Göttin gesucht von Regenengel ================================================================================ Kapitel 1: Göttin gesucht ------------------------- Göttin gesucht BUMM! BUMM! Jäh schreckte der junge Bauer aus seinem ohnehin nicht mehr allzu festen Schlaf. Es war Sommer und wie jeden Morgen gegen halb sechs sangen die Vögel vor seinem Fenster schon seit beinahe einer Stunde. Vermutlich hatten sie irgendwo weit oben in der Krone des alten Pfirsichbaums, der bereits hier gestanden hatte, als das Farmhaus vor über fünfzig Jahren gebaut worden war, ihr Nest. Bisher hatte sich der Farmer allerdings noch nicht getraut nachzusehen, um die brütenden und fütternden Eltern nicht zu stören, und die Zweige bogen sich inzwischen unter der Last der überreifen Früchte. Vielleicht würde die Pfirsichernte dieses Jahr ausfallen müssen, denn das Wohl der Tiere ging im Vergissmeinnicht-Tal jedweden wirtschaftlichen Erwägungen vor, auch wenn es sich lediglich um freilebende, kleine Vöglein handelte. Dem Bauern fiel das nicht schwer, denn er liebte Tiere und respektierte die Natur und ihr Anrecht auf diesen Baum. Darüber hinaus konnte er über den bisherigen Jahresverlauf nicht klagen. Im Frühjahr hatte er seinen Traum von einem Stall für das Großvieh verwirklichen können und sich auf der Jodel-Ranch in Mineralstadt eine braune Kuh und ein schneeweißes Schäflein gekauft, die nun den Hühnern auf der Weide Gesellschaft leisteten und sich prächtig eingelebt hatten. Und jetzt stand bereits der Mais kurz vor der Ernte und die langsam, aber stetig wachsenden Ananaspflänzchen gaben Grund zu der Annahme, dass dieser Sommer ein besonders ertragreicher sein würde. Kein Anlass also die kleinen Sänger zu stören, wenngleich sie selbst sich nicht gerade in rücksichtsvoller Zurückhaltung übten. Sonst hätten sie bestimmt bemerkt, dass der junge Mann gestern Abend erst kurz vor Mitternacht aus der Blauen Bar gekommen war, und vielleicht hätten sie ihren morgendlichen Gesang dann um ein Stündlein nach hinten verschoben. Im Allgemeinen kümmerten sie sich jedoch nicht um das, was unten auf der Farm geschah, es sei denn natürlich, die schwarze Hofkatze unternahm einen ihrer seltenen Versuche, den Wipfel des knorrigen Baumes zu erklettern. Dann machten sie ein großes Gezeter, umflogen den Baum und das Farmhaus in panisch flatternden Bahnen und beruhigten sich erst wieder, wenn der Bauer kam und seine Streunerin einfing. Jetzt jedoch war die Katze im Haus, weich gebettet auf dem Kopfkissen des Menschen, der für sie sorgte, und sie schielte triumphierend auf den Bettvorleger hinunter, auf dem sich der Hofhund beleidigt zusammengerollt hatte, Mensch und Katze auf dem bequemen Bett keines Blickes würdigend. Beide Fellträger waren an diesem Morgen keine Gefahr und das wussten die Gefiederten nur zu gut. So hatten sie sich oben in den höchsten Zweigen versammelt und trällerten voll Inbrunst ihre schönsten Lieder, um den heraufziehenden Morgen zu ehren. Es war also nicht verwunderlich, dass sie die merkwürdige Gestalt nicht bemerkten, die sich mit der Morgenröte auf die Farm gestohlen hatte. Sie trug ein bodenlanges schwarzes Kleid mit Puffärmeln und goldenen Borten an Saum und Ausschnitt, darüber einen ebenso langen schwarzen Umhang, dessen Innenseite dunkelviolett hervorleuchtete, wenn der Wind beim Gehen darunter fuhr und den schweren Stoff aufblähte. Wildes blondes Haar wallte bis zur Hüfte herab und wurde durch zwei feste Haarknoten an den Seiten des Kopfes nur notdürftig aus dem auffällig hellen Gesicht gehalten. In der Hand hielt die Gestalt einen langen Reisigbesen und um ihre Taille baumelte ein Perlengürtel, der von einer weißen, totenkopfförmigen Schnalle am Bauch zusammengehalten wurde. Seine losen Enden schwangen bei jedem Schritt hin und her und die großen goldenen Kugeln schlugen klangvoll gegeneinander, als die Gestalt sich geisterhaft aus dem Nebelschwaden am Ende des Weges löste und auf das Farmhaus zuging. Jetzt hatten auch die Vöglein die ungewöhnliche Erscheinung bemerkt und ihr Gesang schwang sich zu neuen Höhen auf. Da hob die Gestalt den Kopf. Ein violett funkelnder Blick durchdrang das Blätterdickicht und brachte die Tiere augenblicklich zum Verstummen. In diesen großen mandelförmigen Augen lag eine Macht, die älter war als jedes Lebewesen im Tal und die Vögel spürten dies instinktiv. Sie rückten enger zusammen und rieben die Köpfchen aneinander, um sich zu beruhigen. Die Fremde wandte ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der schmalen Nase wieder ab und schritt zielstrebig zur Tür des Wohnhauses, um mit dem Ende des Besenstils dagegen zu klopfen. BUMM! BUMM! „Was zur Hölle...?“, murmelte der Bauer und drückte die Fingerspitzen gegen seine pochenden Schläfen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Katjas neuste Cocktailkreation zu testen, aber er könnte der jungen Frau einfach keinen Wunsch abschlagen, schon gar nicht an ihrem Geburtstag. Aber heute war eigentlich kein besonderer Tag und nichts hatte dagegen gesprochen, den Vormittag etwas ruhiger anzugehen als gewöhnlich. Stattdessen hatten die Vögel ihn nach gefühlten zwei Stunden Schlaf geweckt, er hatte Kopfschmerzen und nun stand zu allem Überfluss auch noch ein offenbar sehr ungeduldiger Besucher vor der Türe. BUMM! BUMM! „Ja, verdammt, ich komme ja schon!“, rief er resigniert und richtete sich mühsam auf. Ebony, die immer noch zusammengerollt neben ihm auf einem Kissen lag, schnurrte, aber er enttäuschte ihre Erwartungen und erhob sich ohne ihr das Ohr zu kraulen. Die Katze quittierte es mit einem empörten Augenaufschlag und sprang dann auf, um laut miauend in die Küche zu ihrem Futternapf zu schreiten. Tanjuk, der drei Jahre alte Beagle, zuckte mit der Schwanzspitze, blieb aber auf dem Bettvorleger liegen und folgte mit den Augen seinem Herrchen, das jetzt die Haustür aufschloss. Im nächsten Moment sprang der Hund jedoch erschrocken auf und das entrüstete Bellen blieb ihm in der Kehle stecken. Die Tür war ruckartig aufgeflogen und in ihr stand mit wehenden Gewändern die Hexenprinzessin. Ihre Augen leuchteten und Tanjuk zog augenblicklich den Schwanz ein und eilte zu Ebony in die Küche. „Jack! Das wird aber auch Zeit!“, rief die Hexe und marschierte, ohne auf eine Einladung zu warten, in den Wohnraum. „Sag bloß, du hast noch geschlafen?“ Der Bauer starrte sie nur mit großen Augen an und brachte kein Wort über die Lippen. „Was denn, hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte sie und lachte. „Ich war’s nicht, ich schwöre!“ „Wa-... was machst du denn hier?“, stammelte der Bauer entsetzt, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Das letzte Mal, das er die Hexenprinzessin gesehen hatte, hatte man das gesamte Dorf ins Krankenhaus nach Mineralstadt bringen müssen, weil sie – angeblich aus Versehen – einen giftigen Pilz in das gemeinsame Essen zum Erntefest geworfen hatte. „Was schon?“, fragte sie schnippisch. „Ich brauche natürlich deine Hilfe, warum sollte ich sonst kommen?“ Sie musterte geringschätzig die spartanisch eingerichtete Wohnung. „Kein Wunder, dass dich noch kein Mädchen zum Sternenfest eingeladen hat bei der Inneneinrichtung.“ „Komm zum Punkt“, mahnte Jack genervt und überlegte krampfhaft, ob er irgendwo noch Schmerztabletten versteckt haben könnte. Wenn er heute etwas nötig hatte, dann war es ein Mittel gegen diese höllischen Kopfschmerzen, denn seine Erfahrung sagte ihm, dass er die Hexe so leicht nicht wieder loswerden würde. „Also schön“, sagte diese und setzte sich ohne mit der Wimper zu zucken auf Jacks zerwühltes Bett. „Die Erntegöttin ist verschwunden und du wirst sie für mich finden!“ Im ersten Moment glaubte Jack, nicht richtig gehört zu haben. „Was soll das heißen, die Erntegöttin ist verschwunden? Ich habe sie doch längst befreit, sie ist wieder in ihrem See beim Wichtelbaum!“ „Nein, sie ist weg“, bekräftigte die Hexe und rollte mit den Augen. „Dass du das noch nicht bemerkt hast, wundert mich nun wirklich nicht. Vielleicht solltest du nicht ständig bei dieser Katja in der Blauen Bar abhängen, dann würdest du auch mitbekommen, wenn etwas los ist im Tal!“ „Du meinst, so wie du, ja?“, fragte Jack sarkastisch. Die Hexenprinzessin lebte in einem Schuppen neben Romanas Villa und bei den seltenen Malen, die sie sich im Dorf sehen ließ, war Ärger schon vorprogrammiert. Zu ihrem Glück wussten die wenigsten Menschen von ihrer Existenz und diejenigen, die es wussten, hüteten sich um ihrer eigenen Gesundheit willen, darüber zu sprechen. Zu dieser Gruppe Menschen gehörte auch Jack und er war froh um jeden Tag, an dem die selbsternannte Prinzessin ihn nicht belästigte. Heute war kein solcher Tag und das hieß im Regelfall Arbeit für ihn und Streit mit den übrigen Talbewohnern. „Wie gesagt, du musst sie suchen“, wiederholte die Hexe und zupfte an ihren Haarspitzen. „Und wenn ich keine Lust dazu habe?“, murrte Jack wenig begeistert. „Falls es dir entgangen ist, ich habe eine Farm zu führen. Ich muss mich um meine Tiere und Pflanzen kümmern. Ich kann nicht ständig irgendwelche Suchmissionen für dich starten. Kannst du sie nicht einfach selbst wieder herhexen?“ Die Hexe hob den Kopf und Jack wich einige Schritte zurück als ihr Blick ihn durchbohrte. „Ich habe sie nicht weggehext!“ Wütend funkelte sie ihn an. „Glaubst du, ich bin so dumm und begehe zweimal den gleichen Fehler?“ „N-nein, natürlich nicht. Verzeihung.“ Da lachte sie und erhob sich. „Dann ist ja alles klar. Finde sie. Und beeil dich gefälligst!“ Sie drehte sich einmal blitzschnell im Kreis, wobei ihr Umhang hochflatterte und das Telefon krachend zu Boden fegte, dann war sie verschwunden. Jack ächzte. Womit hatte er das alles eigentlich verdient? Der Traum vom idyllischen Landleben hatte sich einmal mehr zu einem Albtraum verwandelt und er fragte sich, ob die alte Nina Recht gehabt hatte mit ihrem Rat, sich bald eine Frau zu suchen, die ihm auf dem Hof zur Hand gehen konnte. Aber statt einer hübschen Frau würde er nun also wieder einmal eine Göttin suchen gehen. Nicht dass er sie ernstlich vermissen würde, sollte sie wirklich verschwunden sein. Ihr ständiges „Tadaaaaaa!“ ging ihm fast genauso sehr auf die Nerven wie der Hexenprinzessin, welche ihre Erzfeindin vor fast vier Jahren kurzerhand versteinert und anschließend in eine andere Dimension gehext hatte, nur um vor ihrer unangebrachten naiven Fröhlichkeit verschont zu werden. Aber Jack wusste auch, dass er die Göttin und ihren Segen brauchte, um die Farm bewirtschaften zu können, und so bleib ihm nichts anderes übrig, als die Fehler der unbeherrschten Hexe wieder auszubügeln und die Göttin zurückzubringen. Letztes Mal hatte es weit über zwei Jahre gedauert und hatte viel Schweiß und Mühe gekostet. Ob die magiebegabte Prinzessin auch dieses Mal Schuld an dem Fiasko trug, vermochte er trotz ihrer nachdrücklichen Beteuerung nicht auszuschließen, aber letztlich war es auch unerheblich, denn ändern konnte er es so oder so nicht mehr. Die beiden Frauen würden sich wohl nie ändern, dazu war ihre Feindschaft schon seit Jahrhunderten zu fest ritualisiert. Er stöhnte noch einmal und ging dann ins Bad, um sich eine Schmerztablette zu holen. Dann fütterte er Ebony und Tanjuk, die beide immer noch verstört im hintersten Eck der Küche kauerten, schaltete den Wetterbericht ein, kochte Kaffee und machte sich ein Omelette zum Frühstück. Es gab Dinge, die man tunlichst nicht ausfallen ließ, und ein ordentliches Frühstück gehörte dazu, erst recht, wenn morgen die Welt untergehen konnte. Nachdem er sich gestärkt hatte und das Hämmern in seinem Kopf einem sanften Pochen gewichen war, zog Jack sich seine Arbeitskleidung an und ging mit Tanjuk hinaus auf die Weide. Ebony begleitete sie ein Stück und ging dann ihre eigenen Wege. Wolke, das Schäfchen, und Kokaba, die braune Kuh, begrüßten Jack freudig und rieben ihre Köpfe an ihm. Offensichtlich genossen sie das trockene Wetter und die lauen Nächte unter freiem Himmel. Die Hühner schienen weniger begeistert davon, ließen es sich aber nicht nehmen, nach Tanjuks Schwanzspitze zu hacken. Während Jack jedes einzelne Tier begrüßte, die Eier einsammelte und Kokaba molk, überlegte er, wo er mit seiner Suche anfangen konnte. Als die Erntegöttin in die andere Dimension gehext worden war, hatten ihre Erntewichtel letztlich den entscheidenden Hinweis gegeben und mit ihrer vereinten Kraft ihre Göttin zurückgeholt. Aber die Wichtel waren doch längst wieder im Tal. Jack selbst hatte sich größte Mühe gegeben, jeden einzelnen von ihnen zu finden und in die richtige Dimension zu bringen. Es war viel Arbeit gewesen und sie war immer noch nicht ganz beendet. Wenn die befreiten Wichtel nun noch hier waren, und das hoffte Jack inständig, konnte es gut sein, dass sie eine Idee hatten, wo ihre Herrin sein konnte. Jack ließ seinen Blick über die Felder streifen und seufzte. Wenn er die Pflanzen heute nicht gießen würde, konnte er seine Ernte für diesen Sommer vergessen. Und wenn er es tat, käme er erst spät abends los und die Wichtel wären bestimmt schon schlafen gegangen. Er brauchte definitiv Hilfe und er wusste auch schon, wo er sie bekommen würde. „Tanjuk, pass mir gut auf den Hof auf, ja? Ich muss wieder einmal los und die Welt retten.“ Tanjuk wedelte mit dem Schwanz und kam hinter Jack hergerannt, als dieser jedoch ohne ihn über den Weidezaun kletterte, jaulte er enttäuscht. „Tut mir leid, Junge, es geht nicht anders“, sagte Jack entschuldigend. Dann steckte er zwei Finger in den Mund und pfiff nach Fandango. Der braune Hengst war Takakura, Jacks väterlichem Freund und Verwalter, vor Kurzem zugelaufen und wohnte seitdem auf dem Hof. Er war es nicht gewohnt an Orten zu bleiben, an denen er sein sollte, sondern liebte es, sich selbstständig zu machen und auf eigene Faust durch das Tal zu streifen. Die Bewohner wussten das und Jack hatte es bald aufgegeben, das schöne Pferd in den Stall sperren zu wollen. Und da keine Koppel der Welt hinreichend ausbruchssicher schien, lief er nun also frei auf dem Hof herum. Meistens kam er angetrabt, wenn Jack ihn rief, allein schon um der Leckerlis willen, die der Bauer stets in seinen Taschen trug. Auch heute dauerte es nicht lange und Fandango erschien auf der Hinterseite des Geflügelschuppens. „Fandango!“, rief Jack. „Na los, komm! Wir machen einen kleinen Ausritt!“ Der Hengst galoppierte mit flatternder Mähne das Ufer des Flusslaufes hinauf. Er hatte sichtlich Spaß an den weit ausholenden Bewegungen und solange die Sonne den Zenit noch nicht erreicht hatte, war hier am Wasser auch die Temperatur vergleichsweise angenehm. Im Vorbeireiten grüßte Jack Dr. Hardy und warf einen Blick auf den massiven Fels, der den Weg hinter den Wasserfall versperrte. Eines Tages würde er ihn zertrümmern und dann würde er endlich auf direktem Wege von der Mine, wo Flora und Carter arbeiteten, zum Wichtelbaum und zum See der Erntegöttin gelangen, ohne den weiten Umweg über die Brücke im Süden nehmen zu müssen. Aber jetzt hieß es erst einmal dafür zu sorgen, dass der Erntegöttinnensee seinem Namen wieder gerecht wurde. Jack ließ Fandango an seinem Ufer zum Stehen kommen und stieg ab. Der türkisfarbene See war einer der romantischsten Orte im Tal, aber nur die wenigsten Bewohner wussten, dass er deswegen auch von der Erntegöttin ausgewählt worden war. Sie wohnte nicht direkt in dem See, aber ihre göttliche Präsenz konnte sich hier besonders leicht materialisieren und so war dies der ideale Ort für Opfergaben aller Art. Jack holte die letzten Erdbeeren aus seinem Rucksack, die vom Frühling übrig geblieben waren, und warf sie in den See. Erdbeeren waren der Erntegöttin das liebste Geschenk und normalerweise wäre sie nun augenblicklich gekommen, um sich zu bedanken und die süßen Früchte zu vernaschen. Heute jedoch geschah nichts. Eine Weile schwammen die Beeren noch auf der Wasseroberfläche, dann ging eine nach der anderen unter oder wurde von einem der fetten Karpfen verschluckt. Die Hexenprinzessin hatte also die Wahrheit gesagt, die Erntegöttin war fort. „Das ist nicht gut“, sagte Jack zu Fandango, „das ist überhaupt nicht gut.“ Aber das Pferd schnupperte nur an einigen Kräutern und zeigte sich wenig interessiert an dem Schicksal der verschwundenen Göttin. „Ich werde jetzt zu den Wichteln gehen, vielleicht haben die ja was gehört. Warte hier!“ Natürlich wusste Jack, dass er sich diese Aufforderung genauso gut hätte sparen können, aber er versuchte es zumindest immer wieder. Er ließ den Braunen grasen und ging hinüber zu dem uralten Baum, in dessen gigantischem Stamm die Wichtel nicht nur lebten, sondern auch noch ein ganzes Casino untergebracht hatten. Als er es betrat, war alles wie immer. Guts begrüßte ihn überschwänglich freundlich, Jet, der neben ihm stand, grinste blöde, in der mutmaßlichen Hoffnung, Jack heute endlich ein weiteres Paket absolut sinnloser Sammelkarten andrehen zu können, und die sieben Wichtelteams tanzten im Hintergrund ihre ewig gleiche Polonaise. Alles ging seinen gewohnten Gang, nichts deutete darauf hin, das möglicherweise etwas ganz und gar nicht stimmte. „Wie können wir dir behilflich sein?“, schloss Guts seine lange Begrüßungsrede und lächelte breit. Jack hatte sich schon lange abgewöhnt, dem Erntewichtelchef zuzuhören oder sich über seine merkwürdig altbackende Kopfbedeckung zu wundern. Der verschrobene kleine Kerl war eben, um es diplomatisch auszudrücken, einmalig, selbst unter den im Allgemeinen auf Menschen etwas merkwürdig wirkenden Wichteln. „Wo ist die Erntegöttin?“, fragte Jack ohne Umschweife und ließ seine Handflächen geräuschvoll auf den Tresen klatschen. Die tanzen Wichtel im Hintergrund hüpften erschrocken auseinander und die streng nach Kleidungsfarben geordnete Polonaise geriet durcheinander. Mit großen Augen sah Guts ihn fragend an. Menschen waren ihm Zeit seines langen Lebens ein Rätsel geblieben und junge Menschen, wie Jack einer war, waren zu allen Jahrhunderten die weit rätselhaftesten unter ihnen gewesen. Zwar war er dem Farmer dankbar, dass er das nach außen wuselige, in Wahrheit aber sehr geordnete Wichtelleben zurück in seinen Baum gebracht und ihre Herrin befreit hatte, aber eine Beziehung freundschaftlicher Art, die über ein rein geschäftliches Verhältnis hinausging, hatte Guts stets mit Bedacht vermieden. Es konnte nichts Gutes daraus erwachsen und wenn das auch die viel jüngeren Wichtel nicht einsehen mochten, die täglich draußen im Tal arbeiteten, so hielt Guts umso fester an dieser Gewissheit fest. Je weniger die Wichtel mit den Menschen zu tun hatten, desto besser. „Wo ist sie?“, wiederholte Jack mit Nachdruck und beugte sich so weit über den Tresen, wie es ihm möglich war. Jet begann leise zu kichern und wurde durch einen tadelnden Blick von Guts wieder zum Schweigen gebracht. Jet war der geschäftstüchtigste unter den einhundertundeins Wichteln und erfreute sich größter Beliebtheit, er neigte aber leider auch zu den größten Albernheiten und Dummheiten von allen. Vermutlich hatte er deswegen einen so guten Draht zu den menschlichen Wesen und schaffte es verblüffend oft, ihnen Dinge anzudrehen, mit denen sie im Grunde nichts anfangen konnten. „Verzeihung“, gluckste Jet, „aber sein Gesichtsausdruck sieht einfach zu komisch aus.“ Rasch wandte er sich ab und hielt sich die Hand vor den Mund. Seine Mütze wippte unkontrolliert auf und ab. „Unsere Gottheit ist sehr beschäftigt“, gab Guts würdevoll Auskunft und faltete die Hände über seinem dicken Bauch. „Sie hat keine Zeit für eure menschlichen Angelegenheiten.“ „Das beantwortet nicht meine Frage“, beharrte Jack und wich keinen Millimeter zurück. „Ich war an ihrem See und sie ist nicht da.“ „Es ist nicht ihre Aufgabe, unaufhörlich für dich oder die übrigen Talbewohner da zu sein“, erklärte Guts geduldig und strafte Jet mit stiller Verachtung, der sich inzwischen vor Lachen den Bauch hielt. Die anderen Wichtel hatten ihren Tanz nun endgültig unterbrochen und verfolgten alle gespannt die ungewöhnliche Szene. „Die Göttin hat ihre Aufgaben im großen Weltgefüge zu erfüllen. Ihr Menschen habt das noch nie gut begriffen.“ „Sie ist bisher immer gekommen“, setzte Jack nach. „Ich verstehe ja, dass sie nicht für alles Zeit hat und immer hier sein kann. Aber bis heute war sie jeden Tag in ihrem See, wenn ich kam, um sie zu beschenken, und ich hatte nicht den Eindruck, dass sie ungern hier im Vergissmeinnicht-Tal ist. Was, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Sie war schon einmal verschwunden!“ Aufgebracht lief Jack vor dem Tresen auf und ab und hätte Guts am liebsten gepackt und geschüttelt. Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein starrköpfiger, alter Erntewichtelboss, der sich querstellte und seine Ermittlungen behinderte. Ermittlungen. Wenn so etwas nun häufiger passierte, wurde es vielleicht Zeit für einen Polizisten im Tal. Als Bauer konnte Jack schließlich nicht ständig nach einer vermissten Göttin suchen, das war nun wirklich nicht seine Berufsbeschreibung! Andererseits würden wohl weder die Wichtel noch die Göttin gerne mit einem Uniformträger zusammenarbeiten. „Wäre ihr etwas zugestoßen“, sagte Guts sachlich, „hätten wir es bestimmt bemerkt. Du machst dir also völlig umsonst Sorgen. Wenn das nun also alles war...“ „Nein!“ Jack verzog das Gesicht. „Wenn ihr mir schon nicht bei meinen Nachforschungen helfen wollt, dann kümmert euch heute wenigstens um meine Pflanzen! Ich kann mich nicht zerteilen, wie es eure Göttin vielleicht vermag, und ich kann nicht meine Farm und meine Existenz aufs Spiel setzen, nur weil die alte Hex-...“ Er hustete und schluckte den Rest des Satzes hinunter. Das letzte Mal, als die Wichtel vom Schicksal ihrer Göttin erfahren und sich eingemischt hatten, hatte die Hexenprinzessin sie kurzerhand mitverzaubert und Jack hatte bis heute nicht alle wiedergefunden. Darum war es vermutlich besser, die Wichtel glaubten ihm nicht, als wenn sie versuchen würden, ihm bei seiner Suche zu helfen. „Das Bewässerungsteam, aber gerne doch“, sagte Guts mit einer formvollendeten Verbeugung. „Für wie viele Tage denn?“ „Am besten gleich für die ganze Woche“, brummte Jack missmutig. „Wer weiß, wie lange das dauert und wann ich mich wieder um meine eigentlichen Aufgaben kümmern kann. Was macht das?“ „520 Goldstücke“, lächelte Guts berechnend und Jack schluckte einen Fluch der übelsten Sorte hinunter und händigte zähneknirschend den Betrag aus. Wenn das so weiterging – und das mochte die Erntegöttin verhindern, sobald er sie zurück wäre –, würde er doch noch schwach werden und im Casino sein Glück versuchen. „Dann an die Arbeit, hopp, hopp!“, rief er dem hellblauen Team ungeduldig zu und wandte sich zum Gehen. „Ja, dann bis morgen. Beehre uns bald wieder“, entgegnete Guts. Jack, der schon beinahe zur Türe hinaus war, hielt inne. „Bis morgen?“ „Die sieben Tage laufen natürlich erst ab morgen“, sagte Guts höflich, packte Jet unsanft am Ohr, drehte sich um und verschwand mit den übrigen Wichteln in den Privaträumen. Fandango zuckte zusammen, als Jack viel fester als nötig an seinen Zügeln zog. Er schnaubte böse und bockte, aber Jack war nicht gewillt, ihm seine Eigenheiten heute durchgehen zu lassen und verstärkte den Druck seiner Schenkel. „Jack!“, rief da eine Stimme hinter ihm. „Alter Kumpel, dich sieht man ja auch nicht mehr so oft. Warte doch mal. Läuft die Arbeit gut?“ Jack brachte seinen Hengst widerwillig zum Stehen und wandte sich im Sattel um. Rock kam, schön wie ein junger, aufgeblasener Gott mit all dem glänzenden Geschmeide um seinen Hals, auf ihn zu. „Im Gegensatz zu dir arbeite ich wenigstens“, entgegnete Jack trocken. „Was gibt’s?“ „Freundlich wie immer“, sagte Rock unbekümmert und spielte fasziniert mit dem Sonnenlicht, das sich in seinen zahllosen Ringen brach. „Hast du den Cocktail gut verdaut?“ Jack erinnerte sich vage, dass Rock gestern ebenfalls einer der Besucher der Blauen Bar gewesen war. Ob er auf der Suche nach einer neuen Eroberung war, oder ob er einfach nur Leute um sich haben wollte, bei denen er mit seinem vornehmen benehmen und seinen Reichtümern prahlen konnte, darüber war Jack sich nicht ganz klar geworden. „Oh ja, mir geht es vorzüglich“, log er euphorisch. „Es könnte gar nicht besser sein.“ „Ja, ja, die Landarbeit macht fröhlich, nicht wahr? Die gute Luft, die Sonne, das Gezwitscher der Vögel...“ „Was willst du?“, fragte Jack ihn genervt. Irritiert sah Rock zu ihm auf. Er war es nicht gewohnt, so rüde unterbrochen zu werden, schon gar nicht von einem einfachen Bauern. „Eigentlich“, sagte er brüskiert, „wollte ich dir nur meine Gesellschaft zur Villa anbieten, aber offensichtlich ist dir dein... Tier da ja Gesellschaft genug. Es muss traurig sein, ein so einsames Leben zu führen.“ Er musterte Fandango naserümpfend. „Weißt du was, Rock? Geh zu deiner Teerunde und lass mich zufrieden. Im Gegensatz zu dir habe ich nämlich wirklich wichtige Aufgaben. Schönen Tag noch!“ Er stieß Fandango die Versen in die Seite und der Hengst machte einen überraschten Satz und stob dann ohne Vorwarnung in vollem Galopp davon. Rock entfuhr ein entsetzter Schrei, als er rasch zurückwich und dabei strauchelte und zu Boden fiel, aber das sah Jack schon nicht mehr, der auf Fandangos Rücken auf die Brücke zuflog. Er konnte Rock nicht leiden und er verstand auch nicht, was Romanas Familie nur an ihm fand, dass er in ihrer Villa ein und aus gehen konnte. Vor allem die scheue Lumina tat ihm leid, denn es war nicht zu übersehen, dass Rock zwar ein Auge auf sie geworfen hatte und sie ständig bedrängte, sein zweites Auge jedoch durchaus auch den anderen Frauen im Tal zuwandte und daraus keinen Hehl machte. Jack hoffte für Lumina, sie würde nicht auf ihn hereinfallen, fürchtete aber, genau das würde sie mit ihrer zurückhaltenden, ruhigen Art tun. Wenn Rock sich auf eine Sache verstand, dann war es, Frauen zu umgarnen. Jack seufzte und lenkte Fandango nach links und über die massive Holzbrücke. Der Fluss teilte das Tal in zwei Hälften. Auf der rechten Seite des Flusses lagen das Dorf, Jacks Farm, Romanas Villa und der Strand, wo der Fluss ins Meer mündete. Auf der anderen Seite war die Landschaft felsig. Außer Carter und Flora, die in der Mine wissenschaftliche Untersuchungen durchführten und in einem Zelt lebten, wohnten hier nur wenige Menschen. Ganz im Süden stand ein einsames Haus, in dem Galen und Nina lebten, ein altes Ehepaar, das dort in Ruhe seinen Lebensabend verbrachte, und direkt hinter der Brücke gab es noch eine zweite Farm. Vesta baute hier am Flussufer Gemüse an und verkaufte es in einem kleinen Laden. Weil es besonders harte Arbeit war, dem kargen Boden Erträge abzutrotzen, war die stämmige Frau dabei auf die Hilfe von Marlin und Celia angewiesen. Jack wusste wenig über Vesta und Marlin, aber mit Celia verstand er sich gut, seit er bei ihr einmal Baumsamen gekauft und sich Tipps für die Aussaat geholt hatte. Celia war etwas jünger als er und eigentlich nur zu Gast im Vergissmeinnicht-Tal. Ihr Arzt hatte sie hergeschickt, denn Celia war herzkrank und die Stadt tat ihrer Gesundheit nicht gut. Einmal im Tal angekommen, hatte sie sich jedoch erstaunlich schnell erholt und ging Vesta nicht nur im Haus, sondern immer häufiger auch bei der Feldarbeit zur Hand. Dr. Hardy nahm es zunächst argwöhnisch zur Kenntnis, ließ sich aber schließlich auch davon überzeugen, dass ihre neue Aufgabe sie offensichtlich aufblühen ließ. Obendrein machte ihr sonniges Gemüt sie im ganzen Dorf beliebt und sie hatte viele Freunde. Jack war einer von ihnen und er hoffte, dass Celia ihm heute helfen würde. Er band Fandango an einen Baum vor Vestas Laden und trat ein. Vesta und Celia waren nicht da, dafür stand Marlin hinter dem Verkaufstresen und begrüßte ihn halb abwesend. Galen stand in einer Ecke, studierte die Etiketten auf den Gläsern mit Vestas selbstgekochter Marmelade, und rauchte seine Pfeife. Nur der älteste Bewohner im Tal konnte sich so etwas erlauben, und das war Galen nun einmal, wenn man von der Hexe und der Göttin absah. Jack zögerte kurz, doch dann nahm all seinen Mut zusammen und trat zu ihm. Galen nahm kaum Notiz von ihm, sondern drehte nur das Glas, das er gerade in der Hand hielt, ein Stück weiter zum Licht. Jack räusperte sich. „Hallo Galen. Wie geht es Ihnen?“ Galen zuckte zusammen, nahm schmatzend seine Pfeife aus dem Mund und sah Jack über den Rand seiner sichelförmigen Brille an. „Aaah, sieh einer an“, sagte er dann langsam und nickte vor sich hin. Jack wartete gespannt, aber Galen fixierte ihn nur mit den Augen und nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. „Geht es Ihnen gut?“, erkundigte Jack sich höflich. Er hatte nie viel mit dem alten Mann gesprochen, weil er die wenigen Male, die er es versucht hatte, immer als sehr anstrengend empfunden hatte. Man konnte nie wissen, was in Galens Kopf vorging und er ließ nur in den seltensten Fällen eine Regung auf seinem faltigen Gesicht erkennen. Galen blies kleine Wölkchen durch die Nase und sah ihnen nach, wie sie zur Zimmerdecke schwebten. „Mir könnte es besser gehen, aber mir könnte es auch schlechter gehen“, sagte er dann weise. „Und dir, mein Junge?“ Unbehaglich trat Jack von seinem linken auf sein rechtes Bein und steckte die Hände in seine Hosentaschen. „Nun, ich... habe ich mich gefragt, ob Sie mir vielleicht etwas über... die Erntegöttin erzählen können.“ Galens steinblaue Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und sein Blick wurde noch strenger, als er es ohnehin zu sein pflegte. „Ich meine... vielleicht eine Legende oder so etwas“, fügte Jack unsicher hinzu und bereute es, überhaupt gefragt zu haben. „Es ist aber auch eigentlich gar nicht so wichtig. Sie haben Recht, ich müsste eigentlich arbeiten, ich habe gar keine Zeit für so alberne Geschichten... Entschuldigen Sie.“ Er deutete eine Verbeugung an und wich im Rückwärtsgang nach hinten, bis er an den Tresen stieß. „Na, na“, sagte Marlin und entblößte eine Reihe tadellos weißer Zähne. „Immer langsam mit den jungen Pferden. Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“ Schnell drehte Jack sich zu ihm um. „Verzeihung, tut mir leid. Ich... äh... wollte eigentlich zu Celia. Ist sie nicht da?“ „Celia, so so“, sagte Marlin mit einem anzüglichen Grinsen, das Jack einfach ignorierte. „Nein, sie hat heute ihren freien Tag. Versuch es mal nebenan im Haus, ansonsten ist sie vielleicht spazieren gegangen.“ Jack bedankte sich knapp und wollte schon hinauseilen, um Marlins Rat zu befolgen, als plötzlich Galens Stimme ertönte: „Nina.“ „Was?“ Irritiert blieb Jack stehen und sah Galen verständnislos an. „Meine Frau“, sagte dieser. „Sie kennt Geschichten über die Erntegöttin.“ Jacks Gesicht hellte sich auf. „Das ist bisher die beste Nachricht des Tages. Ich danke Ihnen, alter Mann!“ Beinahe wäre Galen vor Schreck die Pfeife aus dem Mund gefallen und sein zwischen Überraschung und Empörung schwankender Gesichtsausdruck wäre ein Bild für die Göttin gewesen, hätte sie denn zugegen sein können. Marlin lachte schallend und Jack zog es vor, eiligst zu verschwinden. Er hastete hinaus auf die Straße und rannte die wenigen Meter zu dem Haus, in dem Vesta, Marlin und Celia wohnten. Nachdem er eine gefühlte Ewigkeit Sturm geklingelt hatte und ein Dankgebet ins Unbekannte geschickt hatte, weil Galen nicht hinter ihm hergeeilt kam, öffnete Celia selbst die Tür. Sie trug einen bodenlangen dunklen Wollrock, ein grünes Sweatshirt, darüber ihre karierte Schürze und an den Füßen bequeme Mokassins. Ihre langen braunen Haare hatte sie im Nacken zusammengeknotet und ein orangefarbenes Kopftuch darum geschlungen. Die Ärmel ihres Oberteils waren weit zurückgekrempelt und ihre Arme bis zum Ellenbogen voller Mehl. Als sie Jack sah, strahlte sie über das ganze Gesicht. „Jack, wie schön, du kommst mich besuchen! Komm doch rein. Ich backe gerade Apfelkuchen, möchtest du bleiben und ihn probieren? Komm, setz dich.“ Und sie nötigte ihn, in der gemütlichen Wohnküche Platz zu nehmen und stellte ihm einen Fruchtsaft und ein paar Kekse hin. „Alles selbst gemacht“, sagte sie stolz. „Celia, ich...“ Er sah ihre vor Freude glänzenden Augen und schluckte. „Das ist wahnsinnig nett von dir.“ Sie wurde rot und wandte sich rasch wieder ihrem Teig zu. „Wie läuft es auf deiner Farm?“, erkundigte sie sich ablenkend, während sie eine runde Kuchenform einfettete. „Ich kann nicht klagen“, antwortete Jack bescheiden und erzählte dann doch voller Eifer von seinen Tieren und den jungen Maispflanzen und davon, dass er von einem Maschinenschuppen träumte und davon, Käse und Joghurt herstellen zu können. Als Celia den Kuchen in den Ofen geschoben hatte, wusch sie sich die Hände und setzte sich zu ihm. „Und dir? Wie geht es dir? Was sagt Dr. Hardy? Ist alles in Ordnung?“ „Ja, mir geht es bestens“, versicherte sie und Jack spürte, wie sehr sie die Frage freute. „Es scheint, als wären die gute Luft und all die netten Menschen hier genau die richtige Medizin für mich. Ich wünschte, ich könnte für immer hier bleiben...“ „Warum tust du’s nicht?“, erkundigte Jack sich und warf erstmals, seit er hier war, einen nervösen Blick auf die Uhr. Celia seufzte plötzlich schwer. „Ach, Jack. Ich will niemandem zur Last fallen. Vesta, und auch Marlin, sie sorgen so gut für mich. Aber ich bin doch nur Gast hier. Ich versuche, ihnen alles, was sie für mich aufwenden, auch ihnen wieder zukommen zu lassen, aber... Verstehst du, ich habe keinen echten Platz hier im Dorf. Jeder hier hat seine Aufgabe und ich will nicht immer nur die kranke, kleine Celia sein, auf die alle Rücksicht nehmen müssen. Ich möchte auch etwas für die Gemeinschaft beitragen.“ „Aber das tust du doch.“ Jack war verwirrt. Er hatte im Allgemeinen oft Probleme damit, Frauen richtig und sofort zu verstehen, und heute war es noch schwieriger, weil er Celia nur noch mit halbem Ohr zuhörte. „Du bist Vesta eine wertvolle Hilfe. Ohne dich würde sie die Felder nie alle bestellen können, dazu noch der Verkauf im Laden und der Haushalt. Selbst für Marlin wäre es zu viel Arbeit.“ Celia schniefte. „Und außerdem hältst du alle bei Laune. Deine Kekse“, er grinste, „sind einfach die besten!“ Jetzt musste auch sie lächeln. „Wenn du es sagst, muss es wohl stimmen. Danke, Jack. Es ist schön, dich zum Freund zu haben.“ „Das war doch gar nichts“, wehrte Jack verlegen ab. Er schämte sich, weil er noch nie so persönlich mit Celia gesprochen hatte wie gerade und ausgerechnet heute hatte er überhaupt keine Zeit dafür. „Doch, das hat mir geholfen“, sagte Celia inbrünstig. „Und wenn ich eines Tages etwas für dich tun kann, dann musst du es mir nur sagen!“ Jack spürte, wie seine Ohren heiß wurden. „Nun, da... da wäre schon etwas“, brachte er mühsam hervor. „Ja? Heraus damit, was soll ich tun?“ Erwartungsvoll blickten ihn Celias große, braune Rehaugen an. „Ich will dir nicht deinen freien Tag verderben und ich würde dich nicht fragen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre“, begann er und legte seine Hand auf ihre. Sie blinzelte überrascht, ließ es aber geschehen. „Ich muss heute etwas Wichtiges erledigen und kann es deshalb nicht selbst tun. Könntest du dich um meine Pflanzen kümmern?“ Ihre Augen wurden noch etwas runder. „Aber klar doch, gerne sogar! Sobald der Kuchen fertig ist, gehe ich los! Du musst dir keine Sorgen machen, ich werde mir Mühe geben!“ „Daran habe ich nicht geringsten Zweifel, Celia“, sagte Jack und drückte ihre Hand. „Du weißt ja nicht, wie groß der Dienst ist, den du dem Tal damit leistest. Die Göttin möge dich dafür entlohnen.“ Celia setzt schon zu einer Frage an, aber da klingelte ihr Küchenwecker und sie sprang auf, um nach dem Kuchen zu sehen. Jack nutzte die Gelegenheit, um sich formlos zu verabschieden und hinauszuhuschen. Er hatte noch einen Termin bei Nina. Nina und Galen wohnten auf einem kleinen Hügel inmitten eines Gartens, den schon seit Jahren niemand mehr gepflegt hatte. Nur der Weg zum Haus wurde von Galen regelmäßig begehbar gemacht und Jack hielt sich nicht lange mit schwermütigen Betrachtungen darüber auf, was man aus dieser großen Fläche Land alles hätte machen können, wenn man nur gewollt hätte und noch jung genug war. Jetzt war nicht der ideale Zeitpunkt, über ein Pachtverhältnis nachzudenken, zumal Jack ohnehin an der Fruchtbarkeit des Bodens zweifelte und es sorgfältiger Planung und viel Mühe bedurft hätte, den Urwald in einen ertragreichen Acker zu verwandeln. Nina war zu Hause und saß trotz des warmen Wetters am Ofen. Jack standen die Schweißperlen schon nach wenigen Minuten auf der Stirn, aber die alte Frau wiege nur den Kopf und sagte: „In meinem Alter ist man froh, wenn es nur das Rheuma ist, glaub mir. Was führt dich zu mir?“ Jack reichte ihr ein paar Blumen, die er unterwegs gepflückt hatte. „Ich möchte Sie bitten, ob Sie mir etwas über die Erntegöttin erzählen können. Ich habe gehört, sie soll hier im Tal in leben. Wissen Sie etwas darüber?“ Ein Lächeln huschte über Ninas Gesicht. „Oh ja, mein Kind. Diese Geschichten kenne ich natürlich. Die Erntegöttin wacht über unser Tal und alle anderen Täler der Erde. Sie lässt die Pflanzen gedeihen und die Früchte reifen und im Winter ruht sie und schöpft neue Kraft. Ohne sie wäre all deine Mühe auf dem Hof vergebens.“ „Und was hat es mit dem See auf sich?“, wollte Jack wissen und fächelte sich mit einem Untersetzer Luft zu. Er mochte Ninas Wohnung – im Winter, wenn es draußen schneite und er mit halb erfrorenen Zehen hier am Ofen saß und Glühwein trank. Dann war es ausgesprochen heimelig hier und im ganzen Tal gab es keinen Ort, an dem er seine Winterabende lieber verbrachte, vielleicht mit Ausnahme der Blauen Bar, wo ein ganz bestimmtes Mädchen arbeitete. Doch jetzt war Sommer und selbst draußen war es kühler als hier. Nur die Aussicht, von Nina ein paar brauchbare Anhaltspunkte zu bekommen, wo er die Erntegöttin suchen konnte, ließ ihn weiter ausharren. „Ach ja, der See.“ Nina sah verträumt aus dem Fenster. „Galen hat mir dort einen Heiratsantrag gemacht, weißt du? Das war vor mehr als sechzig Jahren. Es ist so herrlich romantisch dort. Ich wünschte, ich könnte öfters hingehen, aber der Weg ist zu steil für meine alten Knie. Leider ist der Schildkrötenteich nur ein unbefriedigender Ersatz. Du musst wissen, dass die Göttin ihren See gesegnet hat. Ist dir aufgefallen, wie üppig dort die Blumen wachsen? Alles ist grün und bunt und über- und übervoll.“ Nina beugte sich vor und winkte Jack näher zu sich heran. „Man sagt“, flüsterte sie verschwörerisch, „die Göttin selbst würde zuweilen dort erscheinen, wenn ihr eine Gabe besonders gefällt.“ „Oh, wirklich?“, sagte Jack grinsend. „Schade, dass das alles nur Aberglaube ist, nicht?“ „Oh nein.“ Nina lehnte sich wieder zurück und sah jetzt fast etwas beleidigt aus. „In diesen alten Geschichten steckt viel Wahres. Aber ihr jungen Leute wisst das Alte wohl noch nicht zu schätzen. Das ist sehr bedauerlich, Kind, sehr bedauerlich.“ „So habe ich das doch gar nicht gemeint“, murmelte Jack verschämt. „Ich verstehe ja bloß nicht, warum eine Göttin sich ausgerechnet unser Tal aussuchen sollte. Es ist schön hier, ohne Zweifel, aber die Welt ist doch so groß. Was ist so besonders am Vergissmeinnicht-Tal, dass sie nicht einfach eines Tages verschwindet und sich an einem anderen Ort niederlässt?“ Er stützte den Kopf in die Hände und versuchte so, seinen scharfen Blick zu verstecken, mit dem er Nina bei dieser Frage beobachtete. „Das, mein Kind, ist eine sehr kluge Frage“, sagte sie anerkennend und sah ins Feuer. „Ich weiß auch nichts Genaueres darüber. Aber man sagt, die Göttin habe hier im Tal ihr Herz verloren und sei deswegen an diesen Ort gebunden. Es muss schrecklich sein, als unsterbliche Gottheit immer wieder zum Todesort des Geliebten zurückkehren zu müssen, ohne sich jemals davon lösen zu können.“ Jack schluckte. So traurig und bedrückt hatte die Erntegöttin auf ihn nie gewirkt, im Gegenteil. Er kannte sie als vorwitzige, etwas naive, aber meist sehr heitere Person. Die meiste Zeit über merkte man ihr nicht an, dass sie schon hunderte von Jahren alt sein musste, nur wenn sie wütend wurde, breitete sich ein unangenehm herrischer Ausdruck über ihr kindliches Gesicht. Aber vielleicht schätzte er das auch falsch ein. Schließlich war er lediglich ein Mensch, ein junger und männlicher Mensch noch dazu, und er hatte die Göttin nur ein paar Mal gesehen, wenn er ihr Geschenke brachte und um eine gute Ernte bat. Nachdenklich verabschiedete er sich von Nina und schlenderte den Fluss hinauf zurück in Richtung Brücke. Fandango hatte sich längst selbstständig gemacht und Jack würde ihn abends auf der Farm wiedersehen, wenn der Braune seine Leckerlis verlangte. Für eine Weile setzte Jack sich ans Ufer und ließ die nackten Füße ins Wasser baumeln. Er hatte etwas Abkühlung bitter nötig, alleine schon, um besser grübeln zu können, und der aufkommende Wind, der vereinzelte Wolken mit sich brachte, kam ihm nur gelegen. Wenn der Volksmund Recht hatte und die Erntegöttin vor langer Zeit wirklich hier im Tal ihr Herz verloren hatte und das der einzige Grund war, der sie hier hielt, dann musste etwas geschehen sein, was diese Verbindung aufgelöst hatte. Nur was? Nina hatte vom Tod des Geliebten gesprochen, was nur logisch war, nachdem die Göttin zwar unsterblich war, jedoch nicht über die Macht verfügte, diese Unsterblichkeit mit anderen Wesen zu teilen, auch nicht einem über alles geliebten Menschen. Was für ein trauriges Schicksal. Warum hatte sie sich nicht in einen ebenbürtigen Gott verlieben können? Aber die Liebe folgte keinen rationalen Gesetzten, so viel hatte selbst Jack schon verstanden, auch wenn es ihn einige Male Kopfschmerzen bereitet hatte. Wenn nun also der Geliebte der Erntegöttin hier im Tal gestorben war und sie deshalb immer wieder hier herkam, was konnte sich dann an dieser Situation verändert haben, dass die Göttin plötzlich über Nacht verschwand? Tote standen nicht einfach wieder auf, nicht einmal unter dem Einfluss von Magie. Zumindest glaubte und hoffte Jack das. Er ließ einen flachen Stein über die Wasseroberfläche gleiten. „Ein, zwei, drei, vier, fünf... Ich war auch schon mal besser.“ Ob die Göttin sich neu verliebt hatte? Konnte das den Bann, den Jack nicht verstand, vielleicht auflösen? Und wenn ja, würde die Göttin dann nie wieder zurückkehren? Würde der schöne See und seine Blütenpracht in Vergessenheit geraten? Und was wäre mit den Wichteln? Jack schluckte. Sicher, sie gingen ihm hin und wieder auf die Nerven, aber er mochte sie im Grunde doch. Sie trugen viel zu der besonderen Atmosphäre dieses Tals bei und Jack konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es vielleicht nie wieder so werden würde. Traurig stand er auf und spazierte ziellos in Richtung Dorf. Er wusste nicht, was er jetzt noch tun sollte. Vielleicht hätte er noch einmal zu den Wichteln gehen sollen, aber er spürte, dass er jetzt nicht die Geduld aufbringen konnte, sich mit Guts auseinanderzusetzen. Überhaupt war seine Geduld am Ende. Er war nicht der Richtige für diese Aufgabe. Er war ein Mensch und er verstand nichts von Göttern und magischen Bindungen an Täler oder Seen. Das war nicht sein Terrain und er konnte hier nichts ausrichten. Unschlüssig blieb er auf der Brücke stehen und starrte hinunter ins Wasser. Alles konnte sich ändern und er wollte sich nicht vorstellen, wie es dann sein würde. Er hatte das Tal und seine Menschen lieb gewonnen, er fühlte sich hier zuhause. Jemand näherte sich ihm, Jack konnte die Schritte auf dem Brückenholz klackern hören, und er erkannte sie sofort. „Katja.“ „Jack, guten Abend!“ Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln und stellte sich neben ihn. „Gibt es dort etwas Spannendes zu sehen?“ Sie beugte sich über die Brüstung und hielt dabei ihre langen blonden Haare zurück. Jack betrachtete ihre anmutigen Bewegungen fasziniert und brachte nur mühsam „Nein, nichts“ hervor. Katja hob den Kopf und ihre grünen Augen ruhten für einen viel zu kurzen Moment auf ihm. „Du bist ein merkwürdiger Kerl, Jack“ Sie lachte, warm und fast zärtlich, aber vielleicht bildete Jack sich das auch ein. „Aber ich steh auf merkwürdige Typen. Was tust du hier?“ „Ich... gehe spazieren“, stammelte Jack und richtete seinen Blick rasch zurück ins Wasser. „U-und du?“ „Ich war einkaufen“, grinste Katja. „Aber ich verrate nicht, was ich gekauft habe, das ist ein Geheimnis!“ „Gut, dann werde ich auch nicht fragen.“ „Du bist aber tapfer“, spottete Katja. „So interessant ist es auch gar nicht. Weißt du“, sie senkte verlegen den Kopf, „ich bin eigentlich jede Woche in Mineralstadt. Das klingt jetzt bestimmt total albern, so nach dummer Teenagertussi, die nur Klamotten im Kopf hat oder so. Aber so ist es nicht.“ Sie lehnte sich mit dem Rücken an das Brückengeländer und spielte mit dem Henkel ihrer schwarzen Handtasche. „Mir gefällt es hier im Tal. Alles ist so ruhig und friedlich und die Leute sind sehr nett.“ Sie blinzelte. „Aber ich mag auch die Stadt. Mich durch die Straßen treiben lassen, mich von der Geschäftigkeit und dem pulsierenden Leben anstecken lassen... Verstehst du?“ „Ich glaube schon“, sagte Jack. „Manchmal ist es uns gar nicht mehr bewusst, was wir an diesem schönen Ort haben, und wir träumen einfach in den Tag hinein. Man vergisst so schnell, dass man auch etwas tun muss, um all das Schöne genießen zu können.“ Katjas Augen weiteten sich. „Ja, ganz genau.“ Sie sah zur Blauen Bar hinüber. „Ich muss jetzt nach Hause, Griffin wartet bestimmt schon auf mich. Er macht sich immer so viele Sorgen.“ Griffin. Die Nennung seines Namens gab Jacks Herz einen Stich, aber er ließ es sich nicht anmerken. „Natürlich, ich muss auch langsam los. Gute Nacht, Katja, schlaf gut!“ „Gute Nacht! Und vergiss nicht: Morgen Abend nach dem Hühnerfest ist eine Feier bei uns in der Bar. Ich erwarte, dass du auch kommst!“ „Natürlich“, sagte er und winkte ihr zum Abschied. Er wollte ebenfalls aufbrechen, als erneut zwei Leute um die Ecke von Vestas Farm bogen und auf das Dorf zueilten. Jack erkannte Chris und Wally, das mit Abstand sportlichste Paar des Tals. Auch jetzt joggten sie beinahe nebeneinander her. „Schatz, es war doch nur ein Schal“, sagte Wally beschwichtigend und versuchte seine Frau festzuhalten, doch diese wich ihm aus und legte noch an Tempo zu. „Es war der Schal, Wally, der Schal schlechthin, und diese freche, eingebildete, unbeherrschte...“ Chris warf beide Arme nach oben und verschluckte den Kraftausdruck, der ihr auf der Zunge gelegen hatte, als sie Jack sah. Abrupt blieb sie stehen und Wally wäre fast in sie hineingelaufen. „Jack, guten Abend“, sagte Chris und zupfte an ihrer Jacke. Offenbar war es ihr sehr peinlich, dass jemand ihre Auseinandersetzung mitbekommen hatte. „Hallo“, sagte Jack. „Ist etwas passiert?“ „Oh nein, nichts von Bedeutung“, spielte Chris sogleich den Streit herunter. Doch Wally schnaubte, ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit: „Nichts von Bedeutung. Das sage ich, seit wir in Mineralstadt losgelaufen sind. Aber sie redet sich ja ein, dies sei der einzige und letzte Schal auf Erden gewesen.“ Er rollte hilflos mit den Augen und Jack warf ihm einen mitleidigen Blick zu, einfach aus Solidarität, weil er die Frauen auch so oft nicht verstand. „Ach, was weißt du schon“, schimpfte Chris. „Es wäre ja alles nicht so schlimm, wenn ihn nicht ausgerechnet sie bekommen hätte. So eine unkultivierte, kindische, kleine...“ „Schatz, bitte“, flehte Wally. „Na aber ist doch wahr“, beharrte Chris gereizt. „Dieses Flatterkleid, ich bitte dich. Und dann diese protzigen Goldarmreife und diese ganzen Blümchen und Bänder im Haar. Sowieso, die Frisur, ja, ich bitte dich!“ Chris rümpfte die Nase und rückte ihre dreieckige Brille zurecht. „Was für eine Frisur?“, erkundigte Jack sich, plötzlich hellhörig geworden. Er kannte nicht viele Frauen mit Blüten und Bändern im Haar. Verdutzt sah Chris ihn an, gerade so, als hätte sie vergessen, dass er noch da war. „Sie hatte zwei Zöpfe, links und rechts, und so komische Haarknoten. So etwa.“ Sie griff sich in ihren topmodischen Haarschnitt und versuchte vergeblich, die viel zu kurzen Haare zu den besagten Knoten zu drehen. „Na ja, so ähnlich jedenfalls. Und die Haare waren grün, kannst du dir das vorstellen? Als hätte sie Algen im Haar.“ Angewidert verzog sie das Gesicht. „Aber eigentlich ist es auch egal. Im Grunde bin ich die moralische Siegerin, auch ohne Schal. Ich habe erst draußen die Contenance verloren, nicht schon im Laden, und dabei bin ich noch nie in meinem ganzen Leben so unhöflich behandelt worden. Und jetzt komm, Wally, ich will endlich heim!“ Während die beiden friedlich von dannen zogen, keimte in Jack neue Hoffnung auf. Chris’ Beschreibung passte ziemlich genau auf die Erntegöttin, wenngleich das natürlich die Frage aufwarf, was eine Göttin in einem Kaufhaus zu suchen hatte, wofür sie einen Schal brauchte und warum sie das Tal völlig vergessen zu haben schien. Ob eine Göttin gelegentlich ein wenig Geschäftigkeit um sich brauchte, wie Katja es gesagt hatte? Aber soweit Jack wusste, war dies das erste Mal, dass die Erntegöttin aus freien Stücken einfach verschwunden war, es musste also mehr dahinterstecken. Und dann war da noch Ninas Geschichte von der verlorenen Liebe. Es gab eigentlich nur eine Person, die ihm jetzt noch weiterhelfen konnte, und bei dem bloßen Gedanken daran standen Jack die Nackenhaare zu Berge. Er musste die Hexenprinzessin selbst aufsuchen und ihr von seinen Ermittlungen erzählen. Vielleicht konnte sie sich ja einen Reim auf all das machen. Und wenn nicht – nun, es gab sicherlich auch ein paar hübsche Mauselöcher im Vergissmeinnicht-Tal. Als Jack in die breite Straße durch das Dorfzentrum einbog, flammten gerade die Straßenlaternen auf. Plötzlich bemerkte er auch die Müdigkeit in seinen Knochen. Der mangelnde Schlaf aus letzter Nacht zeigte Wirkung. Er biss die Zähne zusammen und kletterte die zahllosen Stufen zu Romanas Villa hinauf. Links neben dem imposanten Gebäude stand ein Geräteschuppen, nichts sonderlich Auffälliges. Zielstrebig hielt Jack darauf zu und klopfte. „Na endlich!“ Die Tür flog auf und die Hexenprinzessin stand vor ihm. Möglicherweise war es ihm heute Morgen einfach nicht aufgefallen, vielleicht spielte ihm auch das ferne Licht einer Laterne einen Streich, aber ihr Gesicht erschien noch blasser als sonst, die Augen verquollen und die Haare struppig und glanzlos. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte Jack schwören können, dass sie geweint hatte. „Was ist, hast du sie gefunden? Rede endlich, oder ich hexe dir...“ „Schon gut“, rief Jack, „schon gut. Lass mich erst mal rein, dann erzähle ich dir alles.“ Die Hexe sträubte sich etwas, ließ sich dann aber doch ins Innere des Gebäudes schieben und Jack schloss die Tür hinter sich. „Zunächst einmal: Ich glaube, ich weiß, wo sie ist“, begann er, wurde aber sogleich unterbrochen. „Und warum ist sie dann nicht hier?“ Die zarte Gestalt der Hexe bebte vor Aufregung und sie fuchtelte mit ihrem Besen bedrohlich vor Jacks Gesicht herum. „Weil ich es gerade erst erfahren habe und ich auch nicht weiß, wie ich sie zurück bringen soll, wenn ich gar nicht weiß, warum sie fort ist“, erklärte Jack ohne Luft zu holen. „Was soll das heißen, du weißt nicht, warum sie fort ist?“, schimpfte die Hexenprinzessin aufgebracht. „Was hast du denn den ganzen Tag über gemacht?“ Jack zwang sich mit aller Gewalt zur Ruhe. Jedes falsche Wort konnte ihn augenblicklich zu Staub zerfallen lassen, das wusste er. „Ich weiß, warum sie normalerweise hier im Tal ist“, erläuterte er. „Und wenn wir das wissen, können wir auch herausfinden, warum sie es im Moment nicht ist.“ „Hör auf in Rätseln zu sprechen“, brummte die Hexe ungehalten. „Sag mir endlich, was du weißt, sonst endest du als besonders delikate Zutat in meinem nächsten Trank!“ Ihr grimmiger Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Worte aufkommen. Hastig nickte Jack und vergrub die Hände in seinen Hosentaschen. Dann berichtete er zunächst von der Unterhaltung mit Chris und Wally. Leider konnte die Hexe sich ebenso wenig einen Reim darauf machen wie Jack. „Was will sie denn mit einem Schal?“, fragte sie verwundert. „Sie hat ja nun wahrlich genug unnützen Kram. Sie sollte sich lieber mal ein Beispiel an mir nehmen.“ Sie deutete stolz auf die Kisten und Regale an der Wand. „Alles was die moderne Hexe von heute braucht, vom Rachezauber bis zum Haarwuchsmittel, ich kann alles im Handumdrehen herstellen.“ Sie pochte Jack mit dem Besenstil an die Brust. „Inklusive einem sehr schönen Schrumpfzauber, also beeil dich gefälligst ein wenig!“ Jack gehorchte augenblicklich und erzählte von seinem Gespräch mit Nina. Als er aber berichtete, dass man sich erzählte, die Erntegöttin habe sich vor langer Zeit hier im Tal verliebt und sei nun durch den Tod ihres Geliebten an diesen Ort gebunden, da funkelten die Augen der Hexe plötzlich blutrot und sie stieß Jack mit einem heftigen Stoß zu Boden. Entsetzt starrte er zu ihr hoch. Sie stand da wie eine junge Rachegöttin, mit fliegenden Haaren, wehendem Umhang und wild leuchtenden Augen. Ihr Gesicht war wutverzerrt und ihre Stimme dröhnte in Jacks Ohren: „Wage es nie wieder, solche ungeheuerlichen Lügen zu verbreiten, elender Sterblicher!“ Sie breitete die Arme aus, ihr Besen flog längst selbstständig durch den Raum, hinter Jack im Regal klirrten die Gläser und der ganze Raum schien zu vibrieren. Jack schaffte es gerade noch, die Hände schützend über den Kopf zu halten und die Augen zu schließen, da gab es ein ohrenbetäubendes Krachen und Klirren – und dann war plötzlich alles vorbei. Nur langsam wagte es Jack die Augen zu öffnen. Er war der Überzeugung, gewiss kein Mensch mehr zu sein, zumindest kein normal großer. Doch auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein, Hände, Arme, Beine. Er hob den Kopf. Die Hexe sah aus, als hätte sie in eine Steckdose gefasst. Ihre Haare standen zu allen Seiten hin ab, ihr schöner Umhang hing in Fetzen, ihr Kleid hatte einen Riss – der ihr allerdings ziemlich gut stand, aber diesen Gedanken verdrängte Jack sogleich wieder –, kurz: Sie sah so aus, als sei ihr Zauber wieder einmal gewaltig schiefgegangen. Und hinter ihr, wo bis vor Kurzem noch eine Tür gewesen war, klaffte nun ein großes dunkles Loch, in dem eine weibliche Gestalt in einem langen, weißen Gewand stand. „Tadaaaaaa!“, rief sie fröhlich. „Störe ich?“ Jack starrte sie an, als wäre sie ein Geist, und auch die Hexe brachte kein Wort hervor, nur ihre Hände zitterten unkontrolliert. „Ist was?“, fragte die Erntegöttin erstaunt. „Ihr sagt ja gar nichts. Und was machst du überhaupt hier, Jack? Und dann auch noch da am Boden zwischen all den Scherben? Wirklich, du solltest hier mal aufräumen!“ Den letzten Satz hatte sie an die Hexenprinzessin gewandt, die sich immer noch nicht regte. Jack rappelte sich mühsam hoch, bemüht sich nicht an den zahllosen feinen Scherben zu schneiden, die überall auf dem Boden verstreut lagen wie feiner Pulverschnee. „Und das alles nur wegen einem Schal“, murmelte er fassungslos. „Was, woher weißt du von dem Schal“, fragte die Göttin verblüfft. „Das sollte doch eine Überraschung sein.“ Sie zog einen beleidigten Schmollmund. „Eine Überraschung?“, wiederholte die Hexe gefährlich leise und dann brüllte sie es so laut, dass die Scherben auf dem Boden tanzten: „Eine Überraschung?!?“ Die Erntegöttin stand da wie versteinert und Jack befürchtete schon das Schlimmste, als etwas völlig Unerwartetes geschah. Die Hexenprinzessin wankte, torkelte auf die Göttin zu, diese fing sie auf und beide sanken weinend zu Boden. Jack starrte die beiden an und im gleichen Moment meldeten sich seine Kopfschmerzen zurück. Das hier ging weit über seinen Horizont hinaus und war im Grunde auch nicht mehr für ihn bestimmt. Seine Aufgabe endete hier und er war selten so froh über ein erreichtes Ziel gewesen wie in diesem Augenblick. Er tastete sich an der Wand entlang und hinaus in die leicht bewölkte Nacht. Auf ihn wartete heute nur noch sein schönes, weiches Bett und von den beiden unsterblichen Schönheiten des Tals wollte er so bald nichts mehr sehen oder hören. Diese saßen noch immer unbeweglich inmitten der umgestürzten Regale und hielten sich in den Armen. „Es tut mir leid, ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machen musst“, heulte die Erntegöttin und vergrub ihr Gesicht in der wilden Lockenpracht der Hexe. „Ich wollte dir doch nur ein Geschenk besorgen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du...“ „Du dachtest, ich habe es vergessen, stimmt’s?“, sagte die Hexe und klang plötzlich belustigt. „Du dachtest ernsthaft, ich könnte unseren Jahrhunderttag vergessen. Ich fasse es nicht!“ Sie legte ihre Hände um das Gesicht der Göttin und als sie sich zu ihr hinunterbeugte, riss wie von Zauberhand die Wolkendecke auf und die feinen Glasscherben um sie herum begannen im silbernen Mondlicht leise summend zu funkeln. *~Ende~* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)