu schaffen und neue Erkenntnisse in dieser Angelegenheit zu erlangen.“ Was Tunas‘ Meinung über mich und mein Schaffen anging, hatte ich nichts mehr zu verlieren. Außerdem ging es hier um mehr als nur darum, sich seinen guten Ruf zu erhalten, auch wenn ich nicht wirklich wusste, wo ich diese Gewissheit hernahm. „Nun gut, ich werde sehen, was sich machen lässt“, willigte der junge Pathologe schließlich ein, „Fünf der Engel werden für die Gratia Honore-Vorlesungen benötigt, doch die anderen Exemplare stehen uns uneingeschränkt zur Verfügung, außerdem erwarten wir noch einige neue, frisch konservierte Engel von der Küste. Das ist wohl auch schon der einzige Vorteil bei diesen vielen Todesfällen… es ist immer Nachschub da.“ In seiner Stimme schwang leise Bitterkeit mit, doch ehe ich noch antworten konnte, war im Hintergrund das dumpfe Zuschlagen einer schweren, metallenen Tür zu hören - wahrscheinlich die verstärkte Klappe einer Kühlkammer. „Bis bald, Doktor. Und viel Erfolg Ihnen.“ „J-ja, danke…“, brachte ich hervor, verwundert über den abrupten Abbruch des Gesprächs, „Bis bald.“ Stumm wartete ich, bis es in der Leitung klickte und die Verbindung abriss, und ließ schließlich den Hörer sinken. Der Boden unter meinen Füßen schimmerte wie frisch gebohnert, doch ich sah ihn nicht. Eine kalte Gänsehaut ergriff mit widerwärtigem Kribbeln Besitz von meinem Rückgrat. Ich konnte das Gefühl, dass an dieser Angelegenheit etwas faul war, einfach nicht unterdrücken, auch wenn ich gleichzeitig nicht wusste, weshalb ich so empfand. Etwas stimmte nicht. Und wir saßen alle nur vor unseren Tabellen, Diagrammen und Abhandlungen und rätselten hin und her, ohne wirklich weiterzukommen. „Alles in Ordnung?“ Mit einem unterdrückten Japsen fuhr ich aus meinen Gedanken auf, als sich ohne Vorwarnung Kuroganes Stimme dicht hinter mir zu Wort meldete, der sich noch vor wenigen Minuten mit Mizuki unterhalten hatte. „Gaaaahh-…?! Zum Phyton noch mal, musst du mich so erschrecken?“, ächzte ich heillos überfordert und presste eine Hand auf mein wie verrückt polterndes Herz, „Eine Gottesanbeterin ist ja ein Kinderspiel gegen dich!“ Kurogane hob unbeeindruckt die Augenbrauen. „… Also ist wohl doch nicht alles in Ordnung, was?“ „Wie kommst du darauf?“, wollte ich wissen, während ich nur mühsam meinen Atem wieder beruhigte. Der Schwarzhaarige zuckte lediglich die Achseln. „Ich habe nun mal Ohren und Augen im Kopf, Doc. Dachten Sie etwa wirklich, dass diese beiden Leichenstreichler bei der Engelssache so schnell zu neuen Ergebnissen kommen würden?“ „Hey, man wird doch wohl noch hoffen dürfen, oder?“, verteidigte ich mich halbherzig und fuhr mir mit einem unterdrückten Seufzen durchs Haar, „Irgendetwas an dieser Sache gefällt mir nicht, und ich möchte einfach so viel wie möglich darüber erfahren.“ „Weshalb?“ Gegen meinen Willen irritiert sah ich zu Kurogane auf, erwiderte seinen forschen Blick. Ob er mich nun verspotten wollte oder aus simpler Neugierde heraus fragte – der Ausdruck in diesen magmafarbenen Augen war einfach nicht zu deuten. Ob es mich ärgerte oder nur neugierig machte? Keine Ahnung. „Es… macht mir Sorgen“, gab ich schließlich kleinlaut zu. „Wie kommt das?“, fragte Kurogane weiter. Ich hob ein wenig kläglich die Achseln. Was sollte man auf so eine Frage auch schon antworten? „Ich weiß nicht. Es… es fühlt sich einfach nicht richtig an. Noch vor zwei oder drei Jahren wurden nicht einmal halb so viele tote Engel an den Küsten von Kongoseki Oka gefunden, und es lag auch kein einziges Mal eine solche Anomalie vor, oder?“ „Vor zwei oder drei Jahren hatte ich anderes zu tun“, erwiderte Kurogane schlicht, „Aber ich verstehe, was Sie meinen. Irgendwie erinnert mich das an die Bienenvolk-Affäre, vor knappen fünf Jahren im Kazan Tou-Gebirge. All diese Bienenvölker, die plötzlich über Nacht aus ihren Stöcken verschwunden sind. Und sie alle waren bereits tot, als man sie endlich wieder fand.“ Ich nickte gedankenverloren. Als es damals zu diesem bizarren Massensterben von Honigbienen am Fuß des Kazan Tou-Massivs gekommen war, hatte ich noch bis zum Hals im Studium gesteckt, doch die Kunde davon hatte sich wie ein Lauffeuer über sämtliche Medien verbreitet, sodass auch ich es mehr oder weniger am Rand mitbekommen hatte. „Weder hat man herausgefunden, was die Bienen dazu getrieben hat, über Nacht ihre Stöcke zu verlassen, noch, woran sie gestorben sein könnten“, fuhr der Schwarzhaarige soeben fort, „Und nach einem Jahr hat es dann plötzlich einfach aufgehört. Nach zwei Wochen hat bereits kein Mensch mehr über diese Vorfälle gesprochen.“ „Glauben Sie etwa, dass das bei den Engeln genauso sein wird?“, fragte ich ungläubig. Mein älteres Gegenüber erwiderte meinen verwunderten Blick, ohne mit einer Wimper zu zucken. „Was ich glaube, ist dass dies erst der Anfang ist“, gab er schließlich zurück, „Und dass noch ungewiss ist, ob wir jemals verstehen werden. Denn egal ob es nun eine mutierte Generation, eine Anomalie oder eine neue Spezies ist, ob diese Engel an einem Virus, einer fahrlässigen natürlichen Kreuzung oder etwas anderem gestorben sind – wir sind einfach noch nicht soweit. Wir wissen zwar, dass etwas vorgeht, doch wir wissen nicht, was es ist. Unser menschliches Verständnis reicht einfach noch nicht dafür aus.“ „Nein. Noch nicht“, stimmte ich nur leise zu. Es war so viel Wahres an Kuroganes Worten. Mit den Lösungen, mit denen Mediziner bereits für solche Problemfragen aufwarten konnten, war dieses Phänomen einfach nicht zu erklären. Der wissenschaftliche Horizont, an dem sich Gentechniker, Ärzte wie ich und Pathologen wie Watanuki und Doumeki bewegten, war einfach noch zu begrenzt. Doch wenn es uns gelang, diese Vorkommnisse zu hinterblicken, würden wir wirklich erst dann eine Antwort finden? Und würde uns diese Antwort überhaupt behagen? Was hieß Anfang…? Wahrscheinlich ging es einfach nur weiter. Wir wussten bloß nicht, was weiterging und wo es vor kurzem aufgehört hatte. Vielleicht mit den Bienen. Vielleicht mit etwas Anderem, wovon wir nur nichts mitbekommen hatten. Auf jeden Fall aber war dieses Engelssterben nicht normal. Es stimmte. Hin und wieder waren in der Vergangenheit Engel angespült worden. Aber das waren vielleicht zwei im Jahr gewesen. Und die waren auch eines natürlichen Todes gestorben, soweit man das herausfinden konnte. Und sie waren alt gewesen. Selbst wenn man es ihnen nicht direkt angesehen hatte. Sehr alt. Es kam offensichtlich selten vor, dass ein Engel starb. Früher zumindest. Das hatte sich ja offensichtlich geändert. Ich wollte nicht wissen, was geschehen würde, wenn die Engel ausstarben. Vielleicht bekam man davon einfach nichts mit, aber es konnte durchaus sein, dass es auch Einfluss auf die ganze Welt haben konnte. Dazu wusste man einfach zu wenig, um nicht zu sagen, fast gar nichts, über diese Wesen. „Irgendwann vielleicht“, meinte ich und zuckte mit den Achseln. Der Arzt schien ja ganz schön durch den Wind zu sein. Doch er stimmte mir zu. „Ja, irgendwann.“ Ich nickte nur. „Und?“, fragte ich dann, „was haben die Beiden sonst so gesagt? „Doumeki-kun und Watanuki-kun wissen nicht viel Neues, aber sie haben schon einen weiteren Brief mit einem Bericht geschickt… Flori-rin wird Gwri sagen, dass sie uns die Briefe mitbringen soll! Dann können wir die gleich lesen… Und Subaru-kun und Hokuto-chan haben bereits ein neues Telegramm für uns, ist das nicht großartig?“ „Oh ja…ganz toll“, brummte ich, nicht mal halbherzig. Aber das bekam er wohl auch kaum mit, da er einfach weiterplapperte. „Jaaa! Bombastisch! Ich bin schon gespannt, wohin es diesmal gehen wird! Hoffentlich wieder was außerhalb Kongosekis…obwohl es hier ja auch wundervoll ist, aber wo bleibt dann der Spaß, wenn man Auftragsarzt ist, aber nie aus dem Land rauskommt….?!“ „Spaß….? Was ist denn bisher alles so spaßig gewesen….?“, wollte ich wissen. Das Meiste war einfach nur anstrengend, nervig oder beides gewesen. Wobei ich nervig da schlimmer fand als anstrengend… „Hee…es war doch überall superlustig!“, protestierte er. „Oooh! Und warte erst, wie lustig es wird, wenn es uns erst auf einen anderen Kontinenten verschlägt!“ „Na klasse. Wenn wir pleite sind, schwimmen wir einfach rüber, was?“, murrte ich sarkastisch. „Ist ja kein Ding….“ „Ach was! Wir finden schon eine Möglichkeit. Bisher bin ich auch immer irgendwie durchgekommen.“ „Ja? Wohl mit diesen… Piraten, was?!“ „Ja! Und du brauchst gar nicht so schlecht über sie zu reden. Crow hat mir schon so oft aus der Patsche geholfen, wir könnten fast schon Brüder sein!“, bekräftigte er. „Außerdem sind sie nett. Ein wenig materialistisch, so wie du, aber trotzdem!“ „Tzzz…“, machte ich abfällig. „Irgendwann bringt Sie – oder uns – das noch um, ich sag’s Ihnen!“ Und darauf war ich nun wirklich nicht besonders scharf. Fye sah mich ungläubig an. „Glaubst du wirklich? Wie kann man nur immer so pessimistisch sein…?“ „Ich bin nur realistisch“, gab ich zurück. „Ach was! Tiiiiiefschwarzer, schwarzseherischer Pessimismus ist das!“, beharrte er. Ich verdrehte bloß die Augen. „Kommen Sie mir später bloß nicht damit, dass ich recht hatte, wenn’s soweit ist…“ Mizuki unterbrach unser Streitgespräch, als sie wieder hereinkam. „Ich habe die Bestellung storniert, Doktor“, sagte sie. „In Ordnung. Bald wird eine Freundin von uns hier eintreffen und mir die nötigen Kräuter bringen und dann ist die Nemopilema ratz-fatz wieder auf den Beinen… ich meine, Tentakeln!“ Er lachte. „Das ist wunderbar“, sagte Mizuki. „Und entschuldigen Sie meinen Vater. Er ist immer so.“ Sie seufzte. „Ach, schon in Ordnung“, winkte Fye ab. „Hauptsache, der Nemopilema wird geholfen. Und da sie nicht davor steht, zu sterben, kommt es auf ein-zwei Tage auch nicht mehr an…. Ah, ich meine – schön ist das nicht, aber zu ändern auch nicht…“ Na ja – würde die Qualle Todesqualen erleiden, wäre die Sache ja wirklich anders, da hätte er sich sicherlich nicht überreden lassen. Aber das Tier schien soweit in Ordnung zu sein, dass es wirklich nicht mehr auf ein paar Tage ankam. Mizuki nickte, anscheinend ein wenig erleichtert. „Ich bin so froh, dass Sie uns weiterhin helfen.“ „Natürlich. Ich lasse einen Patienten nicht im Stich.“ Jetzt klang er ernst. „Niemals. Bis ich nicht alles versucht habe, um zu helfen, gebe ich nicht auf.“ „Oh“, machte Mizuki. „Dann haben Sie den richtigen Begleiter gefunden.“ Sie sah mich an. „Er gibt nämlich auch nicht auf.“ Fye grinste. „Das habe ich bereits festgestellt.“ Er klopfte mir auf die Schulter. „Stur, kompromisslos, grob, so in etwa hatte ich mir das vorgestellt.“ „Hey“, grollte ich. „Was? Das war als Kompliment gemeint!“, gab er nur flapsig zurück. „Mhn. Na dann…“ Aber er hatte ja recht. Obwohl – Kompromisse ging ich ziemlich oft ein. Gezwungenermaßen. Doch anders ging es sowieso nie. „Wann kommt denn Ihre Freundin hier an?“, fragte Mizuki. „Kommt drauf an, wie schnell sie fliegen kann“, sagte Fye. „Gwri ist eine Harpyie! Also nicht erschrecken, falls sie morgen hier landen sollte…“ „Eine Harpyie?“ „Ja, eine ganz Junge noch. Keine Sorge, sie ist wirklich nett.“ „Ich habe noch nie eine Harpyie kennen gelernt“, sagte Mizuki beeindruckt. Offensichtlich war sie nicht abgeneigt, das nachzuholen, sondern eher interessiert. „Ob wir vielleicht auch einige Fotos machen könnten? Nur wenn sie will?“ „Oh, ich bin sicher, dass Gwri das machen lässt, wenn wir sie fragen. Aber ein bisschen skeptisch wird sie wohl sein, sie kennt so was noch nicht, schätze ich…“ Konnte ja was werden, wenn Gwri sich vor dem Blitz erschreckte… oder schon vor den ganzen Gerätschaften. Allerdings hielt ich das Vogelmädchen für mutig und neugierig genug, es zumindest zu versuchen. Und bei Mizuki konnte ich mir sicher sein, dass sie bloß aus Spaß und Interesse ein paar Fotos von der Harpyie machen wollte und nicht aus reiner Profitgier. Besser, ihr Vater erfuhr nichts davon… entweder war er total dagegen oder er wollte auf jeden Fall Fotos, egal was Gwri davon hielt. Allerdings vermutete ich, dass es dann ziemlichen Ärger geben würde. Gwri würde das sicherlich nicht einfach so mit sich machen lassen. Zu recht, übrigens. Mizuki und Fye unterhielten sich noch eine ganze Weile über Gwri. Irgendwann auch über Kalliwoda und einige andere exotische Patienten, die Fye behandelt hatte. Mizuki hörte ihm ganz gespannt zu. Offensichtlich war sie wirklich schwer beeindruckt von ihm. Zwei Tage später kam Gwri. Wir waren gerade auf dem Weg zum Gebäude, in dem die Aquarien waren, um noch mal nach der Qualle zu sehen, da fegte ein Schatten über uns hinweg und keine zwei Sekunden landete die Harpyie ein paar Meter vor uns. Etwas ungelenk stakste sie auf uns zu, während sie die Flügel zusammenfaltete und die Tasche, die sie um den Hals hatte zurechtrückte. „Doktor Fleoratu! Schwarzer Bär Kur Agane!“ „Es heißt Kurogane!“, blaffte ich, kassierte einen Stoß mit dem Ellenbogen seitens des Blonden, der strahlend die Arme in die Luft riss und auf Gwri zusprang, als wolle er ein Tackle aus dem Sumo versuchen und warf sich der Harpyie um den Hals. „Gwri! Wie schön dich zu sehen!“, rief er und Gwri stieß ein überraschtes Pfeifen aus, erwiderte die Umarmung aber. „Ich freu mich auch. Ich hoffe, ich bin nicht spät genug?“ „Zu spät? Nein, du warst richtig schnell!“, japste Fye und löste sich von dem Vogelmädchen. „Und ich sehe, du bringst uns was Feines mit!“ „Ja. Ich hoffe, ich habe auch nichts vergessen.“ „Aaach, bestimmt nicht.“ „Flero-rin hat mir geholfen, alles zu finden. Er war ganz… begeistert. Glaube ich. Ich habe ihn nicht oft verstanden.“ Sie kratzte sich mir einer Klaue am Kopf. „Er scheint ein bisschen verwirrt zu sein. Aber er ist nett.“ Fye lachte. „Ohja. Er ist gewöhnungsbedürftig. Das stimmt.“ „Er ist nervtötend. Und er sollte wirklich weniger Drogen nehmen“, mischte ich mich ein. „Was sind… Dri….Drogen?“, wollte Gwri wissen. „Zeug, von dem man die Finger lassen sollte.“ „Oh. Weiß Fleo-rin das nicht?“ „Offensichtlich nicht.“ „Dann werde ich es ihm das nächste Mal sagen.“ Fye klopfte der Harpyie auf die Schulter. „Wunderbar, wunderbar!“ „Na, ob’s hilft…“, murrte ich. Ich glaubte nicht daran. Aber gut. Außerdem kam Mizuki mit großen Augen auf uns zu. „Oh! Ist sie das…?“, wollte sie wissen. „Ganz genau“, sagte Fye. „Gwri, das ist Mizuki, sie ist die Tochter von unserem Auftraggeber. Mizuki-san, das ist Gwri.“ Mizuki war offensichtlich ganz angetan von Gwri. „Es freut mich, dich kennen zu lernen. Du hast aber schöne Federn“, sagte sie und Gwri schien geschmeichelt zu sein. „Vielen Dank.“ „Darf ich…?“ Sie strich vorsichtig über die Federn. „Ganz weich“, staunte sie. „Gib mir mal die Tasche Gwri“, bat Fye, „wir gehen dann schon mal zu unserer Patientin.“ Er nahm Gwri die Tasche ab, schnaufte und wuchtete sie mir in die Hand. „Hier. Für dich ist das doch ein Klacks!“ „Hey!“, fuhr ich ihn an. „Ach komm schon. Oder ist dir das zu schwer?“ „Nein.“ „Schön! Mir nämlich schon. Komm schon.“ Er zog mich mit. „Gwri, sei nett!“ „Ja, Doktor Fleoratu“, versprach das Vogelmädchen. Aber sie schien Mizuki wohl ebenso faszinierend zu finden, wie die Fotografin die Harpyie. „Es ist alles da“, sagte Fye zufrieden. Er hatte den Inhalt der Tasche auf dem Boden vor dem Quallenbecken ausgebreitet. „Dann können wir das Zeug jetzt mischen und es der Qualle eintrichtern, was?“ „Äh. Ja…. So hätte ich das zwar nicht ausgedrückt, aber im Prinzip stimmt das so.“ „Gut. Dann beeilen Sie sich mal.“ Der Manager hatte uns quasi schon die Pistole auf die Brust gesetzt. Schließlich hatte er ja Termine und so weiter und so fort und könne sich weitere Verzögerungen nun wirklich nicht leisten. Aber eigentlich war er ja selbst schuld, denn er hatte ja nicht bei der Apotheke bestellen wollen. Dann wäre es wohl schon gestern angekommen. Zum Glück hatte Gwri nicht noch länger gebraucht. Mizukis Vater hatte gestern schon einen ziemlichen Aufstand gemacht. Aber wenigstens hatte er seinen Frust an uns ausgelassen und nicht an seiner Tochter… Fye hatte versucht, ihn zu besänftigen, aber er war trotzdem immer noch ungehalten. Dann würde es ihn sicher freuen, dass wir die Qualle endlich behandelt hatten ,wenn er wiederkam. „Schön, dann fangen wir mal an“, meinte Fye und nahm einige der Pulverfläschchen, Kräuterblätter und Schälchen in die Hand und eine kleine Waage, mit der er den ganzen Kram sorgfältig abwog und zusammenmischte. Er wirkte sehr konzentriert. „So!“, meinte er, als er fertig war. „Dann trichtern wir es mal der Nemopilema ein, wie du es so schön umschrieben hast. Und dann sind wir eigentlich hier auch schon fertig.“ Er erhob sich und nahm die Pulvermischung mit zum Becken, um die Leiter heraufzukraxeln und das Päckchen im Aquarium zu versenken. „Es wird eine Weile dauern, bis es sich vernünftig verteilt hat und wirkt, und ich werde noch einige Dosen vorbereiten, aber das wird nicht lange dauern….“, rief er mir von oben her zu. „Und in zwei Wochen wird die Nemopilema wieder quietschfidel sein…obwohl ich glaube, dass Quallen nicht quietschen.“ Er lachte. Offenbar war er sehr erleichtert, endlich etwas ausrichten und der Qualle helfen zu können. So wie immer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)