Mondzeiten von risuma (Eine Drachengeschichte) ================================================================================ Kapitel 28: Shizuka ------------------- „Was ist los?“, erkundigte sich Seth, dem Jonos Verhalten nicht entgangen war. >Ich bin schon mal hier gewesen.< antwortete Jono zurückhaltend. „Der See oder die Gegend?“ >Beides.< „Und wann?“ >Ich bin hier geboren.< „Hier ist deine Kolonie?“, fragte Seth erstaunt. >Ja, hinter dem Gebirge.< „Willst du mir nicht dein Zuhause aus der Luft zeigen?“, fragte Seth. Jono zögerte. Er hatte Angst, dass man ihn entdecken und jagen könnte. >Ich flieg aber einen großen Bogen, ja?< Er wollte vorsichtig sein. Alte Wunden, die nie richtig verheilt waren, rissen auf. >Aber nur wenn du mir dann auch zeigst, wo dein Zuhause ist.< Jono wollte eine Gegenleistung. „Ja, dann zeig ich dir auch, wo ich aufgewachsen bin, aus der Luft.“, gestand Seth ihm zu. „Wir schauen es uns ja nur aus der Luft an, landen müssen wir ja nicht und mit jemandem reden.“, schlug Seth vor. Auch er hatte Probleme damit, sich vorzustellen, vor seine Eltern zu treten. Nachdem sie sich darauf geeinigt hatten, stieg Seth auf Jono und er flog zögernd los. Jetzt, nachdem er wusste wo er war, hatte er seinen unbeschwerten Flug verloren. Vorsichtig stieg er in den Himmel und Seth konnte seine Anspannung förmlich spüren. Jonos Gefühle übertrugen sich ungefiltert auf Seths Haut. „Ist schon gut.“, versuchte er ihn zu beruhigen. „Du musst nicht, wenn du nicht willst. Wir können ja auch erst einmal in eine andere Richtung fliegen, und du überlegst es dir noch einmal.“ Jono war dankbar für Seths Verständnis und so flog er erst einmal ein Stück an dem Gebirge entlang, bevor er noch höher in den Himmel stieg und das Gebirge überquerte. Sie konnten eine große Anzahl von Höhlen entdecken, und vor einigen saßen sogar Drachen. Diese Kolonie war also noch bewohnt. Jonos Herz schlug mit einem Mal ganz aufgeregt, als er seine Geburtshöhle entdeckte. Ob seine Mutter noch lebte? Sie war noch keine 100 als er aus dem Ei schlüpfte. Die Sonne war am untergehen, nicht mehr lange, und sie konnten nicht mehr so gut sehen. Außerdem flogen Drachen nicht bei Nacht, sie brauchten die Sonne, und war sie noch so schwach zu erkennen… Jono hatte nicht mehr auf die Sonne geachtet, seit ihm bewusst geworden war, wo er sich befand. Sie brauchten für die Nacht einen Lagerplatz. Er erinnerte sich daran, dass es eine unbewohnte Höhle etwas abseits der Kolonie gab, dort konnten sie lagern. Jono flog dorthin. Seth sah sich anerkennend um, die Gegend gefiel ihm, sie wirkte so „gemütlich“ auf ihn. Jono steuerte gerade den Höhleneingang an, als er eine Bewegung wahrnahm und ein Drache aus der Höhle schaute. Erschrocken drehte er ab und suchte das Weite. Das schwarze Rotauge blickte ihm nachdenklich hinterher. „Wo willst du jetzt hin?“, wollte Seth von Jono wissen. >Zurück zum See.< antwortete Jono gequält. „Warum?“, forschte Seth nach. >Ich trau mich nicht.< gab Jono zu. „Aber warum?“, erkundigte sich Seth. „Heißen Drachen Wanderer denn nicht willkommen und bieten ihre Gastfreundschaft an?“ >Ist das bei Menschen so?< wollte Jono von Seth wissen. „Ja, egal wo ich hinkam, einen Schlafplatz bot man mir überall an, und manchmal auch etwas zu essen, je nach dem, wie viel die Familie selbst zur Verfügung hatte. Doch auf keinen Fall wurde ich verjagt.“, erklärte ihm Seth. Jono schämte sich, doch er war schon so lange alleine gewesen, er hatte Angst vor der Begegnung mit anderen Drachen, den kleinen Weißen ausgenommen. >Du hast ja recht.< versuchte er mutig zu sein. >Aber – hast du nicht etwas dabei vergessen?< Seth schaute ihn verständnislos an. Ich bin nicht allein unterwegs.< „?“ >Mit wem rede ich wohl gerade, hm?< „Oh,…“ Seth wurde ein wenig rot, „daran hatte ich gerade überhaupt nicht gedacht.“ >Eben.< bemerkte Jono. „Aber du könntest doch trotzdem höflich anfragen, ob du vor der Höhle schlafen darfst, und ich würde dann später zu dir kommen.“, schlug Seth vor, >Meinst du?< Jono blickte etwas skeptisch. „Du setzt mich in der Nähe ab, und ich komm dann zu dir gekrochen und du kannst mich unter deinen Flügel nehmen, wie sonst auch.“, ergänzte Seth. >Und du glaubst, das klappt? Drachen haben gute Ohren und Nasen, das weißt du doch.< Jono war immer noch skeptisch. „Ach du scharrst einfach ein wenig, bis ich bei dir bin.“ Seth war zuversichtlich. „Und bestehst darauf vor der Höhle zu schlafen, da macht das mit dem Geruch nicht soviel aus.“ >Im schlimmsten Fall können wir ja immer noch wieder wegfliegen.< stimmte Jono letztendlich zu. ~~~ Shizuka saß vor ihrer Höhle und blickte in den Himmel. Sie hatte Flügelrauschen gehört und war heraus gekommen um zu sehen, wer sie besuchen kam. Wenn sie Glück hatte, war es einer der Ältesten oder seine Partnerin, mit denen verstand sie sich ganz gut. Ihre Freundin konnte es nicht sein, sie rief immer schon aus einiger Entfernung nach ihr. Doch manchmal kamen diese Halbstarken, nur um sie zu ärgern. Als sie aus der Höhle schaute, sah sie nur noch, wie der schwarze Rotaugendrache abdrehte. Nein, es war niemand aus der Kolonie, und doch war es ihr, als käme ihr der Drache irgendwie bekannt vor. Könnte es sein? Ob er es war? Jetzt saß sie also vor ihrer Höhle, schaute in den Himmel und hoffte, dass ihr unbekannter Besucher zurückkäme. Ihr Herz machte vor Freude einen Hüpfer, als sie die Silhouette am Himmel ausmachte, die immer näher kam. Die war sich sicher, dass er der fremde Drache war… ~~~ Jono setzt Seth oberhalb der Höhle ab und flog zögernd darauf zu. >Keine Angst, ich bin bei dir.< versuchte Seth ihn aufzumuntern. >Ich versuchs ja, aber was, wenn ich wieder verjagt werde?< antwortete Jono kläglich. >Das glaube ich nicht, und außerdem ist es doch nur eine einzelne Höhle…< erwiderte Seth. „Schön, dass du zurückgekommen bist.“, ertönte eine warme freundliche Stimme, als er sich dem Höhleneingang näherte. „Hab ich dich erschreckt?“, wollte der Drache wissen und schaute ihn freundlich an. Jono wusste nicht, was er sagen und wie er sich verhalten sollte. „Eh, ja, ich dachte die Höhle wäre unbewohnt.“, antwortete Jono. Er musterte sein Gegenüber unauffällig. Es musste eine Drachendame sein, der schmale Körperbau, der schlanke Kopf… „Danke, das ist sehr freundlich. Ich suche tatsächlich einen Platz für eine Nacht, meine Höhle ist zu weit weg, um sie vor Sonnenuntergang noch zu erreichen.“, bedankte sich Jono höflich für die Einladung. „Dann ruh dich ruhig hier bei mir aus.“, sagte Shizuka freundlich. „Lebst du hier alleine?“, erkundigte sich Jono. „Ja.“, kam die Antwort von Shizuka. „Warum?“, fragte Jono nach. „Ich hab mich aus der Kolonie zurückgezogen, weil wir Differenzen miteinander hatten.“, erklärte Shizuka. „Was für Differenzen?“, wollte Jono wissen. Aus irgendeinem Grund schlug sein Herz immer heftiger. Es schien ihm, als hätte er etwas sehr wichtiges vergessen, aber es wollte es ihm nicht einfallen. Rote Augen sahen ihn warm an. „Mein Sohn wurde aus der Kolonie ausgestoßen, doch als ich nach ihm suchen wollte, bekam ich Ärger mit meinem Gefährten und einigen Ältesten. Und weil sie mich nicht suchen lassen wollten, habe ich diese Höhle bezogen.“, erzählte Shizuka. „Haben sie denn nach ihrem Sohn gesucht?“, fragte Jono beklommen. „Ja, das hab ich. Allerdings viel zu spät, ich fand nur noch seine Spuren.“, sagte Shizuka traurig. „Sie wissen also nicht, was aus ihm geworden ist?“ Jonos Kehle war ganz trocken. „Vielleicht kannst du mir das ja sagen, Grm,shn,jo,rmk,no,br.“, sagte sie warm. PLUMPS. Vor Schreck blieb Jono beinahe das Herz stehen. Hatte sie ihn gerade bei seinem Namen genannt? Aber, woher…? „Nun schau doch nicht so entgeistert, ich freu mich so, dich zu sehen, mein Sohn.“ Jono war sprachlos. „Du. bist. meine. Mutter?“ Jono konnte es kaum glauben. Doch wenn er sie genau ansah, meinte er sich an ihr Gesicht erinnern zu können. „War dein Schmerz so groß, dass du vergessen hast, wie ich aussehe?“, fragte Shizuka voller Mitgefühl. Jono konnte nur verblüfft nicken. „Und wie kommt es, dass du hier in der Gegend bist?“, erkundigte sich Shizuka. „Wir haben einen Ausflug gemacht und es ist reiner Zufall, dass ich hierher geflogen bin.“, antwortete ihr Jono. „Wir? Du bist nicht allein unterwegs?“, wollte Shizuka erfreut wissen. Wie? Woher weiß sie das? Jono war schon wieder geschockt. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass er von „Wir“ gesprochen hatte. „Ähm, ja.“ Jono war gerade nicht sehr gesprächig. „Magst du mir deine Gefährtin nicht vorstellen?“, bat Shizuka. „Ich hab keine Gefährtin,“ erklärte Jono, „niemals eine gehabt.“ „Aber mit wem bist du dann unterwegs?“, wollte Shizuka wissen. „Mit einem Menschen.“, sagte Jono trotzig. Jetzt würde sich zeigen, ob seine Mutter es ehrlich meinte. Shizuka schwieg einen Augenblick. „Dann heißt das, du veränderst deine Gestalt immer noch.“, stellte sie fest. „Immer zu Vollmond.“, antwortete Jono. „Hast du – ist es eine Sie oder ein Er?“, wollte sie wissen. „Ein Er, und er heißt Seth – und – er ist ein Sohn des Bundes, genau, wie ich.“, sagte Jono immer noch trotzig. „Darf ich ihn trotzdem kennen lernen?“, meinte Shizuka warm. „Aber nur, wenn du ihm nichts tust.“ Jono traute ihr noch nicht so recht über den Weg. „Wie könnte ich deinem Freund etwas tun? Er ist doch wichtig für dich und braucht keine Angst vor mir zu haben.“, versuchte Shizuka ihn zu beruhigen. „Na gut, ich will dir glauben.“, antwortete Jono vorsichtig. >Seth, hörst du mich?< rief Jono Seth in Gedanken. >Ja. Und, wie ist es gelaufen?< wollte Seth wissen. >Überraschend.< >Überraschend?< >Ja, du kannst ruhig kommen, es wird dir nichts geschehen.< sagte Jono. >Na, da bin ich aber neugierig.< antwortete ihm Seth. Gespannt kletterte Seth den Hang hinunter und trat zu der Höhle. Dort saßen zwei schwarze Rotaugendrachen und musterten ihn unterschiedliche. Der eine, sein Jono, hatte Zweifel in seinen Augen, doch der andere schaute ihm freundlich interessiert entgegen. >Was schaust du so zweifelnd?< wollte er von Jono wissen. >Ach, …< Jono wusste nicht zu erwidern. Shizuka gefiel das Menschenkind, das vor ihr stand. Es war noch nicht besonders alt, aber definitiv kein Junges mehr. Es war in der Menschenwelt wohl so alt, wie ihr Sohn jetzt, schätzte sie. Blaue Augen blickten sie unverwandt abwartend an. Als sie ihre Nüstern auf ihn senkte, konnte sie keine Furcht in ihm spüren. Er blieb entspannt und gelassen. Dafür verspannte sich ihr Sohn neben ihr immer mehr. Was fürchtete er? Dass sie den Menschen auffraß? Igitt, Menschen fraß man doch nicht. Bei diesem Gedanken musste Shizuka sich innerlich schütteln. Gut, sie hatte davon gehört, dass einige Drachen schon mal einen Menschen gefressen hatten. Doch sie verurteilte das. Auch wenn sich Drachen und Menschen weitestgehend aus dem Weg gingen, so waren Menschen ihnen doch gleichgestellt und keine Beutetiere. „Hallo, du bist also Seth, ein Freund meines Sohnes?“, begrüßte sie ihn freundlich. >Was hat der Drache gesagt?< fragte er Jono. >Sie. Sie hat gesagt: Hallo, du bist also Seth, ein Freund meines Sohnes?< übersetzte Jono für Seth. >Sie ist deine Mutter?< ungläubig schaute Seth von einem zum anderen. Widersprüchliche Gefühle rasten durch seinen Kopf. Dies war Jonos Mutter, ein Drache, der um die Verwandlung wusste… >Weiß sie von mir?< wollte er wissen. >Nicht direkt. Nur wenn sie mit: Sohn des Bundes etwas anfangen kann.< meinte Jono zurückhaltend. Auch seine Gefühle waren zwiespältig. Seine Verletzungen waren zu tief gewesen, um jetzt mit fliegenden Fahnen zu seiner Mutter überzulaufen und sie freudig in seine „Arme“ zu schließen. Seth nickte verstehend. „Ich grüße dich, Mutter von Jono.“, neigte er sich höflich vor Shizuka, ganz so, wie er es gelernt hatte. Shizuka verneigte sich ebenfalls, um ihm zu zeigen, dass sie seinen Gruß anerkannte. Doch verstehen konnte sie ihn nicht. „Was hat er gesagt?“, fragte sie Jono. „Ich grüße dich, Mutter von Jono.“, übersetzte Jono für seine Mutter. >Du bist ein höflicher junger Mensch.< Überrascht hörte Seth Shizuka in seinen Gedanken. >Danke.< sagte Seth verwirrt. Doch wenn er so darüber nachdachte… Wenn Drachen und Menschen früher zusammen lebten, so mussten sie sich ja auch miteinander verständigt haben können. >Du brauchst doch nicht zu erschrecken.< meinte Shizuka. Seth wurde rot. >Entschuldige, ich bin es nicht gewohnt, so angeredet zu werden.< versuchte Seth sich zu rechtfertigen. >Schon geschehen. Ich rede immerhin auch zum ersten Mal mit einem Menschen.< erwiderte Shizuka. >Und wie bist du auf die Idee gekommen, mich so anzusprechen?< wollte Seth wissen. >Ich hab gesehen, wie du mit Jono geredet hast.< antwortete Shizuka. >Hey, redet auch mal wieder jemand mit mir?< maulte Jono. >Ich bin auch noch da.< „Das weiß ich doch.“, sagte Seth beruhigend und streichelte seine Flanke. Jono war immer noch recht verspannt. Die Sonne war nun fast untergegangen und darum wiederholte Shizuka ihre Einladung in ihrer Höhle zu übernachten. >Möchtet ihr nicht doch diese Nacht in meiner Höhle verbringen? Beide?< fragte sie Seth. Fragend schaute Seth zu Jono. „Und, wollen wir hier bleiben?“ >Ja,< antworte Jono >lass und hier bleiben.< >Danke, für diese freundliche Einladung.< bedankte sich Seth höflich bei Shizuka. >Wir verbringen gerne die Nacht bei dir in deiner Höhle.< Sie folgten Shizuka in die Höhle und suchten sich einen Platz in der Nähe des Ausgangs. Seth legte sich neben Jono und dieser bedeckte ihn wie üblich mit seinem Flügel. Nachdenklich ruhte Shizukas Blick auf ihrem Sohn. Er war ja ein richtig stattliches Männchen geworden. Schade, dass er kein Weibchen zur Gefährtin hatte, er würde gewiss prächtige Junge haben. Sie seufzte. Aber mit Seth schien er glücklich zu sein, er hatte ihn so verteidigt, wie sie ihre Jungen verteidigt hätte. Nachdenklich schlief sie ein. Eine Wolke schob sich vor die verschwindende Sichel des Mondes. Seth schlief unruhig. Immer wieder wurde er wach und konnte sich nicht erklären, warum. Ob es an dem fremden Drachen und seiner Höhle lag? Immerhin konnte er den fremden Geruch wahrnehmen. Sie hatten die letzten Tage nicht auf den Mond geachtet, und darum nicht mitbekommen, dass Neumond bevor stand, sonst wären sie sicher in ihrem Tal geblieben. Mit dem ersten Sonnenstrahl verwandelte sich Seth in den weißen Blauaugendrachen. Jono murrte ein wenig, da Seth auf einmal mehr Platz forderte. Doch schon gleich hob sich seine Laune merklich. Noch bevor er seine Augen öffnete, sagten ihm seine Nüstern, wer neben ihm lag. Lächelnd seufzte er auf und öffnete seine Augen. Seth stupste ihn zärtlich an und gemeinsam blieben sie nebeneinander liegen und genossen die Nähe des anderen. Shizuka wälzte während des Schlafes ebenfalls Gedanken. Ihr Sohn, gerade erwachsen geworden, entpuppte sich als ein…, nein, für sie war er kein Monster mehr, so wie für alle anderen. Auch wenn sie nicht verstand, was geschah, oder warum es geschah – nach dem ersten Schock hatte sie Mitleid mit ihrem Sohn. Doch sie konnte es ihm nicht mehr sagen, denn die Ältesten hatten ihn bereits der Kolonie verwiesen und ihr Gefährte, Jonos Vater, verbot ihr, hinter ihm her zu fliegen und ihn zu suchen. Eine Weile fügte sie sich diesem Befehl noch, aber nach einem Jahr, an Jonos Geburtsmond, siegte ihr Mutterherz und sie machte sich auf die Suche nach ihm, egal, was alle anderen sagten. Einzig ihre beste Freundin hielt zu ihr und verstand sie. Doch zu ihrem Leidwesen konnte sie ihn nicht finden. Sie fand nur Spuren von ihm, Drachenweibchen, die ihn wegen seiner Besonderheit abgelehnt hatten. Nach einem Jahr Suche kehrte sie zur Kolonie zurück. Ihr Gefährte hatte sie verstoßen und sich eine neue Gefährtin genommen, das gab es noch nie… Ihr Gefährte hatte sie für nicht mehr existent erklärt und fand bei den Ältesten große Zustimmung damit, und durfte sich um ein neues Weibchen bemühen. So bezog sie diese Höhle am Rande ihrer Kolonie… Sie bereute es nicht, nach ihrem Sohn gesucht und sich den Ältesten und ihrem Gefährten widersetzt zu haben. So war sie wenigstens mit ihrem Herzen im reinen… Ihre Gedanken bewegten sich weiter und ließen den Abend noch einmal an ihr vorbei ziehen. An einem Satz blieben sie hängen: „Er ist ein Sohn des Bundes – genau wie ich.“ Ihr Sohn war ein Sohn des Bundes? Welchen Bundes? Über ihre Grübelei schlief sie unruhig ein. Immerhin schlief ein Mensch in ihrer Höhle, und auch der Geruch ihres Sohnes war ihr nicht mehr vertraut, er hatte sich verändert… Sie wurde aus ihrem leichten Schlummer geweckt, als ein neuer Geruch in ihrer Höhle auftauchte. Irritiert öffnete sie ihre Augen und sah einen jungen weißen Drachen neben ihrem Sohn liegen. Wie kam ein weißer Drache in ihre Höhle? Seth bemerkte, dass Shizuka ihn musterte und schaute sie an. „Wer bist du?“, fragte Shizuka vorsichtig. „Ich bin Seth.“, antwortete Seth ruhig. „Seth?“ Shizuka wollte nicht glauben, was sie gerade hörte. „Du – bist Seth?“ „Ganz genau, eben dieser.“, erwiderte Seth. „Aber, wie…?“, wandte Shizuka ein. „Nun, zu Neumond verwandele ich mich in einen weißen Blauaugendrachen, so wie Jono sich zu Vollmond in einen Menschen verwandelt.“, erklärte Seth. „Und gerade ist Neumond.“ „Bei den Menschen gibt es auch solche…?“ Shizuka war irritiert. „Ja, auch bei den Menschen gibt es eine Person, die sich verwandelt – immer zu Neumond… Wir sind die Mondkinder, die Söhne des Bundes.“, sagte Seth. „?“ „Nach dem Frühstück erzähl ich dir alles, was ich weiß. In Ordnung?“, schlug Seth Shizuka vor. Shizuka willigte ein, aber sie war jetzt noch verwirrter, als zuvor. Seth kuschelte sich noch ein wenig an Jono, der noch keine Anstalten machte sein Lager verlassen zu wollen, sondern so tat, als schliefe er noch. Neben ihm lag SEIN weißer Drache, er wollte ihn mit niemandem teilen, auch nicht mit seiner Mutter… „Komm, Jono, ich weiß dass du nicht mehr schläfst.“, sagte Seth nach einiger Zeit zu Jono. „Lass uns das Lager verlassen und frühstücken. Ich hab langsam Hunger.“ „Meinetwegen,“ maulte Jono, „dann lass uns frühstücken.“ „Guten Morgen, ihr Zwei.“, begrüßte sie Shizuka, als sie aus der Höhle traten. Sie streckten sich in der Morgensonne und flogen los, sich ein Frühstück zu besorgen. Sie hatten Glück, sie fanden recht bald ein Rudel Rehe und jeder schnappte sich eins und nahm es mit zur Höhle. Nachdem sie ihre Beute verspeist hatten, ließen sie sich von der Morgensonne bescheinen und blickten über den Wald, der sich vor der Höhle erstreckte. „Also,“ begann Shizuka das Gespräch, „du bist ein Mensch, der sich an Neumond in einen Drachen verwandelt, so wie Jono ein Drache ist, der sich zu Vollmond in einen Menschen verwandelt?“, fasste sie das bisher gehörte zusammen. „Ja,“ antwortete Seth, „das bin ich.“ „Aber warum ist das so?“, fragte sie nach. „Das wussten wir Beide auch lange nicht.“, sagte Seth. „Wir kennen den Grund auch erst seit dem letzten Vollmond.“ Und Seth erzählte Shizuka alles, was sie von Ishizu erfahren hatten. „Dann ist diese Ishizu also eine Nachfahrin jenes weiblichen Menschenjungens?“, fragte Shizuka anschließend nach. „Ja, das ist sie.“, antwortete ihr Seth. „Und bei den Drachen gibt es niemanden wie Ishizu mehr?“, stellte Shizuka die nächste Frage. „Nicht, nach Ishizus Wissen. Die letzte Bewahrerin der Drachen hatte ihr, mit Hilfe der Sterne, ihr Wissen sterbend zukommen lassen.“, beantwortete Seth diese Frage. „Also, ich finde es ziemlich schade, dass dieses Wissen nicht weiter bekannt ist.“, meinte Shizuka nach einigem Nachdenken. „Vor allem bei den betroffenen Familien, es hätte ihnen viel Leid erspart.“ Dabei dachte Shizuka an sich und ihren Sohn. „Und wie ist es dir mit deiner Familie ergangen?“ „Sie haben mich ein Monster genannt und davon gejagt. Nicht mehr viel, und sie hätten mich getötet.“, sagte Seth verbittert. Shizuka nickte bedächtig mit ihrem Kopf. Die Menschen konnten also genauso wenig damit umgehen, wie die Drachen. Shizuka bedauerte, dass das Wissen um den Bund bei den Drachen verloren gegangen war. Aber jetzt, wo sie es wusste, reifte in ihr der Gedanke, das Wissen um den Bund in anderer Form bewahren zu wollen. „Du bist übrigens ein ziemlich hübscher junger Drache.“, meinte sie anerkennend zu Seth. Seth wurde ob dieses Komplimentes ein wenig verlegen und seine Wangen bekamen einen zarten Rotstich. „Danke.“, murmelte er verlegen. Sofort legte Jono schützend seinen Flügel um ihn und schaute seine Mutter böse an. Das war SEIN weißer Drache, er gehörte zu ihm und zu niemand anderem sonst. Shizuka musste schmunzeln, als sie Jonos besitzergreifendes Verhalten sah. Wie lange sie sich wohl schon kannten? Der Weiße war noch ziemlich jung, aber schon Geschlechtsreif, wie sie an seiner Bauchfalte erkennen konnte. „Und wie lange kennt ihr euch schon?“, stellte sie ihre Frage. „Seit fünf Mondzeiten.“, gab Seth Auskunft. „Und so lange warst du allein?“, fragte Shizuka Jono fassungslos. „Ja, 70 Jahre.“, antwortete Jono tonlos. Shizuka war erschüttert, dass ihr Sohn solch ein schweres Los zu tragen hatte, machte sie sehr betroffen. „Und, wie habt ihr euch kennen gelernt?“ „Er tauchte eines Vollmonds an meinem See auf und beobachtete mich, bis ich ihn eines Tages näher kennen lernte.“, erzählte Jono. Mehr brauchte seine Mutter nicht zu wissen, fand er. „Und seitdem wir unser Geheimnis kennen,“ fügte Seth hinzu, „leben wir zusammen.“ Welche Schlüsse Shizuka daraus ziehen würde, oder auch nicht, war ihm so egal. Und warum sollten Drachen oder Menschen nicht wissen, dass sie Gefährten waren, ihr Lager miteinander teilten, verheiratet waren, sich paarten…? Auch in Seth regte sich ein gewisser Trotz. Mittlerweile stand die Sonne fast auf Mittag und Jono wurde immer hibbeliger. Es war Neumond… er wollte seine Zeit mit dem Weißen anders verbringen, als hier bei seiner Mutter zu sitzen und Geschichten zu erzählen. Und das, was er am liebsten vorhatte, wollte er garantiert NICHT hier tun… Seth spürte Jonos Unruhe, und es ging ihm auch nicht viel anders. Irgendwie mussten sie einen eleganten Abgang hinbekommen, und sich auch nicht mehr soviel Zeit damit lassen… Shizuka bemerkte das veränderte Verhalten der Beiden, ebenso den leicht veränderten Geruch… er erinnerte sie… wenn sie es sich recht überlegte, benahm sich Jono geradewegs so, als würde sich ein fremdes Männchen seiner Gefährtin nähern… und irgendwie erschien es ihr gar nicht mal so abwegig… „Ähm. Jono,“ begann sie diplomatisch, „so schön es auch ist, dich nach so langer Zeit mal wieder gesehen zu haben, aber ich erwarte heute noch Besuch. Und ich glaube nicht, dass du wild darauf bist, dann noch hier zu sein, oder?“ „Nein.“, antwortete Jono überrascht. „Da hast du völlig recht.“ „Aber ihr könnt mich gerne mal wieder besuchen kommen.“, lud sie die Beiden ein wieder zu kommen. „Ich würde mich wirklich darüber freuen.“ „Das machen wir gerne.“, bedankte sich Seth höflich für diese Einladung. „Ich danke, dass wir uns noch viel zu erzählen haben.“ „Ihr seid mir also nicht böse, dass ich euch gerade „raus werfe“?“, erkundigte sich Shizuka. „Nein,“ antwortete Jono ein wenig zu schnell, „überhaupt nicht.“ Shizuka lächelte, also hatte sie richtig mit ihrer Vermutung gelegen. „Na, dann wünsch ich euch einen guten Heimflug, und schaut mal wieder vorbei.“, verabschiedete sie die Beiden und Seth und Jono flogen zurück in ihr Tal. Gerade als die Sonne anfing sich rot zu färben, erreichten sie ihr Tal. Sie gönnten sich ein reichliches Mal in ihrem See und zogen sich dann in ihre Höhle zurück, um ausgiebig ihre Drachenzweisamkeit zu genießen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)