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Close the Door

von

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Kapitel 1

Close the Door
 

Kapitel 1:
 

Leise schloss ich die Tür hinter mir und drehte den Schlüssel zweimal im Schloss herum.

Mein Herz schlug schnell gegen meine Brust und ich zitterte leicht.

Kurz wischte ich mir über die Augen und lehnte dann meinen Kopf gegen die abgeschlossene Tür.

Tief atmete ich ein und aus um mich selbst zu beruhigen.

Hier bist du sicher, sagte ich zu mir selbst und stieß mich leicht von der Tür weg.

Dann drehte ich mich um, ließ mich an dem dunklen Holz entlang zu Boden sinken und fuhr mir kurz durch meine blonden, etwas längeren Haare.

Seufzend zog ich die Beine an und legte meine Arme um meine Knie.

Ich versteckte meinen Kopf zwischen ihnen und spürte wie sich eine einsame, kleine Träne an meinem rechten Augenlid verlor.

Ich seufzte wieder.
 

Mein Vater war Alkoholiker. Und meine Mutter…na ja…Mutter beschrieb es glaube ich nicht wirklich. Meine Erzeugerin hatte sich vor acht Jahren aus dem Staub gemacht. Meine Schwester im Schlepptau. Sie waren in der Nacht abgehauen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Mein Vater hatte das nie verkraften können. Er hatte sie geliebt, liebte sie wahrscheinlich immer noch und hatte seitdem mit dem Trinken angefangen. Meine Erzeugerin machte sich vom Acker, brannte durch mit ihrem Stecher und nahm meine jüngere Schwester einfach mit…

Und ich?

Tja…

Ich wurde zurückgelassen. Vergessen. Abgeschoben.

Ich hatte seit acht Jahren nichts mehr von ihr gehört, geschweige denn gesehen. Es interessierte sie einen Scheiß wie es mir ging, oder was ich so trieb. Es interessierte sie einen Dreck, dass mein Vater Alkoholiker geworden war und mich fast jeden Abend schlug. Es interessierte sie kein Stück, dass ich dank meinem Vater schon zweimal in die Notaufnahme eingeliefert werden musste, dank der Prellungen und inneren Verletzungen die ich mir durch ihn zugezogen hatte.

Ich hasste sie!

Dafür dass sie sich nie gemeldet hatte, mich nie besucht hatte, mir nie die Liebe gegeben hatte die ich gebraucht hätte, die ich auch jetzt noch brauchte. Die ich mir so sehr wünschte. Und ich hasste sie dafür, dass sie mir meine Schwester nahm, ihr jeglichen Kontakt zu mir verbat und mir damit das Gefühl gab ich wäre gefährlich, wäre etwas böses, wäre schlecht, ein Nichtsnutz, zu nichts zu gebrauchen.

Und ich hasste Serenity.

Ich hasste meine Schwester dafür, dass sie sich trotzdem nicht die mühe gab, mit mir in Kontakt zu treten, dass sie es nur das eine mal versucht hatte und dann nie wieder. Von meiner Tante, die einzige in der Familie meiner Mutter, die ab und zu noch mit mir sprach, hatte ich erfahren, dass meine Mutter es ihr verboten hätte.

Wegen meinem Vater.

Wegen seinem Alkoholproblem…

Meine Mutter wusste also was sich hier fast jeden Abend abspielte.

Sie wusste es ganz genau.

Und sie tat nichts.

Und dafür hasste ich sie noch mehr!

Auch wenn ich mich manchmal fragte, ob man jemanden noch mehr verabscheuen könnte.
 

Sie hatte mir all mein Vertrauen genommen…

Es gab eigentlich niemandem dem ich hundertprozentig vertraute. Wie auch? Konnte ich mich schließlich nicht mal auf meine eigene Familie verlassen, wie sollte ich mich dann auch andere verlassen können?

Mein Vater ließ nur seine Wut an mir aus, meine Mutter interessierte sich nicht für mich und meine Schwester brauchte mich, als ihren Bruder, anscheinend nicht…

Aber gut…was ist schon Familie?

Ich hatte schließlich Freunde…auch wenn mir diese oft mehr auf die nerven gingen, mit ihren Moralpredigten, Vorhaltungen und mit ihrer Besorgnis die sie fast täglich an den Tag legten, vor allem wenn ich mal wieder total zerschlagen und fertig mit den Nerven in der Schule auftauchte.

Und gleichzeitig taten mir diese Gedanken wiederum leid, auch, dass ich sie jedes Mal so kalt von mir Abwies, aber ich wollte keine Bevormundung, Bemutterung oder gar Mitleid.

Ich wollte meine Ruhe.
 

Meine Gedanken verdrängend, stand ich endlich auf, ging auf mein Bett zu und ließ mich auf dieses sinken.

Kurz warf ich einen Blick zu meinem Wecker. Es war schon fast Mitternacht.

Ich hätte nicht noch einmal aufstehen sollen…

Ich hätte mir den Hunger verkneifen sollen und nicht noch einmal aus dem Raum gehen sollen.

Es wäre besser gewesen, hätte ich mich einfach umgedreht und versucht weiter zu schlafen, wusste ich doch wie die Begegnungen mit meinem Vater meistens verliefen, wenn dieser Betrunken auf der Couch lag und sich irgendeine Talkshow im Fernsehen reinzog.

Wenigstens hatte er mich nicht bemerkt, mich nicht wieder geschlagen und damit einen weiteren kleinen Teil meines Herzens heraus gebrochen.

Ich wusste nicht, wie lange ich das ganze noch aushalten sollte…

Seit acht Jahren ging es nun schon so…acht lange Jahre ohne Liebe, ohne Zuwendung ohne Anerkennung…

Acht Jahre…
 


 

Ein schrilles Klingeln riss mich aus dem Schlaf.

Stöhnend drehte ich mich zu meinem Wecker um, drückte auf die Schlummertaste und drehte mich um, um weiterzuschlafen…

Ich hasste dieses Geräusch, hasste vor allem das, was es dadurch ankündigte.

„Guten Morgen Joseph, es ist halb Sieben, also steh gefälligst auf, damit du ausnahmsweise mal pünktlich in der Schule auftauchst“

Bah…!

Nach einigen Minuten klingelte er erneut und versuchte mich allein durch dieses nervtötende Geräusch, aus dem Bett zu hieven.

Und er schaffte es!

Ausnahmsweise mal etwas früher als sonst. Hatte ich doch keine Lust, mir heute erneut blöde Vorwürfe anzuhören, in denen es nur um ein Thema ging: Pünktlichkeit.

Also zog ich mir ein frisches T-Shirt über, schlüpfte in meine Schuluniform und griff nach meinem Rucksack.

Heute wartete wieder eine Lieferung auf mich.

Zeitungen austragen.

Ich teilte mir mein Gebiet mit einem anderen Zeitungsjungen, weshalb jeder von uns nur dreimal in der Woche die Zeitungen austrug. Und diese Woche war ich Montags, Mittwochs und Freitags dran, während er die anderen drei Tage, sprich: Dienstag, Donnerstag und Samstag übernahm.

Unsere Regionale Zeitung brachte am Sonntag keine Ausgabe heraus, weshalb der Tag weg fiel.

Bevor ich mich näher mit dem Thema Arbeit auseinandersetzte, stattete ich unserem Badezimmer noch einen kurzen Besuch ab, richtete meine Haare, wusch mir das Gesicht und putzte mir die Zähne. Noch kurz etwas Deo unter die Achseln gesprüht und schon war ich fertig. Dann schlich ich mich leise in die Küche, nahm mir einen Toast aus der Tüte, neben dem Spülbecken, steckte ihn mir in den Mund und balancierte dann durch das Chaos zurück zum Flur, um mich auf den Weg zu machen.
 

Unten, wir wohnten im dritten Stock eines achtstöckigen Wohnblockes, im Eingangsbereich lag schon der Stapel Zeitungen bereit.

Ich griff nach dem Bündel, packte es auf den Gepäckträger meines Fahrrades und fuhr dann los.
 

Ich brauchte zirka eine dreiviertel Stunde bis ich mit meinem Bereich fertig war.

Also lag ich gut in der Zeit. Von hier aus würde ich nicht länger als zehn Minuten zur Schule brauchen.

Ich trat vorsichtshalber trotzdem etwas fester in die Pedale und fuhr auf die Hauptstraße, die mich direkt zu dem tristen, ungemütlichen Gebäude bringen würde.

Genießerisch atmete ich ein paar mal tief ein und aus, genoss den kühlen, angenehm frischen Wind, der mir ins Gesicht wehte und war gewillt für einen Moment die Augen zu schließen um mich ganz dem Gefühl der Geschwindigkeit hinzugeben.

Im letzten Moment hielt ich mich davon ab, wollte ich doch gerade auf der Hauptstraße nicht unbedingt das Risiko eingehen, von dem nächsten Auto mitgenommen zu werden.
 

Nach wenigen Minuten kam ich an der Schule an, stieg von meinem Fahrrad ab und kettete es, direkt vor dem Schulhof, an einen Fahrradständer an.

Dann machte ich mich gemütlich auf den Weg zum Hauptgebäude.

Viele Schüler tummelten sich schon auf dem Hof, weshalb es mir nicht möglich war, einen meiner Freunde in der Masse auszumachen.

Ich gab das Unterfangen, ein bekanntes Gesicht zu sehen, recht schnell auf und ließ mich lieber von dem Strom der Jugendlichen mit hinein in das Gebäude ziehen.

Nach wenigen Minuten befand ich mich schon an unserem Klassenzimmer und trat ein.

Ich grüßte den ein, oder anderen Klassenkammeraden, während ich mich nach hinten links zu meinem Platz begab.

Unmotiviert setzte ich mich auf meinen Stuhl, legte meinen Rucksack neben den Einzeltisch, den ich besetzte und verschränkte die Arme auf dem Tisch um meinem Kopf auf ihnen zu betten.
 

„Hey Köter! Heute schon so früh aus deinem Körbchen gefallen?“, hörte ich nach einigen Minuten eine höhnische Stimme neben mir verlauten.

Langsam hob ich den Kopf, blickte abschätzend zu Kaiba und schüttelte dann leicht mit dem Kopf.

„Tu uns einen gefallen, und halt einfach deine Fresse, Kaiba.“

Seto Kaiba, einer der reichsten Männer der Stadt und zu dem süßesten und bestaussehendsten Firmenbesitzer des Landes gekrönt, versetzte seine Mimik mit einem kalten Lächeln und sah aus unergründlichen, blauen Augen auf seinen verhassten Schulkameraden nieder.

„Heute so unfreundlich Stöckchenholer? Hast du deinen vergrabenen Knochen von letzter Woche nicht mehr gefunden? Oder hat Herrchen glatt dein Frühstück vergessen?“

Er lachte leise auf und drehte sich dann von mir weg.

Ich reagierte nicht auf seine Worte, sondern ließ meinen Kopf wieder auf meine Arme senken.

Ich hatte heute keine Lust mit ihm zu streiten. Ich hatte keine Kraft dazu, mit ihm zu zanken, mit ihm über solch sinnlose Kommentare zu diskutieren, oder ihm Schläge anzudrohen.

Es nervte mich.

Und es störte mich. Vor allem verstand ich es nicht.

Weshalb zwischen Seto Kaiba und mir, Joseph J. Wheeler seit Jahren eine so derbe Feindschaft bestand, ging einfach nicht in meinen Kopf rein. Ich konnte mich nicht daran entsinnen, ihn jemals so sehr provoziert zu haben, dass er mich dafür tagtäglich in der Schule mit dummen Sprüchen und sinnlosen Kommentaren beglückte und versuchte mich dadurch fertig zu machen.

Bisher war es ihm noch nicht geglückt. Bisher hatte ich immer Kontra gegeben.

Doch seit einigen Tagen, oder schon eher Wochen war ich es leid. Ich war zu müde, zu kaputt, zu ausgelaugt um ihm weiterhin jedes mal die Stirn zu bieten.

Ich wollte nicht mehr.

Natürlich zog ich mir auch weiterhin irgendwelche Beleidigungen aus der Nase heraus, doch immer öfter ignorierte ich seine Worte einfach.

Und ich spürte, dass ihn das wurmte. Er beleidigte mich öfters als sonst, wurde immer grober und ausfallender, schenkte mir damit eine uneingeschränkte Aufmerksamkeit, die sonst keinem aus unserer Schule zu teil wurde. Es störte ihn ungemein, dass sein Spielkamerad ihm nicht mehr jedes Mal die Stirn bot und zurückkeifte, herumschrie oder ihm an die Gurgel sprang.

Warum, wusste ich nicht.

Wahrscheinlich ärgerte er sich nur darüber, dass ich ihm kein weiteres Material mehr lieferte, um mich noch mehr zu beleidigen.
 

Wenig später betraten meine Freunde das Klassenzimmer, sahen mich und kamen sofort auf mich zu.

„Joey, du schon hier?“ fragte Yugi verwirrt.

Ich zuckte nur mit dem Schultern.

„ist das so schlimm?“

„Nein…natürlich nicht. Es ist nur ungewohnt, dass du mal früher da bist als wir.“ Entgegnete er.

Ich zuckte erneut mit den Schultern.

„…alles in Ordnung?“ fragte Tea mich besorgt.

Ich hob den Kopf, lehnte mich nach hinten gegen meine Stuhllehne und sah sie müde an.

Dann lächelte ich leicht.

„Ja. Alles in Ordnung, Tea. Mach dir keine Sorgen.“

Sie nickte wenig überzeugt und bedachte mich weiterhin mit einem besorgten Stirnrunzeln.

Schließlich klingelte es zum Unterrichtsbeginn und Herr Jansen, unser Mathelehrer kam herein.
 

Der Tag verging schleppend. Die Unterrichtsstunden zogen sich fühlbar in die Länge und ich fragte mich ein ums andere Mal, warum ich mir das alles überhaupt noch antat.

Es brachte doch eh nichts. Meine Noten sackten immer weiter in den Keller. Ich passte zu wenig auf, kam zu Hause nicht dazu, meine Hausaufgaben zu machen und zum Lernen war ich in letzter Zeit einfach nicht in der Lage.

Und das, obwohl ich in den letzten Monaten doch solche Fortschritte gemacht hatte.

Jeden Abend war ich hinter meinen Schulbüchern gesessen, hatte gelernt und gute Noten geschrieben.

Doch jetzt war das alles mit einem Schlag wieder vorbei...
 

Zu viele negative Gedanken beherrschten mein da sein.

Meine Probleme übermannten mich, meine Vergangenheit lies mich nicht mehr los und ich verlor mich immer mehr in diesem Strudel der Depression.
 

Nach der Schule verabschiedete ich mich nur flüchtig von meinen Schulfreunden, schloss mein Fahrradschloss auf, schob mein klappriges Zweirad aus der Halterung und fuhr langsam nach Hause.

Zuhause…was war das schon?

Sicher nicht diese verdreckte, übel riechende Bruchbude, in der mein Vater und ich lebten.

Doch seit mein Vater arbeitslos und somit vom Staat abhängig war, konnten wir uns nicht mehr leisten. Das meiste Geld der staatlichen Hilfe, die wir bekamen, ging für den Drogenkonsum meines Vaters und die Miete drauf. Die wenigen Lebensmittel, die mein Vater zwischendurch aus dem Supermarkt mitbrachte, reichten gerade mal dafür, nicht am Hungertod zu sterben. Luxus war ein Fremdwort für mich.

Alle Kosten, die mit der Schule verbunden waren, bezahlte ich von meinem selbst verdienten Geld. Ebenso wie alle anderen anfallenden Beträge, für Kleidung, Verpflegung, Klassenfahrten und die wenigen Ausflüge, die ich mit meinen Freunden machte.

Wirklich viel blieb für letzteres nie übrig.

Auch wenn mir meine Freunde des Öfteren anboten, mir Geld zu schenken, oder zu leihen, lehnte ich immer ab. Ich hielt nichts von Almosen, wollte niemandem etwas schuldig sein, und wollte anderen nicht zur Last fallen.
 

Als ich schließlich an dem achtstöckigen Wohnhaus ankam, stieg ich von meinem Fahrrad ab, lehnte es gegen die Hauswand und sperrte es am Treppengeländer ab.

Dann ging ich langsam nach oben, versuchte so viel Zeit wie möglich hinauszuzögern um nicht mehr zeit wie nötig mit meinem Vater zu verbringen. Ich war mir sicher, er würde nicht mehr lange zu Hause bleiben. Heute war Spielabend, sprich, mein Vater verschwand mit seinem letzten Geld für diesen Monat in einer Spielothek und verprasste das wenige, was wir noch hatten sinnlos mithilfe dieser dämlichen Spielautomaten, die es dort gab. Dann würde er sich verärgert auf dem Heimweg eine Flasche Whiskey, im Lebensmittelladen um die Ecke, klauen und diese mit wenigen Zügen austrinken.

Und dann würde er nach Hause kommen, mich sehen und an mir all seine angestaute Wut ablassen, so wie er es immer tat.

Ich wusste jetzt schon, dass der morgige Tag wieder schrecklich werden würde…
 

Leise schloss ich die Wohnungstür auf, trat ein, zog meine Schuhe aus und hängte meine leichte Jacke an die Garderobe.

Dann verschwand ich lautlos in meinem Zimmer, schloss die Tür hinter mir und drehte den Schlüssel zweimal um.

Ich schloss die Augen, lehnte meine Stirn gegen das dunkle Holz und wünschte mich ganz weit weg.

Ich wollte überall sein, nur nicht hier, nicht in dieser Wohnung, bei diesem Menschen, der sich Erzeuger schimpfte und nichts Besseres zu tun hatte, als sich jeden Tag besinnungslos zu saufen.

Wieder spürte ich, wie sich eine Träne an meinem linken Augenwinkel löste.

Nein, verdammt! Du musst stark sein! Sagte ich mir in Gedanken und kniff die Augen zusammen.

Schwäche zu zeigen, brachte mir jetzt auch nichts. Ich musste zusehen, das ich aus diesem Tief wieder heraus fand, sonst würde ich das ganze nicht mehr lange überleben…

Doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich es diesmal nicht alleine schaffen würde.

Ich hatte das Gefühl, dass ich diesmal jemanden brauchte, der mich wieder aufbaute, der mir half, mich wieder als etwas Wertvolles anzusehen, der mir das Gefühl gab, wichtig zu sein, liebenswert zu sein.

Doch wo sollte ich so jemanden finden? Wenn nicht mal meine ach so tollen Freunde es schafften, wer dann sonst?

Wenn ich nicht mal ihnen vertrauen konnte, wem sollte ich dann sonst mein vertrauen schenken?

Wie sollte ich jemanden finden, bei dem ich mir sicher sein konnte, dass er mich niemals enttäuschen würde?

Gab es so jemanden überhaupt?
 

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So das war das erste Kapitel, spontan gerad entstanden, Kapitel 2 angefangen, aber ich muss zugeben, dass ich mir bei Handlung und Konzept noch nicht sicher bin, das heißt, ich kann nicht versprechen, das hier raus was gescheites wird, in der Regel mache ich mir nämlich vorher einen groben Plan zur Handlung und versuche mich dann daran zu halten, nur diesmal schwirrt nur der Gedanke in meinem Kopf.
 

Ich werde erst mal das Revue von euch abwarten, und sehen was ihr davon hält.
 

Das die Personen nicht mir gehören, und das Joey etwas OOC geraten ist, muss ich wohl nicht dazu sagen. Bin kein Fan von langen Reden bzw. Vorreden und spare mir so Gelaber von Genre, Status, Anzahl der Kapitel, ausführlichen Disclaimer, und den ganzen Spaß.

Kapitel 2

Close the Door
 

Kapitel 2:
 

Ich hörte, wie sich die Tür hinter meinem Vater lauthals schloss und atmete erleichtert auf.

Der erste Teil des Abends war überstanden.

Langsam stand ich auf, trat an meine Zimmertür, schloss sie auf und ging hinaus auf den Gang.

Ich musste unbedingt wieder etwas Ordnung schaffen, sonst würde mich mein Vater noch umbringen. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld, und mein Erzeuger erwartete von mir, dass ich hin und wieder aufräumte.

Also machte ich mich an die Arbeit.

Sammelte den Müll und die leeren Flaschen ein, räumte die Klamotten ins Badezimmer, putzte das Waschbecken und die Toilette, spülte das Geschirr ab, leerte seinen Aschenbecher, kochte etwas zu essen, saugte die Wohnung durch und wischte den Wohnzimmertisch und die Theke unserer Küche ab.
 

Geschafft ließ ich mich auf die Couch sinken, sah kurz auf die Uhr und stellte fest, dass ich zirka anderthalb Stunden gebraucht hatte.

Ich nahm mir meinen Teller, den ich auf den Wohnzimmertisch abgestellt hatte und aß ein paar der Nudeln, die ich gemacht hatte.

Richtigen Appetit verspürte ich nicht.

Wie schon seit Wochen.

Ich aß und trank fast nichts und wurde immer dürrer.

Irgendwann bestehe ich nur noch aus Haut und Knochen, dachte ich, während ich mich dazu zwang, den Teller zu leeren.

Ich musste mehr auf mich aufpassen.
 

Als ich fertig war mit essen, stand ich auf und brachte meinen Teller zur Spüle. Schon hörte ich, wie ein Schlüssel an der Eingangstür umgedreht wurde, und die Tür aufsprang.

„JOSEPH!“ brüllte mein Vater durch die Wohnung, knallte die Tür hinter sich zu und schwankte auf mich zu.

Erschrocken sah ich auf, direkt in seine verklärten Augen und bekam es augenblicklich mit der Angst zu tun.

Er war wütend. Sehr wütend.

„Wo hast du das Geld hin, das ich gestern auf die Ablage neben der Haustür gelegt habe?“ fragte er zornig und kam einen weiteren Schritt auf mich zu.

„Ich habe es nicht genommen!“ entgegnete ich ihm mit fester Stimme, obwohl ich wusste, dass es mir nicht helfen würde.

„Lüg mich nicht an!“ schrie er mich an und packte mich am Kragen.

„Du hast es dir vorhin genommen und bist damit aus dem Haus! Mehr kann ich dir auch nicht sagen!“

„Du hast es gestohlen! Gib es zu du Nichtsnutz!“

Er stieß mich von sich und ich stolperte gegen einen der Küchenschränke. Schmerzhaft verzog ich das Gesicht, als ich mit meinem Kopf gegen das harte Holz knallte und stütze mich im letzten Moment an der Theke ab.

„Ich habe es nicht gestohlen…“ wehrte ich mich, doch es nützte nichts.

Wieder packte er mich und schleuderte mich zu Boden. Im nächsten Moment spürte ich einen harten Tritt in den Magen.

„Zu nichts bist du zu gebrauchen. Stiehlst mir mein Geld, und gibst es dann nicht mal zu! Was denkst du eigentlich von mir? Ich bin nicht blöd, ich weiß genau, dass du es genommen hast!“

Mir schossen die Tränen in die Augen und ich kniff sie fest zu, in der Hoffnung, das salzige Etwas dadurch zurückhalten zu können.

Wieder spürte ich einen Tritt, wieder packte er mich am Kragen, zog mich zu sich hoch, holte aus und schlug mir mit der Faust ins Gesicht.

Er traf mich direkt am Wangenknochen, die Wucht des Schlages ließ mich straucheln und ich stolperte gegen die Theke, schlug mit dem Kopf gegen die Kante und fiel zu Boden.

Alles drehte sich und mir wurde Schwarz vor Augen.

Mir war schlecht.

Mein Vater trat mir ein letztes Mal in die Seite und wandte sich dann von mir ab.

Er verschwand aus dem Raum, ging ohne weitere Worte in sein Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
 

Mit geschlossenen Augen lag ich da, versuchte die Übelkeit und das Schwindelgefühl zu verdrängen und atmete tief ein und aus.

Ich zitterte am ganzen Körper. Meine linke Gesichtshälfte schmerzte höllisch, doch ich konnte wahrscheinlich froh sein, dass er in seinem Betrunkenen zustand nicht in der Lage war, richtig zu zielen, beziehungsweise seine ganze Kraft aufzuwenden. So hatte er mich zwar direkt an der Wange getroffen, doch wenigstens war nichts gebrochen.

Ich brauchte einige Minuten bis ich mich wieder beruhigt hatte. Das Übelkeitsgefühl klang ab und das Zittern ließ nach.

Schließlich setzte ich mich langsam auf, zog mich stöhnend nach oben und hielt einen Moment inne, in dem ich mich kurz an der Arbeitsplatte unserer Küche festhalten musste. Ich holte tief Luft, stieß sie dann langsam wieder aus meinen Lungen und wandte mich dann zum Kühlschrank um mir ein Kühlpad aus dem Gefrierfach zu nehmen. Ich wickelte es in eines der Küchentücher, die hier überall verstreut herumlagen und machte mich dann langsam auf den Weg in mein Zimmer um mich schnellstmöglich hinzulegen.

Auch wenn ich diesmal noch verhältnismäßig glimpflich davongekommen war, schmerzten meine Glieder und ich fühlte mich etwas wackelig auf den Beinen.
 

In meinem Zimmer angekommen, sperrte ich die Tür hinter mir ab, tappte langsam zu meinem Bett, legte mich hin und drückte mir das Kühlpad gegen die Wange.

Dann schloss ich die Augen.

Und wünschte mir ich könnte einfach losheulen, doch es ging nicht.

Ich musste stark sein.

Durfte keine schwäche zeigen.
 


 

Der nächste Morgen kam und das Aufstehen fiel mir wie jeden Morgen schwer. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, mich aus dem Bett zu mobilisieren, ging langsam auf meinen Schrank zu und griff nach einem frischen T-Shirt.

Das Duschen würde noch bis heute Abend warten müssen. Im Moment war ich froh, mich in einer halbwegs aufrechten Position halten zu können.

Ich warf einen kurzen Blick in den Spiegel, stellte erleichtert fest, das meine Wange nur leicht geschwollen und minimal gerötet war, und wandte mich dann vom Schrank ab, um ins Bad zu gehen.

Nach einer Kurzen Katzenwäsche, zog ich mich an, schnappte mir meine Schultasche und holte mir aus der Küche noch eine Scheibe Toast.

Dann machte ich mich auf den Weg zur Schule.
 

„Joey! Was ist mit deiner Wange passiert?“ fragte Tea erschrocken, als sie mich eine halbe Stunde später, kurz vor der Schule abfing und die leichte Schwellung in meiner linken Gesichtshälfte bemerkte.

„Ach das…nichts schlimmes, bin heute Nacht aufgewacht, weil ich auf Toilette musste, und bin im Dunkeln gegen den Türrahmen gerannt.“

Besorgt musterte sie meine Wange und schient mir nicht recht glauben zu wollen.

Bevor sie protestieren wollte, winkte ich ab und grinste entschuldigend.

„Wirklich Tea, glaub mir. Es ist nichts Ernstes. Nur meine eigene Dummheit.“

Schließlich nickte sie, löcherte mich nicht länger mit Fragen und gemeinsam gingen wir in unser Klassenzimmer.
 

Noch öfters musste ich mir unangenehme Fragen von meinem Freunden anhören und ich speiste jeden von ihnen mit der gleichen Ausrede ab.

Tristan lachte nur über meine Aussage, Yugi guckte etwas skeptisch, schien aber wie Tea zu dem Schluss zu kommen, dass man mir wohl glauben könnte.
 

In der ersten, kurzen Pause wurde schließlich auch Kaiba darauf aufmerksam und verspottete mich sogleich mit einer seiner typischen Aussagen. „Oh Köter, sag bloß du hast dein Stöckchen heute Morgen mit dem kompletten Gesicht aufgefangen.“ Fragte er ironisch und lächelte mich kalt an.

Ich sagte nichts dazu, ignorierte ihn einfach und stand stattdessen auf, um aufs Klo zu gehen.
 

Die Toilette war Gott sei Dank schon komplett leer, ich beeilte mich mit meinem Geschäft, wusch mir dann die Hände und wagte einen kurzen Blick in den Spiegel.

Ich war bleich und wirkte abgemagert und irgendwie ziemlich fertig…

Seufzend ließ ich meinen Kopf nach vorne gegen den kühlen Spiegel sinken und schloss die Augen.

In Gedanken versunken, bekam ich das leise öffnen und schließen der Tür nicht mit. Erst als eine kalte, herablassende, unverwechselbare Stimme mich ansprach, schreckte ich auf und wandte mich zu der eingetretenen Person um.

„Was ist los, Flohschleuder? Du konterst gar nicht mehr. Es ist langweilig, wenn du nicht mal mehr ein primitives Schimpfwort hervorbringst!“

Ich reagierte nicht wirklich auf seine Fragen sondern wandte mich lieber wieder zum Spiegel, um mir erneut die Hände zu Waschen.

Dass das komplett sinnlos war, war mir in dem Moment egal.

Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Kaiba ein paar Schritte auf mich zukam, und schließlich kurz vor mir stehen blieb.

„Was ist los?“ fragte er erneut. Überrascht sah ich ihn an. Er wirkte…wirklich interessiert.

Und gar nicht mehr so gefühllos wie sonst.

„Nichts was dich etwas angehen würde.“ Entgegnete ich leise und wollte an ihm vorbei, doch er griff nach meinem Arm und hielt mich zurück.

Leicht zuckte ich zusammen. Ich vertrug solche Berührungen nicht, kurz nach einem Zusammentreffen mit meinem Vater. Es war mir unangenehm und ich entwickelte eine leichte Angst.

Ich versuchte mich aus seinem Griff zu lösen, doch er ließ nicht locker.

„Sag schon.“, murmelte er ungeduldig und verengte die Augen zu kleinen Schlitzen.

„Was hast du in letzter Zeit?“

„Warum fragst du mich das überhaupt? Es interessiert dich doch überhaupt nicht, was mit mir los ist oder nicht. Du brauchst mich doch nur, um deinen angestauten Ärger loszuwerden, indem du mich beschimpfst. Schon vergessen? Ich bin für dich nur der räudige Köter, die ätzende Flohschleuder, oder der mickrige Straßenhund, der sein Stöckchen nicht mehr findet. Also…was willst du überhaupt von mir?“

Überrascht sah er mich an. Ich war zum Schluss immer lauter geworden. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte meine Emotionen wieder in den Griff zu bekommen.

Das hatte ich nicht gewollt.

Er schien im ersten Moment nicht zu wissen, was er darauf antworten sollte. Wieder versuchte ich mich aus seinem Griff zu befreien, doch er ließ nach wie vor nicht locker.

Schließlich kam er einen weiteren Schritt auf mich zu, griff nach meinem Kinn und schob meinen Kopf auf die rechte Seite, um sich meine Wange genauer anzusehen.

„Wer hat das gemacht?“ fragte er lauernd.

Sein Blick war kalt. Die Eisblauen Augen musterten mich eingehend und mir lief es eiskalt den Rücken runter.

Erschrocken machte ich einen Schritt nach hinten um wieder mehr Platz zwischen uns zu schaffen.

Was sollte das? Was maßte sich dieser Kerl an, mir jetzt plötzlich auf die Freundlich-Besorgte Tour zu kommen, nachdem er sich in den letzten Jahren wie ein arrogantes Arschloch benommen hatte und mich eigentlich nur dazu missbraucht hatte, seinem Ärger Luft zu machen? Was erlaubte sich gerade dieser Mann, mir jetzt, kurz nachdem er mich noch mit einer Beleidigung abgespeist hatte, plötzlich einen auf Gut Freund zu machen?

„Ich habe mein Stöckchen mit meinem ganzen Gesicht aufgefangen, schon vergessen? Das waren doch deine Worte oder?“, erwiderte ich zornig, riss mich mit einem Ruck von ihm los und ging schnellen Schrittes an ihm vorbei zurück zum Klassenzimmer.
 

Wutentbrannt, griff ich nach meinem Rucksack, packte meine Schulsachen ein, und stürmte ohne auf die besorgten Fragen meiner Freunde einzugehen, aus dem Klassenzimmer, direkt an unserem Physiklehrer vorbei.

„Mir ist schlecht!“ antwortete ich wenig überzeugend, auf seine Frage, was ich denn vorhabe zu tun und verschwand aus dem Gebäude.

Was für ein beschissener Tag.
 

Ich verließ das Schulgelände und machte mich auf den Weg nach Hause.

Es war mir egal, ob mein Vater dort schon mit dem Schlagstock auf mich wartete, oder nicht. Es war mir egal, was es mir blühen würde, früher nach Hause zu kommen.

Es war eh scheiß egal, ob wann ich nach Hause kam, einen Grund mich zu schlagen würde er so oder so finden.

Oder er würde mich einfach grundlos fertig machen. Wer brauchte heutzutage schon eine triftige Entschuldigung dafür, sein nutzloses, wertloses Kind zu schlagen?

Ich schloss mein Fahrradschloss auf, schwang mich auf den Sattel und fuhr los.

Ich ließ mir Zeit, brauchte mich schließlich nicht zu beeilen. Die Schule würde garantiert bei mir Zuhause anrufen, meine unentschuldigte Abwesenheit melden und meinem Erzeuger damit eine weitere Rechtfertigung für seine Zornesausbrüche liefern.
 

Kurz vor unserem Wohnblock drosselte ich mein Tempo noch mehr, kam schließlich zum stehen und schloss wie immer mein Fahrrad an dem Geländer ab.

Dann kramte ich meinen Schlüssel aus meiner Jackentasche heraus, schloss die Eingangstür auf und ging langsam nach oben.

Vielleicht hatte ich ja Glück und er war gar nicht Zuhause.

Auch wenn die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering war.

Was sollte ein Arbeitsloser Säufer auch schon den ganzen Tag tun?

Außer Zuhause oder in der Kneipe, um die Ecke, zu sitzen und sich sinnlos zu betrinken…
 

Schon als ich den Schlüssel im Schloss umdrehte, die Tür öffnete und in unseren düsteren Flur trat, wusste ich, dass ich nicht verschont bleiben würde.

Schon hörte ich Schritte im Nebenraum. Er kam in den Gang, sah mich, trat auf mich zu und schubste mich gegen die eben geschlossene Haustür.

„Du schwänzt also die Schule, ja? War ja klar, dass es irgendwann dazu kommen würde. Du nichtsnutziger, verlogener Bengel! Statt zu lernen, um den Abschluss zu schaffen um danach endlich mal Kohle ins Haus zu bringen, haust du lieber aus der Schule ab, verpasst so eine Klassenarbeit und kassierst eine Sechs! Womit habe ich so etwas wie dich nur verdient? Deine Mutter hätte dich lieber mitnehmen sollen, als sie damals ohne ein Wort abgehauen ist! Dann müsste ich mich jetzt nicht mit so etwas wie dir herumschlagen!“ schrie er mich an, und griff nach meinem Kragen um mich mit einem kräftigen Ruck zu Boden zu schleudern.

Ohne mich zu rühren, geschweige denn mich zu wehren, ließ ich seine Schimpftirade über mich ergehen und steckte die Hiebe wortlos ein. Kein Laut des Schmerzes, oder der Widerworte kamen über meine Lippen. Ich hielt die Augen geschlossen, schützte mein Gesicht mit meinen Armen und wartete darauf, dass er von mir abließ.

Einfach ruhig bleiben, sich nichts anmerken lassen und so tun als wäre man nicht da.

Dann ging es schnell vorüber.

Wie auch diesmal.

Schnell verlor er die Lust dazu, nach mir zu treten und ließ von mir ab. Er wandte sich zum Wohnzimmer und ließ mich einfach mitten im Hausflur liegen.

Ich wartete, bis sich die Wohnzimmertür hinter ihm schloss und versuchte mich dann probehalber aufzusetzen.

Es ging.

Er war ausnahmsweise nicht ganz so brutal gewesen wie sonst.

Was wahrscheinlich daran lag, dass er noch nicht all zu betrunken war. Je mehr er trank, desto mehr Kraft entwickelte er.

Langsam stand ich auf, lehnte mich kurz an die Wand, bis der leichte Schwindel verschwand und trottete dann in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir ab und wankte zum Bett.

Ich ließ mich hineinfallen, schloss müde die Augen und versank wenig später in einen traumlosen Schlaf.

Kapitel 3

Close the Door
 

Kapitel 3:
 

Mein Wecker klingelte.

Grummelnd drehte ich mich noch einmal auf die andere Seite und drückte nebenbei auf die Schlummertaste.

Heute war kein guter Tag.

Irgendwie hatte ich das im Gefühl.

Wieder kam mir der eiskalte blauäugige Geschäftsmann in den Sinn, der sich gestern so untypisch für einen Kaiba verhalten hatte.

Ich verstand nach wie vor nicht, was ihn plötzlich so aufgeregt hatte und was ihn plötzlich so an mir interessierte.

War ich doch nur der dämliche, räudige Köter…

Der Straßenköter, der es nicht Wert war, auch nur den anderen zu berühren, geschweige denn anzusehen.

Der nicht gut genug war, dem anderen nicht ebenbürtig war und immer einen Schritt hinter dem anderen stehen würde…

Das war ich und nicht mehr.

Und trotzdem hatte Seto Kaiba, der Held der Nation, der Übermensch gestern so plötzliches Interesse gezeigt.

Ohne beleidigende, oder verletzende Worte…

Warum?
 

Seufzend schob ich mich an den Rand des Bettes und setzte mich auf.

Ich schwang meine Beine über die Bettkante und stand langsam auf. Mir schwindelte leicht, doch ich ignorierte es einfach und griff stattdessen nach einem frischen T-Shirt und meiner Schuluniform.

Mit hängenden Schultern trottete ich ins Bad, stellte das Wasser der Dusche an und putzte mir nebenbei die Zähne.

Die Dusche tat gut. Das warme Wasser, das sich langsam einen Weg über meine Schultern und meine Brust bahnte, hatte eine beruhigende, reinigende Wirkung auf meinen Körper und meine Seele.

Länger als unbedingt notwendig, genoss ich das Gefühl der Wärme und der Geborgenheit, schaltete dann schließlich das Wasser ab und trat aus der Dusche um mich fertig zu machen.
 

Ohne Frühstück ging ich aus dem Haus, schloss mein Fahrrad auf und schwang mich auf den Sattel.

Also los geht’s, sagte ich in Gedanken zu mir selbst und fuhr los.
 

Das Arbeiten fiel mir heute besonders schwer. Ich fühlte mich ausgelaugt, war müde und kaputt und wollte eigentlich am liebsten nur noch wieder in mein Bett.

Doch leider war das nicht möglich, ich musste sehen, dass ich mein Gebiet fertig brachte, musste sehen, dass ich etwas Geld zusammen bringen konnte, um halbwegs über die Runden zu kommen.

Also biss ich ein ums andere Mal die Zähne zusammen und machte meine Arbeit so schnell und gut wie möglich.
 

Ich war gut in der Zeit, hatte sogar noch einige Minuten, bevor der Unterricht beginnen würde, als ich langsam um die Ecke fuhr und das triste, graue Schulgebäude in sicht kam. Ich seufzte leise, fuhr auf den Hof und schloss mein Fahrrad bei den Fahrradständern wie jeden Tag ab.

Dann trottete ich lustlos und übermüdet zum Haupthaus und suchte mein Klassenzimmer.
 

Herr Jansen, unser Mathelehrer gab uns heute die letzte Klausur zurück.

Auf einem unbeschriebenen Blatt, auf dem er der Formhalber meinen Namen vermerkt hatte, prangte eine große rote Sechs, mit dem Hinweis, dass ich unentschuldigt gefehlt hatte, an dem Tag.

Seufzend setzte ich meine Unterschrift auf das weiße Papier und reichte es nach vorne.

Herr Jansen kam auf mich zu, sah mich entschuldigend an und sagte: „Es tut mir Leid, Joseph, doch ich konnte nichts machen. Wenn du allerdings ein Attest von gestern dabei hast, kannst du den Test nachholen.“

Ich schüttelte leicht mit dem Kopf.

„Nein, Herr Jansen. Ich war nicht mehr beim Arzt.“

Er nickte verstehend und entfernte sich wieder.

Tea, die schräg vor mir saß, sah mich verwundert an.

„Seit wann interessiert er sich für deine Mathematiknote?“ flüsterte sie mir fragend zu.

Ich zuckte nur mit den Schultern, kam so um eine Antwort herum und legte meinen Kopf müde wieder auf die Tischplatte.

Was ging es Tea schon an, dass ich mich im letzten halben Jahr wirklich angestrengt hatte, um meinen Notendurchschnitt zu verbessern?

Schließlich war das Momentan eh hinfällig, mit dieser Sechs, würde ich in Mathematik sicher wieder auf eine Vier rutschen…

Doch so wie es mir im Moment ging, war es auch kein Wunder, das so etwas passierte. Auch wenn es trotzdem ziemlich heftig war, wie schnell sich gute Noten zu Schlechten wandeln konnten…
 

Aber aufgefallen waren meine Bemühungen niemandem.

Außer den Lehrern.

Selbst Seto Kaiba, erklärter Anti-Wheeler hatte nichts von alledem bemerkt.
 

Aber weshalb sollte sich Superkaiba auch dafür interessieren, was eine unterbelichtete Null wie er schon für Noten schrieb.
 

Trotz allem war es mir nicht entgangen, dass Herr Kaiba sich heute auffällig unnatürlich verhielt.

Statt wie sonst auch über meine Blödheit zu lachen und mich mit der Note aufzuziehen, sah er mich nur nachdenklich an.

Ohne Spott, ohne gehässigem Grinsen und ohne Verachtung.

Eher…neugierig…und vielleicht…nein!

Das sicher nicht…

Es gab neben meiner Familie sonst niemanden auf dieser Welt, dem ich gerade dieses Gefühl auch nur ansatzweise im Zusammenhang mit mir so wenig zutraute…Nein…Seto Kaiba war mit hundertprozentiger Gewissheit nicht…besorgt.
 


 

Nach der Schule machte ich mich niedergeschlagen auf den Heimweg.

Sperrte mich dort in mein Zimmer ein und ließ mich aufs Bett fallen.

Froh darüber, dass der Tag endlich rum war, fiel ich in einen traumlosen Schlaf.
 

---
 

Nachdenklich fuhr Seto Kaiba, Besitzer einer der erfolgreichsten Firmen des ganzen Lands, in seiner schwarzen Limousine nach Hause.

Er machte sich Sorgen.

Ja…auch wenn es unglaublich klang, auch ein Kaiba konnte sich Sorgen machen.

Und sein Lieblingsmitschüler sah in letzter Zeit überhaupt nicht gut aus…

Verwirrt fuhr sich Seto mit den Fingern durch sein braunes, glänzendes Haar. Er musste jetzt noch für ein paar Stunden in die Firma und die wichtigsten Angelegenheiten regeln. Er hasste es nach der Schule noch zur Arbeit zu müssen, doch ihm blieb leider oft nichts anderes Übrig. Er konnte nicht alles von zu Hause aus regeln, manchmal standen Meetings an, oder es gab interne Streitigkeiten, die seine Schlichtung benötigten.

Heute war wieder so ein Tag, an dem er lediglich wegen der Sozialen Unfähigkeit seiner ansonsten so qualifizierten Mitarbeiter in die Firma musste.

Und seine Laune sank regelrecht auf den Tiefpunkt.
 

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Ein lautes Poltern riss mich aus dem Schlaf. Ich setzte mich auf, sah zur Tür und spürte wie mir augenblicklich das Herz gefror.

Mein Vater hörte sich gar nicht gut an.

„JOSEPH! Komm sofort aus deinem Zimmer heraus, sonst schlage ich die Tür ein!“

Ich zuckte zusammen, wogte meine Möglichkeiten ab und kam zu dem Schluss, dass es wohl das Beste wäre, zu tun, was er von mir verlangte.

Also stand ich schnell auf, ging zur Tür und drehte den Schlüssel um.

Sofort riss mein Vater die Tür auf, und ich stolperte nach Hinten, als diese mich am Brustkorb traf.

Ich fiel zu Boden, sah ihn erschrocken an, und wartete schon auf den ersten Tritt.

„Was fällt dir ein die Tür abzuschließen! Du weißt dass ich so etwas nicht dulde!“

Ich hatte Angst.

Tierische Angst. Traute mich nicht, etwas zu erwidern, wollte ihn nicht noch zorniger machen.

Er knurrte ungeduldig und trat mir in die Seite.

Ich verbiss mir einen Schmerzenslaut und hielt mir stattdessen meine Rippen.

„Antworte gefälligst, wenn ich mit dir rede!“

„Es tut mir leid. Ich mach’s nicht wieder.“ Entgegnete ich leise.

Er griff nach meinem Arm, zog mich mit einem Ruck nach oben, und ich musste mir erneut auf die Lippen beißen um nicht aufzuschreien.

Mein Schultergelenk knackte verräterisch.

„Komm mir nicht mit so einer läppischen Entschuldigung. Die Kaufe ich dir eh nicht ab, du nichtsnutziger Idiot. Ich werde dir eine gehörige Tracht Prügel bescheren, die wird ja hoffentlich wirken.“

Er boxte mir n den Bauch und ich ging automatisch in die Knie. Ich hielt mir meinen Magen, mir wurde schlecht und ich würgte, doch es kam nichts…hatte ich ja seit Stunden nichts mehr gegessen.

„Bitte Dad…bitte lass mich…“ flehte ich ihn an, doch er ignorierte mich einfach und trat erneut nach mir. Er traf mich am Arm, ich biss die Zähne zusammen, versuchte mich zu schützen.

Erneut griff er nach mir, erwischte mich am Handgelenk, doch diesmal wehrte ich mich und riss mich los.

Er sah mich verwirrt an, mit Gegenwehr hatte er nicht gerechnet.

Ich nutzte den Moment, drückte mich an ihm vorbei und rannte durch die Tür in den Flur, griff nach meinen Turnschuhen und riss die Haustür auf um zu verschwinden.

Er wollte mir hinterher, rief mir etwas nach, doch ich wusste, er würde in seinem Zustand nicht weit kommen.

Schon am Treppenansatz des Hausflures blieb er stehen und schimpfte lautstark hinter mir her.

Schnell rannte ich die Treppen runter, zog mir unten die Schuhe an und lief dann aus dem Haus, raus in den Regen und die Kälte.

Verdammt…
 

Mir war kalt. Ich zitterte am ganzen Körper und hatte schon schützend meine Arme vor der Brust verschränkt, doch das half mir wenig bei diesem Sauwetter.

Im T-Shirt bei dieser Witterung draußen herumzurennen war auch nicht gerade sinnvoll.

Doch ich hatte ja keine andere Wahl, außer ich wollte mich ein weiteres Mal von meinem Vater verprügeln lassen.

Der Regen hatte kein bisschen nachgelassen, dabei war ich bestimmt schon seit einer Stunde unterwegs.

Lange würde ich das nicht mehr aushalten.

Seufzend trottete ich weiter, immer weiter, in der Hoffnung, dass mir irgendwann mal endlich jemand einfallen würde, bei dem ich die Nacht verbringen konnte.

Meine Freunde aus der Schule…nein, die konnte ich vergessen. Thea wäre viel zu aufgeregt, Yugi schlief um diese Uhrzeit sicher schon und Tristan war ein viel zu großes Plappermaul und würde mich so lange mit fragen löchern bis ich es nicht mehr aushielt.

Und am nächsten Tag wüsste wahrscheinlich die komplette Schule, weshalb ich mich bei meinem „Freund“ versteckt hatte.
 

Irgendwann blieb ich stehen. Ich hatte Schutz unter einem Glasdach gesucht, dass zu einem Firmeneingang gehörte.

Desinteressiert sah ich mich um, und stellte verwirrt fest, wo ich mich hin verirrt hatte.

Direkt neben der Eingangstür prangte ein riesen großes Emblem mit den Buchstaben: KC.

Ich war direkt zur Kaiba Corporation gelaufen.

Kapitel 4

Close the Door
 

Kapitel 4:
 

Ich haderte mit mir selbst.

Entweder ich traute mich endlich zu klingeln, oder ich würde irgendwann in den nächsten zehn Minuten hier draußen bitterlich erfrieren.

Verdammt, Joseph, sei kein Schaf und mach es endlich.

Und ich tat es.

Ich klingelte.

Und keine zwei Sekunden später meldete sich eine mir unbekannte Stimme und fragte nach meinem Namen und meiner Bitte.

„Hallo. Ich bin ein Klassenkamerad von Seto Kaiba und brauche seine Hilfe.“

„Warten Sie bitte einen Moment.“

Es dauerte einige Minuten, bis sich der Pförtner erneut meldete.

„Herr Kaiba befindet sich in seinem Büro, im obersten Stockwerk. Gerade aus finden sie einen Aufzug der sie direkt zu seinen Räumlichkeiten bringen wird. Ich wünsche ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“

Ich lächelte leicht.

Wer hätte das gedacht. Mitten in der Nacht klingelte es an der Tür und der Pförtner blieb nach wie vor freundlich.

Doch das war bestimmt teil des Images der Firma.
 

---
 

Genervt legte Seto Kaiba auf.

Ein Klassenkamerad von ihm?

Was zum Teufel sollte dass denn?

Mitten in der Nacht tauchte irgendeiner dieser Idioten bei seiner Firma auf um ihn zu nerven? Trotzdem…die Neugier hatte ihn dazu gebracht den Störenfried rein zu lassen.

Man konnte nie wissen was los war…und tief in seinem inneren vermutete er jemand ganz bestimmten…
 

---
 

Langsam ging ich durch die Eingangstür direkt auf den Aufzug zu.

Die Tür stand offen und ich trat zögerlich ein und drückte auf den höchsten Knopf.

Mein Herz klopfte schnell und ich biss mir leicht auf die Unterlippe.

Okay…jetzt hatte ich den ersten Teil geschafft, und nun?

Was sollte ich ihm bitteschön sagen?

Und was genau erwartete ich von ihm?

Verwirrt wartete ich darauf, dass der Aufzug das oberste Stockwerk erreicht hatte.

Oben angekommen trat ich aus dem Gerät, ging die wenigen Schritte auf die vorderste Tür zu und las das Schild.

Nein…Sekretariat.

Nächstes….auch nein…wieder Sekretariat.

Ich holte tief Luft.

Viele Möglichkeiten gab es nicht mehr.

Es standen noch zwei Türen zur Auswahl. Hinter der nächsten befand sich laut Schild ein Konferenzraum.

Also doch die hinterste, wie ich es mir schon gedacht hatte.

Langsam trat ich an das Türschild heran.

„Büro des Firmeninhabers – Seto Kaiba“

Zögernd hob ich die Hand und klopfte leicht.

Ich konnte ein seufzen hinter der Tür vernehmen, jemand stand auf und Schritte näherten sich.

Dann öffnete sich die Tür und Seto Kaiba stand vor mir.

Überrascht sah er mich an.

„Du….hier?“ fragte er verwundert.

Ich nickte bloß leicht und ließ dann den Kopf sinken.

Was sollte ich denn jetzt bitte sagen?

„Was willst du hier, Wheeler?“ fragte er mich direkt und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich ging einen Schritt zurück, ließ den Kopf weiter hängen und suchte nach den richtigen Worten.

„Ich…ich wusste nicht…wohin, ich dachte, ich…ähm…

Ich weiß auch nicht was in mich gefahren ist…ich dachte…ich denke es ist wohl das Beste wenn ich wieder verschwinde… Entschuldige die Störung…“

Damit drehte ich mich von ihm weg und wollte wieder zurück zum Aufzug gehen, doch er griff nach meinem Arm und hielt mich auf.

Leicht zuckte ich bei dieser Berührung zusammen, hatte ich die letzte dieser Art, in so schlechter Erinnerung.

„Komm erst mal rein.“ Sagte Kaiba und zog mich in sein Büro.

Er wies auf eine schwarze Couch direkt am gegenüberliegenden Ende des Raumes.

„Setz dich. Ich komme gleich.“

Ich nickte und tappte zu der Couch, ließ mich vorsichtig darauf sinken und stellte fest, dass sie unheimlich bequem war, auch wenn sie nicht gerade so aussah.

Kaiba ging aus dem Raum, sperrte mit seinem Schlüssel eines der Sekretariats auf und kramte einen Moment darin herum.

Dann trat er wieder heraus, sperrte die Tür hinter sich ab und kam zurück zu mir in sein Büro. In der Hand hielt er ein Hemd von sich und ein Handtuch.

Beides hielt er mir hin.

„Hier…trockne dich ab und zieh das Hemd an, bevor du dich erkältest.“

Ich nickte leicht perplex, rubbelte mich mit dem Handtuch ab und schälte mich aus dem nassen T-Shirt um mir das Hemd über zu streifen.

Der Braunhaarige war stattdessen zur anderen Seite seines Büros gegangen, hatte einen Wasserkocher angeschmissen, der auf einem kleinen Tischchen stand, und aus der Schublade des Tisches eine Tasse und einen Teebeutel organisiert.

Als das Wasser kochte, schüttete er es auf den Teebeutel und brachte mir die Tasse an den Tisch.

„Hier.“ Sagte er und hielt mir das Getränk unter die Nase.

Ich griff vorsichtig danach und bedankte mich leise.
 

„Also…“ begann er nach wenigen Minuten, in denen er mir bisher gespannt gegenüber saß und mich beobachtete.

„Was verschlägt dich zu mir?“

Bei dieser Frage zuckte ich leicht zusammen.

Ich wusste, würde ich ihm jetzt keine richtige Antwort geben, würde er mich wahrscheinlich rausschmeißen.

„Hab mich ausgesperrt…“ log ich deshalb und nippte erneut an meinem Tee, ohne ihn dabei anzusehen.

Er lachte leise.

„Ja natürlich. Ausgesperrt, nachdem du bei diesen Temperaturen draußen nur mit T-Shirt einen Spaziergang gemacht hast, und ganz zufällig ist niemand zu Hause, der dich rein lassen könnte, und das alles Abends um halb elf.“

„Hab den Müll raus gebracht.“ Behauptete ich, obwohl ich wusste, dass er mir kein Wort glaubte.

„Verarschen kann ich mich selbst, Wheeler.“

Wieder zuckte ich leicht zusammen. Meine Hände zitterten.

Beinahe hätte ich die Tasse fallen lassen, wenn Kaiba mir sie nicht in letzter Sekunde aus den Händen genommen hätte.

Er stellte sie ruhig auf den Glastisch und kniete sich dann vor mir hin, um mir in die Augen sehen zu können.

„Ich weiß dass etwas Schlimmes passiert ist, nur weiß ich nicht was. Wenn du es mir nicht sagst, auch gut, dieses Mal lasse ich dich noch in Ruhe. Doch das nächste Mal, wirst du mir Rede und Antwort stehen müssen, denn lange sehe ich mir das alles nicht mehr an, klar?“

Ich nickte leicht. Hatte ich ja sowieso keine andere Wahl.

Schließlich war ich der Bittsteller, der um ein Dach über dem Kopf bat, um nicht zu erfrieren dort draußen.

Und ich war der Meinung, dass ich schon froh genug sein konnte, das der große, kaltherzige Seto Kaiba mir half.

Auch wenn ich nicht wusste, weshalb.

Doch ich war wirklich erleichtert…

Selbst wenn er mich in einer Stunde hier rausschmeißen würde…wenigstens hatte ich dann für eine Stunde lang ein Dach über dem Kopf und ein bisschen Wärme erhalten.

„Ich muss jetzt weiterarbeiten. Mach es dir von mir aus gemütlich, aber sei ruhig und stör mich nicht.“

Ich nickte erneut und wagte dann endlich einen kurzen Blick in sein Gesicht.

Er lächelte leicht, ich wusste nicht, ob es ein böses, kaltherziges, oder ein warmes, besorgtes Lächeln war, doch es beruhigte mich.
 

Er stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich auf seinen Bürostuhl.

Wenige Sekunden später, hörte ich das Klappern seiner Finger auf der Tastatur, seines Notebooks.
 

Das Geräusch der Tasten machte mich müde.

Unheimlich müde…

Relativ entspannt ließ ich meinen Kopf nach hinten gegen die Couchlehne sinken und rutschte ein Stück nach unten.

Ich fühle mich sicher.

Auch wenn ich nicht wusste, was genau mir diese Sicherheit gab, oder welches Gefühl dafür verantwortlich war, doch Kaibas Büro und seine Anwesenheit halfen mir, die Geschehnisse vor wenigen Stunden einfach auszublenden.

Ich schloss die Augen. Legte mich zur Seite.

Und schlief schließlich ein.
 

Kurz sah Kaiba auf.

Er sah Joey auf der Couch liegen und lächelte leicht.

Er wusste nicht warum, doch er war erleichtert, als er den anderen schlafen sah.

Langsam stand er auf, umrundete seinen Schreibtisch und trat zu dem jungen Mann. Er kniete sich neben seinen Klassenkameraden und strich ihm eine vorwitzige Strähne aus dem Gesicht.

Seufzend fuhr Seto mit seinen Fingerspitzen sanft über die Wange des anderen.

Er sorgte sich…

Und eigentlich wusste er genau, weshalb.

Kapitel 5

Close the Door
 

Kapitel 5:
 

Ich erwachte einige Stunden später. Kaiba rüttelte leicht an meiner Schulter und sprach mich dabei an.

„Wheeler…komm schon, steh auf, ich will ins Bett.“ Vernahm ich leise und öffnete die Augen.

Kaiba sah genervt aus, weshalb, konnte ich mir vorstellen. Er hatte bis spät in die Nacht gearbeitet und musste nun erst mal sein nerviges Anhängsel wecken, das sich an diesem Abend bei ihm untergeschoben hatte.

„Entschuldige…“ sagte ich deshalb leise und setzte mich auf.

„Weshalb entschuldigst du dich?“ fragte er verwirrt nach und schüttelte leicht mit dem Kopf.

„Weil ich dir einfach deine Kostbare Zeit gestohlen habe, in dem ich mitten in der Nacht hier auftauche und dich um ein warmes Plätzchen bitte.“

Verärgert starrte er mich an.

„Wenn du mir eine Last wärst, dann wärst du schon längst nicht mehr hier. Und du hast nichts anderes getan als zu schlafen, von daher, stiehlst du mir auch keine Kostbare Zeit. Jetzt komm, ich will noch ein paar Stunden schlafen, und im Gegensatz zu dir bin ich wählerisch was mein Bett angeht.“

Verunsichert sah ich ihn an. Ich war mir nicht sicher, ob er das böse gemeint hatte, doch in seinen Augen erkannte ich nur Müdigkeit und ein ganz kleines Lächeln.

Also sagte ich nichts, stand auf, griff nach meinem immer noch feuchten T-Shirt und sah ihn fragend an. Ich war mir nicht sicher, was ich jetzt tun sollte.

„Komm mit. Es wird sich sicher ein kleines Plätzchen bei mir zu Hause finden. Vielleicht die Decke vor dem Kamin, da fühlt sich ein Hündchen wie du sicher am wohlsten.“

Er lachte leise und drehte sich dann um, um seinen Laptop vom Schreibtisch zu holen.

Ich verkniff mir jeden Kommentar dazu, folgte ihm und gemeinsam traten wir aus dem Büro, fuhren mit dem Fahrstuhl nach unten in die Tiefgarage.
 

Kaiba steuerte direkt auf einen schwarzen, eleganten Wagen zu und zog den Schlüssel aus seiner Hosentasche.

Er drückte einen der Knöpfe und ein leises Klicken ertönte.

Dann öffnete er die Fahrertür und stieg ein. Etwas zögernd umrundete ich den Wagen, öffnete die Beifahrertür und stieg ebenfalls ein.

Seto steckte den Schlüssel in das Zündschloss und startete den Wagen. Dann fuhr er langsam aus der Tiefgarage, bog nach links ab, Richtung Stadtrand.
 

Die Fahrt dauerte nicht lange und verlief schweigend. Das schweigen war nicht unangenehm, zeugte nur davon wie müde wir beide waren. Des Öfteren fielen mir die Augen zu während Kaiba den Wagen sicher durch die Stadt lenkte.

Schließlich hielt er an, zog eine kleine Fernbedienung aus dem Handschuhfach und betätigte einen der vielen Knöpfe. Das Tor vor uns öffnete sich langsam und zum Vorschein kam ein großes, im Schatten der Nacht schon fast monströs wirkendes Haus. Der Begriff Haus traf es allerdings nicht ganz. Viel mehr war es eine Villa, die direkt im Reichenviertel der Stadt gebaut worden war.

Je näher wir kamen, desto weniger bedrohlich wirkte das Gebäude. Kaiba parkte den Wagen vor der Eingangstür und stieg aus. Ich folgte seinem Beispiel und öffnete die Beifahrertür um ebenfalls auszusteigen.

Kaiba betätigte erneut einen der Knöpfe seiner kleinen Fernbedienung und das Tor schloss sich. Dann drückte er auf seinen Autoschlüssel und die Zentralverriegelung kam zum Einsatz.
 

Er drehte sich zu seiner Villa zu und trat zur Eingangstür um diese zu öffnen.

Ich folgte ihm unsicher. Fühlte mich unwohl in meiner Haut.

Kaiba führte mich in eine große Eingangshalle. Dort zog er seinen Mantel aus, drückte diesen einer kleinen, verschlafenen Dame in die Hand, die gerade aus einer der vielen Türen getreten war.

„Guten Abend, Herr Kaiba. Wünschen Sie noch etwas zu essen?“

Angesprochener schüttelte mit dem Kopf, winkte mir zu, um mir zu bedeute ihm zu folgen und ging die Treppe nach oben.

An einer der vielen Türen des Korridors blieb er stehen und deutete auf diese.

„Das Gästezimmer. Badezimmer ist gleich daneben. Du erreichst es durch die Tür im Raum. Wenn du etwas brauchst, sag der Dame von gerade eben bescheid. Sie ist meine Haushälterin und wird dir sicher jeden Wunsch erfüllen. Gute Nacht!“, damit drehte er sich um und steuerte die Tür schräg gegenüber von der mir zugewiesenen an.

„Danke.“ Murmelte ich noch leise, dann war er verschwunden.

Etwas verloren stand ich nun allein in diesem riesigen Korridor. Um das ungute Gefühl in meiner Magengegend zu verdrängen öffnete ich die Tür zum Gästezimmer und trat ein.

Auf dem Bett lagen ein Handtuch und ein weites weißes T-Shirt. Ich trat darauf zu, zog mir das Hemd meines Mitschülers aus und schlüpfte stattdessen in das weiche, gut riechende Shirt.

Dann legte ich das Hemd fein säuberlich zusammen mit meiner Hose aufs Bett.

Kurz ging ich in das zugewiesene Bad, ging aufs Klo, wusch mir das Gesicht und wandte mich dann wieder dem Gästezimmer zu um mich ins Bett zu legen.

Schnell kroch ich unter die Decke, machte mich ganz klein und schloss die Augen.

Nach wenigen Minuten war ich eingeschlafen.
 

Ich erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich früh. Kurz überlegte ich, ob mich etwas aus dem Schlaf gerissen haben könnte, doch ich konnte nichts hören. Keine Schreie, kein Poltern, kein laut piepsender Wecker oder brutale Schläge gegen meine Zimmertür.

Ich atmete tief durch, erkannte erst jetzt den mir fremden Geruch, der von der warmen, weichen Decke ausging. Leicht öffnete ich die Augen und sah mich um.

Erst jetzt wurde mir wieder bewusst, wo ich mich befand.

Natürlich.

Kein Wunder das es weder Beschimpfungen, noch Schläge gegen meine Zimmertür hagelte. Ich war nicht zu Hause, sondern bei Seto Kaiba, in seinem schon fast angst einflößend großen Haus.

Langsam setzte ich mich auf, und schwang meine Beine aus dem Bett.

Ich fröstelte leicht und stand auf um schnell ins Bad zu verschwinden. Dort drehte ich die Dusche an und nahm mir die Einmalzahnbürste, die direkt neben dem Waschbecken auf einer kleinen Anrichte lag.

Ich riss die Verpackung weg, ließ kurz Wasser über die Borsten laufen und steckte mir die Bürste dann in den Mund.

Schnell holte ich aus dem Gästezimmer das bereitgelegte Handtuch und wandte mich dann der Dusche zu.

Ich stellte mich unter das heiße Wasser, schloss die Augen und genoss das Gefühl des warmen Wassers, dass sich unaufhaltsam einen Weg über meine Nackte Haut bahnte.

Schließlich legte ich die Zahnbürste beiseite, seifte mich ein und ließ dann erneut das Wasser über meinen Kopf prasseln.

Dann drehte ich den Hahn zu, griff nach dem Handtuch, das ich neben der Dusche auf den Klodeckel deponiert hatte und trocknete mich ab.

In der Zwischenzeit hatte mir jemand ein paar Shorts und ein frisches T-Shirt bereitgelegt.

Dankbar dafür, nicht wieder in meine alten Sachen schlüpfen zu müssen, zog ich mich an und betrachtete mich kurz in dem großen Spiegel der gegenüber dem Bett an einem der Schränke befestigt war.

Tiefe Augenringe zeichneten sich auf meinem Gesicht ab. Der Blaue Fleck an meiner Wange schimmerte noch ganz leicht in einem grün-gelben Ton. Doch es war fast nicht mehr sichtbar.

Meine Haare hingen mir wirr ins Gesicht. Mit einer fahrigen Bewegung strich ich mir die Strähnen aus dem Gesicht und ließ meine Stirn gegen das kühle Glas sinken.

Ich schloss die Augen und atmete tief ein.

Wir hatten Samstag. Gut, das ich heute keinen Dienst hatte.

Andererseits verfluchte ich das Wochenende.

An den Wochenenden war es meist am schlimmsten. Da hatte ich keine Schule, in der ich mich zumindest den Vormittag über verkriechen konnte.

Mein Vater würde mich wieder nach Strich und Faden fertig machen…vor allem nachdem ich die ganze Nacht verschwunden war.

Mir grauste es davor, nach Hause zu kommen.

Zu groß war die Angst vor einem Zusammentreffen mit meinem Vater.

Doch mir blieb nichts anderes übrig.

Seto Kaiba, so hilfsbereit er auch war, würde mich nicht die nächsten zwei Jahre bei sich wohnen lassen, erst recht nicht grundlos.

Denn Seto Kaiba bedarf es immer eines triftigen Grundes einer bestimmten Handlung nachzugehen.

Mir kamen die Tränen.

Erfolglos versuchte ich sie zurückzuhalten, gab aber recht schnell auf.

Eine Träne nach der anderen bahnte sich einen Weg über meine Wangen.
 

Es klopfte an der Tür.

Schnell wischte ich mir über das Gesicht und hoffte, nicht allzu verheult auszusehen.

„Ja?“ fragte ich leise und die Tür öffnete sich.

Die Dame vom Vortag lugte herein und sah mich lächelnd an.

„Herr Kaiba lässt Ihnen ausrichten, dass das Frühstück bereit steht.“

Ich lächelte leicht und nickte dankbar.

„Ich komme gleich.“

„Sie kennen den Weg?“

Kurz schüttelte ich mit dem Kopf.

„Dann werde ich vor der Tür auf sie warten, Herr.“

Ich lächelte ihr erneut zu und ihr Kopf verschwand wieder hinter der Tür.

Eine sehr nette Person…stellte ich fest, auch wenn das Siezen mir unangenehm war.

In Kaibas Augen war ihr gesellschaftlicher Stand wahrscheinlich weit über dem meinen, von daher wirkte es grotesk, dass sie mich mit „Herr“ anredete.

Ich schüttelte den Gedanken ab, um nicht wieder in Tränen auszubrechen und ging schnell ins Bad um mir eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht zu schöpfen.

Dann wagte ich einen erneuten Blick in den Spiegel.

Ich sah schlimmer aus als zuvor. Und meine Augen waren leicht gerötet.

Doch es war nicht so schlimm, dass es sofort auffiel.

Also wandte ich mich ab, ging zur Tür und öffnete sie leise.

Das Hausmädchen stand wie versprochen im Hausflur und wartete geduldig auf mich.

Ich folgte ihr durch den Korridor, die Treppe nach unten und dann nach links.

Sie brachte mich in einen kleinen Speisesaal. Ich entdeckte Kaiba am äußeren Ende es Tisches, gemeinsam mit Mokuba.

„Danke.“ Wandte ich mich an die Haushälterin die sich mit einem leichten Knicks verabschiedete und drehte mich zu der kleinen Familie um.

Zögernd trat ich an den Tisch heran und nahm an dem gedeckten Tisch platz.

„Morgen.“ Murmelte ich leise und sah etwas unsicher zu Mokuba.

Er grinste mich an und wünschte mir fröhlich ebenfalls einen guten Morgen.

Kaiba sagte nichts, war scheinbar intensiv damit beschäftigt die Zeitung zu lesen.

Sein Oberkörper verschwand komplett hinter dem großen Altpapier. Nur seine langen, schlanken Finger waren erkennbar, die die Zeitung an beiden Enden festhielten.

„Bedien dich.“ Forderte Mokuba mich kauend auf und ich nickte dankbar.

Langsam griff ich nach einem der Croissants die in einem Körbchen auf dem Tisch standen und schnitt es auf. Ich schmierte etwas Butter und Marmelade darauf und ließ es mir genüsslich schmecken.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so ein gutes Frühstück gehabt hatte. Ansonsten bestand meine Morgenmahlzeit aus einem halb vertrockneten Stück Brot oder einer Scheibe Toast.

Mokuba beobachtete mich verstohlen beim Frühstücken und wandte sich dann an seinen Bruder.

„Seto, Joey sieht ziemlich müde aus. Wann seit ihr denn gestern aus dem Büro gekommen?“

Zum ersten Mal des heutigen Tages regte sich Kaiba in meiner Anwesenheit. Er faltete die Zeitung zusammen, legte sie an den Rand des Tisches und griff nach seiner Kaffeetasse.

Er nahm einen Schluck und sah mich dann an.

Intensiv sah er mir in die Augen und ich spürte schlagartig, die gewohnte Unsicherheit in mir aufsteigen.

Seine Augen verengten sich kurz, als hätte er etwas entdeckt was ihm gar nicht passte, dann wandte er den Blick zu seinem Bruder und setzte ein leichtes Lächeln auf.

„Du kennst mich doch Mokuba. Vor dem Wochenende wird es Abends meistens lange.“

Tadelnd sah Mokuba seinen großen Bruder an.

„Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn du so viel arbeitest. Und diese Woche kamst du kein einziges Mal vor 0:00 Uhr nach Hause.“

Dieser grinste leicht, wuschelte Mokuba kurz durch das lange, schwarze Haar und meinte: „Ich weiß Kleiner. Nur wenn man so wie ich nur unfähige Idioten um sich herum hat, bleibt einem manchmal nichts anderes übrig, als etwas länger zu arbeiten.“

Der Kleine nickte verdrossen und wandte sich dann seinem Nutellabrötchen zu.

Mein Mundwinkel zuckte leicht. Das Gespräch war genau so verlaufen, wie ich mir eine typische Unterhaltung zwischen den beiden vorgestellt hatte. Hatte Mokuba sich doch Yugi gegenüber schon oft genug über die Arbeitszeiten seines Bruders beschwert.
 

Nachdem Mokuba mit Frühstücken fertig war, verabschiedete er sich von mir und verschwand aus dem Raum.

Etwas alamierend sah ich ihm nach. Er ließ mich mit Kaiba einfach alleine.

Unsicher sah ich zu meinem Mitschüler.

Dieser war wieder komplett hinter seiner Morgenzeitung verschwunden und beachtete mich nicht weiter.

Mit großen Schlucken trank ich meinen Kaffee aus und stand dann auf.

„Ich werde dann mal…meine Sachen holen und gehen.“

Kaiba regte sich, faltete die Zeitung erneut zusammen und sah mich aus durchdringenden Augen an.

„Du willst gehen?“

Ich nickte.

„Ja natürlich. Mein Vater ist mittlerweile sicher wach und kann mich rein lassen.“, schwindelte ich und sah beschämt weg.

Es war mir unangenehm ihm gegenüber unehrlich zu sein, doch die Wahrheit wollte ich trotzdem nicht sagen.

„Du fängst schon wieder an, Wheeler.“

Fragend sah ich auf.

„Du erzählst Bullshit!“

Ich zuckte leicht zusammen und drehte mich weg.

„Tut mir leid.“, murmelte ich leise und ging zur Tür.

Hinter mir hörte, ich ein rascheln, der Stuhl wurde schnell zurück geschoben und schon spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

„Nein, nein. So schnell kommst du mir nicht davon. Du sagst es tut dir leid? Dann sei gefälligst ehrlich!“

Ich biss die Zähne zusammen und blickte starr zu Boden. Er hatte die Stimme nicht erhoben, trotzdem fühlte ich mich als hätte er mich angeschrieen.

„Sag schon was!“ forderte er mich auf.

Ich riss mich zusammen, schüttelte leicht mit dem Kopf und trat einen Schritt zur Seite.

Seine Hand rutschte von meiner Schulter, blieb auf meinem Arm liegen. Mit einem Ruck drehte er mich zu sich um.

Ich zuckte zusammen und unterdrückte einen Schmerzenslaut.

Sein Griff tat weh, war mein Oberarm doch eh schon durch die Brutalität meines Vaters lädiert.

Kaiba bemerkte meine Reaktion, ließ mich los und schob mir dann den Ärmel des T-Shirts nach oben.

Ein gelb-grüner Fleck schimmerte an der Stelle, an der er mich gerade noch festgehalten hatte.

Einen Momentlang starrte Kaiba auf meinen Arm, dann wandten sich seine Augen meinem Gesicht zu.

Sein Blick war undurchdringlich, stechend.

Fragend sah er mich an.

„Erkläre mir das.“

„Nein!“

„Warum nicht?“

„Es geht dich nichts an.“

„Ich habe dich immerhin hier aufgenommen, ohne eine Gegenleistung zu erbitten. Ich denke schon, dass mich das was angeht!“

„Du kannst mich mal.“

„Joseph! Es reicht! Hör auf, einen auf Unnahbar zu machen. Ich sehe dir genau an, dass irgendwas im Busch ist. Und ich will verdammt noch mal wissen, was es ist!“, brüllte er mich an.

Fassungslos starrte ich ihn an. Er hatte schon fast geschrieen.

Es war das erste Mal das ich Kaiba so aufgebracht erlebte. Sein Blick war hart…und doch lag etwas Weiches darin. Lag wärme darin. Besorgnis.

Verwirrt schüttelte ich mit dem Kopf, stolperte einige Schritte zurück und drehte mich dann um zur Tür.

Ich stürzte nach draußen auf den Flur, beschleunigte meine Schritte, rannte zum Ausgang und verschwand aus diesem Haus, von diesem Ort. Flüchtete vor Kaiba, flüchtete vor meinem ehemaligen Erzfeind, der mich gerade noch mit so viel Besorgnis in den Augen angesehen hatte...diese Tatsache überforderte mich voll und ganz.

Kapitel 6

Close the Door
 

Kapitel 6:
 

Zuhause angekommen, war ich froh, das mein Vater scheinbar nicht zu Hause war. Ich nahm an, er trieb sich in irgendwelchen Spielhallen oder Bars herum, um das bisschen Geld, was von diesem Monat noch übrig war endgültig zu verprassen.

An sich war es mir egal, wo er war, Hauptsache er war nicht zu Hause.
 

Ich verschwand schnurstracks in meinem Zimmer, schloss die Tür hinter mir ab und legte mich ins Bett.

Ich fühlte mich elend. Nicht körperlich, sondern psychisch.

Immer wieder durchlief ich in meinem Inneren das Gespräch mit Kaiba. Noch immer war mir nicht klar, weshalb er sich so sorgte. Und weshalb es ihn so sehr interessierte, was in meinem Leben schief lief. Ich hatte Angst davor, was seine Besorgnis und sein Interesse mit meinem Inneren anstellen könnten. Ich hatte Angst davor, anzufangen ihm mein Vertrauen zu schenken. Hatte Angst, dass er mich verletzen könnte.

Nicht wie es mein Vater tat, nein, was das anging war ich längst abgestumpft. Außerdem war Seto Kaiba keiner der Gewalt anwenden musste. Er war mit dem Umgang von Worten gewandt genug, um sich die Hände nicht schmutzig machen zu müssen. Er wusste genau, was er sagen, andeuten, oder ausdrücken musste, um jemand anderen seelisch fertig zu machen.

Bestes Beispiel war momentan wohl ich selbst. Wobei er bei mir wirklich erstaunlich wenige Worte benötigt hatte, um mich in einen scheinbar unlösbaren Konflikt zu stürzen.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto schlimmer fühlte ich mich…
 

Irgendwann schlief ich ein, erwachte erst Stunden später durch das rumoren meines Vaters. Er tigerte durch die Wohnung, Gegenstände fielen zu Boden, Geschirr zerbrach.

Ich versuchte es zu ignorieren, verhielt mich so leise wie möglich und tat so, als gäbe es mich nicht.

Er bemerkte meine Anwesenheit scheinbar nicht.

Scheinbar.

Als ich leise den Schlüssel umdrehte um schnell auf Toilette zu gehen, hörte ich schon schnelle Schritte auf mein Zimmer zu gehen.

Schnell schmiss ich die Tür wieder zusammen und schloss sie erneut ab.

„JOSEPH!“, schrie mein Vater und es krachte. Er hatte irgendetwas gegen meine Zimmertür geschmissen.

Lieber die Tür als mich, ging es mir durch den Kopf.

Ich ließ mich an dem glatten Holz nach unten sinken und schloss die Augen. Hoffentlich ließ er mich bald in Ruhe.

„Mach die verdammte Tür auf!“

Er klopfte laut, schmiss sich gegen das harte Holz und kurzzeitig hatte ich Angst, er könnte ernsthaft versuchen, die Tür einzutreten. Doch er verlor bald die Lust, warf mir noch ein paar Schimpfwörter an den Kopf, die nur dumpf an mir abprallten und verschwand dann aus dem Gang. Ich hoffte arg, dass er in sein Schlafzimmer ging, um ich seinen Rausch auszuschlafen.

Dann hätte ich doch noch die Gelegenheit mit Zimmer für kurze Zeit zu verlassen.
 

Zwei Stunden später vernahm ich nur noch ein dumpfes Schnarchen.

Er schlief.

Aufatmend stand ich auf, drehte ganz leise erneut den Schlüssel herum und trat aus meinem Zimmer. Schnell ging ich ins Bad, verrichtete meine Notdurft und putzte mir die Zähne. Dann holte ich mir eine Flasche Mineralwasser aus der Küche und verschwand wieder in meinen vier Wänden, die mir so viel Sicherheit wie möglich boten.

Ich verriegelte die Tür, legte mich ins Bett und trank einen großen Schluck aus der Plastikflasche. Ich hatte das Gefühl seit Tagen kein Wasser mehr getrunken zu haben. Ich fühlte mich komplett ausgedörrt.

Erst jetzt bemerkte ich den bohrenden Hunger.

Ignorierte das Gefühl aber.

Noch einmal würde ich heute nicht freiwillig aus meinem Zimmer gehen.
 

Der Sonntag verlief erstaunlich ruhig. Mein Vater ging mir weitgehend aus dem Weg und ich tat es ihm gerne gleich.

Nur einmal trafen wir kurz aufeinander, hatten eine hitzige Auseinandersetzung die mit zwei Schlägen in die Magengegend quittiert wurden. Ansonsten ließ er mich in Ruhe.

Die meiste Zeit verbrachte ich in meinem Zimmer, versuchte zu lernen, um die Abfragen der nächsten Woche gut abschneiden zu können. Vor allem in den Fächern, in denen ich in den letzten zwei Wochen wieder mal die ein oder andere Klausur verpasst hatte, wiederholte ich ausgiebiger.

Danach räumte ich mein Zimmer auf, so gut es ging, wusch Wäsche, hängte sie auf und kümmerte mich ein bisschen allgemein um den Haushalt um nicht wieder den Zorn meines Erzeugers auf mich zu ziehen.

Er beobachtete mich hin und wieder dabei, wie ich das Geschirr abwusch, oder das zerbrochene Geschirr zusammen fegte.

Er schien mehr oder weniger zufrieden zu sein.

Sagte jedenfalls nichts. Aber vielleicht war er momentan auch noch zu nüchtern, um wieder irgendwelche utopische Gründe zu finden um mich zu verprügeln.
 

Nachdem die Wohnung wieder halbwegs ordentlich war, verbarrikadierte mich wieder in meinem Zimmer und legte mich ins Bett, um weiter zu lernen.

Ich musste die Zeit nutzen, so lange er mich in Ruhe ließ.
 

Am nächsten Morgen fiel es mir schwerer als sonst aufzustehen. Minutenlang lag ich noch im Bett, hatte meinen Wecker schon längst ausgeschaltet, und überlegte mir tausend Gründe, um nicht in die Schule zu müssen.

Doch es brachte ja nichts.

Ginge ich nicht in die Schule, müsste ich einen weiteren Tag mit meinem Vater unter einem Dach verbringen. Er würde ausrasten, weil ich schon wieder schwänzte, würde mich verprügeln, wie so oft und ich hätte mir dadurch mehr Unannehmlichkeiten geschaffen als unbedingt notwendig. Und zusätzlich käme ich so oder so nicht darum herum, Seto Kaiba irgendwann wieder gegenüber zu stehen. Denn leider konnte ich die Schule nur wegen ihm nicht mal kurz wechseln oder noch besser: Abbrechen.
 

Also stand ich auf, ging ins Bad, duschte, putzte mir die Zähne, föhnte mir die Haare trocken und zog mich dann an, um zur Schule zu gehen. Das T-Shirt und die Boxershorts, die ich mir von Kaiba geliehen hatte, lagen frisch gewaschen in meiner Schultasche verstaut.
 

Dann machte ich mich schließlich auf den Weg, wie so oft ohne Frühstück, da mein Vater gerade in dem Moment aus seinem Zimmer kam, als ich mir noch etwas zu essen machen wollte.

Auf seine Anwesenheit hatte ich dankend verzichtet. Wer brauchte schon Frühstück.
 

Je näher ich dem großen Gebäude kam, desto mehr festigte sich der Gedanke, dass es doch besser gewesen wäre zu Hause zu bleiben.

Die Konfrontation mit meinem Mitschüler machte mir Angst. Gleichzeitig war es mir unheimlich unangenehm, dass ich ihn um Hilfe geben hatte. Trotzdem…so oder so würde ich ihn in den Nächsten Tagen notgedrungen wieder sehen müssen. Hatte ich schließlich noch meine Kleidung bei ihm. Und er sollte die seine wiederbekommen.

Also konnte ich das ganze auch gleich hinter mich bringen.
 

Mehr oder weniger mutig betrat ich das Schulgebäude und bahnte mir durch das Gewirr der lärmenden Schüler einen Weg in unser Klassenzimmer.

Dort angekommen, atmete ich erst einmal tief ein und aus und öffnete schließlich die Tür.

Seto Kaiba saß wie so oft schon an seinem Platz, hatte sein Notebook vor sich stehen und hämmerte konzentriert auf der Tastatur herum.

Etwas unsicher trat ich zu meinem Platz, ließ die Tasche fast geräuschlos auf dem Tisch sinken und sah kurz zu meinem ehemaligen Erzfeind. Dieser ignorierte mich erst mal galant, während ich hin und her gerissen, zwischen: „Ich begrüße ihn jetzt“ und „Ich ignoriere ihn besser“ überlegte.

Schließlich entschied ich mich für letzteres, setzte mich stattdessen unauffällig auf meinen Platz und ließ meinen Kopf auf meine verschränkte Arme gleiten.

Seufzend wartete ich auf den Rest der Klasse und somit auch auf den Beginn des Unterrichtes.
 

Bis zur Mittagspause verlief der Tag eigentlich ganz gut. Ich folgte dem Unterricht mehr oder weniger aufmerksam, schrieb bei der angekündigten Klausur fast alle Antworten auf und fühlte mich meiner Sache diesbezüglich relativ sicher.

Hatte ich mich schließlich gestern ausgiebig mit dem Thema Vererbungslehre beschäftigt.

Trotzdem wurde ich durch meine Gedanken bezüglich meines Mitschülers immer wieder abgelenkt. Vor allem da mir immer noch das T-Shirt und die Shorts im Gedächtnis herumschwirrten, die ich ihm eigentlich heute noch hatte zurückgeben wollen.
 

Als es schließlich klingelte, standen fast alle Schüler auf um nach draußen zu gehen. Nur Seto und ich blieben sitzen. Yugi kam auf mich zu und fragte, ob ich nicht mitkommen wollte.

„Ich komme gleich nach.“, entgegnete ich.

Er nickte und verschwand wie die anderen aus dem Raum.

Nach zirka zwei Minuten waren schließlich auch die letzten verschwunden und Kaiba und ich waren allein.

Dieser hatte schon längst wieder seinen Notebook ausgepackt und angeschaltet.

Langsam stand ich auf, sah zu ihm rüber und überlegte noch kurz.

Dann gab ich mir einen Ruck, holte die Kleidung aus meinem Rucksack und ging auf ihn zu.

Er sah nicht auf, doch ich wusste, dass er mich bemerkt hatte.

Seto Kaiba entging fast nichts.

„Hier. Das wollte ich dir noch zurückgeben. Vielen Dank noch einmal für deine Hilfe.“, sagte ich leise zu ihm und reichte ihm seine Kleidung.

Seto unterbrach seine Arbeit und sah auf.

Kurz sah er mir in die Augen, dann wandte er sich wieder dem Bildschirm zu.

„Schon in Ordnung. Du kannst die Sachen behalten.“

Ich schüttelte leicht mit dem Kopf.

„Nein. Das möchte ich nicht.“, begann ich, doch Kaiba unterbrach mich mit einer vagen Geste.

„Nimm es einfach. Ich habe genug T-Shirts und Shorts, nimm die Sachen, pack sie zurück und vergiss es.“, meinte er unwirsch und starrte weiter die Zahlen auf seinem Bildschirm an.

„Gut…“ erwiderte ich nur, wollte mich umdrehen und zurück zu meinem Platz gehen, doch seine Hand schnellte vor und er packte mich am Handgelenk.“

„Warte.“, sagte er und zog mich einen Schritt zurück.

Ich drehte mich zu ihm um, sah ihn fragend an.

„Bist du…gut nach Hause gekommen?“

Ich nickte.

„Ist alles in Ordnung?“

Verwirrt runzelte ich die Stirn.

„Ja…Natürlich.“

Er zog eine Augenbraue nach oben und sah mich abschätzend an. Sein Blick glitt kurz über meinen Körper, schon fast analysierend. Ich hatte das Gefühl jemandem mit Röntgenbild gegenüber zu stehen und war schon kurz davor, mir eine Hand auf den Bauch zu legen, damit er die neuen Blauen Flecke nicht sehen konnte.

Doch das wäre idiotisch und auffällig gewesen. So ließ ich seinen Blick über mich ergehen und wartete darauf dass er mich los ließ.

„Ach wirklich?“, fragte er skeptisch nach, als hätte er förmlich gerochen, das etwas in der Luft lag.

Ich nickte. Schon wesentlich unsicherer als noch vor zwei Minuten.

Langsam stand er auf und kam einen Schritt näher auf mich zu.

Noch immer hielt er mein rechtes Handgelenk mit seiner Linken fest.

Mein Herz klopfte spürbar. Er machte mich nervös.

Immer noch sah Seto mich an. Sah mir direkt in die Augen. Sein Blick war stechend, wieder blitzte so etwas wie Besorgnis in seinen blauen Iren.

„Ich…gehe dann mal.“, stotterte ich schließlich leise und befreite mich aus seinem Griff.

Schnell drehte ich mich von ihm weg und ging zurück zu meinem Platz.

Ich verstaute die Kleidung wieder in meinem Rucksack und lief dann aus dem Raum.

Flüchtete mal wieder.

So wie immer.
 

Die nächsten Tage ging ich Kaiba so gut es ging aus dem Weg. Ich ging nie aufs Klo wenn er ging, ich verbrachte meine Pausen immer draußen, um nicht allein mit ihm im Klassenzimmer zu sein und versuchte so gut es ging ihn zu ignorieren.

Es klappte ganz gut, doch es bereitete mir ein schlechtes Gewissen. Ich hatte ihn um Hilfe gebeten, er hatte mir geholfen. Und nun tat ich so, als hätte ich nie ein Wort mit ihm gesprochen.

Natürlich fiel das auf. Auch meinen „Freunden“ fiel es auf. Sie fragten mich immer öfter, ob etwas zwischen uns vorgefallen wäre, warum er mich nicht mehr beleidigte und meinten, die Schule wäre um so langweiliger den je, seit wir uns nicht mehr bei jeder Gelegenheit zofften.

Was für eine bescheuerte Aussage.

Sie wünschten sich unsere Streitereien zurück, damit ihnen nicht mehr so langweilig wurde während dem Unterricht.

Sie hatten scheinbar keinen Moment lang daran gedacht, dass ich, beziehungsweise er, ganz froh sein könnten, dass dieses ätzende Hin und Her endlich ein Ende nahm.

Ich persönlich war sehr froh darüber.
 

Mir war sehr wohl aufgefallen, das Kaiba im Gegensatz zu mir scheinbar nicht unbedingt begeistert davon war, dass ich jeder Konfrontation mit ihm geschickt auswich.

Ich hatte den Eindruck, das er umso mehr den Kontakt zu mir suchte, seit ich begonnen hatte ihm aus dem Weg zu gehen... Selbst wenn es nur Blickkontakt war.

Immer öfter sah er mich an, sah genau in dem Moment auf wenn ich mich kurz zu ihm umdrehte…

Es war ein komisches Gefühl plötzlich so ganz anders seine Aufmerksamkeit zu erhalten. Natürlich war mir klar das ich bisher immer der Einzige aus der Klasse gewesen war dem Seto Kaiba ein gewisses Interesse entgegen brachte, auch wenn sich dieses bisher eher negativ gestaltet hatte.

Ganz im Gegensatz zu jetzt, wo er anstatt mir irgendwelche Vorwürfe oder Beleidigungen an den Kopf zu werfen mich eher besorgt ansah oder misstrauisch, wie als wäre er auf der Suche nach Veränderungen.
 

Und schließlich kam es wie es, wohl oder über, kommen musste.

Am Donnerstag trafen wir zum ersten Mal wieder richtig auf einander. Ich war auf die Toilette gegangen, kurz vor ende der Pause, um nicht wieder während dem Unterricht verschwinden zu müssen.

Gerade als ich aus der Kabine trat, entdeckte ich auf der Gegenüberliegenden Seite des Raumes einen groß gewachsenen, jungen, braunhaarigen Mann stehen, der abwartend an der Wand lehnte und die Arme vor der Brust verschränkt hielt.

Ich schluckte.

Tat so als würde ich ihn nicht bemerken, und wusch mir mit aller Seelenruhe, die ich aufbringen konnte, die Hände.

Kaiba beobachtete mich dabei, wartete bis ich mir die Hände abgetrocknet hatte und kam dann langsam auf mich zu.

Er vergrub die Hände in den Hosentaschen seiner Hose und sah mich an.

„Du rennst vor mir davon, Wheeler.“, stellte er scheinbar gelassen fest, doch ich konnte sehen wie sich seine Augen einen Moment lang verengten.

„Quatsch.“, entfuhr es mir schnell, fast schon zu schnell, und ich drehte mich weg.

Gerade als ich die Tür öffnen wollte schnellte er nach vorn und stemmte seine rechte Handinnenfläche an das dunkle Holz.

„So schnell kommst du mir nicht davon. Hör auf vor mir zu flüchten!“ sagte er leise.

Ich zuckte leicht zusammen, trat einen Schritt zur Seite und drehte mich zu ihm um.

„Ich frage mich warum?“

Verwirrt sah ich ihn an.

„Was warum?“

„Warum du vor mir davon läufst?“

„Tue ich nicht.“

„Tust du wohl!“

„Nein.“

„Hör auf damit!“

„Was?“

„Du weichst mir aus.“

Ich schüttelte mit dem Kopf.

Genervt seufzte er auf, und fuhr sich mit seiner freien Hand kurz über das Gesicht.

Wir schwiegen.

Sahen uns an.

Mir fiel auf, dass er müde aussah. Ich legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue hoch.

„War wohl gestern wieder ein langer Abend?“

Er wirkte überrascht und nickte leicht.

„Du solltest heute früher ins Bett gehen.“

Kaiba runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du lenkst jetzt auf mich ab?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich hatte nur den Eindruck wir kommen hier nicht weiter. Und Smalltalk ist doch immer ne gute Möglichkeit die Spannung aus der Situation zu lösen.“

Schließlich hatte ich im Prinzip ja sowieso keine andere Wahl.

Er war mit Sicherheit wesentlich stärker als ich, er würde mich zu hundert Prozent nicht freiwillig durch diese Tür gehen lassen und ich war nicht der Typ dazu, der sich den Weg frei prügelte. Mein Vater vielleicht schon ja, doch ich sicher nicht.

Also konnte ich genauso gut, von dem Thema: „Was ist zur Zeit bei dir los“ ablenken, auch wenn ich genau wusste, dass es sowieso in spätestens zwei Minuten wieder aktuell sein würde.

Kaibas Mundwinkel zuckte leicht. Ich hatte fast den Eindruck, er verkniff sich ein Lächeln.

Es war eine komische Vorstellung.

Ich hatte ihn noch nie bewusst lächeln sehen.

Und das machte mich plötzlich neugierig. Wie sah er wohl aus, wenn er lächelte?

Ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte leicht mit dem Kopf. Komische Gedanken.

Kaiba beobachtete mich während dieser Aktion und runzelte leicht die Stirn.

Dann seufzte er erneut leise, lockerte seine Arme und vergrub seine Hände wieder in den Hosentaschen.

„Wie geht es dir?“, fragte er und sah mir dabei in die Augen.

Die Frage wirkte ehrlich.

Ich nickte leicht.

„Ganz gut im Moment.“

Und das meinte ich ernst.

Es war wie in Kaibas Büro. Seine Anwesenheit gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Auch wenn er mich gleichzeitig durcheinander brachte, er mich verunsicherte und mir auch manchmal Angst einflößte, Angst vor mir selbst, Angst davor, dass ich einfach den Mund aufmachte, und ihm alles sagte was in den letzten Monaten beziehungsweise Jahren passiert war….

Trotz allem…fühlte ich mich in seiner Gegenwart ein Stück weit Sicher. Sicher vor meinem Vater, meiner Vergangenheit, sicher auch vor mir selbst.

„Alles in Ordnung?“, fragte er schließlich weiter.

„Ja im Moment schon.“

„Gut.“

Es klingelte zum Pausen Ende.

Kurz zögerte er noch, dann nickte er schließlich, stieß sich von der Tür weg und öffnete diese.

„Und Wheeler.“

„Ja?“

„Hör auf vor mir davon zu laufen.“

Ich sah ihn verwundert an.

Er reagierte nicht darauf, sondern trat an mir vorbei auf den Korridor, um zum Klassenzimmer zu gehen. In einigem Abstand folgte ich ihm, zerbrach mir den Kopf über seine Aussage, versuchte für mich selbst festzustellen, was ich davon halten sollte.

Schließlich zuckte ich mit den Schultern, betrat hinter ihm den großen Raum und setzte mich an meinem Platz.

Kapitel 7

Hallo liebe Leser,

willkommen zu meinem nun schon siebten Kapitel zu "Close the door".

Auf diesen Wege möchte ich mich noch mal bei all meinen begeisterten Lesern/Leserinnen bedanken, für die Unterstützung und das viele Lob.
 

Schön, dass die FF bisher so viel positven Anklang finden konnte, und ihr "Close the Door" auch nach sechs Kapiteln weiterhin treu bleibt.
 

Auch bei den Anonymen Lesern möchte ich mich bedanken, dass sie sich für diese Geschichte zwischen Joey und Seto begeistern können und das durch ihre Favoritenlisten bestätigen.
 

Dieses Kapitel wird einen Umbruch darstellen und dem ganzen zu einer neuen Situation verschaffen.
 

ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und freue mich über ein Review
 


 

Close the Door
 

Kapitel 7:
 

Am nächsten Tag schwante mir Übles

Ich wusste nicht warum, doch ich hatte ein ungutes Gefühl.

Mein Vater wirkte gereizt. Er erinnerte mich an einen Vulkan der kurz vor dem Ausbrechen war.

Laut hämmerte er an meine Türe und schrie mich an, ich solle diesen Verdammen Wecker ausmachen.

Er hatte gerade erst zwei Mal geklingelt, da rastete mein Vater schon aus? Sonst kam er erst nah dem fünften oder sechsten Mal, was ja noch irgendwie verständlich war.

Ich tat was er sagte und setzte mich zitternd auf. Ich hatte Angst.

Obwohl noch nichts allzu ungewöhnliches passiert war…

Schließlich riss ich mich zusammen. Jetzt stand eh erst mal Schule an der Tagesordnung.

Also zog ich mir meine Schuluniform an, kämmte mir kurz durch die Haare und verließ dann den Raum um mich im Bad fertig zu machen.

Mein Vater hielt mich auf, schubste mich gegen die Kommode und ich ging keuchend zu Boden.

Er schrie mich an, doch ich verstand kein Wort von dem, was er sagte.

Hart trat er zu und erwischte mich auf Höhe der Rippen.

Ich unterdrückte einen Schmerzensschrei, kniff stattdessen so fest es ging die Augen zu und schützte so gut es ging mein Gesicht.

Doch es kam kein weiterer tritt. Er stieg über mich hinweg und verschwand in der Küche.

Sobald ich das Zuschlagen der Tür vernahm, richtete ich mich halbwegs auf und atmete tief ein und aus. Verdammt!

Jetzt schon?

Irgendetwas musste vorgefallen sein.

Schnell ging ich ins Bad und machte mich fertig. Lange brauchte ich nicht. Nach knapp zehn Minuten trat ich aus dem Badezimmer und ging zur Haustür um zu verschwinden.

Doch mein Vater hielt mich auf.

Er griff grob nach meinem Arm und schüttelte mich leicht.

„Wie viel Geld hast du noch?“ fragte er lauernd.

Sein Gesicht war wutverzerrt. Irgendetwas musste ihn arg verärgert haben.

Vielleicht bei seinem Spielabend gestern?

Hatte er zu oft verloren? Ärger mit dem Aufseher gehabt? War eventuell sogar ausgerastet?

Schnell fingerte ich nach meinem Geldbeutel, der in einer meiner hinteren Hosentasche steckte und hielt sie ihm hin.

Er riss sie mir aus der Hand, öffnete das große Fach und holte die Scheine heraus.

Ich wusste es waren noch ungefähr 5000 Yen.

Er krallte sich den Großteil des Geldes, tat einen kleinen Rest zurück und schmiss mir die Börse vor die Füße.

„Kauf noch ein!“

Ich nickte, griff nach dem Leder und verschwand dann aus dem Haus.

Mir lief es eiskalt den Rücken runter und ich schüttelte mich kurz.

Heute erwartete mich mit Sicherheit noch etwas schlimmes, wenn ich nach Hause kam.

Ich hoffte bloß er brachte mich nicht eines Tages um.
 

Schnell verdrängte ich die Gedanken daran und machte mich auf den Weg.

Mit hängenden Schultern kam ich an der Schule an, bahnte mir wie jeden Morgen einen Weg durch die Korridore zu unserem Klassenzimmer und schloss für einen Moment die Augen, bevor ich schließlich die Türe öffnete und eintrat.

Wie jeden Morgen war ich der zweite. Seto Kaiba saß an seinem Platz und hämmerte in die Tasten.

Unauffällig drückte ich mich an ihm vorbei und setzte mich auf meinen Platz.

Ich war jetzt schon nervlich komplett am Ende, dabei war ich meinem Vater vorher ja nur kurz begegnet.

Ich machte mich jetzt schon verrückt.

Versuchte ohne Erfolg die Gedanken an zu Hause immer wieder zu begraben. Doch ich konnte es nicht.
 


 

Ich schloss leise die Haustür auf und trat ein. Schnell schlüpfte ich aus meinem Schuhen und horchte auf.

Schritte kamen näher.

Sie kamen Richtung Küche. Schon stand mein Vater vor mir und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Und? Hast du eingekauft?“

Meine Augen weiteten sich erschrocken.

Verdammt!

Verdammt, verdammt, verdammt!!

Das hatte ich total vergessen, ich Idiot.

„Ich…sorry, hab es vergessen. Ich gehe noch schnell!“

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Bedrohlich kam er einen Schritt näher.

„Kann man sich denn nicht einmal bei so einer Kleinigkeit auf dich verlassen?“, brüllte er mich an.

Dann sah ich schon den ersten Schlag kommen.

Er erwischte mich an der Schläfe.

Benommen ging ich zu Boden.

„Du erbärmlicher Nichtsnutz!“, fuhr er fort und erneut traf mich seine Faust.

„Nicht einmal Geld bringst du nach Hause, aber durchfüttern soll man dich! Und gibt man dir einmal einen Auftrag, schaffst du nicht mal das ordentlich zu erledigen!“

Er holte aus und trat mir in den Bauch.

Mir wurde schlecht. Ich krümmte mich zusammen, versuchte verzweifelt den kläglichen Inhalt meines Magens bei mir zu behalten.

Er griff grob nach meinem Arm und zog mich mit einem Ruck nach oben.

„Aber jammern kannst du viel! Weißt du was heute passiert ist?“, er unterbrach sich kurz selbst, boxte mir in den Bauch und schüttelte mich dann grob durch. Immer wieder schlug mein Kopf gegen die Haustür hinter mir. Mir wurde schwindlig.

„Die beschissene Schule hat heute Morgen angerufen! Was hast du vor, du blödes Arschloch? Schickst du mir jetzt die Lehrer auf den Hals, nur weil du ab und zu mal eine drauf kriegst? Alle Eltern züchtigen ihre Kinder, was kann ich dafür, wenn du so ein unbrauchbarer, erbärmlicher Haufen Scheiße bist!“

Ich zuckte zusammen.

Versuchte einfach nicht hinzuhören, doch jedes einzelne Wort durchdrang mich wie ein Pfeil, tiefer und tiefer…

„Weißt du was für eine scheiß Arbeit es war, diesen Typen zu beruhigen, ihn davon abzuhalten hier aufzukreuzen?!“

Wieder schlug er auf mich ein.

Ich hustete.

Würgte.

Doch es kam nichts.

Immer wieder trafen mich seine Tritte, immer wieder zog er mich nach oben, schrie mich an, schlug mich.

Irgendwann geriet er langsam außer Atem. Nur am Rande bekam ich mit, wie er sich nach und nach beruhigte.

Ich spürte schon längst keinen Schmerz mehr. Mein Kopf schaltete sich Stück für Stück ab. Sehnsüchtig wartete ich auf die willkommene Dunkelheit.

Schließlich versetzte er mir einen Stoß, ich schlug mit dem Kopf gegen die Kommode und fand mich auf dem harten Boden wieder.

Ich schloss die Augen.

Driftete weg.

Wurde bewusstlos.
 

Er hatte ein ungutes Gefühl. Schon den ganzen Tag hatte sein Mitschüler einen gehetzten Eindruck auf ihn gemacht. Er wusste dass irgendetwas in der Luft lag, bekam während der Schulzeit aber nicht die Gelegenheit mit ihm zu sprechen.

Schließlich verschwand Wheeler nach dem Unterricht so schnell, dass sich auch dann keine Chance bot.

Seufzend fuhr Kaiba sich durch die braunen Haare.

Er packte seine Sachen zusammen und ging nach unten, wo die Limousine schon auf ihn wartete.

Er musste dringend ins Büro, so viel seiner Arbeit wie möglich noch erledigen, bevor er ins Wochenende startete.

Mokuba würde ihm niemals erlauben, jetzt auch noch am Wochenende anzufangen zu arbeiten. Also musste er jetzt noch alles schaffen, was er sonst über die drei Tage verteilt hätte.

Außerdem erwartete er noch einen Anruf, von einem Freund aus dem Jugendamt. Er hatte versprochen sich mal nach Wheeler zu erkundigen und in den Unterlagen nachzusehen, ob irgendetwas über ihn vorhanden war.

Das schlechte Gefühl war immer noch nicht verschwunden. Trotzdem ließ er sich von Roland, seinem Chauffeur zum Büro fahren, stieg aus und machte sich auf den Weg nach oben.
 

Ich erwachte nur langsam. Hustete. Röchelte.

Bekam fast keine Luft.

Panisch versuchte ich ein und auszuatmen, doch immer wieder unterbrach meine Versuche ein ersticktes Husten. Erst nach einigen Sekunden wurde es besser.

Eine Welle des Schmerzes erfasste meinen Körper, rann über ihn hinweg und nahm mir für einen Moment den Atem.

Ich biss die Zähne zusammen. Versuchte mich aufzurappeln.

Es ging.

Kurz sah ich an mir herunter. Musste mit den Tränen kämpfen.

Es tat alles weh.

Ich wollte auf die Uhr sehen, doch ich erkannte die Uhrzeit nur verschwommen. Vielleicht halb elf, vielleicht halb zwölf…ich wusste es nicht so genau.

Langsam kam ich auf die Knie. Wollte hier weg.

Egal wie, egal wohin. Hauptsache weg.

Ich zog mich am Türgriff nach oben und musste für einen Moment innehalten. Mir war schwindlig und sofort explodierte ein lodernder Schmerz in meinem Kopf.

Ich schloss die Augen für einen Moment. Holte tief Luft.

Wieder hustete ich.

Ein kurzer Blick nach rechts bestätigte meine Vermutung. Mein Vater war noch da.

Also nichts wie raus hier, dachte ich bei mir und drückte die Türklinke nach unten.

Ohne Jacke schleppte ich mich aus der Wohnung, schloss die Tür sachte hinter mir und musste dann erneut mit einer Schwindelattacke kämpfen.

Gott, Joey…so schaffst du es niemals weit genug von hier weg.

Doch das war mir egal. Hauptsache raus aus diesem Haus.

Langsam wandte ich mich zur Treppe, umklammerte mit der linken das Geländer und machte vorsichtig einen Schritt vor den anderen.

Der Weg kam mir so lange vor.

Des Öfteren musste ich unterwegs anhalten. Immer wieder wurde mir schwarz vor Augen und die Kopfschmerzen hatten sich nicht verbessert.

Trotzdem schaffte ich es mehr oder minder Heil die Treppe nach unten und torkelte zur Eingangstür. Schnell drückte ich die Klinke nach unten und stolperte die wenigen Treppenstufen nach unten.

Ich ging in die Knie. Atmete schnell. Schloss für einen Moment die Augen. Ich fröstelte. Es war kalt.

Ich rappelte mich so gut es ging wieder hoch und ging ein paar Schritte weg von dem Gebäude. Dann lehnte ich mich an die nächste Häuserwand, ließ mich an dieser nach unten Sinken und schloss die Augen.

Ein Wassertropfen traf auf meine Nasenspitze. Noch einer. Dann auf meine Wange.

Schließlich fing es richtig an. Es regnete. Goss aus Kübeln.

Langsam ließ ich mich nach vorne auf den Boden fallen und blieb regungslos liegen.

Die Dunkelheit umfing mich wieder.
 

Es war spät, als er endlich das Notebook ausschaltete und zusammenklappte. Dann packte er das Gerät ein und verschloss den Reißverschluss.

Kurz sah er auf die Uhr. 1:30 Uhr.

Kaiba stand auf, umrundete seinen Tisch und griff nach dem Mantel, den er achtlos auf einen seiner Sessel geschmissen hatte.

Er schlüpfte hinein, überprüfte in den Taschen, ob er seinen Schlüssel eingesteckt hatte und drehte sich dann nochmals zum Schreibtisch um, um seine Notebooktasche nicht zu vergessen.

Dann löschte er das Licht und verließ das Büro.

Unten in der Tiefgarage angekommen, wandte er sich zu seinem Auto, betätigte die Zentralverriegelung und öffnete dann die Fahrertür.

Seine Tasche legte er auf den Beifahrersitz, dann startete er den Wagen und fuhr los.

Noch immer hatte er dieses ungute Gefühl in seiner Magengegend. Als wäre etwas Schlimmes passiert.

Wieder dachte er an Wheelers gehetzten Blicke und unruhige Gesten.

Irgendetwas war vorgefallen.

Besorgt bog Kaiba nach rechts ab.

Nein…einfach nach Hause fahren wollte er jetzt nicht. Zumindest sein Gewissen beruhigen, in dem er kurz durch diese verlassene Gegend fuhr, in der sein Mitschüler wohnte.
 

Er brauchte nicht lange. Nach zirka fünfzehn Minuten kam er an einem großen Wohnkomplex vorbei. Der Regen und die Dunkelheit der Nacht nahmen ihm die Sicht, trotzdem glaubte er etwas auf dem Boden liegen zu erkennen.

Schlagartig setzte sein Herz für einen Moment aus.

Unsicher hielt er an, wusste nicht, sollte er aussteigen und nachsehen, oder einfach weiterfahren.

Nein das konnte er jetzt nicht mehr.

Also öffnete er die Tür, kletterte aus dem Sitz und schloss den Wagen sofort hinter sich ab. Man wusste nie was für Verrückte hier herumrannten.

Langsam ging er auf die Stelle zu, von der er glaubte, etwas entdeckt zu haben.

Oder jemanden.

Tatsächlich, je näher er auf das große dunkle Gebäude zu kam, desto genauer konnte er einen Menschen erkennen der Regungslos auf dem Boden lag.

Weißes Hemd, dunkle Hose, Krawatte, blondes Haar.

Verdammt!

Seto beschleunigte seine Schritte, kam schließlich neben seinem Klassenkameraden zu stehen und ließ sich auf die Knie fallen.

Langsam streckte er seine Hand nach dem Jungen aus, berührte ihn am Nacken.

Er fühlte sich kalt an.

Kaiba musste schlucken, fühlte nach dem Puls, konnte diesen auch sofort feststellen und atmete erleichtert auf.

Langsam drehte er den Jungen auf den Rücken, zog erschrocken die Luft ein und betrachtete die lädierte Stirn seines Schützlings.

Zorn kam in ihm auf.

Wer auch immer dafür verantwortlich war, würde dafür büßen.

Schnell überprüfte Seto seinen Atem.

Gott sei Dank.

Er schien nur Ohnmächtig.

Langsam griff Seto nach Joeys Oberkörper, richtete diesen leicht auf und legte ihm seinen Arm um die Schultern. Mit der andren Hand griff er unter dessen Kniekehlen und hob den Jungen ohne erkennbare Mühe auf.

Ihm fiel auf, wie leicht dieser war.

Joey wirkte eindeutig unterernährt.

Den Gedanken erst mal von sich schiebend, machte Seto sich auf, zurück zu seinem Wagen und öffnete umständlich die Tür hinter dem Fahrersitz.

Er legte Joey vorsichtig auf die Rückbank, holte dann eine Decke aus dem Kofferraum und wickelte den Jungen darin ein.

Dann schloss der die Tür, stieg stattdessen selbst vorne ein und fuhr los.
 

Immer wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel, beobachtete Joseph der nach wie vor regungslos und mit geschlossenen Augen auf der Rückbank lag.

Besorgt griff Seto nach seinem Handy, wählte die Nummer seines Hausarztes und beorderte diesen sofort zu seinem Haus.
 

Zu Hause ging alles sehr schnell. Der Arzt nahm ihm den Jungen sofort ab, brachte ihn in eines der Gästezimmer und kümmerte sich um seine Wunden.

Mokuba war durch die Hektik aufgewacht, verlangte nach Antworten, doch Seto schob ihn immer wieder von sich, meinte er erkläre es morgen, es wäre nicht so wichtig.

Nach zirka 30 Minuten kam der Arzt schließlich endlich aus dem Gästezimmer und bat Kaiba darum, ihn unter vier Augen sprechen zu dürfen.

Sie wandten sich zu Kaibas Büro, traten ein und setzten sich. Der Arzt auf der Couch, Seto auf einem der Sessel, die hier standen.
 

„Er wurde Jahrelang misshandelt. Einige Narben sind schon so alt, dass ich den verdacht habe, er war vielleicht gerade mal zwölf oder dreizehn Jahre alt. Ich weiß nicht, wo sie ihn gefunden haben, oder wer ihn so zugerichtet hat, doch wer immer es war, hatte nicht die Scheu auch mal mit einem Messer oder einem anderen scharfen Gegenstand auf ihn los zu gehen. Herr Kaiba, was auch immer passiert ist mit dem Jungen, eines ist klar: es war eindeutig Misshandlung.“

Seto reagierte nach außen hin nicht. Starr blickte er nach vorne, ließ sich keine Gefühlsregung ansehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Innerlich kämpfte er. Und hatte das Gefühl jeden Moment die Beherrschung verlieren zu können.
 

„Und…“

„Nein. Soweit ich feststellen konnte, wurde er nicht missbraucht.“

Seto nickte.

Ihm fiel regelrecht ein Stein vom Herzen. Seine schlimmste Befürchtung war nicht bestätigt worden, das war immerhin schon ein kleiner Trost.

„Wie steht es um ihn?“

„Er ist stabil. Geprellte Rippen, viele Blutergüsse und eine böse Kopfwunde. Zusätzlich war er leicht unterkühlt. Die Wunde an der Stirn habe ich genäht, die am Hinterkopf war nicht so schlimm. Trotzdem wird er mit Sicherheit eine Gehirnerschütterung haben, es sah so aus, als wäre er gegen einen ziemlich harten Gegenstand geprallt.

Er soll sich ausruhen und die nächsten Tage schonen, für Morgen bekommt er strikte Bettruhe. Außerdem soll er sich warm halten, damit er keine Erkältung bekommt, wobei das sicher nicht zu verhindern sein wird. Er hat zu wenig Gewicht, scheint als hat er sich die letzten Wochen von nicht sonderlich viel ernährt. Er soll ausreichend Essen.

In spätestens einer Woche ist er wahrscheinlich wieder topfit. Körperlich.

Doch was mit seinem seelischen Zustand ist, kann ich ihnen wirklich nicht sagen. Ich weiß nicht wie er die letzten Jahre mit diesen Misshandlungen umgegangen ist, wie er sie verarbeitet hat, was er dagegen unternommen hat, oder sonst etwas.“

Kaiba nickte erneut. Sagte jedoch nichts darauf.

Stattdessen stand er auf und hielt dem Arzt die Hand hin.

„Vielen Dank, dass sie sich so spät die Zeit genommen haben, hier her zu fahren. Ich weiß der Weg ist nicht gerade kurz. Bestellen sie ihrer Frau liebe Grüße. Und geben sie meinem Chauffeur einen Scheck mit der Summe, die ich ihnen Schulde.“

„Ist der Junge versichert?“

„Ich gehe mal nicht davon aus. Seien sie nicht zu zimperlich.“

Der Arzt lächelte dankbar und ergriff die Hand mit freundschaftlicher Verbundenheit.

„Gute Nacht, Herr Kaiba. Ich werde die nächsten Tage noch mal nach ihm sehen. Wenn irgendetwas sein sollte, rufen sie mich an.“

„Das mache ich, Doktor. Bis die Tage.“

Der Arzt verschwand aus dem Raum und Seto war einen Moment allein.

Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich mit der Situation überfordert. Eine ihm unbekannte, widerliche Schwäche kroch seine Beine hoch. Kurz schloss er die Augen und lehnte sich an die schwere, dunkle Holztür.

Schließlich riss er sich zusammen, versuchte seine Gedanken erst mal beiseite zu schieben und ging ebenfalls aus dem Raum.

Mit wenigen Schritten war er an dem schräg gegenüberliegenden Gästezimmer, das sein Mitschüler auch schon beim letzten Mal beherbergt hatte, angekommen und er trat leise ein.

Der Blonde schlief. Hatte ein großes Pflaster an der Stirn und trug ein frisches weißes T-Shirt. Wahrscheinlich eins von ihm.
 

Er setzte sich auf den Sessel, der neben dem Bett stand und verschränkte die Arme vor der Brust. Er überschlug seine Beine und beobachtete den Blonden.

Dieser sah ruhiger aus. Entspannter. Als fühle er sich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder richtig wohl.

Ein kleines Lächeln bildete sich in Kaibas Mundwinkeln.
 

Er blieb noch einige Minuten dort sitzen, dann stand er auf und verließ den Raum.

Kapitel 8

Close the Door
 

Kapitel 8:
 

Langsam öffnete ich die Augen. Meine Sicht war verschwommen und ich musste mehrmals blinzeln.

Nach und nach klärte sich das Bild um mich herum auf.

Es war schon Morgen, die Sonne schien mit ihrer vollen Leistungskraft auf das Bett, in dem ich lag.

Ich wandte meinen Kopf nach links, sah das Fenster und brauchte einige Augenblicke, bis ich erkannte, wo ich mich befand.

Verwirrt schüttelte ich leicht mit dem Kopf, bereute es sofort wieder.

Ein stechender Schmerz machte sich in meinem Schädel breit.

Ich hob die Rechte und fuhr mir über die Stirn. Spürte ein Pflaster unter meinen Fingerspitzen. Die sich darunter befindende Wunde schmerzte leicht.

Schließlich drehte ich meinen Kopf auf die rechte Seite und blinzelte zur Uhr, die schräg gegenüber dem Bett an der Wand befestigt war.

Halb sieben! Verdammt!

Heute war Samstag und ich hatte Dienst. Ich musste sofort los, um zumindest noch den Großteil meiner Lieferung vor neun Uhr an den Mann zu bringen, sonst würden sie mich rausschmeißen.

Langsam setzte ich mich auf, spürte erst jetzt den Verband um meine Brust.

Verwundert sah ich ihn an, merkte erst jetzt das unangenehme Gefühl beim einatmen. Es war ein eigenartig dumpfer Schmerz.

Gebrochen?

Nein…bitte nicht auch noch das!

Schnell verdrängte ich meine Gedanken, akzeptierte den Verband einfach und schwang meine Beine aus dem Bett.

Ich war nur in Shorts und T-Shirt bekleidet, suchte schon fieberhaft nach meiner Hose, konnte sie aber nirgends entdecken.

Vielleicht im Badezimmer?

Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht nach vorne und stand dann auf.

Sofort musste ich mich an dem Bettpfosten zu meiner linken festhalten. Mir wurde schwindelig und auch leicht übel.

Oh Gott! Das würde ja richtig spaßig werden, bei der Arbeit.

Langsam setzte ich einen Fuß vor den Anderen, torkelte unsicher auf die Badezimmertür zu und sah hinein. Tatsächlich lagen meine Hose und mein Hemd des Vortages auf der Badewanne.

Kurz hob ich das Hemd hoch, schmiss es dann allerdings sofort wieder zurück. Es war mit Blut verschmiert.

Die Hose sah noch verhältnismäßig gut aus, jedoch noch leicht feucht.

Ich seufzte leise, legte auch sie wieder über den Rand der Badewanne und ging in das Zimmer zurück. Sah kurz in den Schrank, fand eine Jogginghose die mir passen könnte und schlüpfte umständlich hinein.

Je mehr ich mein Gewicht nach vorne verlagerte, desto übler wurde mir.

Ich schluckte und richtete mich wieder auf.

Hielt mich an der Schranktüre fest, als mich erneut eine Schwindelattacke übermannte.

Oh mein Gott, wie willst du denn so Zeitungen austragen?

Ich versuchte so tief Luft zu holen wie es ging, kam allerdings mit dem Verband und den schmerzenden Rippen nicht weit.

Schließlich stieß ich mich von der Schranktüre ab, wandte mich zur Tür und öffnete sie vorsichtig.

Ich trat auf den Gang, ging an der Wand gestützt ein paar Schritte den Korridor entlang, musste allerdings nach zirka zehn Schritten schon die erste Pause einlegen.

Kurz schloss ich die Augen, versuchte die schwarzen Punkte vor meinen Pupillen zu ignorieren. Es klappte nur dürftig.

Du musst weiter, sagte ich in Gedanken zu mir selbst und versuchte noch ein paar Schritte zu gehen. Doch ich war schlichtweg zu schwach. Nach zirka fünf Metern knickten meine Knie einfach weg und ich fand mich auf dem Boden wieder.

Hinter mir öffnete sich eine Tür und ein erschrockener Ausruf erklang über den Korridor.

Schritte näherten sich, doch ich sah nicht auf.

„Was soll das? Geh zurück ins Bett!“, motzte Kaiba und zog mich am linken Arm nach oben in eine halbwegs stehende Position.

„Nein…muss arbeiten.“ Erwiderte ich und wollte mich von ihm los machen doch mir fehlte die nötige Kraft.

Er schüttelte entschieden den Kopf, legte sich meinen Arm um die Schultern und stützte mich so gut es ging wieder zurück in mein Zimmer.

Innerhalb weniger Sekunden hatte er mich zurück in das Bett verfrachtet und zugedeckt.

Ich spürte den Schwindel, sah nur noch schwarze Punkte und fühlte mich furchtbar müde und elend.

„Seto…“, flüsterte ich leise, versuchte mich gegen seine sanften Hände zu wehren, die mich entschieden ins Kissen zurück drückten.

„Nein, Joseph.“ Erwiderte er und schüttelte zum Nachdruck mit dem Kopf.

„Aber heute ist Samstag. Ich muss Zeitungen austragen, sonst verliere ich meinen Job!“

Verzweifelt sah ich ihn an, so gut das in meinem Zustand noch möglich war.

„Ich kümmere mich darum. Mach dir keine Gedanken, sondern schließ die Augen und schlaf noch ein, zwei Stunden.“

Ich nickte ergeben und hörte auf mich gegen ihn zu wehren.

Stattdessen senkte ich die Lider, atmete tief durch und versuchte mich zu entspannen.

Währenddessen griff Kaiba nach dem Telefon, das neben dem Bett stand, wählte eine Nummer und wartete kurz, bis an der anderen Leitung jemand den Hörer abnahm.

„Roland ich bins. Ruf bitte Phil an und sag ihm, er soll sich fertig machen und das Viertel von Joseph Wheeler übernehmen. Und ruf bei der Zeitung an, melde ihn für die nächste Woche erstmal krank. Das Viertel, das Phil übernehmen soll liegt in….“

Weiter hörte ich nicht mehr zu.

Beruhigt drehte ich mich auf die Seite und zog die Decke noch ein Stück höher.

Dann schlief ich wieder ein.
 

Als ich das nächste Mal erwachte, ging es mir ein bisschen besser.

Wieder setzte ich mich auf, schwang meine Beine aus dem Bett und wartete noch einen Moment, ehe ich aufstand.

Fast zeitgleich setzte das Schwindelgefühl ein. Ich wartete einen Moment, bis es etwas zurück ging und stolperte unsicher auf das Badezimmer zu.

Ich ging auf Toilette, wusch mir die Hände und wagte einen kurzen Blick in den Spiegel.

Totenblass.

Schnell wandte ich mich wieder um und ging zurück in das Zimmer.

Legte mich in das weiche, kuschelig warme Bett und seufzte.
 

Es klopfte an der Tür.

„Ja?“, gab ich leise von mir, um den draußen stehenden Einlass zu gewähren.

Es war Kaiba.

Schweigend trat er ein, schloss die Tür hinter sich und kam dann näher an das Bett heran.

Er ließ sich auf der Bettkante nieder, zog ein Bein an und verschränkte die Arme darum.

„Wie geht es dir?“ fragte er leise und sah mir tief in die Augen.

Ich schluckte.

„Gut.“, erwiderte ich wenig überzeugend.

„Okay, und jetzt noch mal für die Großen: Wie geht es dir?“

„Schrecklich“

„Das klingt schon realistischer.“

Ich lächelte freudlos.

Dann wandte ich den Kopf ab und starrte zum Fenster.

„Hast du keine Fragen?“, fragte ich ihn leise und biss die Zähne zusammen. Wusste ich die Antwort doch ganz genau.

„Hast du keine?“

Etwas verwundert drehte ich mich wieder zu ihm um und sah ihn an.

„Doch.“, antwortete ich ehrlich.

„Und welche?“

„Wie komme ich hier her?“

Kaiba lächelte fast unmerkbar und rutschte dann ein Stück tiefer, um sich mit dem Rücken gegen den Bettpfosten des Himmelbettes zu lehnen.

Eigentlich war die Situation schon leicht krotesk. Ich lag hier in Seto Kaibas Villa in einem der Himmelbetten und besagter Mann saß gemütlich mit überschlagenen Beinen auf der anderen Seite des Bettes und ließ mich Fragen stellen. Utopisch!

Und trotzdem war es wie immer. Kaibas nähe gab mir ein Gefühl der Sicherheit, seine Anwesenheit ließ mich ruhiger werden. Auch wenn ich genau wusste, dass ich in weniger als zwei Minuten mit Sicherheit mit Fragen konfrontiert werden würde, die ich absolut nicht beantworten konnte beziehungsweise auch noch nicht wollte.
 

„Also gut. Ich bin zufällig vorbeigefahren, nachdem ich im Büro fertig war, habe dich im Straßendreck erkannt und mitgenommen.“

Ungläubig sah ich ihn an

„Zufällig? Du fährst zufällig einen Umweg von mindestens Fünf Kilometern und entdeckst mich trotz der Witterung und der Dunkelheit auf der Straße neben einer düsteren Hauswand?“

Er sagte nichts. Lächelte nur still vor sich hin.

Es war interessant, ihn lächeln zu sehen. Es kam nicht oft vor, dass er es in Anwesenheit anderer tat.

Es war ein schönes Lächeln. Vor allem wirkte es ehrlich.

„Reicht dir das als Erklärung nicht?“

„Nein.“

„Gut. Dann bin ich jetzt an der Reihe: Ich fahre also zufällig an deinem Haus vorbei, sehe dich im Graben liegen, du bist schwer verletzt, konntest nicht weit gekommen sein und hattest nicht mal eine Jacke dabei. Ich frage mich: Was ist passiert?“

Ich schluckte.

Wandte meinen Blick schnell ab.

Biss die Zähne zusammen und dachte an das was hinter mir lag. An die Geschichte mit dem Anruf aus der Schule, an die Gewalt, an die Schmerzen, die Kälte, die Angst…

Tränen kündigten sich an. Erfolglos versuchte ich sie aufzuhalten. Dann fuhr ich mir mit einer fahrigen Bewegung über das Gesicht und schloss die Augen. Versuchte alles auszublenden, die Geschehnisse zu vergessen, doch das ging nicht…

„Joseph?“

Leise sprach er meinen Namen aus, versuchte meine Aufmerksamkeit wieder in das hier und jetzt zu lenken.

Ich schüttelte leicht mit dem Kopf.

Dann antwortete ich mit einem traurigen Lächeln auf seine Frage: „Ich bin die Treppe runter gefallen.“

Ungläubig sah mein Gegenüber mich an.

„Wow…das war…die eindeutig schlechteste Ausrede, die ich je in meinem ganzen Leben gehört habe. Du warst auch schon einfallsreicher!“

Kaiba schmunzelte leise.

Ich wandte meinen Blick wieder von ihm ab.

„Warum fragst du mich das, Seto, wenn du die Antwort doch eh schon kennst…“, bemerkte ich, ohne die leiseste Gefühlsregung zu zeigen.

Seto antwortete nicht.

Sah mich nur an und wartete.

Ich wusste nicht auf was.
 

Schließlich stand er auf, fuhr mir mit einer leichten Bewegung über den Kopf und verließ dann ohne noch ein mal ein Wort an mich zu richten den Raum.

Ich fühlte mich allein gelassen, war gleichzeitig erleichtert.

Schloss die Augen.

Ließ meinen Tränen endlich freien lauf.

Und schlief nach wenigen Minuten einfach ein…
 

Nach einigen Stunden erwachte ich. Ich hörte Stimmen, zog verwirrt die Brauen zusammen und öffnete meine Augen.

Seto saß auf dem Sessel, direkt neben der Tür und unterhielt sich leise mit einem etwas älteren Mann, mit ergrautem Haar und einem weißen, langen Kittel. Ein Arzt, schloss ich daraus.

„…Ich verstehe ja, was sie mir damit sagen wollen. Trotzdem will ich erst einmal abwarten, wie es ihm in ein paar Tagen geht, bevor ich ihn mit so etwas konfrontiere.“

„Herr Kaiba, es ist egal, wie lange sie warten, es wird das Beste sein, sich jetzt darum zu kümmern.“

„Ich will ihm keine unnötige Angst, geschweige denn unnötigen Stress verursachen. Er ist stark, ich bin mir sicher er schafft es auch alleine.“

“Er wird es aber alleine nicht schaffen. Sehen sie sich ihn doch an. Er ist total abgemagert, schwach, hat wahrscheinlich seit Tagen nicht gegessen. Glauben sie wirklich, dass er das alles alleine hin bekommen wird?“

„Ich werde ihm helfen.“

„Aber ihnen fehlen die Kenntnisse.“

„Ich werde das schon schaffen.“

„Herr Kaiba, ich dachte, sie wären so etwas wie Feinde?“

„Das ist doch alles quatsch!“

Ich wusste, dass sie über mich sprachen, doch ich hatte keine Ahnung um was es sich handelte.
 

„Was ist quatsch?“, warf ich also dazwischen und sah die beiden abwechselnd an.

Erschrocken sah der Arzt auf, Setos Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er behielt seine Maske auf, wie immer in der Gegenwart anderer.

„Es ist nichts. Vergiss es einfach.“, antwortete er unwirsch auf meine Frage und sah mir für einen Moment tief in die Augen.

Schnell schüttelte ich den Kopf.

„Sag schon!“

„Das geht dich nichts an!“

Ich zuckte zusammen. Seine Stimme klang hart und endgültig.

Also hüllte ich mich in Schweigen und sah ihn enttäuscht an.

Das war nicht Gerecht.

Seto murmelte einen leisen Fluch, stand dann ruckartig auf und verschwand mit schnellen Schritten aus dem Raum.

Mit zusammengebissenen Zähnen sah ich ihm nach.

Was war denn los?

Der Arzt wartete noch einen Moment, ehe er versuchte die Stimmung etwas zu lockern.

Er lächelte mich an, und hielt mir seine Hand hin.

„Hallo. Ich bin der Hausarzt der Kaibas. Aber nenne mich einfach Doc.“

Etwas unsicher nahm ich seine Hand, schüttelte sie leicht und lächelte schüchtern zurück.

„Ich wollte noch mal nach dir sehen. Du hast dir ganz schön den Kopf gestoßen. War dir heute vermehrt schwindelig, oder schlecht?“

„Ja…Als ich aufgestanden bin. Aber wenn ich liege, geht’s.“

„Ruh dich noch ein paar Tage aus. Du hast eine Gehirnerschütterung und wenn du dich Überanstrengst kann das böse enden. Sobald der Schwindel verflogen ist, kannst du gern wieder ein paar Schritte gehen.

Bis dahin mach bitte keine weiteren Strecken als bis zum Klo und wieder zurück.“

Ich nickte.

„Du hast dich sicher gefragt, was das mit dem Verband um deine Brust auf sich hat. Du hast zwei geprellte Rippen, ich hab sie dir bandagiert. Der Verband sollte noch wenigstens bis übermorgen dran bleiben. Zum Duschen kannst du ihn abnehmen, aber lass ihn dir danach wieder von jemandem anlegen. Du hattest eine böse Kopfwunde, ich habe sie genäht. Herr Kaiba hat den Auftrag dafür zu sorgen, dass das Pflaster jeden Tag gewechselt und die Wunde mit einem antiseptischen Mittel desinfiziert wird. Die Blauen Flecken werden in den nächsten Tagen zurückgehen. Wenn du willst kannst du dir die Salbe, die ich auf den Tisch gestellt habe, auftragen, das fördert die Heilung. Das war´s so weit.“

„Okay…wie lange bin ich mindestens Krankgeschrieben?“

„Mindestens bis Dienstag. Und dann sehen wir mal weiter. Vielleicht kannst du ab Mittwoch wieder in die Schule. Das sehen wir dann.“

Er lächelte mich warmherzig an und stand dann auf.

„Also dann Joseph. Ich sehe in ein paar Tagen noch mal nach dir.“

„Danke…“

Er hob die Hand zum Abschied und verschwand dann aus dem Raum.

Somit war ich wieder allein. Wusste zwar jetzt, wo der Schwindel, die Übelkeit und der Verband herkamen, doch fühlte ich mich deshalb nicht besser.

Kaibas ablehnende Haltung ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Ich stöhnte leise.

Du bist selbst schuld, dachte ich. Du hast ihn jetzt schon viel zu nahe an dich heran gelassen. Jetzt gibt es wahrscheinlich kein zurück mehr. Und sobald du wieder gesund bist, wird er dich abschieben, zurückschicken oder sonst etwas. Und du wirst wieder allein sein. Noch einsamer sein. Bis du schließlich daran zerbrichst. So oder so, egal was passiert, er wird dich verletzen, hängen lassen, so wie es bisher jeder getan hat, den du in dein Herz gelassen hast.

Erst deine Mutter, dann deine Schwester, schließlich dein Vater, deine Freunde und mit ihm wird es dir genauso gehen.

Mit diesen Gedanken schloss ich die Augen, machte mich so klein wie möglich in dem riesigen Bett und versuchte wieder zu schlafen.

Kapitel 9

Hey ho
 

letzter Update liegt schon ne ganze weile zurück, bin zur Zeit gestresst durch Abschlussprüfungen, Wohnsituation, etc.
 

Also lade ich hiermit ein eigentlich fertiges Kapitel hoch, das schon seit ein, zwei Monaten auf meinem PC schlummert und darauf wartet gelesen und kommentiert zu werden :)
 

Schönes Wochenende an alle
 

Close the Door
 

Kapitel 9:
 

„Du bist ein Nichtsnutz! Genauso wie dein versoffener Vater. Wage es bloß nicht noch einmal hier her zu kommen, oder ich rufe die Polizei und lasse dich einbuchten! Denn dort gehörst du hin. Ins Gefängnis, weit weg von mir und meiner Familie. Halt dich bloß fern und hau endlich ab!“

Ihre Stimme hallte durch meinen Kopf, grässlich verzogen, unangenehm laut und löste einen undefinierbaren einschießenden Schmerz in meinen Ohren aus.

Ich rührte mich nicht. Starrte sie an! Wollte gehen, verschwinden, endlich hier weg, doch ich konnte nicht. Sie schmiss mit einer Vase nach mir, verfehlte mich knapp. Die Vase zerbrach an der hinter mir liegenden Wand, die Scherben fielen klirrend zu Boden.

Das Geräusch hallte nach, war so präsent…

„Wie kannst du es wagen, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Du gehörst nicht hier her! Du sollst verschwinden! Verschwinde endlich und komme nie wieder hier her!“

Die letzten Worte hatte sie geschrieen. Wieder durchzuckte mich ein lähmendes Gefühl des Schmerzes, wieder wollte ich wegdrehen und verschwinden.

Ich versuchte verzweifelt mich zu rühren, versuchte wegzugehen doch es ging nicht. Meine Füße waren wie aus Stein.

Panisch sah ich nach unten, sah wie sich meine Beine immer mehr in ein blasses grau verfärbten, spürte die langsame Kälte die immer weiter hinauf kroch, immer weiter, immer weiter in die Richtung meines Herzens, bis…
 

--
 

Ich schreiend erwachte.

Kalter Schweiß rann mir über die Stirn, mein Atem ging schwer. Ich riss die Augen auf und sah mich geschockt um. Es war Still um mich herum, die Vorhänge waren zugezogen, es rührte sich nichts. Sie war nicht hier…Niemand war hier…
 

Mit einem Ruck setzte ich mich auf, schwang meine Füße aus dem Bett und stand auf. Ich lief mit schnellen Schritten zur Badezimmertür, ignorierte dabei den Schwindel und die bohrenden Schmerzen in meinem Kopf, riss die Tür auf und ließ mich vor dem Klo auf die Knie sinken und übergab mich.

Mein Kopf fühlte sich an als würde er jeden Augenblick explodieren.

Ich verschluckte mich, hustete leise.

Meine Hände zitterten und ich spürte die Tränen, die sich langsam einen Weg über meine Wangen bahnten.

Ein Schleier legte sich auf meine Augen. Meine Sicht verschwamm.
 

Ich schluchzte leise.

Matt hob ich einen Arm und betätigte die Spülung. Dann lehnte ich mich gegen die Duschkabine, direkt neben dem Klo und zog meine Beine an.

Ich umschlang diese mit meinen Armen, legte meinen Kopf auf die Knie und versuchte verzweifelt die Tränen zurück zu drängen, mir klar zu machen, dass es nur ein Traum gewesen war.

Doch die Bilder in meinem Kopf verschwanden nicht.

Immer wieder sah ich sie vor mir, wie sie mich anschrie, mich panisch Richtung Tür schubste, versuchte mich los zu werden, mich aus ihrem Leben zu verbannen und aus ihren Gedanken zu eliminieren.

Wie sie schützend eine Hand um die Schultern meiner Schwester legte.

Ihre Augen…

So voller Wut, Hass und Angst.

Angst vor meinem Vater, Angst vor mir…

Angst davor dass ich wieder in ihr Leben treten könnte, dass sie mich am Hals hätte, sich um mich kümmern müsste…

Angst vor meinem Vater, der ihr vorwerfen könnte, was für eine schlechte Mutter sie war.

Doch das hätte er nie getan…

Wie denn auch, konnte er in seinem daueralkoholisierten Zustand doch keinen klaren Gedanken mehr fassen…
 

Das Zittern meiner Glieder verstärkte sich, die Bilder in meinem Kopf überfluteten mich, nahmen mir jegliche Handlungskompetenz.

Ich konnte mich nicht rühren, mich nicht beruhigen, konnte diese Bilder nicht mehr loswerden.

Der Traum ließ mich nicht mehr los.

Panik kam in mir auf.
 

Plötzlich öffnete sich die Tür.

Sie! schoss es mir durch den Kopf.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, mein Atem ging noch schneller.

Etwas berührte mich an der Schulter, ich wich zurück.

„Nein!“ rief ich aus, hob den Kopf, holte aus, doch er fing den Schlag geschickt auf.

Erschrocken sah ich ihn an.

Er streckte die Hand nach mir aus, griff nach meinen Schultern und zog mich an seine Brust.

„Joseph…beruhige dich. Es ist alles okay. Es war nur ein Traum.“
 

So warm…dachte ich und schloss die Augen.

Wurde ruhiger.

Ließ mich einen Moment lang fallen.
 

Ich wurde müde.

Meine Glieder fühlten sich schwer an.

Er stand langsam auf, nahm mich dann auf seine Arme und trug mich zurück in das Zimmer.

Dort setzte er mich auf der Bettkante ab, drückte mich sanft zurück ins Kissen und deckte mich dann zu.

Er lächelte sanft.

Setzte sich einen Moment lang zu mir.
 

„Wieder alles in Ordnung?“ fragte er leise.

Ich nickte leicht.

„Erzählst du mir von deinem Traum?“

Langsam schüttelte ich den Kopf.

„Kann ich nicht…“

„Warum nicht?“

„Dann kommt alles wieder hoch.“

„Bitte…“

Ich schwieg einen Moment.

Biss die Zähne zusammen und flüsterte schließlich fast unhörbar:

„Es war ein Traum von meiner Mutter…“

„Ist sie tot?!

„Nein…“

„Aber?“

Leicht schüttelte ich mit dem Kopf und schloss die Augen.

„Ist sie für dich gestorben?“

„Ja…“

Ich spürte eine sanfte Berührung an meinem Arm.

Versuchte ein Lächeln.

„Wenn du möchtest, bleibe ich noch einen Moment hier.“ Bot er mir leise an.

Kurz dachte ich darüber nach und sagte leise: „Gern.“

Er zog sich den Sessel ein Stück näher zum Bett und setzte sich hinein.
 

Am Morgen erwachte ich recht früh. Blinzelnd wandte ich mich auf die andere Seite und entdeckte Seto der nach wie vor in dem Sessel lag und zu schlafen schien. Seine Körperhaltung sah ziemlich unbequem aus und schrie förmlich nach Verspannungen.

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen beobachtete ich ihn. Seine entspannten Gesichtszüge ließen ihn um ein vielfaches freundlicher wirken. Keine Kälte, keine Verachtung, nichts von seiner ansonsten so perfekten Fassade, die er der Außenwelt präsentierte, war ihm Moment zu erkennen.

Er wirkte jünger und unheimlich schön.

Schließlich setzte ich mich auf.

Meine Gedanken verwirrten mich.
 

Das Bett knarrte leise und Seto rührte sich.

Er schien wach zu werden.

Seufzend mobilisierte er sich wieder in eine halbwegs sitzende Person und rieb sich kurz über die Augen. Dann sah er auf, entdeckte mich auf dem Bett.

„Guten Morgen.“, wünschte er mir und zeigte ein leichtes entschuldigendes Lächeln.

„Ich bin wohl eingeschlafen.“, stellte er fest und sah etwas zerknirscht auf eine Armbanduhr.

Dann hob er seinen Arm und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck den Nacken.

„Nicht sonderlich bequem.“

Ich lachte leise.

„Ja den Eindruck hatte ich auch.“

Seto schmunzelte und stand dann auf.

„Ich werde dann mal verschwinden.“

Als er an mir vorbei gehen wollte, griff ich schnell nach seiner Hand und hielt ihn auf.

„Warte.“, bat ich ihn leise und zog ihn mit leichtem Nachdruck zu mir zum Bett.

Er ließ sich ergeben darauf sinken und sah mich fragend an.

„Was gibt’s?“

Ich schüttelte leicht mit dem Kopf und wandte den Blick von ihm ab.

„Ich wollte nur…Danke sagen.“

Verwirrt sah er mich an.

„Für was?“

„Du bist geblieben.“

Er lächelte und streckte die Hand nach mir aus. Es schien, als wolle er mir durch die Haare fahren, entschied sich dann im letzten Moment doch noch anders und legte mir nur kurz die Hand auf die Schulter.

„Du musst dich nicht bedanken.“

„Doch!“, widersprach ich schnell.

„Du…hast so viel Stress nur wegen mir, ich falle dir mit Sicherheit zur Last und ich kann mir vorstellen, dass du genervt bist, dir jetzt auch noch um mich sorgen machen zu müssen, obwohl du mit deiner Firma und deinem Bruder sicher schon genug Arbeit hast. Ich…werde nicht lange bleiben, wenn du willst, werde ich auch sofort verschwinden. Ich kann dir leider nichts dafür geben, dafür dass du mich aufgenommen hast und leider bin ich auch nicht Krankenversichert, aber wenn das in Ordnung ist, werde ich in den nächsten Wochen einfach noch mehr arbeiten, um dir die Schuld zu begleichen. Ich-.“

„Stopp!“, unterbrach mich Seto und schüttelte den Kopf.

„Mach dir nicht so viele Gedanken, Joseph. Ich will kein Geld, du sollst hier auch nicht verschwinden und du bist mir keine Last. Wir werden über alles Reden, okay? Ruh dich erst mal aus, ich lasse dir ein Frühstück bringen. Iss etwas. Schlaf noch ein, oder zwei Stunden.“

„Aber…“, versuchte ich einzulenken, doch er schüttelte nur mit dem Kopf.

„Nein Joseph. Vertraue mir einfach. Und lass uns später Reden.“

Ich nickte zögerlich und er stand erneut auf.

„Also bis später.“

Damit verabschiedete er sich und ging aus dem Raum.

Unschlüssig sah ich ihm nach.

Ich hatte ihm so viel sagen wollen…
 

Und auch wenn er sagte, ich solle mir nicht so viele Gedanken machen, tat ich es doch.

Wie sollte es jetzt weiter gehen? Ich konnte mich hier nicht ewig einquartieren.

Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte ich das ungute Gefühl in meinem Magen zu verdrängen. Es brachte mir nichts jetzt darüber nach zu denken, was sein würde und was sein könnte.

Ich musste ihm vertrauen.

Und je mehr Zeit ich hier verbrachte, desto mehr hatte ich das Gefühl ihm auch wirklich vertrauen zu können…auch wenn dieses Gespräch vom gestrigen Morgen mir immer noch schwer zu schaffen machte.

Kaiba war auf einmal wieder so abweisend gewesen…so wie ich ihn kennen gelernt hatte.

Und in der Nacht hatte er mich umarmt, beruhigt und ins zurück ins Zimmer getragen und war sogar die ganze Zeit über geblieben, trotz des unbequemen Sitzplatzes…

Er verwirrte mich.

Das hatte bisher nie jemand für mich getan. Und das verunsicherte mich.
 

Ich hustete leise. Das Frühstück war gerade gekommen und ich hatte tapfer ein halbes Brötchen mit Butter beschmiert herunter gewürgt.

Nicht das es nicht schmeckte, doch es fehlte mir schlichtweg an Appetit und Hunger.

Also ließ ich den Rest stehen, seufzte leise und schwang dann meine Beine aus dem Bett.

Ich wollte duschen.
 

Umständlich zog ich mir das T-Shirt über den Kopf und vernahm auch schon wieder ein Klopfen an der Tür.

Seto trat ein, sah mich verwirrt an und nickte schließlich.

Er hatte verstanden.

„Komm ich helfe dir.“, sagte er und kam zu mir, um mir den Verband abzunehmen.

Es war mir Peinlich und ich wandte den Blick ab, damit er die leichte Röte auf meinen Wangen nicht bemerkte.

Mit sanften Bewegungen, entfernte er nach und nach den dicken, weißen Verband und zutage kamen zwei große, dunkelrot gefärbte Blutergüsse unterhalb meines Herzens.

Seto stand immer noch hinter mir, fuhr mit einer leichten Berührung eine der vielen Narben auf meinem Rücken nach und wandte sich dann ab.

„Ich komme gleich wieder und bringe frische Kleidung mit.

Eine Short findest du noch in dem Schrank, aber ich glaube mit T-Shirts sieht es schlecht aus.

Ich nickte leicht und verschränkte die Arme vor der Brust um die Sicht auf die vielen andern kleinen Narben, Blutergüsse und Schrammen zu verdecken.

Erst als sich die Tür hinter ihm Schloss, sah ich wieder auf und seufzte leise.

Ich benahm mich wie ein kleines Kind.

Langsam ging ich zum Schrank, öffnete eine der vielen Türen und suchte mir eine frische Short und eines der weißen, großen und flauschigen Handtücher heraus.

Dann verbarrikadierte ich mich im Badezimmer, zog mir meine restlichen Sachen aus und stellte mich unter das lauwarme Wasser.

Genießerisch schloss ich die Augen, verdrängte für einen Moment den Schmerz in meiner Brust und den Schwindel in meinem Kopf und gab mich ganz dem Gefühl des angenehm warmen Wassers hin, das stetig über mein Gesicht, meine Schultern und meine Brust rann und sich zu kleinen Flüsschen bündelte, die sich immer wieder einen neuen Weg über meinen Körper hinweg bahnten.

Nach wenigen Minuten stellte ich das Wasser ab, griff nach dem Handtuch und trat aus der Kabine um mich abzutrocknen.

Seife hatte ich keine verwenden wollen, dafür waren die Wunden noch zu frisch.

Ich wollte das Risiko, mir selbst noch mehr Schmerzen zuzuführen, möglichst vermeiden.
 

Ich trocknete mich ab, schlüpfte in die Short und die Jogginghose und trat dann aus dem Badezimmer, zurück in das Gästezimmer, in dem Seto schon geduldig auf mich wartete. Er hatte den Verband wieder zusammengerollt und sah mich abwartend an.

Verwirrt trat ich zu ihm und ließ mir von ihm den Verband wieder anlegen. Warum hatte er keinen seiner Bediensteten darum gebeten? fragte ich mich in Gedanken.

Ich beobachtete seine schlanken Finger dabei, wie sie den weißen Stoff nach und nach wieder um meinen Oberkörper wickelten. Seine Hände schienen für diese Tätigkeit überhaupt nicht geschaffen. Nicht das er ungeschickt war, nein, daran lag es nicht, vielmehr war es das Gefühl in meinem Inneren, dass es falsch war, was er tat. Er gehörte in sein Büro, in seinen geregelten Tagesablauf. Ich war kein Teil seines Lebens, gehörte hier nicht hin…

Als Seto fertig war, drehte er sich zum Bett, griff nach dem T-Shirt, das er mitgebracht hatte und reichte es mir. „Hier.“

„Danke.“

Umständlich schlüpfte ich hinein.

Sah ihn einen Moment lang an.
 

Dann hielt ich es nicht mehr aus.

„Warum tust du das alles?“ fragte ich ihn und sah ihn mit zusammengebissenen Zähnen an.

Ich war unsicher...bereute es schon jetzt das Thema angesprochen zu haben.

„Was meinst du?“, wich Seto aus, und schob mich Richtung Bett.

Doch ich machte einen leichten Schritt nach rechts, wollte mich nicht hinlegen, sondern mit ihm auf einer Höhe sein.

„Warum hilfst du mir?“, konkretisierte ich meine Frage.

„Komm schon, leg dich wieder hin. Genug herumgehampelt.“

„Nein!“

Er hob den Blick. Sah mir in die Augen.

Ich spürte, dass er nicht Antworten wollte.

Griff nach seinem Handgelenk und hielt ihn fest.

„Sag schon…“

„Die Frage ist überflüssig.“, stellte er fest.

Seine Gesichtszüge verhärteten sich, er setzte nach und nach seine altbekannte Maske auf, und sah mich mit durchdringenden Augen an.

Das machte mir Angst.

Trotzdem brach ich den Blickkontakt nicht ab.
 

„Du weißt genau, weshalb.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein…ich weiß gar nichts…

Ich weiß lediglich, dass ich die letzten Jahre immer dachte, dass du mich hasst. Mich verabscheust und mich deshalb an einer Tour beleidigst…

Und ich muss zugeben ich empfand nach und nach auch eine Art Hass dir gegenüber.

Weil ich es nicht verstand!“, erklärte ich ehrlich.

„Das ist doch alles Quatsch.“

„Das hast du dem Arzt auch gesagt. Aber warum hast du es dann getan? Warum hast du mich als Dreck bezeichnet, warum war ich für dich immer nur der dumme Köter, der nichts zu Stande-.“

„Hör auf! Ich habe dich nie als Dreck bezeichnet und du bist nicht dumm.“

Seto seufzte, fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch die Haare und sah mich dann mit einem leicht flehenden Blick an, der mir vermittelte: „Bitte zwing mich nicht, zu sagen was ich fühle…“

Doch ich ließ nicht locker.

„Warum hast du es dann immer wieder gesagt? Warum? Und wenn du mich so hasst, warum hilfst du mir dann?“

„Ich hasse dich nicht, Joseph! Würde ich dich hassen, wärest du nicht hier. Und würde ich dich hassen, hätte ich nie mit dir ein Wort gewechselt…“

Verwirrt trat ich einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das verstehe ich nicht…“

Erneut seufzte Seto.

„Lass uns das Thema auf sich beruhen lassen. Wir reden ein andermal darüber.“

„Nein! Es nützt nichts, Seto. Wir können nicht alles einfach immer verschieben! Irgendwann müssen wir auch mal anfangen ernsthaft zu reden…“ entgegnete ich ungeduldig.

Er nickte.

„Ja…wir müssen anfangen ernsthaft zu reden, Joseph. Doch ich kann dir Momentan nicht helfen.“

Seine Stimme war ruhig und gelassen, und gleichzeitig hatte ich den Eindruck, es schwang etwas Trauriges darin.

Verwirrt sah ich ihn an.

„Wie meinst du das?“

„Ich meine damit, dass du mir nicht vertraust…solange du mir nicht vertraust, kann ich nichts tun.“, erklärte er und verzog seine Mundwinkel zu einem ganz leichten, traurig wirkenden Lächeln.
 

Meine Augen weiteten sich.

Vertrauen?

Das war zu schwer…zu viel verlangt…

Ich trat einen weiteren Schritt zurück, wandte den Blick ab und spürte einen unheimlich großen Druck in meiner Brust.

Ich schluckte.

„Aber du weißt doch ganz genau, was passiert ist! Warum muss ich es denn unbedingt auch noch aussprechen!“, fragte ich ihn laut.

Ich griff mir an die Brust, presste meine Rechte auf die Stelle, an der ich mein Herz vermutete und versuchte verzweifelt den Druck los zu werden. Ignorierte den Schmerz, den meine verkrampfte Haltung auslöste.

„Joseph…Es geht nicht darum was ich weiß und was nicht. Es geht darum, dass du es aussprichst! Mit mir darüber redest!“

„Das kann ich nicht!“

Ich schüttelte den Kopf. Immer wieder, stolperte einen weiteren Schritt zurück, spürte die Kommode hinter mir, lehnte mich unauffällig an sie und versuchte das Zittern in meinen Gliedern nicht zu beachten.

„Dann lass dir Zeit.“

Seto kam auf mich zu, spürte aber wie ich abblockte und hielt kurz Inne.

Ich wollte nicht dass er näher kam. Und gleichzeitig schrie mein Innerstes nach körperlicher Nähe.

Nach seiner Nähe.

Er streckte eine Hand nach mir aus, berührte mich leicht an der Schulter. Ich zuckte zusammen, wandte den Blick zu Boden.

„Joseph…“, sprach Seto leise und kam einen weiteren kleinen Schritt auf mich zu.

„Komm schon her…“

Damit zog er mich zu sich heran und nahm mich in seine Arme.

Ich atmete tief ein und aus, schloss die Augen und lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter.

„Du verlangst so viel…“, flüsterte ich leise und spürte, wie sich mein Körper verselbstständigte und meine Hände ihren Weg zu Setos Rücken fanden, um die Umarmung zu erwidern.

Es tat gut…körperliche Wärme tat unheimlich gut.

Der Druck in meiner Brust und das Zittern ließen nach. Die Kälte in meinem Inneren verschwand nach und nach. Wärme machte sich breit, umhüllte mich, umhüllte mein Herz.

Es beruhigte mich.

„Ich weiß…“ entgegnete Seto und hielt mich fest.

Kapitel 10

Hallo meine lieben Leser.

Vielen Dank dass ihr über die Zeit hinweg der FF Close The Door trotzdem treu geblieben seit. Durch meine Prüfungs/Bewerbungszeit bin ich sehr in Verzug gekommen. Zusätzlich muss ich zugeben ist dieses Kapitel eher ein Übergangsteil. Das nächste ist an sich auch schon fertig und sollte eigtl bald Folgen. Das hängt nur noch davon ab ob ich das Ende verändern möchte oder nicht ;)

LG Eure Ray
 


 

Close the Door
 

Kapitel 10:
 

Nachdem er gegangen war, ließ ich mich erschöpft auf das Bett sinken.

Vergrub mein Gesicht in dem weichen Kissen und atmete einmal tief ein und aus.

Ich schloss die Augen.

Versuchte über die Geschehnisse der letzten zwanzig Minuten nachzudenken, doch ich war zu durcheinander.

Konnte das Chaos in meinem Kopf nicht ordnen.

Also wickelte ich mich in die Decke ein, seufzte leise und versuchte zu schlafen.
 

Ich erwachte erst am späten Nachmittag. Trank einen Schluck Wasser und stand dann auf, um kurz auf Toilette zu gehen.

Ich fühlte mich matt und ausgelaugt.

Irgendwie krank.

Schwankend fand ich den Weg zurück in mein Bett.

Mir war heiß.

Ich hustete.

Scheiße, jetzt wirst du auch noch Krank, ging es mir durch den Kopf.

Ich biss die Zähne zusammen und schloss die Augen.

Alles drehte sich.
 


 

Am nächsten Morgen hatte sich mein Zustand extrem verschlechtert.

Ich hatte hohes Fieber und war kaum ansprechbar.

Meistens schlief ich. Manchmal wachte ich auf, bemerkte jemanden, der bei mir war, konnte mich aber nicht auf den Gedanken konzentrieren.
 

Seto ging nicht zur Schule.

Stattdessen rief er seinen Hausarzt an.

Dieser faselte etwas von Fieber, kalten Wadenwickel und einer zusätzlichen Decke.

Seto war mit seinen Gedanken nicht wirklich bei der Sache.

Er machte sich Sorgen.

Joseph hatte am Vortag schon keinen guten Eindruck auf ihn gemacht. Zusätzlich zu dem Traum, dem ernsten Gespräch und dem Allgemeinbefinden kam jetzt also noch eine Erkältung?

Dieser Idiot nahm auch einfach alles mit, was er kriegen konnte!

Er verabschiedete den Arzt, der versprach am Abend erneut vorbei zu sehen und gab die Anweisungen des Arztes an eine seiner Bediensteten weiter.

Dann fuhr er sich kurz durch das braune Haar und schloss für einen Moment die Augen.

Er war müde.
 

Am Abend hatte sich der Zustand von Joseph noch nicht gebessert.

Nach wie vor befand er sich in einer Art Wach-Traum-Zustand. Die Temperatur war noch nicht gesunken, stattdessen war ein ekliger Husten hin zu gekommen.

Der Arzt maß die Temperatur und schüttelte unschlüssig mit dem Kopf.

Dann überprüfte er die Atemgeräusche, den Puls und den Blutdruck.

Schließlich seufzte er leise, stand auf und ging aus dem Raum zu dem Büro des Firmeninhabers.

Er klopfte an, wartete auf das „Herein“ und betrat dann den Raum.

„Mr. Kaiba, ich habe mir den Jungen erneut angesehen. Seine Werte haben sich nicht verbessert.

Ich habe den Verdacht auf eine Lungenentzündung, würde diesbezüglich aber noch die Nacht abwarten, ob sich etwas verändert.

Wenn das Fieber bis morgen nicht wenigstens auf 38 ° gesunken ist, würde ich ihn lieber in einem Krankenhaus unterbringen und dort weiter betreuen.“
 

Seto ließ sich seine Erschütterung über die Aussage seines Arztes nicht anmerken.

Trotzdem kämpfte er innerlich mit sich.

Lungenentzündung?

Er schluckte.

Legte sich innerlich eine Antwort zurecht und nickte schließlich.

„In Ordnung. Ich werde veranlassen, dass der Junge ständig unter Beobachtung steht. Wenn das Fieber steigen sollte, werde ich ihn in ein Krankenhaus einliefern lassen.

Kommen Sie, wenn Sie nichts mehr von mir hören, morgen Früh noch einmal vorbei. Dann sehen wir weiter.“

Der Arzt nickte, verabschiedete sich und verließ das Zimmer.

Sobald sich die Tür hinter dem älteren Mann geschlossen hatte, seufzte Kaiba und fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch die Haare. Müde stützte er seinen Kopf für einen Moment auf seine Hände und schloss die Augen.

Krankenhaus…

Das würde Joseph ihm wahrscheinlich nie verzeihen.

Die Ärzte würden Fragen stellen.

Vielleicht die Polizei rufen.

Auf jeden Fall viel Ärger machen.

Seto stöhnte leise.
 

Schließlich riss er sich zusammen, stand auf und verließ ebenfalls das Büro.

Es half weder ihm, noch dem jungen Mann, zwei Zimmer weiter, auch nur das Geringste, wenn er hier in seinem Büro versauerte und sich das Schlimmste ausmalte. Er trat zu der Tür des Gästezimmers, atmete noch einmal tief ein und betrat den Raum.

Er war seit dem Morgen nicht mehr hier gewesen, hatte sich tapfer ferngehalten und stattdessen drei Stunden auf der Couch geschlafen und danach noch ein bisschen gearbeitet.

Doch die Sache hatte ihn sowohl in seinen Träumen als auch bei der Arbeit immer wieder eingeholt. Und jetzt hielt er es nicht mehr aus. Er musste nach ihm sehen.
 

Langsam ging er zu dem Himmelbett und setzte sich einen Moment an den Rand.

Mit einem besorgten Stirnrunzeln fuhr er Joseph mit einer sanften Bewegung seiner Rechten über die Wange.

Die Haut fühlte sich heiß und feucht an.

Er griff nach dem Tuch, auf Josephs Stirn, wusch es in der Wasserschüssel, die auf dem Nachtkästchen stand, kurz aus und tupfte ihm den Schweiß vom Gesicht.

Dann legte er das weiße Tuch wieder auf die obere Gesichtshälfte seines Schützlings.
 

Gedankenverloren zog Seto seine Beine an, verschränkte die Arme auf den Knien und stützte seinen Kopf auf.

Was machst du nur mit mir, Joseph?

Fragte er sich in Gedanken.

Dann atmete er einmal tief durch und stand auf, um den Jungen wieder allein zu lassen.

Er musste dringend weiterarbeiten. Hätte schon längst in der Firma sein müssen, doch dazu fühlte er sich heute nicht mehr in der Lage.

Zu sehr beschäftigte Josephs Zustand seine Gedanken.
 

Eine Stunde saß er mehr oder minder konzentriert an seinem Schreibtisch und tippte einige Zahlen in die geöffnete Tabelle.

Irgendwie macht das alles keinen Sinn, dachte er stirnrunzelnd und überflog das Ganze noch ein mal. Als ihm erneut ein Fehler auffiel, seufzte er genervt auf, drückte den Deckel seines Notebooks nach unten und schob diesen einige Zentimeter von sich weg.

Stöhnend raufte er sich die Haare und vergrub das Gesicht in beiden Händen.

Natürlich, er hatte eine seiner Bediensteten angewiesen, auf Joseph zu achten, doch scheinbar war das nicht genug, um ihm die nötige Konzentration für die Arbeit zu bescheren.

Er musste das selbst in die Hand nehmen.
 

Also verließ er das Büro, bepackt mit seinem Notebook und einigen Notizen, die ihm sein Stellvertreter der Firma zugefaxt hatte und ging in das Gästezimmer.

Er scheuchte die Haushälterin aus dem Raum und richtete sich einen kleinen Arbeitsplatz neben Josephs Bett ein.

Dieser bewegte sich unruhig im Schlaf, hustete leise.

Sein Atem klang rasselnd, er atmete schnell.
 

Seto warf ihm einen besorgten Blick zu.

Dann setzte er sich einen Moment an seine Bettkante, griff nach dem Tuch und wusch es erneut mit dem kühlen Wasser aus.

Er platzierte es wieder auf Josephs Stirn, und legte diesem beruhigend eine Hand auf die Schulter, auch wenn er wusste, dass dieser diese Geste wohl kaum spüren würde.

Trotzdem bildete er sich für einen Moment lang ein, dass sein Gast ein kleines bisschen ruhiger Atmete.

Seto griff nach Josephs Hand und hielt sie fest.

„Komm schon, Joseph…“, flüsterte er kaum hörbar.

Dann seufzte er leise, ließ die Rechte seines Schützlings los und stand auf, um sich wieder auf den Sessel zu setzen.

Dort nahm er das Notebook auf seine Beine und begann damit seine E-Mails durchzulesen.
 

Er erkannte sich kaum wieder.

Lediglich Mokuba war ihm wichtig genug, dass er seine Arbeit so schleifen ließ. Wenn Mokuba krank war, war ihm alles egal.

Doch seit wann schaffte es sein Klassenkamerad ihn so zu beunruhigen, dass er bei ihm das selbe tat, wie bei seinem kleinen Bruder?
 

Immer wieder stand er auf, maß Josephs Temperatur und schüttelte dann verständnislos den Kopf.

Warum machte der Jüngere es ihm auch so verflucht schwer?

Nach zirka zwei Stunden schaltete er das Notebook aus und stellte es auf den Boden.

Es brachte ja doch nichts.
 

Er setzte sich auf die Bettkante des Himmelbettes, zog seine Knie an und umschloss diese mit seinen Armen.

Dann legte er seinen Kopf auf das rechte Knie und beobachtete den Kranken.

Er seufzte lautlos.

Schloss für einen Moment die Augen.
 

Verwirrt hob Seto den Kopf und sah sich verständnislos um. Er lag neben Joey, halb auf dem Bett und halb auf dem Boden.

Er war wohl eingenickt.

Schnell warf er seinem Gast einen Blick zu, doch der schlief tief und fest und wirkte wesentlich ruhiger als noch vor einigen Stunden.

Seto griff nach dem Tuch, das ihm von der Stirn gerutscht war und legte es ins Wasser. In der Zwischenzeit schob er seinem Patienten das Thermometer zwischen die Lippen und wartete auf das Piepsen.

Dann las er die Anzeige ab. 39,5.

Immerhin ein halbes Grad, dachte er und legte das kleine Gerät wieder auf das Nachtkästchen, griff stattdessen nach dem weißen Tuch und wrang es aus. Dann legte er es Joseph wieder auf die Stirn.

Er war müde.

Rutschte ein Stück nach unten und lehnte sich mit dem Oberkörper gegen den linken Bettpfosten.

Schloss erneut die Augen und schlief fast sofort wieder ein.
 

Am Morgen fand er sich am Bettrand wieder, den Oberkörper quer im Bett liegend und die Beine ganz nah angezogen.

Sein Kopf schmerzte und sein rechter Arm fühlte sich merkwürdig Taub an.

Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht so gelegen.

Er rieb sich über die Augen, schüttelte seinen rechten Arm aus, stand dann auf und griff nach der Schüssel, holte neues Wasser und trat dann wieder an Josephs Bett.

Dieser sah schon wesentlich besser aus, als noch am Vortag.

Seto maß seine Temperatur und lächelte erleichtert.

„Gott sei Dank…37,6 C°“ flüsterte er und strich Joseph kurz über das Blonde Haar.

Kapitel 11

Close the Door
 

Kapitel 11:
 

Joseph schlief die nächsten anderthalb Tage komplett durch.

Seto lenkte sich stattdessen ab.

Ging am nächsten Tag zur Schule, danach bis spät nachts in die Firma um die aufgeschobene Arbeit endlich nachzuholen.

Gegen zwei Uhr machte er sich auf den Heimweg und fiel erschöpft ins Bett.

Er brauchte dringend Schlaf.
 


 

Mein Kopf schmerzte.

Ich fühlte mich zerschlagen. Meine Glieder waren ganz steif und als ich mich aufsetzte wurde mir für einen Moment schwarz vor Augen.

Ich stöhnte leise.

Schwang dann meine Beine aus dem Bett und versuchte aufzustehen.

Zwei Sekunden später fand ich mich auf dem Boden liegend wieder.

Oh mein Gott! dachte ich und versuchte mich wenigstens wieder aufzusetzen.

Hilfe?

Also zog ich mich zurück ins Bett und verkroch mich wieder unter der Decke.

Das Atmen fiel mir schwer.

Meine Lunge schmerzte.

Kurz sah ich auf die Uhr. Riss erschrocken die Augen auf.

Es waren drei Tage vergangen?

Wie sollte das denn gehen.

Hatte ich etwa einen Filmriss?

Angestrengt überlegte ich, was in den letzten drei Tagen passiert sein könnte.

Runzelte dann die Stirn.

Mir kamen ein paar Bilder in den Sinn.

Von Kaiba, der neben mir auf dem Bett lag und schlief, von der Haushälterin, die ein weißes Tuch in der Hand hielt, vom Arzt, der mich besorgt musterte und wieder von Kaiba, der wie verrückt auf die Tastatur seines Notebooks hämmerte.

Hä?

Inzwischen vollkommen verwirrt, startete ich einen zweiten Versuch mich aufzurappeln.

Diesmal ging es leichter.

Bevor ich erneut stürzen konnte, hielt ich mich an einem der Bettpfosten fest.

Stolz bildete sich ein leichtes Grinsen auf meinen Lippen.
 

Nach einigen Sekunden fühlte ich mich sogar dazu in der Lage ein paar Schritte zu gehen.

Und tatsächlich, die Kraft schien scheinbar langsam zurück zu kehren.

Etwas unsicher stolperte ich ins Bad, verrichtete meine Notdurft, putzte mir die Zähne und wusch mir das Gesicht.

Ich sah an mir herunter.

Ein schwarzes T-Shirt und blau karierte Boxershorts bedeckten meinen Körper.

Irgendwer schien mir etwas anderes angezogen zu haben.

Oder ich war es selbst, und hatte tatsächlich einen Filmriss.

Ich schüttelte die Gedanken ab, trottete zurück in den Schlafraum und griff nach der schwarzen Jogginghose, die auf dem Stuhl, rechts vom Bett lag.

Ich sollte mich dafür lieber hinsetzen, kam es mir in den Sinn und hockte mich kurzerhand auf den Stuhl um mir die Hose überzustreifen.

Ja…tatsächlich war es eine gute Entscheidung gewesen.

Denn sobald ich wieder aufstand, übermannte mich ein ekelhaftes Schwindelgefühl, das sich scheinbar in meinen Kopf einnisten wollte.

Kurz überlegte ich, mich einfach wieder zurück ins Bett zu legen, doch eigentlich hatte ich dazu im Moment so gar keine Lust.

Ich war jetzt lang genug im Bett gelegen, langsam musste es doch mal wieder aufwärts gehen.

Also ignorierte ich den Schwindel so gut es ging und machte mich auf den Weg zur Tür.

Auch ein verletzter Hund brauchte Auslauf.

Oh Gott…was war dass denn jetzt?

Jetzt war ich scheinbar total durchgeknallt…
 

Ich strich den letzten Gedanken einfach aus meinem Kopf und öffnete die Tür um mich auf Erkundungsreise zu begeben.

Ein Rollstuhl wäre jetzt klasse, kam es mir in den Sinn.

Das würde so einiges vereinfachen.

Kurz dachte ich darüber nach, mir einen Stuhl mitzunehmen, um mich gegebenenfalls darauf ausruhen zu können, doch das war mir letztendlich doch zu absurd.

Das war dann doch zu peinlich.

Du drehst scheinbar eh langsam durch, dachte ich bei mir und seufzte resignierend.
 

Ich wandte mich nach rechts und tastete mich vorsichtig an der Wand entlang.

Lieber kein unnötiges Risiko eingehen.

Nach wenigen Metern legte ich eine kurze Pause ein um zu verschnaufen.

Wer hätte gedacht, dass ein Mensch nach wenigen Tagen Ruhe so schwach sein könnte.

Meine Lunge schmerzte immer noch, und das Atmen fiel mir schwer.

Einfach ignorieren, entschied ich.
 

Bis ich das Ende des Flurs erreicht hatte, vergingen bestimmt fast zehn Minuten.

Brauchte auch eine Pause nach der anderen.

Aber ausnahmsweise wollte ich vernünftig sein und meinen Ausflug langsam angehen lassen.

Außerdem hatte ich Durst, da musste ich wohl oder übel die Küche erreichen…wo war überhaupt die Küche?

Angestrengt die Stirn runzelnd überlegte ich eine Weile.

Definitiv im Erdgeschoss…glaubte ich zumindest. Wahrscheinlich hinter dem Speisesaal…und der war…ja genau rechts neben der Haupteingangstür.

Also los geht’s!
 

Schließlich kam ich an der Treppe an, atmete einmal tief durch und nahm dann eine Treppenstufe nach der anderen in Angriff.

Ein Sturz wäre jetzt wirklich sehr unpraktisch und mit Sicherheit extrem schmerzhaft.
 

Nach dem ersten Absatz, hörte ich schließlich Schritte und Seto Kaiba, der Besitzer dieser wundervollen Villa kam mir entgegen.

Er trug die Schuluniform und hatte sein Notebook unter dem linken Arm geklemmt.

Als er mich erkannte, blieb er ruckartig stehen und sah mich verwundert an.

Ich grinste und hob die Linke um zu Winken.
 

Totenschädelgrinsen!

Kam es Seto in den Sinn.

Verwirrt runzelte er die Stirn.

Warum steckte dieser Idiot nicht in seinem Bett und kurierte sich aus?

„Was tust du hier?“
 

Ich zuckte leicht mit den Schultern.

„Spazieren gehen.“

„Aha.“

„Ja…ich brauchte etwas Bewegung.“

„…“

„Habs nicht mehr ausgehalten im Bett.“

„Hm…“

„War langweilig. Und wie du siehst, klappt das mit dem Laufen schon ganz gut. Hab nur zehn Minuten gebraucht bis hier her.“

„Aha.“

„Ich dachte ich sehe mich hier ein bisschen um.“

„…“

„Und außerdem habe ich Durst. Ich dachte ich finde zufällig die Küche.“

„Hm…“

„Ähm…kannst du auch normale Antworten geben?“

„Die willst du nicht hören.“

„Was wären das denn für Antworten?“

„Eine Mischung aus: ,Was zum Teufel soll das?`, ,Verschwinde sofort wieder ins Bett!` und ,Hast du den Verstand verloren?`“

„….Oh.“

„Ja, Oh. Und jetzt hau ab.“

„Wohin?“

„Na ins Bett!“

„Aber…!“

„Nichts aber.“

„Bitte…“

„Nein.“

„Seto....“

„Was denn?“

„Ich will nicht.“

„Verschwinde!“

Ich zuckte zusammen.

Wieder diese Kälte in seinen Augen…

Ich sah weg.

Biss die Zähne zusammen.

Verschwinde…

Wie er das Wort ausgesprochen hatte…es erinnerte mich…

Nein, nicht darüber nachdenken! verbot ich mir.

Ich schloss für einen Moment die Augen.

Hörte Schritte.

Kaiba kam auf mich zu, strich mir kurz durch das Haar.

„War das zu hart?“, fragte er mich leise.

Ich nickte.

Genoss diese leichte, zarte Berührung seiner Hand.

Ich öffnete die Augen und sah ihn an.

„Tut mir leid.“, flüsterte er.

Ich konnte seinen Blick nicht deuten.

„Ich kann keine Sekunde länger in diesem Zimmer bleiben. Bitte…“

Schließlich gab er nach.

Ich bildete mir sogar ein ganz kleines Lächeln auf seinen Lippen ein.

„Dann komm mit.“, entgegnete er und trat an mir vorbei, die Treppen hoch.

Ich folgte ihm langsam, darauf bedacht, mich nicht zu überfordern.

Er führte mich in einen Raum, schräg gegenüber dem Gästezimmer, das ich bewohnte.
 

Neugierig sah ich mich um.

Es war sein Büro. Links stand eine Couch mit einem eleganten Glastisch davor.

Direkt gegenüber der Tür stand sein Schreibtisch, so gedreht, dass er die Tür immer im Blickfeld hatte.

Es standen mehrere Regale an der rechten Seite, die eine Vielzahl von Büchern, Akten und Ordnern beherbergte.

„Setz dich, oder noch besser: Leg dich hin.“, wies er mich an und zeigte auf die Couch.

Brav folgte ich seiner Aufforderung, setzte mich auf die Couch, stapelte alle Kissen auf einen Haufen und legte mich dann hin.

Seto verschwand kurz im Nebenraum, den er durch eine Durchgangstür im rechten, hinteren Eck erreichen konnte, um mir eine Wolldecke zu holen.

Dann kam er zu mir, drückte sie mir in die Hand und griff dann nach einer Wasserflasche, die neben seinem Schreibtisch stand.

„Hier.“, sagte er und hielt sie mir vor die Nase.

„Danke.“, entgegnete ich leise, griff nach der Flasche, öffnete sie und trank einen großen Schluck.

„Ich muss noch ein paar Stunden arbeiten.“, erklärte er nebenbei und setzte sich hinter seinen Schreibtisch, legte das Notebook vor sich auf die Holzplatte und schaltete es an.

„Störe ich dich nicht dabei?“, fragte ich verwundert.

„Nein.“
 

„Sag mal…“, fing ich nach zirka zehn Minuten schließlich an.

„Was ist?“, entgegnete er emotionslos.

„Was ist in den letzten drei Tagen eigentlich passiert?“

Irritiert sah er auf und suchte meinen Blick.

„Du kannst dich nicht erinnern?“

„Nein.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Hab ich irgendwas angestellt? Oder bin ich wieder gestürzt? Ich habe das Gefühl einen Blackout zu haben. Zusätzlich tut mir die Lunge weh, und ich hab eklige Kopfschmerzen. Was war denn los?“

„Du warst krank. Hattest über vierzig Grad Fieber. Der Arzt hatte den Verdacht auf eine Lungenentzündung. Die letzten drei Tage hast du komplett durch geschlafen.“

„Dann wolltest du deshalb, dass ich wieder ins Bett gehe…“, stellte ich fest und lächelte leicht.

Er wandte den Blick wieder seinem Notebook zu und tippte weiter.

Sagte nichts dazu.

„Tut mir Leid…“

Seto hielt inne, klappte sein Notebook zu und sah mich einen Moment lang schweigend an.

Dann stand er auf, kam auf mich zu und setzte sich an den Rand der Couch.

Er zog ein Bein an und stützte seinen Ellenbogen darauf. Unsere Blicke trafen sich.

„Warum entschuldigst du dich?“, fragte er leise.

„Ich bereite dir nur Probleme.“

Er schloss für einen Moment die Augen, überlegte kurz und erwiderte dann:

„Warum hältst du so sehr an dem Gedanken fest, dass du nur ein Problem für mich darstellen könntest, Joseph?“

Ich schwieg.

Wandte den Blick ab.

„Joseph…ich weiß dass ich in den letzten Jahren oft nicht fair zu dir war, und dass ich Dinge gesagt habe, die dich verletzt haben. Ich weiß, dass es schwer für dich ist, Vertrauen zu mir zu fassen, nach dem was alles vorgefallen ist.

Mir ist klar, dass du das Gefühl hast, mich nicht zu kennen, ich kann mir vorstellen, dass du ein Problem hast, meine Handlungen dir und anderen gegenüber zu verstehen.

Und trotzdem, wenn es etwas gibt, was du wissen solltest ist, dass ich nie, wirklich nie auf die Idee kommen würde, hier jemanden zu beherbergen, den ich Hasse, den ich Verabscheue, oder den ich als ein Problem ansehe.

Also…wann hörst du auf, zu denken, du wärst mir lästig?“
 

Ich schluckte. Soviele Worte auf einmal aus Seto Kaibas Mund zu hören war ungewohnt. Und mir schwirrte der Kopf.

Dann räusperte ich mich und flüsterte leise: „Tut mir leid.“

Seufzend schüttelte er mit dem Kopf.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen…“

Ich nickte, biss kurz die Zähne zusammen und sah ihn schließlich mit einem bittenden Gesichtsausdruck an.

„Aber wenn du mich nicht hasst, was fühlst du dann?“

Überrascht weiteten sich seine Augen einen Moment.

Dann schluckte er sichtlich.

Er wandte den Blick von mir ab, sah irgendwo zwischen Sofa und Couchtisch auf den Boden und wirkte schon fast…verlegen.

Seto Kaiba wirkte verlegen…

Ein eigenartiger Gedanke…

Schließlich drehte er sich wieder zu mir um, sah mir tief in die Augen und antwortete leise: „Das weiß ich noch nicht so genau…“

Enttäuscht brach ich den Blickkontakt ab und wandte mein Gesicht zur Lehne damit er meine Gefühle nicht so leicht erriet.

„Joseph…“

Er wirkte überfordert, zögerte kurz und griff dann nach meinem Kinn um meinen Kopf in seine Richtung zu ziehen.
 

Er erschrak, als er den Schmerz in meinem Blick erkannte und zögerte.

Ich riss mich los und wollte mich aufsetzen doch er griff nach meinem Arm und wollte mich aufhalten.

„Warte…“

„Nein“

Ich befreite mich erneut mit einem Ruck und kam schwankend auf die Beine.

„Ist okay, das war Antwort genug.“, sagte ich schnell und drehte mich von ihm weg.

Ich stolperte zur Tür, öffnete sie und verließ den Raum.

Mit wenigen Schritten war ich an meinem Zimmer angekommen, stürzte hinein und ließ mich aufs Bett fallen.

Ich vergrub mein Gesicht in den Kissen und atmete tief durch.
 

Was hatte ich erwartet?

Ein Liebesgeständnis?

Wahrscheinlich.

Wie konnte ich nur so dumm sein? Ich war so ein Idiot…

Zu denken er könnte mich mögen. Gerade mich!

Ich hatte mir so sehr eine positive Antwort erhofft. Dass er mich mochte, mich gern hatte, in irgendeiner Form Sympathie für mich empfand.

Natürlich schien er mich nicht zu hassen, doch zu mögen schien er mich wohl auch nicht…

Oder war es so schwer für ihn zu sagen was er für mich empfand?

Wenn er denn überhaupt irgendetwas für mich fühlte…

Leise klopfte es an der Tür.

Ich ignorierte es. Hoffte er würde einfach wieder verschwinden.

Schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit.

„Geh weg!“ rief ich ihm zu, gedämpft durch das Kissen.

„Joseph bitte…lass mich erklären“, bat er leise.

Mit einem Ruck setzte ich mich auf, griff nach dem Kissen das unter mir lag und schmiss es mit voller wucht Richtung Tür.

Ich traf ihn an der Brust. Das Kissen prallte an ihm ab und fiel zu Boden.

„Verschwinde!“, schrie ich ihm entgegen und sah ihn wütend an.

Nicht er war es der diese Wut in mir hervorbrachte sondern ich selbst.

Ich war wütend auf mich selbst.

Schweigend drehte er sich um und schloss die Tür fast geräuschlos hinter sich. Ich vernahm leise Schritte die sich langsam entfernten.
 

Mir wurde kalt. Schrecklich kalt. Ich wickelte mich in meine Decke ein und rollte mich zu einer Kugel zusammen.

Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Ausbruch tat mir sofort Leid. Er konnte ja nichts dafür…

Ich war es gewesen der diese Situation heraufbeschworen hatte.

Niemand hatte mich gezwungen ihm eine solch persönliche Frage zu stellen. Einem Seto Kaiba stellte man eben keine solch intimen Fragen.

Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln und bahnten sich langsam einen Weg über meine Wangen.

Ich war wirklich ein Idiot!
 

Ich wünschte mir so sehr von ihm gemocht vielleicht sogar geliebt zu werden. Wo er doch der einzige Mensch auf dieser Welt war der erkannte, was in mir los war, der wusste, was passiert war und der erahnte, was in mir vorging und was ich brauchte.

Ich brauchte Nähe, brauchte seine Nähe und spürte, dass ich mich schon so sehr in seinen blauen Augen verloren hatte, dass es für mich kein zurück mehr gab.

Auch wenn ich momentan noch nicht über meine Vergangenheit sprechen konnte, hatte ich ihm trotzdem längst all mein Vertrauen geschenkt, dass ich im Moment geben konnte. Auch wenn ich noch nicht über meinen Vater sprechen konnte, so gab es niemanden auf der Welt mit dem ich hätte über ihn reden wollen, außer ihn.

Kapitel 12

Kapitel 12:
 

Ich hatte einen furchtbaren Albtraum.

Mein Vater der mich verprügelte…meine Freunde die sich von mir abwandten…Seto wie er vor mir stand, schützend die Arme um mich legte und die Tritte meines Vaters abwehrte.

Seto wie er blutend vor mir im Dreck lag…eine Hauswand, Regen, Kälte, Schmerz…
 

Ich erwachte schweißgebadet. Mir war übel und mein Puls raste. Schnell stand ich auf und torkelte ins Bad, klappte den Klodeckel hoch und erbrach mich. Mein Hals brannte und Tränen schossen mir in die Augen.

Ich hustete, erbrach mich erneut und bettete meinen Kopf sichtlich erschöpft auf meinen verschränkten Armen auf der Kloschüssel. Langsam beruhigte sich mein Puls.
 

Ich schluchzte. Bittere Tränen bahnten sich einen Weg über mein Gesicht. Meine Lunge schmerzte und immer wieder kamen mir die Bilder meines Traumes hoch.

Wäre ich stärker gewesen, hätte der Seto in meinem Traum mich nicht beschützen müssen.

Wäre ich stärker könnte ich mich gegen meinen Vater wehren, oder zumindest die Prügel erdulden.

Dann wäre ich jetzt nicht hier und Seto müsste sich nicht um mich kümmern.
 

Doch ich war nicht stark…

Ich war jämmerlich schwach und lag hier über eine Kloschüssel gebeugt und kotzte mir die Seele aus dem Leib.

Ich verschluckte mich und hustete erneut.

Ich fühlte mich elend.
 

Kein Wunder das mein Vater mich hasste, so schwach wie ich war.

Kein Wunder das meine Mutter mich nicht wollte…wer wollte schon so ein depressives, jämmerliches Häufchen Elend wie mich als Sohn?

Wer wollte mich schon als Bruder? Oder als Freund?
 

Ich war dumm und schlecht in der Schule, tollpatschig und zog Ärger magisch an, zusätzlich zu der Tatsache das ich psychisch labil und ein seelisches Wrack darstellte. Wer wollte mich schon an seiner Seite?

Man hatte doch nur Ärger mit mir!

Wer konnte mich schon mögen?

Taten es nicht mal meine Erzeuger, geschweige denn meine Schwester.

Wer sollte mich schon lieben?

Wie sollte Seto Kaiba mich mögen, gar lieben können?
 

Gefangen im Strudel meiner negativen Gedanken, die mich nach und nach in die Tiefe stürzten, versuchte ich verzweifelt mich davon abzuhalten laut zu schreien.

Ich atmete schneller, fühlte mich plötzlich wie eingesperrt in diesem mit Marmor verzierten Badezimmer.

Mit einem Ruck setzte ich mich auf und kam auf die Füße. Ich wollte zurück ins Zimmer gehen, doch mir wurde Schwarz vor Augen und ich strauchelte.

Mit einem leisen stöhnen landete ich auf dem harten, kalten Steinboden des Bades und schlug mir dabei mein rechtes Knie auf.

Blut quoll aus der kleinen Wunde und lief langsam an meinem Bein herab.

Erneut drehte sich alles um mich herum und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl jeden Moment in Ohnmacht zu fallen, doch die Hand, die sich auf meine linke Schulter legte holte mich zurück in die Gegenwart.

Immer noch quollen Tränen aus meinen Augen und ich ließ ihnen freien lauf.

Ich lehnte mich ein Stück nach vorne und ließ meinen Kopf an die kühlen Fließen neben der Tür sinken.
 

„Joseph...“
 

Es war schön meinen Namen zu hören. Er sagte ihn so sanft und so voller wärme.

Ich drehte mich langsam zu ihm um und ließ mich gegen ihn fallen.

Er fing mich auf und schloss mich in seine Arme.

Ich vergrub mein Gesicht in seiner Schulter und erwiderte die Umarmung nach wenigen Sekunden. Sanft streichelte er mir mit der linken Hand durch das Haar, während die rechte mich immer noch fest umklammert hielt. Ich spürte wie er zitterte.

„Was ist los?“ flüsterte er mir ganz leise ins Ohr.

Ein warmer Schauer rann über meine Schultern den Rücken hinab.

Ich weinte nicht mehr. Trotzdem fühlte ich immer noch eine unbändige Trauer und Wut in mir. Wut auf mich selbst.

„Ich…hasse mich.“, entfuhr es mir mit brüchiger Stimme.

Ich spürte wie er den Kopf schüttelte.

„Warum?“, fragte er verständnislos.

Ich versuchte noch mehr seiner Wärme in mich aufzunehmen, verstärkte die Umarmung und vergrub mein Gesicht noch tiefer in seiner Halsbeuge.

„Ich bin so erbärmlich…“ antwortete ich schließlich ganz leise und schluchzte erneut.

„Wie kommst du auf so eine dämliche Idee?“

Seine Stimme war sanft. Sie klang fast schon liebevoll.

Als er spürte, wie ich versuchte mich noch näher an ihn zu drücken verstärkte er die Umarmung ebenfalls. Seine Wärme beruhigte mich. Verdrängte die Kälte in meinem Inneren.

„Ich bin so schwach…“ flüsterte ich schließlich.

Wieder schüttelte er den Kopf.

„Nein, Joseph. Du bist nicht schwach. Du bist sehr stark. Was du in den letzten Jahren durchgemacht hast war schrecklich. Und trotzdem hast du nie aufgegeben.“

„Aber ich war kurz davor! Ich wollte aufgeben!“, meine Stimme wurde lauter, ein verzweifelter Unterton schwang in ihr mit und ich spürte, wie alles in mir rebellierte, mein Körper auf Flucht umschaltete und versuchte mich aus seiner Umarmung zu befreien.

Mit aller Kraft, die ich in meinem Momentanen körperlichen Zustand aufbringen konnte, stieß ich ihn von mir weg und wich zurück.

Erschrocken über meine Heftige Reaktion weiteten sich seine Augen. Dann schluckte er.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, ich konnte seinen Blick nicht definieren.
 

Meine Atmung normalisierte sich schnell. Eine unbändige Kraftlosigkeit nahm von mir besitz.

Langsam sank ich in mir zusammen. Ich ließ meinen Kopf hängen. Meine Haare versperrten mir die Sicht.

Apathisch starrte ich zu Boden.

Warum habe ich das getan?

Die Kälte kam zurück. Ich zitterte leicht.

Warum hatte ich seine Nähe in diesem Moment nicht ertragen können?

Wo ich mich doch so nach ihr sehnte…

Ich sehnte mich nach Berührung, nach Liebe und Zuneigung. Doch sobald ich sie verspürte bekam ich es mit der Angst zu tun…

Angst vor Enttäuschung?

War es das?

Hatte ich Angst davor, er könnte mich allein lassen?

Oder konnte ich einfach nicht das zulassen, was ich mir so sehr wünschte, was ich so sehr brauchte, weil es alles verändern würde?

Weil es MICH verändern würde?
 

Ich schluckte und schlang meine Arme um meinen Oberkörper.

Seto löste sich langsam aus seiner Erstarrung.

„Joseph…“, flüsterte er meinen Namen.

Ich wollte reagieren, doch ich konnte mich nicht rühren.

Ich war wie gelähmt. Gefangen in meinen Gedanken, gefangen in meinen Ängsten.
 

Bedächtig darauf, mich nicht zu erschrecken rutschte er auf mich zu.

Bis er schließlich so nah vor mir saß, das sich unsere Knie leicht berührten.

Erneut nannte er mich sanft beim Namen.

Ich schloss die Augen.

Konzentrierte mich darauf, mich zusammen zu reißen.

Die Gefühle der Angst und Unsicherheit zu verdrängen.
 

Seto berührte mich leicht an der Schulter.

Kurz zuckte ich zusammen.

Trotzdem zog er die Hand nicht weg.

Mit sanftem Druck zog er mich zu sich und umarmte mich erneut.

Erleichtert, entspannte ich mich in seinen Armen und genoss die Wärme die er ausstrahlte.
 

„…tut mir leid…“, flüsterte ich schließlich nach einigen Minuten. Immer noch hielt er mich fest und meine Augen waren nach wie vor geschlossen.

Er nickte leicht und erwiderte sanft: „Ist schon okay….“

„Nein ist es nicht! Du tust so viel für mich und meine einzige Art mich dafür zu bedanken ist auszurasten und dich von mir zu stoßen…“ widersprach ich.

„Ich denke, ich kann das verstehen.“

Ich löste mich aus der Umarmung um ihn anzusehen.

„Ich meine es ernst“, sagte er, as er meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, „Du hast so viel negatives erlebt in den letzten Jahren. Und ich war nicht immer sonderlich nett zu dir. Ich verstehe dass du Zeit brauchst um dich zu erholen. Und ich verstehe auch, dass es nicht einfach ist jemanden wie mir zu vertrauen.“

„…Aber ich vertraue dir ja. Und trotzdem habe ich Angst.“

Er lächelte leicht.

Es war ein warmes und freundliches Lächeln.

Es war vor allem ein schönes Lächeln.

„Dann lass dir Zeit. Und lass mir Zeit dir zu zeigen, dass du keine Angst zu haben brauchst.“

Ich dachte über seine Aussage nach, während meine Augen nicht von seinem leicht nach oben gezogenen Mundwinkel wegsehen konnten.

Schließlich bestätigte ich seine Worte mit einem Nicken.
 

Langsam stand er auf und zog mich ebenfalls in eine halbwegs stehende Position. Müde schloss ich die Augen und lehnte mich gegen seine Brust. Er umarmte mich mit seiner rechten und führte mich zurück in mein Zimmer zu meinem Bett.

Dort drückte er mich sanft auf die Bettkante und ging kurz ins Bad um die Klospülung zu betätigen. Er kramte in irgendeiner Schublade und kam dann schließlich mit einem Pflaster und einer Schere zurück.

Fachmännisch versorgte er die kleine Platzwunde an meinem Knie und forderte mich mit einer leichten Handbewegung auf mich hinzulegen.

Ich ließ mich zurück ins Bett sinken und kuschelte mich schnell in die mittlerweile ausgekühlte Decke.

„Soll ich bei dir bleiben?“ fragte er leise.

Leicht schüttelte ich den Kopf.

„Du hast genug für mich getan.“

„Es ist okay für mich zu bleiben.“

Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern.

Er lächelte leicht, legte sich dann einfach neben mich und zog mich in seine Arme.

Mein Kopf lag an seiner Brust und ich hörte seinen stetigen Herzschlag.

Die Wärme und das Geräusch seines Herzens beruhigten mich und ich schloss entspannt die Augen.

„Schlaf gut.“ Flüsterte er und zog die Decke über uns beiden zu Recht.

„Du auch.“ Erwiderte ich und schlief bald ein.

Kapitel 13

Willkommen zu einem Neuen Kapitel von: Close the Door. Ich wünsche euch viel Spaß beim lesen :)
 

Close the Door
 

Kapitel 13:
 


 

Seto stand am nächsten Morgen früh auf und verließ leise mein Zimmer. Ich bekam davon nichts mit. Selig schlummerte ich weiter bis zum späten Vormittag.

Als ich erwachte und feststellte dass ich allein war fröstelte es mich kurz.

Schnell stand ich auf, ging ins Badezimmer und stellte die Dusche an.

Während das Wasser sich erwärmte schälte ich mich langsam aus meiner Kleidung und griff nach meiner Zahnbürste um mir die Zähne zu putzen.

Dann stellte ich mich unter das angenehm warme Wasser und schloss die Augen.

Es war ein gutes Gefühl endlich mal wieder zu duschen.

Nachdem ich fertig war stellte ich das Wasser ab und trat vorsichtig aus der Dusche. Die Kühle Luft bereitete mir eine leichte Gänsehaut. Ich mummte mich in den Bademantel und ging zurück in mein Zimmer.
 

So…und was ziehst du nun an? Fragte ich mich in Gedanken und wandte mich skeptisch dem Schrank zu.

Dann eben wieder fremde Sachen…

Ich öffnete eine Schranktür nach der nächsten und fand schließlich sowohl eine frische Boxershorts, die mir ein kleines bisschen zu groß war und ein schwarzes T-Shirt das perfekt zu meiner momentanen Stimmung passte.

Ich schlüpfte in beides hinein und griff dann nach der ebenso schwarzen Jogginghose vom Vortag.

Kurz fuhr ich mir durch die Haare, damit diese nicht allzu sehr zu Berge standen und setzte mich dann zurück aufs Bett, nicht wissend, was ich nun mit meiner Zeit anfangen sollte.
 

Wenige Minuten später klopfte es an der Tür.

Es war Roland.

„Master Wheeler, ich habe gehört das sie ihm Bad waren, sind sie nun fertig?“

Verwirrt sah ich ihn einen Moment lang an.

„Bitte Roland, nennen Sie mich nicht so. Schließlich sind sie viel älter als ich.“

Er lächelte leicht und nickte.

„Wie möchten Sie sonst angesprochen werden.“

„Mein Vorname reicht völlig. Und lassen sie das förmliche „Sie“ bitte weg.“

„Sehr gern, Joseph.“
 

Es war immer noch sehr eigenartig für mich, meinen kompletten Vornamen zu hören. Ich hatte den Namen immer verabscheut.

Weil er ein Zeichen dafür darstellte, dass meine Eltern einmal glücklich gewesen waren. Das sie mich geliebt hatten. Und gleichzeitig war er für mich ein Zeichen dafür, dass sie mich nun hassten.

Es war nicht leicht diesen Namen zu hören und ihn wirklich als den meinen zu akzeptieren.

Doch seit Seto mich zum ersten Mal beim Namen genannt hatte, hatte sich in meinem Inneren ein Schalter umgelegt und ich hatte zum ersten Mal den Namen „Joseph“ als den meinen betrachtet.
 

„Master Kaiba wünscht, dass wir bei ihnen zu Hause noch ein paar persönliche Sachen abholen. Er sieht es zwar als kein Problem an, sie täglich in seiner Kleidung zu sehen, doch er könne sich vorstellen, dass sie sehr gern einmal wieder ihre eigenen Sachen tragen möchten.“, erklärte Roland sein Auftreten mit einem leicht verschmitzten Grinsen.

Es war komisch Roland so über seinen Chef sprechen zu hören. Er wirkte fast als würde er sich über Seto lustig machen.

„Ich bin mir nicht Sicher ob ich das möchte, Roland.“

Zweifelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust.

Ich fror und zitterte leicht.

„Mach dir keine Sorgen, Joseph. Ich werde mitgehen und sollte dein Vater zu Hause sein, werden wir uns sofort zurückziehen.“

„Können wir nicht…warten bis Kaiba zurück ist?“ fragte ich unsicher.

Roland lachte leise.

„Vertraust du mir nicht?“

„Doch…aber irgendwie würde ich mich wohler fühlen, wäre er dabei.“

„Ja, ich verstehe was du meinst. Leider musste Seto heute geschäftlich nach Osaka reisen.“

Ich senkte den Blick.

„Weißt du, er hat in den letzten Tagen so viel Zeit neben deinem Bett verbracht, dass er sämtliche Termine absagen, oder verschieben ließ. Jetzt staut sich natürlich die ganze Arbeit an, und leider läuft ohne den Chef der KaibaCorp gar nichts.“

„Ja…ich weiß…ich habe nicht mehr daran gedacht, das Seto Kaiba einer der reichsten Männer der Stadt ist.“

Roland lächelte herzlich.

„Es freut mich, dass es dir gelungen ist einen Blick hinter die Mauern zu werfen, hinter denen Master Kaiba sich in der Regel verbirgt.“

Ich nickte leicht.

„Ja…vielleicht habe ich das wirklich…“
 

Roland verabschiedete sich recht bald, um mir noch ein paar Minuten Ruhe zu gönnen.

Er schickte die Haushälterin zu mir, die mir eine dunkelblaue Jeans und einen schwarzen Kapuzenpulli brachte. Beides war zu groß und ich benötigte einen Gürtel, um nicht plötzlich ohne Hosen da zu stehen.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, machte ich mich auf den Weg nach unten um Roland vor der Haupteingangstür wie besprochen zu treffen. Dort schlüpfte ich in ein paar Turnschuhe und griff dankbar nach dem schwarzen Mantel, den Roland mir reichte.

Er schien ihm zu gehören, denn er war so groß das schon fast zwei meiner Sorte hineingepasst hätten.

Roland führte mich nach draußen und deutete mit einer kurzen Handbewegung auf die Limousine, die direkt vor der Eingangstür stand.

Ich staunte nicht schlecht.

Das schwarze Auto war sehr beeindruckend.
 

Statt mich nach hinten zu setzten, öffnete ich die Beifahrertür und ließ mich auf den bequemen Ledersitz fallen.

Ich wollte nicht allein in der zweiten Reihe sitzen.
 

Die Fahrt dauerte. Die vielen Villen an denen wir vorbei fuhren, zeigten mir, wie Reich unsere Stadt eigentlich war. Nur komisch, dass ich davon nie etwas bemerkt hatte, dachte ich sarkastisch.

Um nicht in Depressionen zu verfallen lenkte ich mich ab, in dem ich ein Gespräch mit Roland begann.

„Wie lange arbeiten Sie schon für die Kaibas, Roland?“ fragte ich ihn leise.

Er schien einen Moment darüber nachdenken zu müssen, denn er antwortete nicht sofort.

„Solange ich denken kann.“ Erwiderte er und lachte.

Ich lächelte ebenfalls.

Auch wenn ich nicht so recht verstand, was das zu bedeuten hatte.

„Mein Vater vor mir war der Bodyguard von Master Kaibas Adoptivvater. Deshalb bin ich mehr oder weniger auch hier aufgewachsen. Mein Vater nahm mich oft mit in die Kaibavilla wenn sich meine Mutter nicht um mich kümmern konnte. Als Master Kaiba sich dazu entschloss den damals noch jungen Seto und seinen kleinen Bruder zu adoptieren war ich gerade Fünfzehn. Ich bin sozusagen in die Rolle des Beschützers hineingewachsen.“

„Das heißt Sie kennen ihn schon von klein auf. War er damals auch schon so…?“

„Ja. Master Kaiba war damals auch schon…nennen wir es einfach mal verschlossen. Schon damals im Heim lernte er seine Gefühle zu verbergen. Eigentlich schade, dass es dem Jungen nie gelang eine ganz normale Kindheit zu durchlaufen. Er hatte es nicht leicht.“

Nachdenklich sah ich aus dem Fenster.

Seto hatte es also nicht leicht? Ich hatte immer erwartet, dass er eine schöne und behütete Kindheit gehabt hatte, immer genug zu essen, genug zum Spielen und die ganze Welt zu Füßen.

„War sein Vater sehr streng?“, fragte ich Roland.

„Ja.“, lautete seine kurze Antwort.

Ich hatte den Eindruck, dass er mir nicht zu viel erzählen wollte. Das verstand ich gut. Ich würde auch nicht wollen, dass andere mein Leben in der Öffentlichkeit breit treten. Seto hatte mit der Publicity sicher schon genug am Hals.

Trotzdem nickte ich Roland dankbar zu.

Er sollte spüren, dass ich ihm für seine Offenheit sehr verbunden war.

Roland lächelte mich daraufhin warm an.

So ein Lächeln sah ich nicht oft und es vermittelte mir sofort ein Gefühl der Geborgenheit.
 

Als wir vor meinem Haus zum stehen kamen, spürte ich wie die Angst mich langsam übermannte. Mir wurde schlecht und ich hatte das Gefühl mich jeden Moment übergeben zu müssen. Meine Hände zitterten und meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding.

Roland schien zu spüren, dass mir die momentane Situation überhaupt nicht behagte, denn er legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter.

„Komm.“, forderte er mich leise auf und stieg dann aus.

Ich öffnete die Beifahrertür und stemmte mich langsam in eine stehende Position.

Kurz sah ich zu meinem Haus, versuchte hinter den Gardinen unserer kleinen Wohnung irgendeine Bewegung auszumachen, doch sie schien verlassen.

Immerhin waren keine Lichter an und auch der Fernseher flimmerte nicht im halbdunkel dieses verregneten Tages.

Ich folgte Roland die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf und klingelte dann wie besprochen an der Tür.

Niemand antwortete.

Nach zirka fünf Minuten beschlossen wir, dass die Wohnung verlassen sein musste. Ich griff nach meinem Haustürschlüssel und öffnete die Eingangstür.
 

Trotz dem Wissen, dass mein Vater nicht da sein würde, wurden die wenigen Treppenstufen zu unserer Wohnung eine wahre Tortur für mich.

Ich nahm jede einzeln und spürte immer mehr ein unangenehmes Gefühl der Bedrohung in meiner Brust.

Roland schien nichts dergleichen zu verspüren. Beständig betrat er eine Stufe nach der anderen und legte mir nach kurzer Zeit die Hand auf die Schulter um mich wahrscheinlich einerseits davon abzuhalten, einfach wieder zu verschwinden, und andererseits ein Gefühl der Stärke und Sicherheit zu geben.

Es nützte nur wenig.

Trotzdem standen wir nach wenigen Minuten vor der Wohnung meines Vaters.

Mit zitternden Händen drehte ich den Schlüssel im Schloss um und öffnete die Tür.

Tatsächlich schien die Wohnung verlassen.

Kein Licht brannte, kein Fernseher lief, keine Geräusche aus dem Schlafzimmer waren zu vernehmen. Einzig und allein Rolands tiefe Atemzüge waren zu hören.

Er nickte mir aufmunternd zu und ich betrat die Wohnung.

Schnurstracks steuerte ich mein Zimmer an, öffnete die Tür und trat ein.

Was ich dort allerdings Vorfand traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.
 

Ich spürte wie selbst Roland stockte, als er das Zimmer betrat. Ein beißender Geruch schlug uns entgegen.

Kurz ließ ich meinen Blick über meine zerrissenen DuallMonsters-Karten schweifen, dann wandte ich meine Augen zu dem zertrümmerten Kleiderschrank, in dem einst meine jetzt zum größten Teil zerstörte Kleidung gelegen hatte.
 

Meine Beine gaben unter mir nach.

Ich fiel auf die Knie und atmete tief ein und aus.

„Tut mir leid, Roland. Aber ich denke ich werde Kaibas T-Shirts noch weiterhin tragen müssen.“

Er sagte nichts dazu, sondern setzte sich in Bewegung um hier und dort etwas aufzuheben zu überprüfen und dann in den noch heilen Rucksack von Eastpack, den er unter dem Bett gefunden hatte, zu packen.

„Ein paar Sachen können wir noch mitnehmen.“, erklärte er.

Ich nickte, wandte mich zu dem Wäscheberg an meiner linken und griff nach dem erstbesten T-Shirt das noch heil aussah.

Die Ausbeute war nicht groß.

Meine Lieblingsjeans war heil geblieben. Ebenso zwei meiner T-Shirts und ein brauner Zipper, den ich mir erst vor wenigen Monaten von meinem letzten Geld gekauft hatte.

Eine meiner Schuluniformen war davon gekommen. Auch die packten wir in einen zweiten Rucksack.

Alle Schulbücher, die wir finden konnten und deren Seiten nicht komplett verbrannt, zerrissen oder bepinkelt worden waren sammelten wir ebenfalls ein.

Dann sahen wir unseren Auftrag als erfüllt an.

„Hast du sonst noch etwas hier in diesen Haus, das dir wichtig ist? Etwas was du mitnehmen möchtest?“

Kurz überlegte ich und stand dann auf.

„Ja…ich hatte mal einen kleinen Golden Retriever als Stofftier. Er hat ihn mir vor ein paar Jahren weggenommen und in seinem Schlafzimmer deponiert. Ich werde ihn suchen.“

Roland nickte und machte sich in der Zwischenzeit daran, die Rucksäcke zu schließen und sich über die Schultern zu werfen.

Natürlich war es für einen jungen Mann in meinem Alter ziemlich peinlich verzweifelt nach einem Stofftier zu suchen, doch er erinnerte mich so sehr an die Zeit damals, als unsere Familie noch eine Familie und das Verhältnis zu meinem Vater normal gewesen war, dass ich ihn gerne wieder in meine Arme schließen würde.

Nur um nicht zu vergessen, dass es auch schöne Zeiten in meiner Kindheit gegeben hatte.
 

Mit wenigen Schritten war ich am Schlafzimmer meines Vaters angekommen.

Die Tür war nur angelehnt und es fiel nur wenig Tageslicht durch die heruntergelassenen Jalousien herein.

Ich trat zögernd in das Zimmer, wandte mich zum Einbauschrank meines Vaters zu und öffnete die ersten zwei Türen. Es herrschte nicht viel Ordnung in dem Ungetüm und das Licht war nicht ausreichend genug.
 

Gerade als ich mich zum Lichtschalter drehen wollte, um für mehr Beleuchtung zu sorgen, spürte ich eine schnelle Bewegung hinter mir.

Jemand griff nach meinem Arm und riss mich zurück. Ich stolperte ein paar Schritte nach hinten, prallte mit dem Rücken gegen die Person hinter mir und streifte die Zimmerpflanze auf dem Fenstersims mit den Ellenbogen, welche polternd zu Boden fiel.

Erschrocken schnappte ich nach Luft, wollte schreien, doch eine Zweite Hand legte sich schnell auf meinen Mund. Ein übler Geruch, eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, Alkohol und abgestandenem Schweiß schlug mir entgegen und nahm mir den Atem.

„Hey Darling“, flüsterte mir eine raue, lauernde Stimme ins rechte Ohr.

Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Ein eiskalter Schauer fuhr mir über den Rücken.

Die Hand, die bisher meinen Arm festgehalten hatte löste sich und legte sich für einen Moment an meine Hüfte.

„Schön dich endlich wieder zu sehen“, flüsterte die Stimme und er lachte heißer.

Dann wanderte die Hand langsam und bedächtig über meinen Bauch zu meiner Brust und schlang sich dann mit einer Ruckartigen Bewegung um meinen Hals. Mein Herz hämmerte wie wild gegen meine Brust und ich musste all meinen Mut zusammen nehmen um mich endlich aus der Erstarrung zu lösen.
 

Ich schluckte mühsam, blendete die Angst und die Panik aus und versuchte mich mit einem Ruck zu befreien. Der Druck um meinen Hals verstärkte sich und ich spürte wie die wenige Luft in meinen Lungen schnell knapper wurde. Wieder versuchte ich mich loszureißen, doch mein Vater löste die Hand vor meinem Mund und umschlang mit dieser meinen Oberkörper um meine Arme zu fixieren.

Tränen schossen mir in die Augen, mir wurde Schwindlig.

„Joseph? Alles okay?“, ertönte schließlich Rolands Stimme aus meinem Zimmer.

„Keinen Mucks“, zischte mein Vater mir zu und verstärkte erneut seinen Griff um meinen Hals
 

Ich muss irgendwas tun!

Die Sauerstoffnot benebelte mich und ich konnte fast keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Doch da entdeckte ich den umgestoßenen Blumentopf auf den Boden.

Wenn ich…ja das könnte klappen.

Ich holte soweit wie möglich aus und kickte den Blumentopf mit voller Wucht gegen die Tür.

Aus dem Nebenzimmer waren schnelle Schritte zu hören, ein knacken ertönte und die Zimmertür wurde aufgestoßen.

„Keine Bewegung!“, rief Roland und zielte mit der Pistole direkt auf meine Brust.

Der Griff um meinen Hals lockerte sich einen Moment und ich konnte noch einmal tief Luft holen.

Ich spürte wie der Sauerstoff mich sofort belebte, holte erneut aus und trat meinem Vater mit aller Kraft auf den Fuß.

Er jaulte auf, ließ mich los und taumelte einen Schritt zurück. Roland war sofort zur stelle, riss mich zur Seite und stürzte sich auf meinen Vater um ihn niederzuschlagen.

Dieser war so betrunken dass er sofort in sich zusammensackte, als Roland ihn am linken Wangenknochen traf.
 

Meine Beine gaben nach und ich fiel auf die Knie.

Hustend versuchte ich so viel Sauerstoff wie möglich in meine Lungen zu pumpen.

Mein Hals schmerzte, doch ich konnte schlucken. Ich tastete zitternd meinen Hals ab konnte jedoch natürlich nichts finden.

Roland wandte sich zu mir um, kniete sich vor mich und hob meinen Kopf ein Stück an um den Handabdruck, den mein Vater mir verpasst hatte in Betracht zu nehmen.

„Kannst du schlucken?“

Ich nickte leicht.

„Rede mit mir.“

„Ja ich kann schlucken. Und atmen.“

Meine Stimme war heißer und das Sprechen bereitete mir leichte Halsschmerzen, doch es schienen laut Rolands Gesichtsausdruck keine bleibenden Schäden zu erwarten sein.

„In zwei, drei Stunden sind die Halsschmerzen sicher wieder weg. Es wird höchstens ein Blauer Fleck bleiben.“

Ich nickte und schloss die Augen. Dankbar ließ ich meinen Kopf an Rolands Schulter sinken.

„Tut mir leid.“, sagte er leise.

Verwirrt sah ich auf.

„Wir hätten vorher Überprüfen sollen, ob sich jemand in dieser Wohnung befindet. Und ich hätte schneller reagieren sollen.“

Ich schüttelte leicht mit dem Kopf.

„Die Wohnung sah verlassen aus. Machen Sie sich keinen Vorwurf. Es ist nicht ihre Schuld das mein Vater so ist…wie er ist…“

Roland legte mir einen Momentlang die Hand auf die Schulter.

Dann stand er auf und zog mich mit hoch in eine halbwegs stehende Position.

„Lass uns von hier verschwinden.“

Ich nickte leicht und folgte ihm aus dem Schlafzimmer, den Hund fest mit beiden Armen umklammert. Ich wusste, es sah albern aus, doch das interessierte mich herzlich wenig.
 

Wir fuhren auf direktem Wege zurück zu Kaibas Villa.

Ich wandte mich ohne viele Worte sofort zur Treppe und stieg die Stufen hoch zu meinem Zimmer. Dort legte ich mich ins Bett und wickelte mich fest in die Decke.

Mir war kalt und ich hatte immer noch ein wenig Panik, doch es war aushaltbar.

Seit wir die Villa betreten hatten, hatte ich die Angst wieder unter Kontrolle.
 

Nach kurzer Zeit klopfte es an der Tür.

Wenige Sekunden später trat Roland ein und setzte sich an meine Bettkante.

„Es tut mir leid, Joseph. Mir wird erst jetzt bewusst, welch dumme Idee es war, dich mitzunehmen. Es war noch zu früh.“

Ich nickte leicht, erwiderte jedoch nichts.

Stattdessen schloss ich die Augen. Ich war müde. Der Tag hatte mich wahnsinnig angestrengt.

Der Bodyguard fuhr mir sanft über die Schulter und wachte an meiner Seite, bis ich eingeschlafen war.
 

Ich erwachte erst am Abend.

Ich fühlte mich ausgelaugt und war trotz des vielen Schlafes immer noch müde. Trotzdem quälte ich mich aus dem Bett.

Dann ging ich zur Tür um mein Zimmer zu verlassen.

Ich wandte mich zur Treppe und stieg nach unten ins Erdgeschoss.

Als ich gerade die erstbeste Tür öffnen wollte, auf der Suche nach etwas Gesellschaft, kam eine Haushälterin herbeigelaufen und lächelte mich freudig an.

„Sir, bitte folgen Sie mir. Master Mokuba bat mich gerade nach Ihnen zu sehen. Er befindet sich zum Abendessen im Speisezimmer und würde Ihre Gesellschaft sehr zu schätzen wissen.“

Ich nickte ihr dankbar zu und folgte ihr in den Speisesaal.

Mokuba stieß einen freudigen Laut aus als er mich entdeckte.

„Joey! Schön dich zu sehen. Isst du mit mir? Es ist immer so langweilig alleine an diesem ellenlangen Tisch zu sitzen.“

Ich lächelte ihn leicht an.

„Ja. Wenn du das möchtest.“

„Natürlich möchte ich! Los Delia bring uns noch einen Teller und ein Messer!“

Die Haushälterin nickte lächelnd.

„Kommt sofort, Master Mokuba.“

Sie verschwand hinter einer der vielen Türen und kam wenig später mit einem Teller, Besteck und einem Glas wieder.

Sie stellte alles gegenüber von Mokubas Sitzplatz und gebot mir dann mich zu setzen.

Mokuba reichte mir sofort eins der Brötchen und schob mir die Butter herüber.

„Hier. Ich hoffe das ist okay. Das Abendessen ist zwar sehr westlich, aber wir schätzen deren Essgewohnheiten.“

Ich nickte, schmierte mir eine der Hälften und schenkte mir ein Glas Eistee ein.

Dann biss ich vorsichtig ein Stück ab, kaute langsam und gründlich und schluckte.

Es ging. Schmerzte nur wenig.

Roland hatte recht gehabt.
 

Das Abendessen mit Mokuba lenkte mich ab. Er erzählte mir wahnsinnig viel über die Schule, seine Freunde und seinen Ausflug in den Tiergarten. Es schien ihm gut zu tun mit jemandem zu reden und mir ging es genauso. Auch wenn ich lediglich zuhörte und selten etwas zu seinen Erzählungen beitrug war es ein gutes Gefühl die Einsamkeit einen Moment lang zu vergessen.

Als wir fertig waren zog er mich ins Wohnzimmer und zeigte mir seine neuesten Konsolenspiele. Ich lächelte als ich feststellte dass es fast ausschließlich Produkte der KaibaCorp waren.

Mokuba schlug vor einen Film anzusehen und ich stimmte ihm dankbar zu.

Er suchte einen etwas älteren Disneyfilm heraus. Er handelte von einer schönen Frau und einem Hässlichen Monster, die sich langsam ineinander verliebten.

Als ich Mokuba gestand, dass ich den Film nicht kannte, sah er mich verständnislos an.

„JEDER kennt den Film, Joey. Das ist ein Muss!“

Also wurde ich um eine Bildungslücke erleichtert und stellte fest, dass mir der Film gefiel.

Irgendwie erkannte ich Seto ein bisschen im Biest wieder. Nach außen hin der böse, kalte Geschäftsmann und in seinem inneren befand sich ein weicher Kern.

Sobald der Film zu Ende war kam Roland dazu und schickte Mokuba ins Bett. Dieser sträubte sich nicht lange und verschwand wenig später mit Roland an der Hand aus dem Raum.

Traurig lächelnd sah ich den Beiden nach.
 

Seufzend sah ich mich in dem großen, leeren, stillen Raum um und wickelte mich noch fester in die Decke, die ich um meine Schultern geschlungen hatte. Das Ereignis des Vormittags kam mir wieder in den Sinn. Mit leerem Blick starrte ich aus dem Fenster und dachte nach.
 

Die Einsamkeit umhüllte mich wieder mit ihren Fängen.
 

***
 

Das nächste Kapitel wird sicherlich bald folgen. :)Seto kam in diesem Kapitel eindeutig zu kurz.
 

Über einen Kommentar dazu wie es euch gefallen hat und über konstruktive Kritik freue ich mich sehr :)

Kapitel 14

Close the Door
 

Kapitel 14:
 

Die Einsamkeit kam zurück. Selbst das umfangreiche Fernsehprogramm konnte sie nicht davon abhalten mich nach und nach wieder zu übermannen.

Nach kurzer Zeit schaltete ich den Kasten aus. Ich zog meine Beine an und umschlang sie mit meinen Armen. Dann legte ich mein Kinn zwischen meine Knie und sah etwas verloren auf den ausgeschalteten Fernseher.
 

Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, bis sich die Tür erneut öffnete.

Statt wie erwartet Roland zu sehen, war es Seto der den Raum betrat.

Mit schnellen Schritten war er bei mir angekommen, setzte sich neben mich und hob schweigend mein Kinn ein Stück an um sich meinen Hals anzusehen.

Erleichtert, nichts außer einem kleinen Bluterguss auf der linken Seite zu entdecken, schloss er die Augen und lehnte seinen Kopf gegen mein rechtes Knie.

Etwas verwundert starrte ich in sein müdes Gesicht.

Er hatte dunkle Ränder unter den Augen und seine Wangen wirkten seltsam eingefallen.

Seto löste sich von mir, hob den Kopf und öffnete die müden Augen.

„Alles okay?“ fragte er mich leise.

Ich zuckte leicht mit den Schultern.

„Bin mir nicht sicher…“

Er nickte verständnisvoll und zog mich in seine warmen Arme.

Ich ließ es geschehen, wehrte mich nicht, fühlte mich aber auch nicht stark genug, die Umarmung zu erwidern.

„Es tut mir leid…“ flüsterte er leise.

Ich spürte dass er es ernst meinte.

„Es ist nicht deine Schuld.“, erklärte ich ohne großen Erfolg.

Er schob mich ein Stück zurück und sah mir in die Augen.

„Es war meine Idee. Ich habe nicht richtig nachgedacht.“

Ich lächelte leicht.

„Du und nicht nachdenken? Das passt nicht zusammen.“

Seto schmunzelte leise und zuckte mit den Schultern.

„Scheint so als wäre ich doch nicht Perfekt.“

Ich erwiderte nichts sondern lächelte nur still vor mich hin.

„Schön dich wieder Lächeln zu sehen.“ Bemerkte er und fuhr mir kurz durch die Haare.

„Du siehst müde aus.“

„Ich weiß. Aber ich muss noch ein paar Stunden arbeiten, bevor ich Schlafen kann.“

Ich schüttelte mit dem Kopf.

„Du hast heute genug gearbeitet.“

„Machst du mir etwa Vorschriften?“ fragte er und zog die linke Augenbraue ein Stück höher.

Er wirkte nicht verärgert, sondern eher belustigt.

„Natürlich ist es deine Entscheidung. Andererseits…wenn ich ehrlich bin dann…“

Ich brach ab. Wusste nicht wie ich mich ausdrücken sollte.

„Was ist?“ fragte er sanft nach.

„Ich…wäre im Moment nur ungern allein.“

Er nickte verstehend.

„Soll ich bei dir bleiben?“

Leicht zuckte ich mit den Schultern und wandte den Blick ab.

„Nur wenn du das möchtest.“

Er lächelte.

„Dann komm.“ Antwortete er lediglich und stand auf um nach oben zu gehen.
 

„Ich komme gleich.“ Erklärte Seto und öffnete eine Tür auf der rechten Seite des Ganges.

Ich ging stattdessen schon in mein Zimmer, zog die zu große Jeans aus und schlüpfte wieder in die bequeme Jogginghose.

Den Pulli streifte ich ebenfalls ab, dann legte ich mich in mein Bett und wartete.

Kurze Zeit später öffnete sich die Tür leise und Seto trat ein. Er hatte sich umgezogen und trug nun ein weißes T-Shirt und eine schwarze Jogginghose wie ich.

Er löschte das Licht und trat leise zum Bett. Er legte sich neben mich und deckte sich zu.
 

--
 

Mir war kalt.

Und ich wusste nur wenige Zentimeter von mir entfernt, lag eine wunderbare, weiche und bequeme Wärmequelle. Doch im Moment traute ich mich nicht einmal mich zu ihr um zudrehen.

Es verging bestimmt eine halbe Stunde bevor ich mich zumindest schon einmal auf den Rücken drehte. Kurz schielte ich zu Seto. Dieser lag ebenfalls auf den Rücken und hatte einen Arm unter seinen Kopf gelegt.

Ob das Kissen ihm wohl nicht hoch genug war?

Seine Augen waren geschlossen, doch ich wusste dass er noch nicht schlief.

Er schien genauso wie ich wach zu liegen.
 

An was er wohl dachte?

Vielleicht an die versäumte Arbeit, oder seinen Bruder den er heute höchstens zum Frühstück gesehen hatte. Oder dachte er vielleicht an die Schule? Ob dort etwas vorgefallen war?

Vielleicht dachte er aber auch über das nach, was Roland und mir heute zugestoßen war.

Ob er wohl immer noch die Schuld bei sich suchte?

Wer weiß, wahrscheinlich hat er das ganze längst wieder vergessen…

Nein…

Das glaubte ich nicht wirklich.

Warum sonst, hätte er mich vorhin in den Arm nehmen sollen? Und weshalb hätte er mich so besorgt gemustert, wenn der Vorfall mit meinem Vater ihm nicht nahe gehen würde?

Aber was, wenn er mir das nur vorgespielt hatte? Um mein Vertrauen zu gewinnen?

Was ist, wenn das alles nur ein Spiel ist?

Er mir eigentlich gar nicht helfen möchte?
 

Kurz schüttelte ich mit dem Kopf.

Du verstrickst dich nur wieder in endlose Gedankenstrudel, aus denen du ohne Hilfe nicht herauskommst, dachte ich über mich selbst.

Doch irgendwie wollten die Zweifel nicht weichen.
 

Das Gespräch vom Vortag kam mir in den Sinn. Meine sehr direkte Frage, was er für mich empfand.

Seine ausweichende Antwort darauf…
 

Was erwartete ich eigentlich von Seto Kaiba?

Nur weil ich hier wohnte und er sich um mich sorgte, hieß das noch lange nicht, dass er mich liebte.

Ich meine, okay, er sagte, er würde niemanden bei sich aufnehmen, den er hasste.

Doch nur weil er mich nicht hasste, bedeutete das nicht, dass er mich mochte.
 

Was machte ich hier eigentlich?

Ich wohnte bei einem Klassenkameraden, der rein zufällig der reichste Typ der Stadt ist und der mich Jahrelang in der Schule fertig gemacht hat.

Für ihn war ich doch immer nur der Straßenköter gewesen, der sich wohl mal wieder im Dreck gewälzt hatte, oder das Stöckchen nicht fand.

Egal was ich getan hatte, ob ich nun gute oder schlechte Noten geschrieben hatte, ob ich nun geschwänzt oder zur Schule gegangen war…ob ich freundlich oder unfreundlich gewesen war…er hatte immer nur eine abfällige Bemerkung dazu fallen lassen…
 

Und jetzt sollte sich das verändert haben?

Nur, weil er unglücklicherweise erfahren hatte, was für ein Leben ich bei meinem Vater führen musste…
 

War das wirklich alles echt? Oder lebte ich in einer Traumwelt, die ich mir so zu Recht gesponnen hatte, wie es mir gerade in den Kram passte?!

Waren meine Interpretationen von Seto Kaibas Verhalten so abwegig? Oder war das hier tatsächlich die Wirklichkeit und ich war einfach nicht in der Lage sie zu erkennen?

Lag es an meinem fehlenden Vertrauen?

Oder vertraute ich Seto schon viel zu sehr…
 

Mir schwirrte der Kopf.

Das alles war zu viel für mich…

Also tat ich das einzige, was ich in meiner momentanen Situation noch konnte.

Ich schaltete auf Flucht.
 

Mit einem Ruck setzte ich mich auf, schwang die Beine aus dem Bett und flüchtete ins Bad. Ich schloss die Tür hinter mir und wankte zum Waschbecken. Ich schaltete das Wasser auf eiskalt und schöpfte mir eine Handvoll ins Gesicht.

Es half.

Mein Puls beruhigte sich und das Durcheinander in meinem Kopf nahm ab.
 

Lange dauerte es nicht, bis ich im Nebenraum gedämpfte Schritte hörte, die sich langsam der Badezimmertür näherten.

Seto klopfte leise an die Tür.

„Joseph? Was ist los? Alles okay?“, fragte er leise.

Schweigend ließ ich mich auf den Rand der Badewanne sinken und stützte die Ellenbogen auf meinen Knien ab. Dann legte ich meinen Kopf auf die angewinkelten Arme und schloss die Augen.

„Joseph…“, ertönte erneut Setos Stimme.

Wieder reagierte ich nicht.

Der Herr des Hauses nahm sich mein Verhalten zum Anlass, das Bad ohne meine Erlaubnis zu betreten.

„Was ist mit dir?“ fragte er erneut, als er mich entdeckte.
 

Ich schwieg weiterhin, konnte das, was in meinem Kopf vorging sowieso nicht in Worte fassen.

„Hey…“, sagte Seto sanft und setzte sich mir gegenüber auf den herunter geklappten Klodeckel.

„Willst du deine Ruhe? Soll ich gehen? Ist alles Okay?“

„Ich denke nicht…“ antwortete ich schließlich leise.

Er nickte.

„Willst du darüber reden?“

„Ich bin mir nicht sicher.“

„Um was geht es denn?“

„Um alles? Um nichts? Sag du mir doch um was es hier geht?!“

Mit zusammengebissenen Zähnen sah ich ihn an.

Er runzelte verwirrt die Stirn.

„Ich verstehe nicht.“

Unruhig stand ich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und wich seinem Blick aus.

„Ich kann das nicht mehr, Seto…“

„Was meinst du?“

Er stand ebenfalls langsam auf und sah mich fragend an.

„Ich verstehe das alles nicht! Ich verstehe diese Situation nicht! Und dich verstehe ich überhaupt nicht!“, klagte ich und sah ihn halb verzweifelt, halb wütend an.

Seto wirkte wie die Ruhe selbst. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen seiner Jogginghose. Selbst in diesem Outfit sah er noch aus wie der unnahbare Geschäftsmann.

„Was genau an dieser Situation verstehst du nicht?“, fragte er leise.

„Was verdammt noch mal soll ich hier! Warum bin ich überhaupt hier? Warum hast du mich nicht liegen lassen? Keiner hat dich gebeten mich zu retten! Du kannst mir ja nicht mal erklären, warum du mich aus diesem Loch heraus geholt hast?!“, schrie ich ihn an und trat wütend gegen den Behälter der Klobürste. Polternd fiel dieser um und landete scheppernd in der Ecke.

Seto betrachtete meinen Wutausbruch mit unbewegter Miene.

Gerade in diesem Moment erinnerte er mich wahnsinnig stark an den Seto Kaiba, den ich kennen gelernt hatte.

Würde es immer so weiter gehen? Würde ich immer zwischen den Wolken schweben und nicht wissen, ob er nun der kalte, unberechenbare Geschäftsmann, oder der liebevolle, fürsorgliche Freund war?

„Joseph…“, begann Seto doch ich unterbrach ihn zornig.

„Ich will es nicht hören!“

Er nickte und schwieg.

Sah mich abwartend an.

Seine Reaktion verblüffte mich. Verwirrt erwiderte ich seinen Blick.

Spürte wie die Wut genauso schnell verflog wie sie gekommen war.

Mit einem Mal fühlte ich mich unheimlich schlecht…

Ich hatte ihn angeschrien…warum hatte ich das getan?

Meine Beine gaben nach. Kraftlos fiel ich auf die Knie.

Meine Schultern sackten herab.

Ich senkte meinen Kopf nach unten. Starrte zu Boden.

Seto kniete sich neben mich und sah mich abwartend an.
 

Vielleicht war es an der Zeit endlich den ersten Schritt in seine Richtung zu wagen, ging es mir durch den Kopf während ich bewegungslos zu Boden starrte und seine Beine in meinem Blickfeld wahrnahm.

Vielleicht sollte ich nun endlich reden, ihm mein Vertrauen zeigen.
 

Denn eigentlich war es egal wie er reagieren würde. Selbst wenn er der ganzen Welt von meinen Problemen erzählen würde, wäre es mir egal.

Es gab für mich nur noch zwei Möglichkeiten.
 

Er oder Nichts.
 

Ich hatte nicht mehr die Kraft allein zu kämpfen. Und er war der einzige der bereit war diesen Kampf mit mir gemeinsam zu bestreiten.
 

Also redete ich…und er hörte zu…
 

„Meine Eltern…liebten sich früher sehr und sie liebten mich...“, flüsterte ich leise.

Ich ließ mich nach hinten sinken und lehnte mich an die kalte Badewanne. Die Kühle der Kacheln in meinem Rücken tat meinem erhitzten Körper gut.

„Meine Schwester…sie ist zwei Jahre jünger als ich, war unser aller Nesthäkchen.

Ich wusste das sowohl meine Mutter als auch mein Vater sie über alles liebten, wahrscheinlich mehr liebten als mich, doch das störte mich nie. Denn auch ich verehrte sie abgöttisch…

Als ich eingeschult wurde, fingen die Probleme an…Mein Vater verlor seine Festanstellung und fing an zu jobben. Oft wussten meine Eltern nicht, ob sie die Miete des nächsten Monats bezahlen konnten oder nicht. Meine Mutter nahm einen Nebenjob in einem Bistro an, um wenigstens für ein Festgehalt zu sorgen. Doch das Geld reichte fast nie…

Mein Vater wurde krank, zwei Bandscheibenvorfälle innerhalb eines halben Jahres…er konnte monatelang nicht arbeiten und oft trank er Alkohol um die Schmerzen zu vergessen.

Meine Mutter war überfordert. Ein gerade eingeschultes Kind, ein zweites, das den Kindergarten besuchte, einen kranken Ehemann, der Job…

Sie veränderten sich, alle beide.“
 

Ich unterbrach mich. Schluckte den Kloß in meinem Hals runter und versuchte mich auf meine Worte zu konzentrieren.

Ich lehnte meinen Kopf nach hinten an den Rand der Wanne und schloss die Augen.
 

„Es fing an, ein Jahr nach der Trennung…ich war elf. Meine Mutter war weg, meine Schwester ebenfalls. Die letzten Worte meiner Mutter…die willst du nicht hören…

Mein Vater verkraftete die Situation nicht. Er verfiel mehr denn je dem Alkohol. Und wurde aggressiv.

Am Anfang waren es nur Gegenstände, die zu Bruch gingen. Eine zerbrochene Tasse, ein kaputter Holzstuhl…später eine eingetretene Tür…

Dann war es Mika…unsere Katze…Sie war Schwanger. Als er es bemerkte, ertrank er sie in der Badewanne und schmiss sie achtlos aus dem Fenster.

Ich werde dieses Bild wahrscheinlich nie vergessen.

Und dann…

Richtete er die Gewalt gegen mich…

Es fing mit Ohrfeigen an und endete mit einem Krankenhausaufenthalt. Zumindest dachte ich das. Weißt du noch, als ich vor zwei Jahren vier Wochen gefehlt habe? Da war ich im Hospital. Gebrochenes Handgelenk, schwere Gehirnerschütterung, Schürfwunden am ganzen Körper. Danach hatte ich ein paar Monate Ruhe vor ihm. Er machte einen Entzug, kam nach sechs Wochen angeblich geheilt wieder. Es hielt nur 8 Wochen.

Dann bekam er einen Anruf von meiner Mutter.

Und es fing alles von vorne an…

Bis jetzt.

Weißt du noch, als du mich vor einem halben Jahr gefragt hast ob ich mich an meinem Knochen geschnitten habe, als ich mit dieser hässlichen Wunde an der linken Schulter im Sportunterricht auftauchte?

Es war kein Knochen.

Sondern sein Klappmesser.

Er hatte eine zeit lang viel Spaß damit. Als er jedoch dem Hausarzt erklären musste, woher diese Schnittwunde an meiner Schulter kam, fühlte er sich bedrängt, behauptete etwas von einem Unfall und verstaute das Messer in seinem Schrank…

Es ist eigentlich egal, ob er das Messer benutzte, ob er den Schlüsselbund nahm, oder mit den bloßen Fäusten zuschlug…es spielte auch keine Rolle für ihn, warum er es tat.

Irgendeinen Grund fand er immer.

Und ich nahm es in Kauf.

Aus Angst.

Aufgrund meiner Machtlosigkeit, meiner körperlichen Schwäche…

Du weißt nicht wie oft ich schon darüber nachgedacht habe, das ganze einfach zu beenden. Was denkst du, warum ich immer der erste war, der bei irgendwelchen riskanten Streichen sofort „Hier, Hier!“ rief?

Ich schrie nach Hilfe. Wollte raus aus diesem verdammten Loch.

Es war mir egal wie.

Ob ich im Knast landen würde, ins Heim müsste, oder einfach…na ja…nicht mehr da wäre...“

Kurz unterbrach ich mich, hing meinen Gedanken zu der damaligen Zeit nach…

Ich war wirklich unverantwortlich gewesen. Hatte mehr Glück im Unglück gehabt.
 

„Das einzige was ich nicht konnte, war meinen Vater verraten. Oder aussprechen was er mit mir tat. Ich konnte es nicht sagen…selbst wenn ich es wollte…ich konnte nicht darüber reden…So blöd das auch klingt!“

Verzweifelt sah ich ihn an. Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln.
 

„Ich verstehe das nicht…warum gerade du? Du bist der erste Mensch auf dieser gottverlassenen Welt, dem ich das alles erzählt habe…dabei…ist es nicht mal so das du mich magst.

Okay…du hasst mich nicht, das hast du selbst gesagt. Aber zu mögen scheinst du mich auch nicht. Zumindest konntest du mir nicht sagen, was du fühlst! Was ist so schwer daran, mich gern zu haben, Seto? Sag es mir! Was stört diese Welt an mir?? Was stört DICH so sehr an mir? Sind es meine Haare? Ist es mein Aussehen? Oder mein Charakter? Bin ich ein schlechter Mensch? Erkläre es mir! Was mache ich falsch??“

Die letzten Worte hatte ich geschrien.

Tränen liefen mir über meine Wangen.

Ich vergrub mein Gesicht zwischen meinen Händen und schluchzte leise auf.

In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so vielen Emotionen freien lauf gelassen.

Doch mit diesem Ausbruch, der mich auf der einen Seite in ein tiefes Chaos der Gefühle stürzte, auf der anderen Seite mir gut tat, mir Erleichterung in meinem Inneren verschaffte, erreichte ich in diesem Moment etwas, was ich nie erwartet hätte zu verspüren.
 

Der Druck in meinem Inneren, der sich in den letzten Jahren nach und nach aufgestaut hatte, verschwand.

Ich fühlte mich zwar zu diesem Zeitpunkt wirklich scheiße! Doch andererseits verspürte ich ein Gefühl der Freiheit in mir.

Tief atmete ich durch.
 

Ich spürte wie Seto sich mir näherte.

Sanft nahm er mir die Hände vom Gesicht.

Er sah mir tief in die Augen. Ich sah Wärme darin, eine wohlige Wärme, doch auch Verwirrung, Unsicherheit, vielleicht sogar ein bisschen Angst.

Ich erwiderte seinen Blick und spürte, wie das Chaos in meinem Inneren sich für einen Moment legte.

Seto ließ meine Finger los. Hob die Hände, führte sie zu meinem Gesicht, strich mir links und rechts kurz über die Wangen, fuhr mit der rechten durch mein Haar zu meinem Nacken und verharrte mit der linken an meinem Ohr.

Langsam zog er mich ein Stück näher zu sich heran.

Immer noch sahen wir uns in die Augen, fixierten den Gegenüber mit unserem Blick. Versuchten unsere Gefühle durch unsere Augen auszudrücken, um dem anderen das eigene Verhalten zu erklären.

Ohne Worte näherte sich Seto weiterhin meinem Gesicht.

Sein Ausdruck veränderte sich. Ich entdeckte unheimlich viel Zuneigung in seinem Blick, Wärme und Geborgenheit.

Ich verlor mich vollkommen in diesen tiefblauen Seen.
 

Seto überwand die letzte Distanz, schloss die Augen und küsste mich.

Sanft drückte er seine Lippen gegen meine, streichelte mit der rechten meinen Nacken und zog mich vorsichtig ein Stück näher zu sich heran. Eine Gänsehaut breitete sich dort aus, wo er mich mit seinen Fingerspitzen berührte.

Er intensivierte den Kuss, strich mit seiner Zunge leicht über meine Lippen und erbat Einlass.

Ich schloss ebenfalls meine Augen, ließ mich fallen. Ich öffnete meinen Mund einen Spalt breit, spürte seine Zunge, die langsam meinen Mund erkundete und gleichzeitig seine Hände, die mich näher an ihn zogen.

Eine angenehme Wärme breitete sich in meinem Inneren aus. Noch nie hatte ich mich so Sicher und Geborgen gefühlt wie in diesem Moment, wo seine Lippen die Meinen berührten.

Mein Puls beschleunigte sich und ich spürte meinen Herzschlag in der Brust.
 

Plötzlich löste er sich ruckartig von mir. Verwirrt öffnete ich die Augen wieder und sah ihn fragend an.

Er zog die Hände zurück und machte ein Gesicht als hätte er sich an mir verbrannt. Erschrocken weiteten sich seine Augen, Erkenntnis spiegelte sich in ihnen wieder.

Unsicher wich ich ebenfalls ein Stück zurück und versuchte seine Haltung zu verstehen.

„Was…ist?“ fragte ich leise mit zitternder Stimme.

Er wich meinem Blick aus und sprang auf. Mit wenigen Schritten war er an der Tür angelangt, legte die Hand auf die Türklinke und verharrte einen Moment in dieser Position. Dann wandte er sich halb zu mir um und antwortete leise, kaum hörbar: „Tut mir leid. Das wollte ich nicht.“

Ohne mich noch einmal anzusehen verschwand er aus dem Raum.

Kapitel 15

Close the Door
 

Kapitel 15
 


 

Geschockt sah ich ihm nach.

Mit schnellen Schritten war er aus dem Bad und somit aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich hörte die Zimmertür auf gehen und wenige Sekunden später zuschlagen.
 

Nur langsam realisierte ich die Situation. Er hatte mich geküsst.

Und war dann fluchtartig verschwunden. Hatte er sein Tun bereut?

Warum…hatte er es dann überhaupt getan?
 

Unruhig stand ich auf und wandte mich zu meinem Zimmer, sah auf die verschlossene Tür und fühlte mich mit einem mal einsamer den je.
 

Vielleicht war es eine Kurzschlussreaktion gewesen?

Ich hatte geschrieen, ihn angefleht mir zu sagen, warum mich niemand mochte…hatte ich ihn damit bedrängt? Hatte er es deshalb getan?

Und jetzt war es ihm unangenehm, weil er es nicht beabsichtigt hatte. Er es nicht wollte. Weil es ein Fehler war. Er kein Interesse an mir hatte…
 

Verwirrt setzte ich mich auf den Rand meines Himmelbettes und versuchte die letzten Geschehnisse einfach zu vergessen. Ich wollte es verdrängen. Schnell in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses verbannen. Bereits wenige Minuten später merkte ich, dass ich keine Chance hatte. Es funktionierte nicht. Ich konnte es nicht ignorieren.

Meine Hände zitterten, mein Puls raste und es lief mir eiskalt den Rücken runter. Ich verstand es nicht. Was war plötzlich los?
 

Was sollte ich denn jetzt tun? Ich hatte ihm alles erzählt, ihm mein Herz geöffnet. Ihm mein Vertrauen geschenkt. Er hatte mich geküsst und war dann verschwunden. Ich dachte an seinen Gesichtsausdruck als er aufstand um den Raum zu verlassen…

Nannte man das Vertrauen? Was sollte das sein? Eine Freundschaft?

Sicher nicht.
 

Unruhig stand ich auf. Egal von welcher Seite ich es betrachtete im Moment konnte ich nur eins tun. Mir blieb nur eine Möglichkeit. Hier konnte ich nicht bleiben. Keine Minute länger würde ich es hier aushalten…zumindest nicht unter diesen Umständen.
 

Ich griff nach der Jeans, die ich schon am Nachmittag getragen hatte und schlüpfte schnell hinein. Suchend sah ich mich im Zimmer um, entdeckte meine Rucksäcke neben der Tür und durchsuchte beide nach meiner Sommerjacke. Schnell zog ich sie mir an, griff nach den Rucksäcken und horchte mit klopfendem Herzen an der Zimmertür.
 

Als ich nichts vernahm öffnete ich leise die Tür und schlich mich raus. Aus dem Büro Setos hörte ich eine Tastatur klappern. Er schien zu arbeiten.

Ich schluckte, biss die Zähne zusammen und atmete einmal tief durch. Egal was wird und egal was war, ich musste hier weg. Also keine Gefühlsausbrüche oder emotionale Tiefflüge, Joey, warnte ich mich selbst in Gedanken und wandte mich zur Treppe.
 

Vorsichtig nahm ich eine Stufe nach der anderen und war Seto in diesem Moment unheimlich dankbar dafür, dass keine von ihnen knarrte.

Unten angekommen suchte ich nach meinen Schuhen, fand sie schließlich im Wandschrank und schlüpfte schnell hinein. Gerade als ich die Tür aufstoßen wollte, packte mich jemand hart an der Schulter.

„Nicht so schnell, Kleiner!“, ertönte Rolands Stimme hinter mir und ich zuckte erschrocken zusammen. Meine Rucksäcke rutschten von meiner Schulter und landeten mit einem dumpfen Laut auf dem hellen Steinboden.

Schnell wandte ich mich um und riss mich los.

„Kannst du mir erklären, was das hier soll?“ fragte er lautstark.

Er wirkte wütend. Roland trug nur ein T-Shirt und Boxershorts und sah eindeutig übernächtigt aus. Die Ringe unter seinen Augen ließen nicht gerade auf die beste Laune schließen.

„Ich verschwinde.“, erklärte ich leise und wollte mich erneut zur Tür wenden, doch er packte mich am Arm und hielt mich eisern fest.

„Nicht bevor ich weiß warum und wohin!“, erwiderte er zornig.

„Roland lassen sie mich los!“, entgegnete ich ebenso wütend und zerrte an meinem Arm. Verdammt musste der Kerl so stark sein?

„Ich warte.“

„Ich verschwinde eben! Warum kann Ihnen egal sein. Und wohin ebenfalls!“

„Es ist mir aber nicht egal! Also antworte mir.“

„Einen Scheiß werde ich tun!“, zischte ich und stieß ihn zurück.

Überrascht stolperte er einen Schritt zurück und ließ meinen Arm reflexartig los.

Ich nutzte den Augenblick, riss die Tür auf und verschwand.
 

Roland fluchte laut, doch ich ignorierte ihn geflissentlich.

Ich joggte zum Ende der Auffahrt, beschleunigte kurz vor dem Tor meine Schritte und stieß mich mit dem linken Bein vom Kiesboden ab.

Mit beiden Händen erreichte ich das obere Ende des massiven, eisernen Metalls und zog mich mit zusammengebissenen Zähnen nach oben.

Meine geprellten Rippen schmerzten und die Kraft in meinen Gliedern war noch nicht vollständig wiederhergestellt.

Die Erkältung hatte mich ziemlich geschlaucht.

Ich kletterte über die Metallvorrichtung und sprang.

Ein stechender Schmerz durchfuhr mein rechtes Fußgelenk, sobald ich den Boden erreichte.

„Fuck!“, fluchte ich leise, biss die Zähne zusammen und kam wieder auf die Beine.

Humpelnd überquerte ich die Straße und versuchte trotz der Schmerzen mein Tempo zu erhöhen. Schnell ging ich im Kopf mögliche Fluchtwege durch und erinnerte mich dann an das versteckte U-Bahnschild nur wenige hundert Meter von hier.

Kurz nach der ersten Kreuzung vernahm ich hinter mir das Rattern und Quietschen des Tores, das sich langsam öffnete.

Ein Motor heulte auf.

Verdammt!

Verzweifelt beschleunigte ich meine Schritte so gut es ging und bog nach rechts ab. Erleichtert erkannte ich am Ende der Straße das blaue U-Bahnschild.
 

Genau in dem Moment, in dem mich die Scheinwerfer der schwarzen Limousine erfassten, wankte ich die Treppen zur U-Bahnstation hinab.

Der Schmerz in meinem Fußgelenk verschlimmerte sich mit jedem weiteren Schritt.

Ich hoffte sehr, dass es nicht gebrochen war.

Das konnte ich mir jetzt erst recht nicht leisten.

„Joseph, verdammt noch mal bleib stehen!“, schrie Roland hinter mir aus dem schwarzen Wagen der mit quietschenden Reifen vor der Treppe zum halten kam.

Ich ignorierte ihn geflissentlich, kletterte über die Absperrung und humpelte die Rolltreppe runter.
 

Ausnahmsweise hatte ich an diesem Abend einmal Glück.

Die U-Bahn schloss gerade die Türen, als ich bei ihr ankam. Schnell schlüpfte ich ins Innere und drehte mich zu meinem Verfolger um. Roland war nur wenige Meter hinter mir gewesen.

Die Bahn fuhr langsam an, als er die Türen erreichte.

Fluchend schlug er mit der flachen Hand gegen die Verglasung und sah dem Zug verärgert nach.
 

Ich ließ mich erleichtert auf einen der leeren Sitze fallen und versuchte erstmal wieder zu Atem zu kommen.

So ein kurzer Spurt war anstrengender als man dachte.

Vor allem mit zwei geprellten Rippen und einem vermutlich verstauchten Fuß.

Sobald sich mein Puls etwas beruhigt hatte, zog ich das rechte Bein an und schlüpfte aus dem Schuh.
 

Der Fuß war noch nicht geschwollen und beim Abtasten verspürte ich keinen wesentlichen Schmerz.

Es schien nicht gebrochen.

Das ließ sich zwar mit Sicherheit erst morgen sagen, doch ich war zuversichtlich.

Bisher hatte es sich immer anders angefühlt, wenn ich mir etwas gebrochen hatte.

Und der Schmerz war auch anders gewesen…
 

Seufzend schlüpfte ich wieder in den Turnschuh und lehnte mich nach hinten. Ich ließ meinen Kopf gegen die Scheibe sinken und beobachtete die vorbeirauschenden Lichter des Tunnels, den wir durchfuhren.
 

Und jetzt?

Wo sollte ich jetzt hin?

Welche Möglichkeiten blieben mir überhaupt?
 

Als ich die Situation in der ich mich befand nun analysierte, lief es mir eiskalt den Rücken runter.

Ich hatte kein Geld.

Meine wenigen Habseligkeiten lagen wahrscheinlich immer noch in Kaibas Flur. Alles was ich jetzt noch besaß trug ich am Körper.

Verzweifelt kramte ich in den Taschen der Jeans, die ich trug. Das einzige was ich zu Tage beförderte waren eine angebrochene Packung Tempos und ein Haustürschlüssel.

Es war der meines Vaters…
 

**
 

Hatte ich überhaupt eine Wahl?
 

Diese Frage stellte ich mir zirka Eintausend Mal, während ich langsam den Weg zur Wohnung meines Vaters einschlug.

Ich hatte die U-Bahn bis zur Stadtmitte genommen und war jetzt seit zirka zehn Minuten zu Fuß unterwegs. Mein Fuß bereitete mir immer noch Probleme, doch der Schmerz war nichts im Vergleich zu dem Gefühlschaos das in mir herrschte.

Die Temperaturen waren diese Nacht wieder gefallen und der Wind war eisig. Ich trug lediglich meine dünne Sommerjacke. Wenn ich die Nacht draußen verbringe, hole ich mir mit Sicherheit den Tod, dachte ich verbissen.

Zu einem meiner so genannten Freunde konnte ich nicht gehen. Zu viele Fragen würden im Raum stehen und ich war nicht gewillt auf diese eine zufrieden stellende Antwort zu geben.

Und zurück zu Kaiba? Nein…sicher nicht!
 

Auch wenn allein die Vorstellung in wenigen Minuten meinem Vater gegenüber zu stehen mir Übelkeit bereitete…ich hatte keine andere Wahl.

Dies war der einzige Ort, der mir jetzt noch blieb.
 

Erneut hatte ich Glück.

Mein Vater war an diesem Abend so nüchtern wie seit seinem letzten Entzug nicht mehr.

Als er die Tür hörte, trat er in den Flur und lehnte sich mit verschränkten Armen vor der Brust gegen die Wand.

Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir.

Er sah mich abwartend an.

Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und trat einen Schritt auf ihn zu. Dann blieb ich stehen und erwiderte den Blick. Wappnete mich innerlich auf alles was nun kommen würde.

„Du bist also wieder da.“, stellte er fest.

Sein Ton war gelassen. Er wirkte nicht einmal verärgert.

Auf seiner Linken Wange prangerte ein großer, bläulicher Bluterguss.

Ich schluckte.

„Ja…“, erwiderte ich und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

„Wo warst du?“

„Bei einem Freund.“

„Hast du morgen Schule?“

Ich nickte.

„Dann geh ins Bett. Ich will nicht, dass du sie wieder versäumst.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zurück ins Wohnzimmer.

Ich sah ihm verwirrt nach.

Keine Prügel? Kein: „was fällt dir ein?“

Sondern lediglich ein: „Geh ins Bett damit du die Schule nicht versäumst“?

Leicht schüttelte ich den Kopf, wandte mich zu meiner Zimmertür und trat durch den Raum.

Was ich dort sah verwirrte und überraschte mich noch mehr.

Weder zerrissene Kleidung, noch kaputte persönliche Gegenstände lagen auf dem Boden.

Alles war schön säuberlich in zwei große Mülltüten verpackt, die links neben dem Schreibtisch standen.

Der Geruch, der mir noch am Morgen entgegen geschlagen war, war verschwunden. Stattdessen fand ich mein Bett frisch bezogen und mit einem Stapel frisch gewaschener Kleidung versehen.

Kurz sah ich die Kleidung durch. Meine zweite Schuluniform befand sich darunter, ebenso wie zwei T-Shirts, einer Jeans und einem dunkelblauen Kapuzenpulli.

Verunsichert griff ich nach dem Pullover und roch daran. Tatsächlich. Er roch nach Waschmittel.

Langsam wandte ich mich um, den Pullover immer noch in den Händen. Ich humpelte ins Wohnzimmer und sah meinen Vater der auf der Couch saß und Fern sah.

„Danke…“, sagte ich leise und deutete auf den Pullover.

Er sah auf, erwiderte kurz den Blick und nickte dann.

Ich drehte mich um, ging zurück in mein Zimmer und verstaute die Kleidung in dem, was von meinem Kleiderschrank noch übrig war.

Dann schloss ich die Tür, zog mich bis auf T-Shirt und Boxershorts aus und legte mich ins Bett.

Nachdem ich mir den Wecker auf meinem Nachtkästchen gestellt hatte, drehte ich mich auf die Seite und schlief trotz der ereignisreichen Nacht fast augenblicklich ein.
 

Am Morgen erwachte ich noch vor dem Weckerklingeln.

Müde rieb ich mir über die Augen und setzte mich dann auf. Kurz untersuchte ich meinen Fuß. Dieser war nur leicht geschwollen. Es gab keine Anzeichen für eine ernste Verletzung.

Ich stand auf und versuchte aufzutreten.

Es ging. Schmerzte nur wenig.

Erleichtert ging ich zum Schrank, holte eines der T-Shirts, Boxershorts und die Schuluniform heraus und trat dann aus meinem Zimmer um im Bad schnell zu duschen.
 

Nach zehn Minuten war ich fertig. Ich ging in die Küche und suchte nach etwas Essbarem. Ich fand ein Stück Brot im Brotkasten und biss hinein. Schien noch gut zu sein. War nur etwas trocken.

Die Tür zum Schlafzimmer meines Vaters öffnete sich. Er kam heraus, rieb sich müde über die Augen und trat auf mich zu. Meine Muskeln spannten sich automatisch und ich wich einen Schritt zurück.

Doch er griff lediglich nach seinem Geldbeutel, der neben mir auf der Theke lag und holte ein paar Scheine heraus.

„Geh nach der Schule noch einkaufen. Wir haben nichts mehr zu essen.“

Ich nickte und nahm das Geld an.

Er drehte sich schweigend um und ging wieder zurück in sein Zimmer.

Verwirrt sah ich auf das Geld in meinen Händen.

Ich wusste nicht, was mit meinem Vater los war, doch ich war mir Sicher, dieser Zustand würde nicht ewig anhalten.

Doch ich sollte die Zeit wohl so lange wie möglich genießen, in der mein Vater kein brutales, versoffenes Arschloch war, der seinem Ärger freien lauf ließ, sobald er mich entdeckte.
 

Ich trat in den Flur, zog mir meine Schuhe an und schlüpfte in meine Schwarze Jacke. Dann steckte ich das Geld ein, griff nach meinem Schlüssel und trat aus der Wohnung.

Ich zog die Tür hinter mir zu und ging langsam die Treppe runter.
 

Gemütlich machte ich mich auf den Weg zur Schule.

Ich hatte Zeit und wollte nicht unbedingt früher als notwendig in der Schule auftauchen, wusste ich doch, das Seto Kaiba grundsätzlich als erster vor Ort war.

Ich vergrub die Hände in den Hosentaschen und seufzte leise.

Wie sollte ich ihm heute gegenüber treten? Sollte ich ihn um eine Erklärung bitten? Wollte ich diese überhaupt hören?

Nein…nicht wirklich…

Im Moment schien mir alles egal zu sein…
 

Als ich an der Schule ankam, ließ ich mich wie immer in den letzten Monaten von dem Strom ins Innere mitziehen und wandte mich dann zu unserem Klassenzimmer. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es in zirka zwei Minuten zum Unterrichtsbeginn klingeln würde.

Das war in Ordnung.
 

Nachdem die meisten das Klassenzimmer betreten hatten, wagte ich mich auch endlich hinein. Ich steuerte ohne mich umzusehen meinen Platz in der vorletzten Reihe an.

Als ich meinen Rucksack auf dem Tisch erkannte, ließ ich mir nichts von meiner Überraschung anmerken.

Ohne mit der Wimper zu zucken setzte ich mich auf meinen Stuhl und nahm den Rucksack auf meine Beine.

Ich öffnete ihn und entdeckte einen Block, zwei Kugelschreiber mit dem KC-Logo und meine Schulbücher darin.

Ich griff nach dem Mathematikbuch, das wir gleich benötigen würden und holte den Block und einen der Kugelschreiber aus dem Rucksack.

Dann stellte ich diesen neben meinen Stuhl und lehnte mich zurück.

Kurz schielte ich auf den Platz, in der letzten Reihe, zwei Plätze weiter rechts, von meinem aus betrachtet.

Kaiba schloss gerade sein Notebook und griff nach der Tasche um ihn darin zu verstauen.

Als er sich nach unten beugte, sah er kurz zu mir nach vorn. Schnell wandte ich den Blick ab und fixierte die Tafel am anderen Ende des Klassenzimmers.

Ich wollte Blickkontakt unbedingt vermeiden.

Schließlich hatte ich mich dazu entschlossen, ihm so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Kapitel 16

Close the Door
 

Kapitel 16:
 

Mein Vater war nicht zu Hause, als ich die Wohnung betrat, aus den Schuhen schlüpfte und meine Jacke an einen der vielen Haken hängte.

Ich brachte meinen Rucksack in mein Zimmer und stellte die Tüte mit den erledigten Einkäufen auf die Arbeitsplatte in der Küche.

Nach wenigen Minuten hatte ich alles, bis auf das Gemüse und den Reis, verstaut.

Schnell bereitete ich etwas zu Essen zu, nahm mir einen Teller voll und ließ den Rest auf der Herdplatte stehen.

Gerade als ich mein Zimmer betrat und die Tür hinter mir schloss, öffnete sich die Haustür und mein Vater betrat die Wohnung.

Er begrüßte mich nicht, sondern trat direkt ins Wohnzimmer, wahrscheinlich um sich etwas zu Essen zu holen und den Fernseher anzuschalten.

Ich hörte trotz der geschlossenen Tür, wie er eine Plastiktüte auf den Boden in der Küche abstellte. Glasflaschen klirrten aneinander.

Kurz schloss ich die Augen und schluckte den Bissen, den ich im Mund hatte mühsam runter.

Scheiße...

Dann stellte ich den halbvollen Teller auf meinen Schreibtisch. Der Appetit war mir vergangen.

Die gestrige Begegnung mit meinem Vater hatte mich hoffen lassen.

Anscheinend hatte ich mich zu Früh gefreut.

Wusste ich doch ganz genau, was dieses Geräusch zu bedeuten hatte…
 

--
 

Seto betrat sein Büro, schloss die Tür hinter sich und ließ seinen Kopf niedergeschlagen an das dunkle, massive Holz sinken.

Er schloss die Augen.

Verdammt!

Was hatte er nur getan?

Was sollte sein Mitschüler jetzt nur von ihm denken?

Er schluckte.

Stieß sich von der Tür ab und drehte sich um, um zu seinem Schreibtisch zu gehen.

Er setzte sich auf seinen Bürostuhl, nahm die Notebooktasche auf den Schoß und holte den tragbaren Computer hervor.

Und jetzt? fragte er sich in Gedanken.

Joseph war ihm während der Schule die ganze Zeit über aus dem Weg gegangen.

Verständlich nach der Aktion des gestrigen Abends.

Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Wie hatte er ihn einfach küssen können?

Nicht das er es nicht gewollt hatte…doch…wie tief wollte er noch sinken?

Wie mies war das denn bitte? Er hatte die Situation voll und ganz ausgenutzt!

Ohne Skrupel hatte er sich Joseph mehr oder weniger an den Hals geschmissen und ihn geküsst…und das nur, weil er von dessen emotionalen Ausbruch so durcheinander gewesen war. Es war einfach passiert, ohne dass er es vorher durchdacht hatte.

Und trotzdem.

Er hatte die Situation ausgenutzt.

Wie musste Joseph sich nach der Aktion jetzt fühlen?

So viel zum Thema Vertrauen und Freundschaft.

Mit Freundschaft hatte seine Tat wenig am Hut…
 

--
 

So leise wie möglich drehte ich den Schlüssel in meiner Zimmertür um.

Dann ließ ich mich erleichtert zu Boden sinken und lehnte mich kurz an das helle Holz.

Mein Vater wütete wie so oft im Wohnzimmer.

Ich hatte nicht wirklich das Bedürfnis an diesem Ausbruch teilzunehmen.

Noch war er nicht auf die Idee gekommen in mein Zimmer zu platzen und seine Wut wie so oft an mir auszulassen.

Ich schloss die Augen und atmete tief durch.

Morgen war Samstag.

Das Wochenende stand vor der Tür…

Zwei ganze Tage allein mit meinem Vater in einer zirka 50 qm großen Wohnung.

Das klang nach verdammt viel Spaß!
 

Seufzend stemmte ich mich nach oben und schleppte mich mit wenigen Schritten zum Bett.

Ich fühlte mich leer und ausgelaugt.

Die Erkältung und die Geschehnisse der letzten Woche nagten an meinen Kräften und ich fühlte mich alles andere als fit!
 

--
 

„Was gedenken Sie nun zu tun, Mister Kaiba?“, fragte er leise.

Hilflos zuckte der Angesprochene mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht, Roland.“, antwortete er.

Seto fuhr sich seufzend durch die Haare.

Sein Bodyguard stand mit verschränkten Armen vor ihm und sah ihn abwartend an.

„Ich habe keine Ahnung, was zwischen Ihnen und dem jungen Mann vorgefallen ist, doch was ich mit Sicherheit weiß ist, dass es nur sehr wenige Möglichkeiten gibt, wo er jetzt stecken könnte. Und die Möglichkeit die mir im Moment im Kopf schwirrt, bereitet mir Magenschmerzen. Also…was soll jetzt passieren?“

Seto schwieg.

Er wusste genau worauf der Ältere hinauswollte, doch im Moment konnte er ihm keine zufrieden stellende Lösung des Problems mitteilen. Er wusste schlichtweg nicht, was er jetzt machen sollte. Und natürlich bereitete die Vorstellung, dass Joseph wieder bei seinem alkoholkranken Vater wohnte, ihm Übelkeit, doch was verdammt noch mal sollte er jetzt tun?

„Wenn ich eine Lösung hätte, Roland, würde ich sie dir mitteilen. Doch ich weiß es nicht!“, antwortete er bissig.

Dass er ins Du übergegangen war, passierte öfters. Gerade wenn es um Emotionen ging, sie nicht einer Meinung waren, oder Roland ihm Vorträge hielt, wechselten sie in die persönlichere Anrede.

„Vielleicht solltest du hinfahren und dich entschuldigen. Das ist immer noch besser als tatenlos in deinem Büro herumzusitzen und dir den Kopf zu zerbrechen!“, erwiderte der Bodyguard und wandte sich um, um den Raum zu verlassen.

„Das kann ich nicht.“, widersprach Seto sofort.

Nein! Das ging nicht…zumindest noch nicht…

Er wusste nicht, wie er sich bei Joseph entschuldigen sollte. Ihm fehlten schlichtweg die Worte.

„Gut! Dann denke dir etwas Besseres aus! Aber solltest du in nächster Zeit nicht endlich in die Gänge kommen, werde ich die Sache eben selbst in die Hand nehmen!“, bellte der Ältere und verließ dann Grußlos das Zimmer.

Seto stöhnte auf, ließ sich in seinen Bürostuhl zurücksinken und raufte sich die Haare.

Er wusste, sein Beschützer hatte recht…

Doch wie sollte er das Ganze denn retten?
 

--
 

Erleichtert atmete ich auf, als ich hörte wie mein Vater sein Schlafzimmer ansteuerte, sich ächzend aus der Kleidung befreite und sich dann ins Bett legte. Die Matratze quietschte leise, als er sich mehrere Male von einer Seite zur anderen wälzte.

Dann war nur noch das monotone Schnarchen zu vernehmen.

Er schlief seinen Rausch aus.

Gott sei Dank!

Leise stand ich auf, trat aus dem Zimmer und schlich mich ins Bad.

Schnell verrichtete ich meine Notdurft, wusch mir die Hände und putzte die Zähne.

Dann ging ich in die Küche, griff nach einer Wasserflasche und verbarrikadierte mich erneut in meinem Zimmer.

Es war kaum auszuhalten.

Dieser stetige Adrenalinpegel in meinem Körper ließ mich kaum zur Ruhe kommen.

Ich fühlte mich eingeengt und eingesperrt in diesem Raum.
 

Früher hatte ich mein Zimmer als eine Art Zufluchtsort angesehen. Jetzt empfand ich es als Gefängnis. Kaum setzte ich einen Schritt vor das Zimmer, wurde ich mit der Angst konfrontiert, meinem Erzeuger über den Weg laufen zu können. Sobald ich die Tür meines Zimmers geschlossen hatte, drehte ich den Schlüssel zweimal im Schloss herum. Ich schaffte eine Mauer…jedoch nicht nur zwischen mir und meinem Vater sondern auch zwischen mir und dem Rest der Welt.

Betrat ich einmal diese Wohnung, gab es keine Fluchtmöglichkeiten mehr.

Ich gab meine Freiheit komplett auf.

Für ein Leben, dass ich nicht wollte.

Für eine Familie, die keine war.
 

Ich fühlte mich allein.

Noch Einsamer als je zu vor.

Seit ich die Villa der Kaibas verlassen hatte, war ich in ein tiefes Loch gestürzt.

Ich fühlte mich, als befände ich mich im freien Fall. Man wusste, irgendwann würde es zum Aufprall kommen, konnte aber nicht sagen, wann und wo es geschehen würde. Man konnte auf seine Situation keinen Einfluss nehmen. Man fiel… und es gab keine Möglichkeit dem Ganzen zu entfliehen.

Das einzige was einem blieb war der Fallschirm.

Doch den bekam ich im Moment nicht geöffnet.

Stattdessen raste ich unaufhörlich Richtung Boden und wollte mich so gern mit aller Macht auf den Aufprall vorbereiten, doch wusste ich genau…ohne Hilfe gab es für mich keine Chance zu überleben…

Ich wusste…irgendwann würde mein Vater mich wieder wahrnehmen.

Und er würde mich spüren lassen, was es bedeutete, sich gegen seinen Willen zu stellen.

Ich war davon gelaufen, hatte mich gegen ihn gewehrt und sogar Unterstützung, in Form von Roland, gegen ihn in diese Wohnung gebracht.

Mir war klar, dass trotz der recht positiven Aufnahme, diese Sache noch längst nicht ausgestanden war.
 


 

Ich überlebte das Wochenende ohne bleibende Schäden davon zu tragen.

Zwar war ich übermüdet, hatte seit anderthalb Tagen nichts mehr gegessen und hatte zwei neue Blutergüsse im Bauchbereich, doch mein Vater hatte mich im Großen und Ganzen verschont.

Als mein Wecker klingelte um mich aus dem Bett zu werfen, drehte ich mich nicht noch einmal um, sondern schaltete ihn aus und stand auf. Ich ging ins Bad, duschte, putzte mir die Zähne und zog mich in meinem Zimmer an. Dann griff ich nach meinem Rucksack, warf ihn mir über die rechte Schulter und ging kurz in die Küche um nach etwas Essbarem zu suchen.

Ich fand lediglich einen schon leicht eingedellten Apfel auf der Anrichte.

Ich schnitt das faulige Stück weg und biss probehalber in die Frucht um deren Haltbarkeit festzustellen.

Er war essbar.

Also verließ ich die Wohnung, schloss die Tür hinter mir und stopfte mir, während ich die Treppe nach unten ging, den Apfel nach und nach in den Mund.

Nach wenigen Bissen hatte ich ihn verschlungen und lediglich den Stiel noch in der Hand. Als ich das Haus verließ, schluckte ich den letzten Bissen und warf den Stiel ins Gebüsch neben dem Treppengeländer.

Langsam trottete ich zur Straße vor, hob dann den Blick und blieb abrupt stehen.

Erschrocken riss ich die Augen auf, als ich das Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkannte.

Die Person auf der Fahrerseite stieg aus und winkte mich näher.

Unschlüssig blieb ich an Ort und Stelle und überlegte.

Was hatte das zu bedeuten?

„Komm Joseph, ich fahr dich zur Schule.“, rief Roland mir zu.

Misstrauisch runzelte ich die Stirn.

Meinte er es ernst? Konnte ich ihm Vertrauen? Sollte das hier keine Entführungsaktion werden, um mich wieder zurück in Kaibas Villa zu sperren?

„Keine Angst, ich werde dich zu nichts zwingen.“, erriet Roland meine Gedanken und winkte mir erneut auffordernd zu.

Schließlich setzte ich mich in Bewegung, überquerte die Straßenseite, umrundete die schwarze Limousine und setzte mich auf den Beifahrerplatz.

Roland stieg ebenfalls wieder ins Auto, ließ den Motor an und fuhr los.

Schweigend saßen wir einige Minuten nebeneinander bevor Roland das Wort ergriff:

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, im Moment schon.“, erwiderte ich und sah ihn kurz an.

„Entschuldige meinen Ausbruch letzte Woche. Ich wollte dich damit nicht ängstigen.“, erklärte er leise.

„Schon okay.“

Ich schlug die Augen nieder und sah unsicher auf meine Hände.

Was wollte er wirklich von mir?

Wollte Roland tatsächlich nur wissen ob alles in Ordnung war?

Nach wenigen Minuten kamen wir vor dem Schultor an.

„Danke.“, sagte ich leise und wollte gerade die Tür öffnen, als Roland mir die Hand auf die Schulter legte, um mich noch einen Moment zurückzuhalten.

„Joseph, ich weiß nicht was zwischen dir und Seto vorgefallen ist. Ich weiß nur eins: Mein Chef ist seit du verschwunden bist total durch den Wind und zu nichts zu gebrauchen. Und du wohnst wieder bei deinem alkoholkranken Vater.

Sowohl die eine als auch die andere Tatsache bereiten mir Kopfschmerzen und Übelkeit. Was auch immer zwischen euch geschehen ist, ändert nichts an der Möglichkeit für dich, in der Villa zu wohnen. Das was mir wichtig ist, ist dass es dir gut geht. Ich will nicht, dass du weiterhin verletzt wirst, vor allem, da es nicht sein muss.

Denk darüber nach, okay? Und wenn du es übers Herz bringen solltest, dann rede mit Kaiba…“

Kurz hob ich den Blick. Seine Worte hatten mich verwirrt und auf der anderen Seite ein wohliges Gefühl in meiner Magengegend geschaffen.

Es war schön zu hören, dass Roland etwas an mir lag.

Ich sah ihm in die Augen, sah, dass es ihm wirklich ernst war und lächelte leicht.

Dann nickte ich, stieß die Tür auf und stieg aus dem Auto.

Er nickte mir ebenfalls zu, startete den Motor und fuhr dann langsam davon.
 

Unschlüssig sah ich der schwarzen Limousine nach.

Ich wusste nicht, was jetzt zu tun war. Ich wusste nur eins: Freiwillig ein Gespräch mit Kaiba zu beginnen stand für mich außer Frage.

Die Angst vor einer erneuten Enttäuschung war viel zu groß…
 

Schließlich drehte ich mich um, mischte mich unter meine Mitschüler und ließ mich vom Strom mit ins Gebäude ziehen.
 

--
 

Es war klar gewesen, dass ich ihm nicht ewig entfliehen konnte.

Schon als ich auf dem Weg zur Toilette war, hatte ich gewusst, dass er mir folgen würde.

Mit verschränkten Armen stand er direkt neben der Tür und beobachtete mich schweigend.

Ich ignorierte ihn, wusch mir die Hände und trocknete sie mir mit den Papiertüchern ab.

Ich spürte seinen Blick auf mir, wusste, dass er mich schon eine geraume Zeit beobachtete.

„Was willst du von mir?“, fragte ich ihn leise und drehte mich schließlich zu ihm um.

„Reden.“, antwortete er schlicht und sah mich an.

Ich konnte den Ausdruck seiner Augen nicht deuten.

„Ich wüsste nicht worüber…“

Mit diesen Worten brach ich den Blickkontakt ab und wandte mich zur Tür.

Gerade als ich sie öffnen wollte, trat er einen Schritt zur Seite und versperrte mir somit den Weg ins freie.

„Aber ich.“, erwiderte er und legte mir sanft eine Hand auf die Schulter um mich zurück zu halten.

Ich sah auf, starrte stumm in die tiefblauen Augen meines Gegenübers und schüttelte leicht mit dem Kopf.

„Lass mich vorbei.“

„Nein.“

Schweigend sahen wir uns an.

„Joseph…“

„Nein! Ich will es nicht hören!“, unterbrach ich ihn rüde und stieß seine Hand von meiner Schulter.

Ich ertrug die Berührung im Augenblick nicht.

Er zuckte leicht zusammen.

„Geh aus dem Weg!“, forderte ich ihn erneut auf.

Er senkte den Blick und trat zur Seite.

Schnell stieß ich die Tür auf, und verließ den Raum.

Seto sah mir traurig nach.

„Es tut mir leid…“, flüsterte er leise.

Ich hörte ihn nicht.

Kapitel 17

Close the Door
 

Kapitel 17:
 

„…JOSEPH!“

Es war so weit…
 

Ich wusste, jetzt war der Augenblick gekommen, in dem mein Vater sich für das, was ich ihm angetan hatte, rächen würde.

Er trat gegen die Tür.

Ich zuckte zusammen.

„Öffne sofort diese verdammte Tür!“

Ich rührte mich nicht.

Wieder ein Lautes Poltern.

Schritte.

Etwas stieß mit gewaltiger Kraft gegen die Tür.

Sie knarrte verdächtig.

Erneut nahm er Anlauf.

Rums!

Ich schloss die Augen.

Bereitete mich innerlich darauf vor.

Ein letztes Mal rammte er die Tür mit seiner Schulter, das Holz zerbarst und die Tür krachte aus den herausgerissenen Angeln.

Schwer atmend stand er vor mir.

Ich sah ihn abwartend an.

Er lächelte boshaft.

Ein Schaudern durchlief meinen Körper.

Stumm betete ich zu Gott, bat ihn darum, dass ich diesen Abend überleben würde.

Ich war mir nicht sicher, ob er mich erhören würde…
 

--
 

Schmerz…

Überall schmerz…

Ein Messer…Blut…mein Blut…etwas blitzte auf.

Der Schlüsselbund klirrte…

Ich zuckte zusammen.

Etwas Warmes floss über meine linke Seite.

Mein Puls beschleunigte sich und mein Herz schlug spürbar gegen meine Brust.

Eine Faust.

Ein Lachen.

Er klang hysterisch.

Wieder durchzuckte mich der Schmerz, breitete sich aus und erreichte jede noch so kleine Zelle meines geschundenen Körpers.

Ich öffnete die Augen.

Sein irrer Blick. Er starrte mich an und lachte laut.

Ich schloss sie wieder.

Verlor das Bewusstsein.
 

--
 

Seto sah auf die Uhr.

Er war unruhig. Hatte ein ungutes Gefühl.

Irgendetwas war passiert. Das spürte er ganz deutlich.

Joseph war noch nicht aufgetaucht. Es klingelte gerade zur zweiten Stunde.

Das sah ihm nicht ähnlich.

Er war in letzter Zeit immer pünktlich erschienen.

Hatte er verschlafen?

Nein, das glaubte er nicht.

Energisch stand er auf und verließ, ohne den verwirrten Blick seiner Englischlehrerin zu beachten, den Raum.

Er griff nach seinem Handy und wählte eine Nummer.

Niemand nahm ab.

Keiner da?

Nein. Das war es nicht…
 

Er ging zurück ins Klassenzimmer, trat an seinen Schreibtisch und packte seine Sachen.

„Herr Kaiba, was gedenken Sie zu tun?“, fragte die Englischlehrerin verärgert.

„Dringender Termin.“, erwiderte Seto emotionslos und verschwand erneut aus dem Raum.

Schnell tippte er Rolands Nummer in das immer noch aktivierte Handy in seiner Hand.

„Ja ich bin´s. Ich muss etwas erledigen, ich erkläre es dir später.“

Damit legte er auf und verließ eilends das Gebäude.

Draußen begann er zu rennen.

Etwas stimmte nicht.

Je mehr er darüber nachdachte, desto schlimmer wurden seine Befürchtungen.

Bitte, lass es nicht das sein, was ich denke! Betete er stumm und betätigte die Zentralverriegelung seines Autos.

Schnell war die Schultasche auf die Rückbank geschmissen und der Motor angelassen.

Mit quietschenden Reifen verließ er das Schulgelände.
 

Sein Herz klopfte wie verrückt, je näher er dem Armenviertel kam.

Er versuchte auf den Verkehr zu achten, konnte sich kaum konzentrieren.

Nimm dich zusammen, Seto! Du kannst dir jetzt keinen Unfall erlauben! Wies er sich gedanklich zurecht.

Er legte vor dem Wohnkomplex eine Vollbremsung ein, stieg aus, sperrte den Wagen ab und rannte über die Straße zum Haupteingang des Hauses.

Er konzentrierte sich nicht auf die Klingeln sondern drückte wahllos eine nach der anderen, in der Hoffnung jemand würde ihm schnell öffnen. Tatsächlich, jemand drückte auf den Surrer.

Schnell stieß er die Tür auf, nahm jeweils zwei Treppenstufen auf einmal und kam wenige Sekunden später im dritten Stock an.

Er warf einen flüchtigen Blick auf die Klingelschilder und klopfte dann Lautstark bei der richtigen Haustür an.

„Machen Sie die Tür auf! Sofort!“

Es dauerte einige Minuten bis sich im Inneren etwas regte.

Jemand drehte mehrmals einen Schlüssel im Schloss herum und schließlich schwang die Tür auf.

Ein etwas übergewichtiger Mann, nur in Unterhemd und Jogginghose bekleidet stand vor ihm.

Die glasigen Augen und der unverkennbare Geruch nach abgestandenen Alkohol und Nikotin ließen Seto kurz angewidert das Gesicht verziehen. Das Hemd war fleckig und die Jogginghose war zerschlissen und alt.

Er stieß den Mann grob zur Seite und betrat die Wohnung.

„Was wollen sie?“ fragte der Herr des Hauses überrascht.

„Wo ist er?“ fragte Seto lauernd und sah sich im Flur suchend um.

Schnell entdeckte er die fehlende Tür zu einem der Zimmer. Vereinzelte Holzsplitter lagen am Boden vor dem Eingang und ließen Seto die richtigen Schlüsse ziehen.

Mit schnellen Schritten war er über die Trümmer gestiegen.
 

Was er sah ließ ihn erschaudern.

„Hey!“, schrie der Mann empört auf. Er folgte ihm in das Zimmer, legte ihm eine Hand auf die Schulter und wollte ihn mit einem Ruck zu sich herum drehen, doch Seto kam ihm zuvor.

Er schleuderte herum, holte mit aller Kraft aus und rammte dem Alkoholkranken Mann seine Faust direkt ins Gesicht.

Dieser sackte mit einem leichten ächzen auf den Lippen in sich zusammen.
 

Sofort wandte sich Seto wieder um und konzentrierte sich auf sein eigentliches Ziel.

Mit wenigen Schritten war er an der leblosen Gestalt am Boden angekommen. Er ließ sich auf die Knie fallen und streckte zitternd eine Hand nach dem Jungen aus.

„Joseph…“, flüsterte er leise und strich dem Verletzten leicht über die Stirn.

„Was hat er nur mit dir gemacht?“

Fassungslos starrte er auf die aufgeplatzte Naht an der Stirn des Jüngeren. Sein Blick wanderte weiter.

Eine immer noch leicht blutende Schnittwunde am Bauch, die Wange war geschwollen, die Lippe aufgeplatzt, überall am ganzen Leib hatte er Blessuren.

Kein Zentimeter des schmächtigen Körpers schien verschont worden zu sein.

Kurz schloss er die Augen um sich zu sammeln.

Es gelang ihm nicht.

Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln.

Er griff nach seinem Handy und wählte eine Nummer.

„Du musst sofort her kommen. Ich brauche deine Hilfe…und ruf die Polizei…“
 

--
 

Eine Welle des Schmerzes durchfuhr meinen Körper, ließ mich erzittern.

Ich spürte eine undefinierbare Wärmequelle unter meinem Kopf. Es fühlte sich gut an.

Den Geruch, den mein Kopfkissen ausstrahlte, kannte ich.

Doch woher?

Ich öffnete leicht die Augen.

Sah alles verschwommen. Spürte etwas Nasses auf meine Wange tropfen.

Kurz blinzelte ich, versuchte den Schleier vor meinen Augen loszuwerden.

Tatsächlich erkannte ich meine Umgebung nun schärfer.

Ich sah nach oben, erkannte das Gesicht über mir sofort.

War das ein Traum?

Oder hatte Gott meine Gebete erhört?
 

Wieder traf etwas Nasses meine Wange.

„Warum weinst du?“, flüstere ich leise.

Die Augen des Mannes, der sich über mich gebeugt hatte und sanft mit den Fingerspitzen über mein rechtes Ohr fuhr suchten die meinen.

„Sieh dich doch an…“ erwiderte mein Kopfkissen schluchzend.

Ich lächelte leicht und schüttelte mit dem Kopf.

„Nein…besser nicht…“

Dann schloss ich die Augen wieder.

„Ich bin so müde…“, murmelte ich.

„Dann schlaf noch ein bisschen.“, erwiderte Seto sanft und strich mir beruhigend durchs Haar.
 

--
 

Als ich das nächste Mal erwachte fühlte ich mich wesentlich besser.

Es war weich und bequem. Mir war angenehm warm.

Ich fühlte mich sicher und geborgen.

Lediglich ein dumpfer Schmerz in meinem Kopf und meinem Bauch waren geblieben.

Langsam öffnete ich die Augen. Sofort erkannte ich wo ich mich befand.

Ich wandte meinen Blick nach links und sah einen Infusionsständer. Ein durchsichtiger Beutel hing daran und langsam und stetig tropfte ein Tropfen nach dem anderen der klaren Flüssigkeit in den kleinen Regulierungsbehälter.

Vorsichtig um den Schmerz in meinem Kopf nicht zu steigern sah ich nach rechts.

Und lächelte leicht.

Seto lag neben mir und umklammerte mit beiden Händen meine Rechte.

Seine Stirn berührte meine Schulter.

Er schien zu schlafen.

Beruhigt schloss ich die Augen.

Es war alles in Ordnung.

Schließlich schlief ich wieder ein.
 

--
 

Nachdem ich die Augen erneut an diesem Tag öffnete stellte ich fest, dass die Infusion entfernt worden war.

Kurz hob ich die linke Hand in mein Blickfeld.

Keine Nadel.

„Hey…“, ertönte es leise von der anderen Seite.

Ich wandte meinen Blick nach rechts.

Seto saß neben mir und lächelte mich besorgt an.

Ich erwiderte das Lächeln.

Dann streckte ich die rechte Hand nach ihm aus und berührte ihn leicht an der Wange.

„Ohne Tränen siehst du besser aus.“, stellte ich flüsternd fest.

Das Lächeln wurde eine spur größer. Setos Augen versprühten dabei unheimlich viel Wärme.

„Wie geht’s dir?“, fragte er leise.

Leicht schüttelte ich mit dem Kopf.

„Ging mir schon besser.“

Er nickte verstehend.

„Ich werde dich dann allein lassen.“, sagte er und stand auf um aus dem Raum zu gehen.

Ich griff nach seinem Handgelenk und hielt ihn auf.

„Seto…!“, sprach ich ihn leise an.

Er sah mich fragend an.

Ich sammelte all meinen Mut zusammen und fragte unsicher: „Über was wolltest du gestern mit mir reden?“

Er lächelte leicht und schüttelte mit dem Kopf.

„Später, Joseph.. Ruh dich erst mal aus.“

Dann löste er sein Handgelenk aus meinem Griff und verließ das Zimmer.

Seufzend schloss ich die Augen.

Ich verstand den Mann einfach nicht.
 

Nach kurzer Zeit war ich erneut eingeschlafen. Erst spät, als die Sonne schon längst untergegangen war, erwachte ich wieder.

Ganz langsam, um meinem verletzten Körper nicht mehr Schmerzen zuzubereiten als unbedingt notwendig, setzte ich mich auf und schwang die Beine aus dem Bett.

Ich trug eine der schwarzen Jogginghosen, die ich mittlerweile so gut kannte und eins meiner T-Shirts. Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht nach vorne und stemmte mich auf die Füße.

Sicherheitshalber hielt ich mich am rechten Bettpfosten meines Himmelbettes fest um nicht zu stürzen. Kurz wurde mir schwindelig und auch leicht übel, doch das Gefühl mich übergeben zu müssen verflog recht schnell.

Ich atmete tief durch, ließ den Pfosten los und tappte mit unsicheren Schritten ins Bad.

Dort steuerte ich das Waschbecken an, wusch mir die Hände und sah kurz in mein Spiegelbild.

Ich war bleich, auf meiner linken Wange prangerte ein dunkelroter Fleck. Meine Stirn verzierte ein Pflaster über der frisch zugenähten Wunde. An meiner Lippe klebte etwas getrocknetes Blut.

Ich schöpfte mir zweimal kaltes Wasser ins Gesicht, um meine Lebensgeister zu wecken.

Danach fühlte ich mich schon wesentlich besser. Mit einem Handtuch trocknete ich mich kurz ab, dann ging ich zurück in mein Zimmer und legte mich wieder hin.

Ich schloss die Augen und schlief wieder ein.
 

--
 

Seto Kaiba war ein Feigling.

Und das überraschte ihn.

Schließlich hatte er nie ein Problem damit gehabt, zu tun, was getan werden musste.

Dass er aber gerade bei so einem Wichtigen Thema ein jämmerlicher Angsthase sein sollte, war ihm selbst unverständlich.

Verärgert über sich selbst trank er den letzten Schluck seines Kaffees aus, stellte die Tasse in die leere Spüle und ging nach oben in sein Zimmer. Er zog sich aus, legte sich ins Bett, stellte sich seinen Wecker und deckte sich zu.

Seufzend starrte er an die Decke.

Du bist ein Idiot, sagte er gedanklich zu sich selbst.
 

--
 

Fest hatte ich damit gerechnet, das Seto spätestens am nächsten Tag wieder nach mir sehen würde.

Stattdessen klopfte jemand ganz anderes an die Tür.
 

Roland trat nach meiner Aufforderung leise ein, lächelte mich besorgt an und kam zu mir.

Er setzte sich auf den Bettrand und fuhr mir kurz über die Stirn.

„Wie geht’s dir?“ fragte er mich leise.

Ich schlug die Augen nieder und spürte, wie mir die Tränen kamen.

Verdammt…mussten die Emotionen gerade jetzt über mich einbrechen?

Schluchzend setzte ich mich auf und lehnte meine Stirn gegen Rolands Brust.

„Es tut mir leid.“, flüsterte ich leise.

Meine Schultern bebten.

Er nahm mich in seine Arme und drückte mich sanft an sich.

Seine Wärme tat mir gut.

Es dauerte eine Weile bis ich mich beruhigte.

„Schon gut, du kannst ja nichts dafür…“ erwiderte Roland leise und wiegte mich sanft.

Kapitel 18

Close the Door
 

Kapitel 18:
 

Die einzigen Menschen, die ich die nächsten drei Tage zu Gesicht bekam, waren der Arzt, die Haushältern Delia, Roland und Mokuba.

Der wichtigste Mensch ließ sich jedoch nicht blicken…

Der Arzt verschrieb mir strengste Bettruhe und teilte mir mit, dass die Wunde an meinem Kopf und Bauch genäht werden mussten. Er erklärte mir, ich hätte wieder mal eine mittelschwere Gehirnerschütterung und bat mich, sollte Fieber auftreten oder Nackenschmerzen dazu kommen, mich sofort bei ihm zu melden.

Ich nickte gehorsam.
 

Die Haushälterin brachte mir dreimal am Tag etwas zu essen, was ich in 80 Prozent der Fälle ausschlug. Ich hatte keinen Appetit und in meinem Kopf schwirrte nur ein Gedanke:

Über was wollte er mit mir reden und warum besuchte er mich nicht?

Doch weder Roland noch Mokuba konnten mir auf meine ausweichenden Fragen eine zufrieden stellende Antwort geben. Mokuba faselte etwas von: „Seto arbeitet schwer“, und auch Roland erwähnte nur, sein Chef wäre vollauf mit Arbeit beschäftigt.
 

Also lag ich allein in meinem Bett in dem großen Gästezimmer und versuchte meine Gedanken zu verdrängen und mich stattdessen aufs Lernen zu konzentrieren.

Roland hatte mir von Seto die Mitschriften der letzten zwei Wochen mitgebracht und ich schrieb alles fein säuberlich ab und versuchte nachzuvollziehen, was mein Mitschüler mit seinen kurzen Notizen ausdrücken wollte.
 

Schließlich stand das Wochenende vor der Tür und der Arzt gab mir endlich die Erlaubnis dazu, wieder aufzustehen. Er sah sich meine Wunden an, zog nach bitten und drängen meinerseits die Fäden und verschwand mit einem: „Passen Sie ja auf sich auf und schonen Sie sich weiterhin!“ aus der Tür.

Ich nahm mir meine neu gewonnene Freiheit zum Anlass unter die Dusche zu springen und dachte an das, was diese Woche bisher geschehen war.

Drei Tage…das war eine ganz schön lange Zeit. Ich hatte Seto weder gesprochen noch gesehen. Und das wurmte mich. Er hatte versprochen mit mir zu reden und stattdessen verbrachte er den ganzen Tag außer Haus. Ich hatte fast das Gefühl er wich mir aus.
 

Seufzend schlüpfte ich in meine Lieblingsjeans, mein grünes T-Shirt und den dunkelblauen Kapuzenpulli.

Dann verließ ich mein Zimmer und machte mich auf den Weg zur Küche um Delia, der Haushälterin, zum ersten Mal freiwillig etwas zu essen abzuluchsen.
 

Sie strahlte mich an wie ein Honigkuchenpferd, machte mir Pfannkuchen mit Ahornsirup, Schokosirup und Erdbeersirup und betrachtete mich mit einem breiten Lächeln, als ich brav ein Stück abbiss, kaute und herunter schluckte.

Wenig später hörte man die Eingangstür auf und zu fallen und ein lautes Kinderlachen ertönte durch die Eingangshalle.

„Pfannkuchen!“ rief Mokuba entzückt, als er in die Küche kam und die Fertigen auf dem Tisch stehen sah.

Schnell schlüpfte er aus seiner Jacke und stellte den Rucksack beiseite, dann nahm er neben mir am Tresen platz und wartete ungeduldig bis Delia ihm ebenfalls ein Glas Orangensaft, einen Teller und Besteck vor die Nase stellte.

Mit strahlenden Augen begann der Kleine sich einen nach dem anderen hineinzustopfen.

Ich lächelte breit und tat es ihm gleich.
 

Nach dem Zweiten musste ich aufhören. Ich konnte kaum etwas essen, ohne das mir übel davon wurde.

Mein Magen hatte sich noch längst nicht an geregelte Mahlzeiten gewöhnt.

Ich bedankte mich mit einer artigen Verbeugung vor Delia, was ihr die Röte ins Gesicht trieb und verließ den Raum.

„Ein charmanter Junger Mann…“ stellte die Haushälterin murmelnd fest.

Mokuba sah sie mit hochgezogener Augenbraue an und schüttelte leicht den Kopf.
 

Ich ging zurück in mein Zimmer, ließ mich seufzend aufs Bett fallen und schloss die Augen.

Es dauerte lange, bis die Übelkeit soweit verflogen war, dass ich sicher sein konnte, mich nicht doch noch übergeben zu müssen.

Ich hätte wirklich besser auf mich aufpassen sollen in den letzten Monaten.

Mit den knappen 61 Kilogramm die ich auf der Wage noch zustande brachte fehlten mir mindestens 7 Kilo zum Normalewicht.

Kein Wunder also, das mir jedes Mal schlecht wurde, wenn ich etwas aß.
 

Schließlich stand ich wieder auf, lief ins Bad, ging schnell auf Toilette und wusch mir danach die Hände. Ich wagte einen Blick in den Spiegel und stellte erleichtert fest, dass ich wesentlich besser aussah als noch vor vier Tagen.

Die Wunde an meiner Stirn war noch leicht gerötet, die feine Narbe, die sich dort gebildet hatte, brauchte noch mindestens sechs Monate bis sie voll ausgeheilt war, wusste ich aus Erfahrung zu sagen. Der Blaue Fleck war fast vollständig verschwunden und die Wunde an meiner Lippe fast verheilt.

Man musste genauer hinsehen, um meine vorsichtige Art mich zu bewegen zu bemerken.

Ich versuchte hektische Bewegungen zu vermeiden, vor allem um die Wunde an meinem Bauch zu schützen.

Außerdem war eine leichte Übelkeit schon fast Dauerzustand geworden, seit den Prellungen, die mein Vater mir zugefügt hatte.

Doch eigentlich, wenn man es genau betrachtete ging es mir rein körperlich betrachtet verhältnismäßig gut.

Das, was mir viel mehr Kopfzerbrechen bereitete war die Tatsache, dass Seto mich vergessen zu haben schien.

Doch jetzt, da ich endlich wieder die Erlaubnis hatte auf eigenen Beinen zu stehen, hatte ich nicht vor, sein Verhalten weiterhin zu tolerieren.

Er hatte reden wollen, und jetzt sollte er gefälligst auch sagen, was er zu sagen hatte.

Denn die Tränen die er, als er mich fand, vergossen hatte, waren sicher keine Freudentränen gewesen. Und ich wollte verdammt noch mal endlich wissen, was er denn nun für mich empfand!
 

Gegen Abend griff ich nach meiner Wolldecke, verließ mein Zimmer und setzte mich am Ende des Korridors auf die erste Treppenstufe, wickelte mich in die Decke ein und wartete.

Ich war felsenfest entschlossen, Seto heute aufzulauern und ihn endlich zur Rede zu stellen.
 

Erschrocken zuckte ich zusammen, öffnete die Augen und versuchte mich zu orientieren. Ich war eingenickt.

Die Tür, die sich gerade so schwungvoll geöffnet hatte, wurde wieder geschlossen. Erneut zuckte ich leicht zusammen, bei dem lauten Geräusch.

Ich konnte von meiner Position hier oben im Dunkeln nicht erkennen was sich unten abspielte, aber es war klar, dass Seto nach Hause gekommen sein musste.

Jacken wurden ausgezogen, in die Garderobe gehängt, er sagt leise ein paar Worte, eine Frau kicherte über seinen Witz.

Etwas in meiner Brust zog sich schmerzhaft zusammen.

Ich schloss für einen Moment die Augen um die Übelkeit, die sich in meinem Magen ausbreitete zu verdrängen.

Ich schluckte.

Schritte verhallten ein Stockwerk tiefer in der Eingangshalle und eine Tür wurde geöffnet.

Wieder kicherte die fremde Frau leise.

Seto lachte ebenfalls.

Eine Tür schloss sich.
 

Ich stand auf. Drehte mich um und ging langsam auf mein Zimmer zu.

Apathisch sah ich zu Boden und hörte nicht, wie jemand hinter mir die Treppe hinaufgestiegen kam.

Ich legte meine Hand gerade auf die Türklinke meines Zimmers, als er mich von der Seite ansprach.

„Joseph! Du bist noch wach? Alles okay?“ fragte Seto.

Ich zuckte zusammen.

Kurz sah ich ihn an.

Er wirkte überrascht und auch ein bisschen geschockt. Er schien um diese Uhrzeit nicht mit mir gerechnet zu haben.

„Passt schon.“, antwortete ich leise, trat in mein Zimmer und ließ die Tür hinter mir etwas zu laut ins Schloss fallen.

Auf der anderen Seite hörte ich, wie Seto noch einen Moment unschlüssig stehen blieb, sich dann umdrehte und wieder nach unten ging.

Ich schloss die Augen, ließ mich langsam an dem dunklen Holz der Tür nach unten sinken und lehnte mich gegen den Türrahmen.
 

Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Wusste nicht, was das für eine Frau war.

Ich wusste nur eins: Irgendetwas tief in meinem Inneren schrie in diesem Moment auf vor Schmerz.
 


 

Den ganzen nächsten Tag verkroch ich mich in meinem Bett. Wenn ich aufstand, dann lediglich um aufs Klo zu gehen.

Delia brachte mir das Essen ans Bett, doch ich rührte nichts an.

Roland klopfte an meine Tür, meldete sich mit einem „Ich bins!“ an, doch ich ignorierte es einfach.

Er trat unaufgefordert ein, betrachtete einen Moment lang das nicht angerührte Mittagessen und umrundete dann mein Bett um sich neben mich auf die Kante zu setzen. Er sah mich an, wirkte besorgt. Ich konnte verstehen warum…

„Was ist los?“ fragte er leise.

Ich schüttelte nur leicht mit dem Kopf.

„Seto hat nach dir gefragt. Er möchte dass du mit ihnen gemeinsam zu Abend isst.“

Erneut schüttelte ich nur den Kopf.

„Er macht sich sorgen um dich.“

„Das habe ich in den letzten Tagen gemerkt…“, erwiderte ich leise und drehte mich auf die andere Seite um ihm zu signalisieren, dass ich keine Lust hatte dieses Gespräch noch länger zu führen.

Roland seufzte leise.

„Ihr zwei seid echt nicht einfach.“, stellte er fest und erhob sich.

„Ich werde ihm ausrichten, dass du nicht kommen wirst. Sonst noch etwas was du ihm sagen willst?“

Ich schüttelte den Kopf und schloss die Augen.

„Okay. Dann ruh dich aus.“
 

Erst am späten Abend quälte ich mich endlich aus dem Bett. Ich hielt es nicht länger aus.

Die Sache beschäftigte mich zu sehr, ich musste dass jetzt klären.

Und vor allem musste ich wissen, wer diese Frau war.

Bei dem Gedanken daran, dass sie seine Geliebte sein könnte, blieb mir das Herz stehen.

Ich hatte das Gefühl jeden Moment den Boden unter den Füßen verlieren zu können.

Stand ich dem Abgrund mal wieder so Nahe?
 

Also zog ich mir meine Lieblingsjeans, eins seiner schwarzen T-Shirts und den Kapuzenpulli den ich auch schon gestern getragen hatte an. Dann ging ich ins Bad, schöpfte mir kaltes Wasser ins Gesicht und putzte mir die Zähne.

Dann trank ich noch einen Schluck Wasser und verließ mein Zimmer.

Zuerst klopfte ich an sein Büro, doch weder hörte ich die Tastatur klappern noch wurde ich hereingebeten. Kurz öffnete ich die Tür, bemerkte, dass das Licht gelöscht war und schloss sie leise wieder.

Dann ging ich einen Raum weiter, wiederholte die Prozedur ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

Schließlich machte ich mich auf den Weg nach unten, sah kurz in der Küche nach, dann im Speisesaal und stand schließlich vor dem Wohnzimmer.

Ich hörte drinnen leise Stimmen.

Ich sammelte all meinen Mut zusammen, legte die Hand auf die Türklinke und öffnete schwungvoll die Tür.

„Seto, ich wollte mit dir…“, ich stockte mitten im Satz.

Was ich sah ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Seto saß auf der Couch, die Beine überschlagen, die eine Hand hing lässig über den Rand der Couch, die andere umfasste ein Weinglas mit tiefrotem Inhalt.

Neben ihm saß eine bildschöne Frau, die schönste die ich in meinem bisherigen Leben gesehen hatte. Sie war vielleicht zwei oder drei Jahre älter als Seto und strahlte Anmut und Eleganz aus. Sie hatte lange, braune und glatte Haare, trug ein schwarzes Cocktailkleid und hatte wie Seto die Beine überschlagen.

In ihrer Hand, deren Fingernägel in einem dunklen, auffälligen Rot gehalten waren, hielt sie ebenfalls ein halbvolles Weinglas.

Seto sah mich überrascht an und rührte sich erst, als ich Anstalten machte, das Zimmer zu verlassen.

„Warte!“, rief er, sprang auf und kam auf mich zu.

Ich ignorierte ihn, drehte mich um und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer.
 

Er holte mich auf der Treppe ein, griff nach meinem Handgelenk und hielt mich auf.

„Lass mich los.“, forderte ich ihn auf.

Er schüttelte stumm mit dem Kopf.

„Lass mich erklären.“, bat er leise.

Ich zerrte an seinem Griff, doch er hielt mich eisern fest.

„Nein. Ist schon okay. Das was ich gesehen habe war Erklärung genug.“

Energisch schüttelte er mit dem Kopf.

„Es ist nicht…“, begann er doch ich unterbrach ihn sofort.

„Nein! Lass mich einfach in Ruhe!“

Für einen Moment herrschte Stille. Er sah mich an. Ich konnte seinen Blick nicht deuten.

Schließlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er wirkte verärgert.

„Diesmal nicht, Joseph.“, sagte er streng, trat an mir vorbei und zog mich mit energischen Schritten die Treppe nach oben.

Überrascht starrte ich auf seinen Rücken, ließ mich von ihm in ein Zimmer, genau gegenüber von meinem ziehen und stolperte ein paar Schritte zur Seite, als er mich plötzlich los lies.

Er schaltete das Licht ein, Schloss die Tür und drehte sicherheitshalber den Schlüssel um, um von niemanden gestört werden zu können.

Panik stieg in mir auf.

Langsam ging ich Schritt für Schritt zurück, wäre beinahe über den Bettpfosten gestolpert und kam schließlich mit dem Fensterbrett im Rücken zum Stehen.
 

Schwer atmend sah ich ihn an.

Er erwiderte meinen Blick.

„Es ist nicht so wie du denkst.“, erklärte er, meinen gehetzten Blick nicht bemerkend.

Ich erwiderte nichts, versuchte meinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen und schloss für einen Moment die Augen.

Die Angst lähmte mich, ließ mich nicht mehr klar denken.

Ich wusste genau, dass nichts dabei war, einen Schlüssel im Türloch umzudrehen, ich wusste innerlich dass Seto keine böse Absicht damit hatte, sondern wirklich nur Störenfriede von uns fern halten wollte, doch das Gefühl des eingesperrt seins, des gefangen seins, ausgeliefert seins wollte nicht weichen.

„Bitte…“, flüsterte ich leise und sah ihn wieder an.

Überrascht und verwirrt bemerkte er meinen flehenden Ausdruck in den Augen.

„Was ist los?“ fragte er verunsichert.

„Mach die Tür wieder auf…“

Erleichtert vernahm ich wenige Sekunden später das Geräusch des sich drehenden Schlüssels im Schlüsselloch.

Dann näherten sich mir Schritte.

Seto kam langsam auf mich zu, griff nach meinen Schultern und zog mich vorsichtig in eine wärmende Umarmung.

„Entschuldige.“, flüsterte er mir leise ins Ohr.

Ich nickte.

Nach einigen Minuten, als er merkte, dass ich mich wieder beruhigt hatte, löste er sich von mir und brachte zirka einen Meter abstand zwischen uns.

„Es ist nicht so wie du denkst.“

Schlagartig wurde mir wieder bewusst, weshalb wir uns überhaupt in diesem Zimmer befanden.

Ich verschränkte abwehrend die Hände vor der Brust und wandte meinen Blick von ihm ab.

Ich wollte nicht wissen wer diese Frau war, oder was sie hier wollte, geschweige denn was sie von ihm wollte.

„Du hättest mir ruhig sagen können, dass du eine Freundin hast.“, sagte ich zornig.

„Sie ist nicht meine…“, begann Seto doch ich unterbrach ihn erneut.

„Ach komm schon. Die Situation war eindeutig und warum sonst sollte sie zwei Tage hintereinander hier verbringen? Hat sie auch hier geschlafen? Hat sie in diesem Bett geschlafen?“, ich zeigte auf sein weißes Himmelbett und sah ihn vorwurfsvoll an.

Verwirrt schüttelte er mit dem Kopf.

„Sie hat hier nicht übernachtet. Sie ist lediglich…“

„Du brauchst mich nicht zu schützen! Nur weil du mich geküsst hast, heißt das noch lange nicht, dass du mir deine Liebe gestehen musst. Es ist schon in Ordnung, Seto!“

„Joseph…!“

„Nein!“

„Ich…“

„Lass mich in Ruhe!“

Mit diesen Worten löste ich mich von der Fensterbank, ging mit energischen Schritten zur Tür und wollte diese bereits öffnen, als seine Hand plötzlich neben mir auftauchte und die Tür mit einem lauten Knall wieder zu schmiss.

Ich zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück.

„Jetzt hör mir mal zu!“, bat er mich.

Ich sah ihm in die Augen.

Er wirkte verzweifelt und eindeutig überfordert.

„Sie ist nicht meine Freundin. Maya ist eine Cousine!“, erklärte er mit leicht erhobener Stimme.

Verwirrt sah ich ihn an.

Cousine?

Scheiße…
 

Hatte ich ihm gerade wirklich wegen einer Cousine eine Szene gemacht? Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen schoss. Verdammt…was war denn nur in mich gefahren?

„Zwar nur dritten Grades, doch das ändert nichts daran, dass ich überhaupt nichts für sie empfinde! Und jetzt beruhige dich bitte wieder. Es läuft nichts zwischen ihr und mir, sie hat mich lediglich gestern im Büro aufgesucht um mit mir zu sprechen. Wir haben uns unterhalten und sind hier her gefahren, haben noch einen Kaffee zusammen getrunken und dann ist sie auf der Couch eingeschlafen. Heute Morgen ist sie verschwunden und stand vorhin überraschend wieder vor der Tür mit einer Flasche Wein in der Hand, mit der sie sich bei mir für das Gespräch gestern bedanken wollte.“

Ich nickte abwesend.

Cousine…und ich hatte gedacht sie wäre seine Freundin.

Ich hatte ihm das mit dem Kuss doch nicht tatsächlich vorgehalten? Gott war ich mies.
 

„Und was das mit dem Kuss angeht, Joseph: Ich weiß das es Scheiße von mir war die Situation einfach so auszunutzen und ich kann verstehen, dass du deshalb wütend auf mich bist, doch kann ich nun mal jetzt nichts mehr daran ändern! Ich mache mir schon genug Vorwürfe wegen der ganzen Geschichte! Was denkst du warum ich mich seit Tagen nicht mehr bei dir blicken ließ? Weil ich ein verdammter Feigling bin! Nur deswegen!“

Nur langsam realisierte ich, was er mir versuchte zu vermitteln.

Er hatte sich von mir fern gehalten, weil er Angst vor der Konfrontation hatte? Seto Kaiba hatte Angst vor einem Gespräch?

Verwirrt schüttelte ich leicht mit dem Kopf.

Und er gab sich die Schuld an dem, was am Montag passiert war?

Nur warum? Er konnte nichts dafür das mein Vater ein brutales Arschloch war…doch er war der Grund gewesen, weshalb ich die Villa so überstürzt verlassen hatte…aber…

“Ich bin doch gar nicht wütend…“, sagte ich leise mehr zu mir selbst als zu ihm.

Er hielt in seinem Vortrag inne und sah mich verwirrt an.

„Ich bin nicht wütend.“

„Du…bist gar nicht wütend?“ fragte Seto.

Er wirkte verunsichert.

„Nein.“ Bestätigte ich erneut.

Er trat einen Schritt zurück, ließ seine Hand von der Tür sinken und brachte so wieder mehr Abstand zwischen uns.

„Aber…warum bist du dann weggelaufen?“

Ich biss die Zähne zusammen und wandte den Blick von ihm ab.

„Du bist einfach gegangen…Ich habe zum ersten Mal in meinem ganzen Leben mit jemanden darüber gesprochen, was mein Vater mir angetan hat, dann habe ich dich angeschrieen und du hast mich…geküsst. Und dann stößt du mich weg, entschuldigst dich und verschwindest!

Ich dachte du bereust, was du getan hast, weil du nur im Affekt gehandelt hast.“

Er runzelte die Stirn und schüttelte mit dem Kopf.

„Ich habe nicht…“, er brach ab, denn es klopfte laut an der Tür.

„Setooo!“, jammerte eine Frauenstimme auf der anderen Seite.

Sie stieß die Tür auf, sah mich einen Moment lang verwirrt an, und schwang sich dann an Setos Hals.

„Hast du mich vergessen?“, fragte sie laut und sah ihn vorwurfsvoll an.

„Entschuldige Maya. Ich komme sofort.“

Sie lächelte und jauchzte entzückt. Dann löste sie sich von ihm und sah ihn abwartend an.

Mir war klar, sie würde jetzt nicht anstandshalber vor der Tür auf ihn warten.

Außerdem wirkte sie, als hätte sie die Weinflasche in seiner Abwesenheit schon mal geleert.

Also nickte ich nur resignierend.

„Ich werde dann mal gehen…“, mit diesen Worten trat ich mit hängenden Schultern an ihnen vorbei zur Tür.

„Warte!“, wandte Seto ein und griff nach meinem Arm.

„Lass uns…später noch mal reden, okay?“

Ich nickte leicht, löste mich aus seinem Griff und verschwand in meinem Zimmer.

Wann dieses später sein sollte, wollte ich gar nicht wissen.

Das letzte: „lass uns später reden“ bekam ich vor drei Tagen zu hören und danach war der Herr des Hauses auf nimmer wieder sehen verschwunden.

Herrlich!

Kapitel 19

Close the Door
 

Kapitel 19:
 

Ich lag im Bett, das Gesicht Richtung Fenster gewandt, die Decke bis zur Nasenspitze nach oben gezogen. Ich lag auf der Seite, die Beine eng an meinen Körper gezogen, die Hände unter dem Kopfkissen verschränkt.

Als es klopfte reagierte ich nicht. Durch das Fenster konnte ich Setos Silhouette erkennen, als er den Kopf durch die Tür steckte und zum Bett sah.

„Joseph?“, fragte er flüsternd.

Ich stellte mich schlafend.

Jetzt war es zu spät.

Zwei Stunden hatte ich auf ihn gewartet, nun hatte ich kein Interesse mehr an einem klärenden Gespräch.

Ich wollte nur noch schlafen. Auch wenn ich sicher nicht einschlafen konnte…
 

Er flüsterte erneut meinen Namen, gab dann allerdings auf. Nach wenigen Sekunden schloss er die Tür leise hinter sich und seine Schritte verklangen auf dem Gang.

Ich seufzte leise.

Trotz der dicken Decke war mir immer noch kalt.

Ich zog sie fester um meinen Körper, schloss die Augen und versuchte endlich zur Ruhe zu kommen.
 

Am nächsten Tag war es Roland, der mich aus dem Bett jagte.

„Joseph, jetzt reicht es! Ich sehe mir den Kindergarten nicht länger an. Steh endlich auf und komm zum Frühstück!“, brummte er gallig.

Genervt zog er mir meine Decke weg und schmiss sie achtlos auf den Boden.

Ich rieb mir die noch müden Augen, fröstelte bei der frischen Luft, die durch das von Roland geöffnete Fenster herein kam und setzte mich schließlich auf.

„Was heißt hier Kindergarten?“, murmelte ich leise und stand auf.

„Das erkläre ich dir gerne! Seto lag mir jetzt vier Tage damit in den Ohren, wie es dir geht, ob du genug isst, ob du dich gut erholt hast, ob du dich wohl fühlst…jeden Tag die gleichen Fragen und jeden Tag antworte ich ihm das selbe: „Geh zu ihm und frag ihn gefälligst selbst!“, doch stattdessen nervt er mich mit diesem „Ich bin der Boss und du tust was ich sage!“ Getue. Dabei weiß er genauso gut wie ich, dass das bei mir auf Taube Ohren stößt.

Und du? Du fragst jeden Tag, was macht Seto? Ist er wieder Arbeiten? Hat er wieder viel zu tun? Wann kommt er nach Hause? Statt dass du ihn einfach anrufst, kommst du damit zu mir.

DAS ist Kindergarten, Joseph.“, erklärte er ausführlich und mit einem belustigten Unterton in der Stimme.

Verdutzt sah ich ihn an.

Das T-Shirt in meinen Händen, das ich eigentlich gerade hatte anziehen wollen, war vergessen.

Einen Moment lang versuchte ich mich in Rolands Situation hineinzudenken und musste dann leise Lachen.

Er hatte Recht.

Für ihn war das wirklich Kindergarten. Ich hatte bisher nicht darüber nachgedacht, ob Seto Roland wohl ebenfalls Fragen über mich stellen würde. Bisher war ich ja der Meinung gewesen, er hätte mich schlichtweg vergessen.

Doch ich wusste dass Roland die Wahrheit sagte. Er hatte mir versprochen immer ehrlich zu sein, auch wenn die Antwort mir eventuell nicht gefiel.
 

Roland sah zufrieden zu seinem dritten Schützling im Bunde.

Das leise Lachen gefiel ihm sehr.

Es war das erste Mal dass er ihn lachen hörte.

Natürlich ein Lächeln hier, ein aufgesetztes Grinsen da…doch ein richtiges Lachen…das hörte er bewusst zum ersten Mal.

Roland ging lächelnd auf Joseph zu und streckte die Arme aus.

„Komm mal her.“, bat er leise.

Joseph wirkte etwas überrumpelt, schüttelte dieses Gefühl jedoch schnell ab und ließ sich von ihm in eine warme Umarmung ziehen.

„Das Lachen steht dir. Das solltest du öfters zeigen.“, sagte er leise und gab den jungen Mann wieder frei.
 

Unsicher setzte ich ein Lächeln auf und nickte leicht.

Das war das erste Mal, dass jemand mich auf mein Lachen ansprach.

Schließlich seufzte Roland und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Also wie sieht es aus, Joseph? Erlöst du mich von meinem Leid als euer Kindermädchen zu fungieren, oder lässt du mich weiterhin den Übermittler spielen?“ fragte er theatralisch.

Ich lachte erneut, schüttelte mit dem Kopf und machte eine huldvolle Geste in seine Richtung.

„Ich entlasse euch aus ihren Diensten, der Herr.“, witzelte ich grinsend, griff dann nach meiner Kleidung und steuerte das Bad an.

Roland lachte ebenfalls.

„Dann sehen wir uns gleich beim Essen!“

Ich wedelte als Bestätigung mit meinem T-Shirt und verschwand hinter der Tür.

Roland verließ mein Zimmer, während ich mich kurz unter die Dusche stellte und dann die Zähne putzte.

Ich zog mir meine Jeans, eins von Setos T-Shirts und meinen braunen Zipper an, ging dann zur Tür und trat aus dem Raum.

Langsamer als nötig machte ich mich auf den Weg zum Speisesaal und dachte über Rolands Worte nach.

Mehr und mehr spürte ich, dass ich Seto Kaiba weniger kannte, als ich dachte.

Mir war nicht bewusst gewesen, dass er so besorgt um mich war…

Die Idee dass er eine Freundin hatte, von der ich bisher nichts gewusst hatte, erschien mir jetzt im Nachhinein wirklich absurd.

Ich hatte das Gefühl eine Entschuldigung für mein Verhalten des gestrigen Abends wäre angebracht.

Ob ich die Gelegenheit dazu haben würde, mit ihm darüber noch mal zu sprechen?

Auch das unterbrochene Gespräch von Gestern sollten wir wohl zu ende führen.

Wollte ich das überhaupt?

Eigentlich ja.

Obwohl…eigentlich nein…

Die Angst vor einer Enttäuschung war groß. Gestern war ich noch so mutig gewesen. War ich auch ein Feigling? Wie Seto es gestern von sich behauptet hatte?

Ja wahrscheinlich schon.

Zumindest in diesem Fall…

Wer gab auch schon gerne zu, dass er sich in den reichsten Mann der Stadt verliebt hatte…

Und dass auch noch als Junge.
 

Ich schluckte und verdrängte meine Gedanken so gut es ging. Ich stand direkt vor der Tür zum Speisesaal, das letzte was ich jetzt wollte war mich in einer depressiven Episode zu verlieren.
 

Ich nahm all meinen Mut zusammen und betrat den Raum.

Es waren alle anwesend und Delia trug gerade auf.

Kurz ließ ich meinen Blick über die Runde schweifen.

Seto saß wie immer am Tischende, neben ihm sein Bruder auf der anderen Seite saß…wie hieß diese Frau gleich? Ach ja…Maya.

Was wollte die schon wieder hier?

Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

War ich eifersüchtig? Ja…schließlich hatte diese fremde und unheimlich schöne Frau in den letzten Tagen mehr Zeit mit Seto Kaiba verbracht.

Wie nannte man das so schön? Blut ist dicker als Wasser?

War es das wirklich?

Nein…Seto hatte gesagt, sie sei einfach aufgetaucht, sowohl im Büro als auch hier zu Hause. Was sollte er tun, als sie gastfreundlich aufzunehmen? Es wäre unverschämt sie einfach rauszuschmeißen.

Genauso unverschämt wie unangemeldet zu Besuch zu erscheinen.

Doch das konnte ich ihr kaum vorwerfen. Ich hatte mich Seto auch aufgedrängt, nachdem ich nach einer Auseinandersetzung mit meinem Erzeuger einfach abgehauen war…mitten in der Nacht…

Ich schluckte.

Es war mir unangenehm an den Abend zurück zu denken.

Dieser Abend vor drei Wochen hatte alles verändert…
 

Neben dieser Cousine dritten Grades war ein Platz frei. Daneben saß Roland, ihm Gegenüber seine Ehefrau und neben ihr ein vielleicht zwölf jähriger Junge, der seiner Mutter erstaunlich ähnlich sah.

Roland hatte eine sehr hübsche Frau. Sie war vielleicht Mitte dreißig, hatte langes, schwarzes Haar und trug eine unauffällige Brille.

Delia brachte das letzte Tablett, bestückt mit verschiedenem Obst, Marmeladensorten und Wurstaufschnitten.

Sie stellte es in die Mitte des Tisches, verbeugte sich artig und verließ den Raum.

Ich setzte mich in Bewegung, steuerte unwillig den leeren Platz neben der fremden Frau an, der extra für mich freigehalten wurde.

Roland nickte mir lächelnd zu, als ich mich neben ihn setzte. Ich erwiderte das Lächeln leicht.

„Guten Morgen.“, warf ich höflich in die Runde und rückte mit dem Stuhl etwas näher zum Tisch.

„Seto-chan, willst du uns nicht miteinander bekannt machen?“, fragte Maya entzückt und sah mich mit einem abwertenden Lächeln an.

Der Angesprochene faltete die Zeitung, die er in den Händen hielt bedächtig zusammen und legte sie beiseite. Dann sah er sie entnervt an.

„Würdest du das bitte lassen?“, bat er nicht gerade begeistert und spielte damit den unangebrachten Kosenamen an.

Innerlich grinste ich boshaft, nach außen hin tat ich so, als spüre ich die Blicke der Anwesenden nicht.

Maya kicherte und winkte ab.

„Reg dich nicht so auf, Honey. Du weißt ich will dich nur ärgern.“

„Ja, das ist nicht zu überhören.“, er deutete auf mich, „Maya, das ist Joseph Jay Wheeler. Joseph, das ist Maya Kaiba, meine Cousine.“

„Dritten Grades!“, fügte Maya überflüssiger weise hinzu und hob zur Verdeutlichung drei Finger in die Höhe.

Mokuba, der mir schräg gegenüber saß verdrehte genervt die Augen.

Gerne hätte ich in diesem Moment laut losgelacht. Von allen Seiten spürte ich eine Abneigung gegenüber dieser Frau. Es belustigte mich, dass sie hier scheinbar jedem auf die Nerven ging.

Stattdessen nickte ich ihr kurz anteilnahmslos zu und griff dann nach einer der getoasteten Sandwichscheiben, die Mokuba mir gerade einladend entgegen hielt.

„Vielen Dank, Mokuba.“

Er lächelte, stellte den Brotkorb wieder zurück an seinen Platz und zog sich dann das Nutellaglas näher zu sich heran.

„Moki nicht so viel Süßkram.“, tadelte ihn sein Bruder halbherzig.

„Ich weiß, Seto. Ich esse nur eins.“

Er nickte und wandte sich wieder zu mir.

„Roland kennst du ja und ihm gegenüber sitzen seine Frau, Makoto und ihr Sohn, Ben.“

Ich lächelte zurückhaltend in ihre Richtung und gab ein leises: „Freut mich“ von mir.

Die beiden erwiderten mein Lächeln und nickten.

Ich fühlte mich wahrlich unwohl in diesem Moment.

So viele neue Gesichter und Namen hatte ich nicht erwartet. Und dann saß ich auch noch neben dieser Furie.

Diese musterte mich neugierig und wandte sich dann wieder an Seto.

„Also Honey. Wer ist das?“, fragte sie ihn sehr direkt.

Die Anrede „Honey“ klang in meinen Ohren so unpassend für Seto, dass mir fast schlecht wurde.

Roland reichte mir die Butter, ich bedankte mich artig und schmierte mir etwas auf meinen Toast. Dann stellte ich sie in die Mitte des Tisches und nahm mir von der Wurstplatte eine Scheibe Salami.

An Süßkram war im Moment nicht zu denken. Dafür rumorte mein Magen heute Morgen viel zu sehr.

„Davon abgesehen dass dich das nichts angeht, könntest du es bitte unterlassen mich dauernd „Honey“ zu nennen. Ich bin weder klebrig noch süß!“, erwiderte Seto auf ihre Frage und führte seine Kaffeetasse zum Mund um einen Schluck zu trinken.

Sie lachte und überging seinen Kommentar einfach.

„Wo hast du ihn aufgegabelt?“, fragte sie und zeigte kichernd auf die Verletzungen in meinem Gesicht. „In der Gosse?“

Ich zuckte leicht zusammen.

Musste ich mir das wirklich gefallen lassen?

Wahrscheinlich, immerhin war sie von weit aus höherem Stand wie ich. Schließlich war sie eine Kaiba und kein heruntergekommener, mittelloser Penner aus der Gosse wie ich.

Ich biss also die Zähne zusammen, ließ mir nichts von meinem Ärger anmerken und tat so als hätte ich sie nicht gehört.

„Maya, bitte lass das. Joseph ist mein Gast und du hast kein Recht ihn zu beleidigen.“

„Ich habe ihn nicht beleidigt, sondern lediglich eine Frage gestellt.“, murmelte sie trotzig und sah mich erneut abschätzend an.

„Also, Jay-Jay. Wo wohnst du?“, fragte sie und wirkte ehrlich neugierig.

Kurz hob ich den Kopf und sah Seto an.

Er bemerkte meinen Blick und nickte leicht.

„Hier.“, erwiderte ich also gelangweilt und widmete mich wieder meinem Frühstück.

„Hier??“, fragte sie erstaunt und kicherte erneut.

„Du hast dir einen Welpen angeschafft, Seto-chan? Ich bin entzückt!“

Sie klatschte in die Hände und legte mir dann die Hand auf die Schulter.

„Ich frage mich mit wem du dich geprügelt hast. Hast du wenigstens gewonnen, Jay-Jay?“

Ich erstarrte, als ich ihre Hand auf der Schulter verspürte.

Langsam wandte ich mich zu ihr um, griff mit der Linken nach ihrer Hand und schob sie unmissverständlich von meiner Schulter.

„Ich wüsste nicht, was Sie das Angehen sollte. Und ich wäre ihnen sehr verbunden wenn Sie es unterlassen würden mich „Jay-Jay“ zu nennen.“, sagte ich kalt.

Erstaunt sah sie mich an, registrierte meine Reaktion und brach dann in lautes Gelächter aus.

„Du traust dich ja was. Mir hier Vorschriften machen zu wollen! Pass lieber auf was du sagst, sonst bist du schneller wieder in der Gosse als du glaubst. Wo ist überhaupt dein Vater? Hat er dir denn nicht beigebracht, wie man sich der höheren Gesellschaft gegenüber benimmt?“, fragte sie und lachte erneut. „Eine tracht Prügel hättest du verdient. So wie du dich hier aufspielst, Jay-Jay.“

Die Wut, die sich in mir aufstaute, drehte mir förmlich den Magen um. Ich schmiss meinen angeknabberten Toast zurück auf den Teller und stand mit einem Ruck auf.

„Ihr entschuldigt mich.“, sagte ich leise.

„Joseph! Bitte setz dich wieder hin.“, bat mich Seto.

„Nein Danke. Der Appetit ist mir vergangen.“, erwiderte ich und drehte mich um.

„Ach lass ihn doch, Honey. So wie er aussieht wäre es denke ich eh besser, wenn er beim Personal isst. Ich finde es ist schon fast eine Zumutung einen Schläger-Typ am selben Tisch sitzen zu haben.“, kicherte Maya und winkte ab.

Wütend wandte ich mich zu ihr um, wollte gerade eine bissige Antwort auf ihren Kommentar zurückgeben, als Seto mit einem Ruck aufstand und sein Stuhl polternd nach hinten viel.

„Maya, es Reicht! Halt den Mund!“, brüllte er sie an.

Erschrocken zuckten alle Anwesenden zusammen.

Verwundert sah ich ihn an. Es war selten ihn so in Rage zu erleben. Eigentlich war er nie so offensichtlich zornig.

Er verbarg solche Gefühle in der Regel hinter seiner Mauer und zeigte nach außen hin lieber die kalte Schulter, im Kopf schon einen Plan entwickelt, den Menschen, der es schaffte ihn so wütend zu machen, zu vernichten.

Einen solchen Ausbruch, sah ich zum ersten Mal.

Auch Maya wirkte ehrlich entsetzt.

Kurz sah ich zu Mokuba. Er grinste zufrieden. Ein kurzer Blick nach links zu Roland bestätigte mir, dass auch er kurz davor war ein schadenfrohes Lächeln zu zeigen.

Ich hatte ehrlich das Gefühl im falschen Film zu sein.

Maya schlug beschämt die Augen nieder und nickte.

Seto beruhigte sich augenblicklich, hob kommentarlos den Stuhl auf und setzte sich wieder hin.

Ich wandte mich erneut ab.

Nein. Das war mir echt zu schräg im Moment.

„Joseph, bitte…“, bat mich Seto jetzt in einem ruhigen und sanften Ton.

Ich schüttelte leicht den Kopf und setzte mich in Bewegung.

„Nein. Ich habe wirklich keinen Hunger. Ich gehe wieder hoch.“

Niemand hielt mich mehr auf.

Ich war froh darüber, das Seto scheinbar verstanden hatte, das ich nicht plante, noch weiter in der Gesellschaft dieser Frau zu verweilen.

Mit schnellen Schritten war ich aus dem Zimmer verschwunden und wandte mich dann nach links um einen kurzen Blick in die Küche zu werfen. Delia stand neben der Tür zum Speisesaal und sah mich warm lächelnd an, als ich auf sie zukam.

„Soll ich dir was hochbringen, Joseph?“ fragte sie leise und legte mir kurz die Hand auf den Arm.

Ich schüttelte mit dem Kopf.

„Nein danke, Delia. Mach dir keine Umstände. Ich wollte mich nur entschuldigen. Ich verschmähe schon wieder dein Essen, doch im Moment bringe ich wirklich nichts runter.“

Sie winkte leise lachend ab.

„Ist schon in Ordnung. Möchtest du was trinken? Soll ich dir einen heißen Kakao machen?“

Kurz überlegte ich und nickte dann.

„Ja das wäre sehr lieb.“

„Ich bringe ihn dir hoch, okay? Ich muss eh noch ein bisschen Ordnung schaffen in Mokubas Zimmer, das heißt dein Zimmer liegt auf dem Weg.“

Ich lächelte dankbar und wandte mich ab.
 

In meinem Zimmer angekommen, ließ ich mich aufs Bett fallen und starrte verwirrt zur Decke.

Was war das eben gewesen? Ich hatte Seto noch nie so offensichtlich zornig erlebt.

Maya hatte ihn scheinbar so sehr genervt mit ihren dummen Sprüchen dass es mit ihm durchgegangen war.

Das war wirklich eine komische Gesellschaft.

Hätte ich vorher gewusst, was mich beim Frühstück erwartete, wäre ich gar nicht erst aufgestanden. Rolands Argumente hin oder her.

Nach kurzer Zeit klopfte es an der Tür und nach einem schlichten: „Ja?“, meinerseits trat Delia ein, brachte mir den Kakao und lächelte.

„Vielen Dank. Sehr lieb von dir.“

Sie winkte ab.

„Das ist schließlich mein Job.“, erklärte sie lachend und verschwand wieder aus dem Zimmer.

Lächelnd sah ich ihr nach.

Sie war wirklich eine Bereicherung für dieses Haus. Ihr sonniges Gemüt und ihre freundliche Zurückhaltung passten perfekt in diese Villa.

Damit konnte sie sowohl Mokuba als auch Seto eine Stütze sein.
 

--
 

Als es erneut klopfte, saß ich mit angezogenen Beinen auf dem Fenstersims, hielt mit beiden Händen die noch warme Tasse fest und starrte nach draußen.

Es regnete und war für die Uhrzeit recht dunkel. Richtiges Trübsaalwetter.
 

Ich wusste längst, wer in diesem Moment die Tür öffnete und ins Zimmer trat.

Dieses Klopfen kannte ich bereits in und auswendig.

Langsam trat Seto näher und setzte sich schließlich seufzend auf die Bettkante.

Ich wandte meinen Blick vom Fenster ab und sah ihn an.

Er wirkte ziemlich müde und kaputt.

Stöhnend ließ er sich einfach zur Seite fallen und zog sich mein Kopfkissen näher zu sich heran um es sich bequemer zu machen.

„Darf ich eine Weile hier bleiben? Ich ertrage diese Frau jetzt wirklich nicht und hier würde sie mich bestimmt nicht suchen.“, bat er mich und ich bildete mir ein, einen Moment lang Verzweiflung in seinen Augen aufblitzen zu sehen.

Ich lachte leise und sah ihn Kopfschüttelnd an.

Er sah ziemlich fertig aus. Die Ringe unter seinen Augen wirkten besorgniserregend.

Schließlich nickte ich ernst und antwortete: „Klar. Bleib solange du willst.“

Er lächelte dankbar, schloss die Augen und kroch unter die Bettdecke.

„Dann bleibe ich für immer.“ Erwiderte er, gähnte verhalten und kuschelte sich unauffällig weiter in die Mitte des Bettes.

Nach wenigen Minuten wurde seine Atmung gleichmäßiger.

Seto war eingeschlafen.

Kapitel 20

Close the Door
 

Kapitel 20:
 

Als Seto erwachte saß ich immer noch auf dem Fenstersims, jetzt allerdings bepackt mit Schulbüchern, Notizen, meinem Schreibblock und einem Kugelschreiber.

Das Wetter hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht. Die Wolkendecke war aufgebrochen und die Sonne spendete mir durch ihre kräftigen Strahlen ausreichend Licht.
 

Ich kämpfte mich gerade erfolgreich durch Mathematik, eines der wenigen Fächer, bei dem man mit Logik und Verstand nicht viel Zeit und Übung brauchte um die verschiedenen Rechenwege nachzuvollziehen und zu verinnerlichen.

Auch wenn ich zugeben musste, dass die Wahrscheinlichkeitsrechnung mir langsam echt zum Hals raus hing.

Immer der gleiche Mist.

Seto gähnte, seufzte leise und setzte sich auf.

Kurz fuhr er sich über das Gesicht.

Er schien immer noch ziemlich Müde zu sein, auch wenn seine Augenringe sich scheinbar etwas zurückgebildet hatten. Er sah besser aus, als noch vor wenigen Stunden.

Schließlich stand er auf, trat neben mich und sah mir kurz über die Schulter.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte er und überflog meinen bisherigen Rechenweg.

„Nein. Ich krieg´s eigentlich ganz gut allein hin.“, erklärte ich und schrieb nach kurzem Überlegen das Ergebnis unter die Rechnung.

Er nickte.

„Ja, das sehe ich. Du hast keine großen Schwierigkeiten mit Mathe, stimmt´s?“

„Nein nicht wirklich. Es gibt schlimmere Fächer.“

„Zum Beispiel?“

„Englisch.“

Er lächelte leicht.

„Ehrlich? Englisch ist eines der wenigen Fächer das mir nicht total auf die Nerven geht in der Schule. Solltest du also mal Hilfe brauchen, sag ruhig bescheid.“

Ich lächelte ihn kurz an und beugte mich dann wieder über das Schulbuch.

„Danke. Vielleicht komme ich mal darauf zurück.“

„Mach das.“

Er wandte sich ab und ging ins Bad um sich kurz frisch zu machen.

In der Zwischenzeit klopfte es wieder mal an meiner Zimmertür.

„Ja?“, rief ich und hob den Blick um zu sehen, wer sich bei mir einschleichen wollte.

Es war Roland.

Er lächelte mich warm an und kam auf mich zu.

„Delia schickt mich. Es gibt gleich Mittagessen. Ich soll euch bescheid sagen. Du weißt nicht zufällig wo sich der Herr des Hauses befindet, oder?“

Ich zeigte kommentarlos auf mein Badezimmer und Roland nickte.

„Ich hab’s mir schon fast gedacht.“

Er setzte sich auf den Sessel und wartete.

Als Seto die Badezimmertür öffnete und seinen Bodyguard im Sessel sehen sah, stutzte er kurz.

„Was gibt’s?“, fragte er lauernd und setzte sich wieder auf mein Bett.

„Ich soll bescheid sagen das es in ein paar Minuten Essen gibt. Und außerdem sucht deine geliebte Cousine 3. Grades dich seit geraumer Zeit und spielt mit dem Gedanken eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufzugeben.“, belustigt kicherte Roland in sich hinein.

Ich grinste bei der Vorstellung, wie Maya hysterisch durchs Haus lief und „Honey! Honey!“ schrie.

Freak!

Seto stöhnte genervt und ließ sich wieder nach hinten fallen. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schüttelte fassungslos den Kopf.

„Womit habe ich das nur verdient?“

Ich lachte leise.

Verwundert hob er den Kopf und sah mich an.

„Da lachst du? Ich werde vom Teufel höchstpersönlich verfolgt und du lachst?“

Ich schlug die Hand vor den Mund und kicherte noch lauter.

Seto sah Roland gespielt verzweifelt an, was diesen dazu veranlasste sein breitestes und schadenfrohstes Grinsen aufzusetzen, dass er in diesem Moment zustande bringen konnte.

„Na ihr zwei seid mir ja tolle Freunde.“, stellte Seto kopfschüttelnd fest und setzte sich wieder auf.

Roland und ich sahen uns an, brachen in lautes Gelächter aus und auch Seto stimmte schließlich mit ein.

Es war erstaunlich. So unbeschwert hatte ich den eiskalten Geschäftsmann noch nie erlebt. Aber es war eine schöne Seite an ihm und ich schätzte es sehr, dass er sie mir zeigte.
 

Schließlich klopfte es erneut an der Tür.

Langsam hatte ich das Gefühl, mein Zimmer wurde der neue Aufenthaltsort für die Familie Kaiba.

Ich rief ein lautes „Herein!“ Richtung Zimmertür und Mokuba platzte ins Geschehen.

„Delia sagt ihr sollt zum Essen kommen und sie endlich von dieser Furie erlösen!“, blubberte Mokuba schwer atmend, drehte sich um und rannte wieder zurück.

Seto warf Roland einen flehenden Blick zu.

„Bitte, bitte, beschütze mich!“

Roland grinste und meinte: „Sorry, bin heute nicht im Dienst.“

Mit diesen Worten erhob er sich schwungvoll aus dem Sessel und schlenderte aus dem Zimmer.

Seto wandte sich zu mir um, tauschte einen Blick mit mir und ich konnte nicht anders, als wieder zu lachen.

Kopfschüttelnd stand der Herr des Hauses auf, kam auf mich zu und griff nach meiner Hand.

„Also komm. Wagen wir uns in die Höhle des Löwen!“, sagte er lächelnd und zog mich von der Fensterbank.

Gemeinsam verließen wir das Zimmer und machten uns auf den Weg zum Speisesaal.
 

„Setoooo….wo bist du denn gewesen?“, fragte Maya quengelig und griff nach seiner Hand um ihn zu seinem Platz zu zerren.

Sofort setzte sie sich wieder neben ihn, direkt gegenüber von Mokuba.

Diesmal hatte ich freie Platzwahl und wählte Mokuba als Sitznachbarn aus.

Roland und seine Familie nahmen nicht an der Mahlzeit teil.

Scheinbar war es eher die Ausnahme, dass die Familie mit den Kaibas zusammen aß.

Ich nahm an, dass sie ihr eigenes Appartement hier im Haus hatten und somit auch eine eigene Küche.

So groß wie die Villa war, könnten wohl bestimmt fünf Familien problemlos hier wohnen.

„Ich war spazieren.“, log Seto ohne mit der Wimper zu zucken und ließ sich von Delia einen Teller mit Reis, Rindfleisch, Gemüse und einer einfachen Süß-Sauer-Soße bringen.

Erleichtert stellte ich fest, das Delia auf meinen Teller weniger Soße getan hatte. Ich nickte ihr dankbar zu und sie lächelte mich warmherzig an und zwinkerte.

„Ohne mich?“, beschwerte sich Maya lauthals und zog einen Schmollmund.

„Ja, ohne dich.“, erwiderte Seto emotionslos.

Ich schielte zu Mokuba um zu sehen wie er die Augen erneut rollte und mich viel sagend ansah.

Ich wusste genau, was er mir damit sagen wollte. Und ich stimmte ihm voll und ganz zu.

Es war kein Wunder das Maya so sehr betonte, dass sie nur eine Cousine dritten Grades war.

Schließlich war die Verwandtschaft in dem Fall so gering, dass einer Partnerschaft oder Heirat nichts entgegenstehen würde.

Und dass Maya darauf aus war, war nicht zu übersehen.

Nur, war sich Seto dieser Tatsache auch bewusst?
 

Trotz allem verlief das Mittagessen recht ruhig. Ich schaltete einfach auf Durchzug und hörte ihr nicht mehr zu. Stattdessen vertiefte ich mich in die Kunst des Essen-bei-sich-behaltens.

Und das kostete sowieso meine ganze Aufmerksamkeit.

Nach dem ich zirka die Hälfte des Essens heruntergewürgt hatte, legte ich die Stäbchen beiseite und wartete geduldig darauf, dass auch die anderen fertig wurden.

Maya brauchte am längsten, war sie schließlich damit beschäftigt, Seto nebenbei mit irgendwelchen unwichtigen Themen zu behelligen. Zum Beispiel welchen Film sie im Kino gesehen hatte, welchen Schauspieler sie in ihrer Lieblingsserie am meisten mochte oder welches Nagelmuster sie sich für die nächste Maniküre überlegt hatte.

Welch ein Schwachsinn!
 

Nach dem alle fertig waren stand ich auf, entschuldigte mich und verschwand aus dem Raum.

Länger als nötig in der Gesellschaft der Braunhaarigen zu verweilen stand nicht in meinem Sinne.

Also ging ich wieder hoch in mein Zimmer, setzte mich wieder an meinen Platz auf dem Fenstersims und vertiefte mich in das Thema japanische Geschichte zu Zeiten der Meiji-Ära.
 

Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür, Seto trat ein, kam genervt seufzend zum Bett und legte sich hin.

„Ich werde einfach wieder schlafen. Ich glaube das ist das einzig sinnvolle, neben dem Arbeiten, was mir jetzt noch bleibt. Und da sie mir bei der Arbeit nur auflauern würde, entscheide ich mich für dein Bett.“, erklärte er als ich ihn fragend ansah und deckte sich wieder zu.

„Gute Nacht.“, murmelte er und schloss die Augen.

Ich lächelte leicht, stand auf und trat zum Bett.

Ich setzte mich auf die Bettkante und sah ihn neugierig an.

„Sag mal, Seto…“, begann ich und wartete bis er die Augen wieder öffnete, sich leicht aufsetzte und sich gegen die Wand hinter dem Bett lehnte.

„Warum schmeißt du sie nicht einfach raus, wenn sie dich so nervt?“

Gequält verzog er eine Grimasse und zeigte Richtung Tür.

„Was denkst du was ich heute die ganze Zeit versucht habe? Aber das Problem ist, dass es wirklich sehr unhöflich wäre sie einfach vor die Tür zu setzen. Sie ist ein Gast dieses Hauses und hat das Anrecht so lange zu bleiben wie sie es wünscht. Und da sie zurzeit Stress mit ihrem Vater hat, hat sie kaum eine andere Möglichkeit als hier aufzuschlagen. Was denkst du, was ich mir von ihrem Vater anhören müsste, wenn ich sie einfach vor die Tür setzte? Sobald die zwei ihren Zwist bereinigt haben, wird sie verschwinden. So lange habe ich sie in eins der Gästezimmer am anderen Ende der Villa quartiert.“

Ich schüttelte verwirrt den Kopf.

„Das verstehe ich nicht. Was ist so schlimm daran, sie vor die Tür zu setzen? Du bist der reichste Mann der Stadt, Seto. Du wirst ja wohl noch das Recht haben, dir deine Gäste selbst auszusuchen.“

„Ja, aber stell dir vor sie stände plötzlich auf der Straße, nur weil ich nicht bereit bin sie in meinem Haus aufzunehmen. Ihr Vater hat ihr, wie immer, wenn sie sich streiten, den Geldhahn zugedreht, das heißt ihre finanziellen Mittel belaufen sich im Moment auf…nichts. Im Moment ist sie was das angeht wahrscheinlich noch ärmer als du. Du hast zumindest einen Job. Auch wenn du ihn im Moment nicht ausüben kannst.“

„Ja…das stimmt. Doch wenn ich du wäre, würde ich ihr wohl lieber ein Zimmer im Hotel buchen und sie dort unterbringen. Ich weiß nicht ob es dir schon aufgefallen ist, aber dein kompletter Haushalt steht unter Strom seid sie hier ist. Und sie ist erst seit zwei Tagen hier…“

Seto überlegte einen Moment und nickte dann langsam.

„Du hast Recht. Das wäre die angenehmere Lösung. Sowohl für meinen Haushalt, meine Familie und mich…“

Und mich…fügte ich in Gedanken hinzu.

Er seufzte leise, schloss die Augen und kuschelte sich zurück in die Kissen.

„Morgen nach der Schule schmeiße ich sie raus.“, murmelte er leise und war wenige Minuten später schon eingeschlafen.

Kopfschüttelnd sah ich ihn an und lächelte leicht.

So viele unausgesprochene Worte lagen zwischen uns und trotzdem war die Atmosphäre angenehm entspannt.

Im Gegensatz zum gestrigen Abend. Da hatte es nur so geknistert vor Anspannung.

Es war eigenartig…aber andererseits fühlte es sich gut an.
 

Ich ließ ihn in Ruhe schlafen und kehrte zurück zu meinem Arbeitsplatz. Morgen würde ich wieder zur Schule gehen und es war besser, ich käme vorbereitet zum Unterricht. Außerdem musste ich zwei Klausuren nachschreiben und das wollte ich lieber schnell hinter mich bringen.
 

Nach zirka zwei Stunden war ich fertig mit lernen. Gerade zum richtigen Zeitpunkt, denn es klopfte mal wieder an der Tür.

„Ja?“, rief ich und schon stürmte Mokuba ins Zimmer.

Er schmiss die Tür hinter sich zu, quetschte ein schnelles: „Hallo Joey“ heraus und schmiss sich dann aufs Bett.

Seto wurde durch Mokubas auf und ab Gehüpfe unsanft geweckt und sah seinen Bruder verwirrt an.

„Moki was ist los?“, fragte er schlaftrunken und griff sich ein Bein des 12-Jährigen, zog daran, was den Jüngeren lachend zu Fall brachte.

„Die Furie sucht dich und hat mich solange genervt bis ich das Wohnzimmer freiwillig verlassen habe.“, erklärte er grinsend und kuschelte sich an seinen großen Bruder.

Seto stöhnte genervt und schloss die Augen.

„Wann verschwindet die endlich wieder?“, fragte Mokuba vorwurfsvoll und sah seinen Bruder aus großen, blauen Augen an.

Lächelnd beobachtete ich die zwei.

Es war wirklich süß mit an zu sehen wie Kaiba die Augen verdrehte sich kurz durchs Haar strich und Mokuba die Hand um die Schultern legte.

„Morgen Moki. Versprochen!“, erklärte er und lächelte seinen kleinen Bruder liebevoll an.

Erleichtert seufzte Mokuba und entspannte sich.

„Gott sei Dank! Ich dachte schon die zieht hier ein!“

Seto lachte leise.

„Du weißt doch wie es mit ihr ist, Mokuba. Sie bleibt immer nur so lange bis sie sich wieder mit ihrem Vater versöhnt hat.“

„Ja, aber jeder ihrer Besuche ist eine wahre Tortur!“, maulte der Kleine verdrießlich verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

Seto lächelte, setzte sich dann auf und schälte sich aus den Decken.

„Was hältst du davon wenn wir dem ganzen Rummel entfliehen? Ich lade euch zum Essen ein. Wie wär’s mit McDonalds, Moki? Ich weiß doch das du den Fraß magst und wir waren schon ewig nicht mehr da.“

„Au ja!“, jubelte Mokuba, sprang aus dem Bett und kam zu mir gesprungen.

„Los Joey. Komm mit! Das wird lustig.“

Verwirrt sah ich Seto an. Dieser nickte mir auffordernd zu und stand ebenfalls auf.

„Ich ziehe mich schnell um. Wir treffen uns dann in zehn Minuten in der Garage. Mokuba nimmst du Joey mit dorthin?“, fragend richtete er sich an seinen Bruder.

Dieser nickte euphorisch.

„Klar, mach ich, Seto!“

Seto verließ das Zimmer und Moki zog an meinem Arm.

„Los komm schon!“

Ich lächelte und befreite mich aus seinem Griff.

„Warte einen Moment, ich geh nur kurz ins Bad.“, erwiderte ich und ließ ihn allein.

Ich schöpfte mir etwas Wasser ins Gesicht, trocknete es dann ab und sah kurz in den Spiegel.

So wollte Seto mich mit in die Öffentlichkeit nehmen? dachte ich zweifelnd und strich mir kurz über den fast verblassten blauen Fleck auf der linken Wange.

Wenn man es genau nahm, fiel es kaum auf.

Doch die Wunde an meiner Stirn war immer noch gerötet.

Na gut…ich hatte ihn nicht gebeten mich mitzunehmen. Er wollte es so.

Er würde schon wissen was er tat.

Ich ging zurück zu Mokuba und ließ mich von ihm zur Garage des Hauses ziehen.

Er wusste genau welchen Weg er wählen musste um der Furie, wie er sie nannte, nicht begegnen zu müssen.
 

Als wir in der Garage ankamen, staunte ich nicht schlecht.

Die Garage war riesig!

Es hatten bestimmt fünfzehn Autos platz. Im Moment standen jedoch lediglich 3 Autos schön säuberlich in einer Reihe.

Die Limousine war nicht da. Ich nahm an, Roland war im Auftrag von Seto unterwegs.

Die drei Autos auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs waren die Besten der Besten.

Das Linke kannte ich. In dem Auto hatte Seto mich damals, in der Nacht vor drei Wochen mitgenommen, als ich komplett durchnässt und durchgefroren vor seiner Bürotür gestanden hatte.

In der Mitte stand ein schwarzer Volvo in Sportausführung.

Das rechte Auto war recht unauffällig. Ein Wagen wie jeder ihn fuhr. Ich nahm an, Seto nutzte ihn vor allem wenn er privat in der Öffentlichkeit unterwegs war.

Es fiel wesentlich weniger auf in der Stadt mit einem 0815-Auto unterwegs zu sein als mit einem schwarzen Volvo.

Hinter uns öffnete sich die Tür und Seto kam hindurchgeschlüpft. Kurz sah er sich noch einmal über die Schulter, schien allerdings beruhigt.

Er trug eine blaue Jeans, Turnschuhe und ein lockeres weißes, sehr modernes Hemd. Er hatte es nicht in die Hose gesteckt und nur lässig an vier Knöpfen geschlossen.

Über seiner linken Schulter hing eine unauffällige, schwarze Umhängetasche.

Die schwarze Sonnenbrille auf seiner Nase machte seinen Auftritt perfekt.

Spontan hätte ich nicht erkannt, dass vor mir der reichste Jungunternehmer ganz Japans stand.
 

Plötzlich kam ich mir fast schäbig vor in meiner schlabberigen, viel zu großen Jeans, dem schwarzen unauffälligen T-Shirt und dem braunen Zipper.
 

Doch das Lächeln, das er uns schenkte, als er uns entdeckte verdrängte alle Gedanken über mein Aussehen in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses.

Kapitel 21

Close the Door
 

Kapitel 21:
 

„Hey.“, begrüßte er uns immer noch lächelnd und zeigte auf den unauffälligen Wagen auf der rechten Seite.

„Also los geht’s!“

Mokuba freute sich riesig auf den Ausflug und tat das durch sein unruhiges auf und ab Gehüpfe neben mir Kund.

Ich lächelte.

Er war wirklich ein liebenswerter, quirliger Junge.

Wir setzten uns in Bewegung, Seto holte bereits den Autoschlüssel aus seiner Umhängetasche und betätigte die Zentralverriegelung des Autos.

Mokuba setzte sich wie selbstverständlich nach hinten auf die Rückbank.

Verwundert sah ich ihn an.

„Willst du nicht neben deinem Bruder sitzen, Mokuba?“, fragte ich ihn.

Er schüttelte wild mit dem Kopf.

„Nein Joey, setz du dich ruhig neben ihn.“, erwiderte er.

Ich nickte unsicher, setzte mich auf den Beifahrersitz und warf Seto einen kurzen Blick zu.

Er schien bester Laune zu sein und das freute mich.
 

Mokuba hatte recht gehabt. Der Ausflug war Super. So ausgelassen mit seinem Bruder witzeln hatte ich Seto noch nie in der Öffentlichkeit gesehen.

Doch die meisten Personen, die sich momentan in dem McDonalds am Ende der Stadt aufhielten schenkten uns sowieso keine Beachtung.

Keiner schien Seto zu erkennen.

Wahrscheinlich war es auch für die ganze Stadt Domino ein Ding der Unmöglichkeit, das der Seto Kaiba, sich in einem Stinknormalen FastFood-Restaurant befinden könnte.

Ich hätte es auch niemandem geglaubt.
 

Als Mokuba nach dem halben Liter Cola, den er mittlerweile vertilgt hatte, verständlicher weise auf dem Klo verschwand sah Seto, der mir direkt gegenüber saß mich mit einem warmen Lächeln an.

„Ist alles okay bei dir?“, fragte er mich leise und lehnte sich ein Stück zu mir vor, stützte die Arme auf der Tischplatte ab und legte sein Kinn in seine Hände.

Ich erwiderte das Lächeln leicht.

„Ja…nur ehrlich gesagt…ich denke wir sollten…“

„Ja das sollten wir, doch lass uns das auf später verschieben, wenn wir wieder zu Hause sind, okay? Hier ist nicht der geeignete Ort um zu reden.“

Ich nickte.

Er hatte Recht.

Wir lächelten uns unsicher an, wandten dann beide gleichzeitig den Blick ab, als Mokuba wieder zu uns stieß und verkündete, er würde jetzt am liebten noch im Park spazieren gehen.

„Das ist eine gute Idee, Moki.“, erwiderte Seto und stand auf.

Ich stand ebenfalls auf und folgte den beiden Brüdern.

Ich war etwas befangen.

Die Aussicht auf ein weiteres klärendes Gespräch heute Abend machte mir etwas Angst.

Ob ich ihm von meinen Gefühlen erzählen sollte?

Würde er mich auslachen? Nein, das sicher nicht…

Doch was war, wenn Seto diese nicht verstand und sich von mir abwandte?

Ich wollte das, was wir jetzt im Moment hatten nicht zerstören…

Allein der Gedanke er könnte sich von mir distanzieren war zu viel für mich.

Das würde ich nicht überleben…
 

Der Spaziergang tat mir gut.

Er lenkte mich ab.

Entspannt schlenderte ich, die Hände in den Hosentaschen vergraben, neben Seto den schmalen Weg durch das Grün entlang.

Mokuba war uns immer ein paar Schritte voraus. Er pfiff vergnügt ein mir unbekanntes Lied, hielt bei jedem Hund, der unseren Weg kreuzte, jauchzend an und streichelte das Tier mit einem begeisterten Leuchten in den Augen.

Seto beobachtete seinen Bruder lächelnd. Er hatte die Sonnenbrille wieder aufgesetzt, ebenfalls die Hände locker in den Hosentaschen. Ich konnte erkennen, dass er die Zeit genoss. Er wirkte wesentlich ausgeglichener und auch glücklicher als sonst.

„Das habe ich wirklich schon lange nicht mehr gemacht.“, stellte er fest und lachte leise.

Fragend sah ich ihn an.

„So einen unbeschwerten Spaziergang. Durch die Arbeit habe ich oft das Gefühl dass ich etwas in meinem Leben verpasse. Wenn ich dann mit Moki einen Tag verbringe, wird mir jedes mal wieder deutlich bewusst, wie sehr mir so etwas fehlt.

Wäre ich ein ganz normaler Schüler, wie jeder andere, könnte ich jeden Tag so genießen.“, erklärte er, als er meinen Blick bemerkte.

„Warum tust du es dann nicht einfach?“, fragte ich ihn leise.

Verwirrt wandte er seinen Kopf zu mir und sah mich an.

„Was meinst du?“

„Häng deinen Job an den Nagel. Lass die Firma einfach Firma sein und sei der, der du gerne wärst.“

Seto lächelte leicht und nickte liebevoll in Mokubas Richtung.

„Wegen ihm…“

„Ich glaube ich verstehe nicht.“

„Ich will das mein kleiner Bruder alles hat was er sich wünscht. Ich will dass er glücklich ist. Dass er tun und lassen kann was er will. Seine Kindheit genießen kann. Und später, wenn er älter ist, möchte ich, dass er mit der Firma einen soliden Grundstock hat und sich entscheiden kann für das Leben, das er führen möchte. Sollte er kein Interesse am Geschäftsleben haben, dann kann er die Firma meinetwegen verkaufen und mit dem Geld etwas neues Aufbauen, was ihm gefällt. Auch wenn ich genau weiß dass er es kaum erwarten kann endlich in der Firma mitmischen zu dürfen.“

Ich verstand, was er mir damit sagen wollte. Und trotzdem…

„Du gibst dein Leben auf, um deinem Bruder alles der Welt bieten zu können? Denkst du nicht, dass was ihr jetzt habt, reicht bis an euer Lebensende?“

Seto lächelte leicht und schüttelte gleichzeitig mit dem Kopf.

„Es ist ja nicht so, als würde mir die Arbeit überhaupt keinen Spaß machen… Die KaibaCorporation ist, so wie sie jetzt ist, mehr oder weniger mein Lebenswerk. Natürlich liegt mir etwas an meiner Firma. Ich arbeite gern. Es ist nur so, dass ich es ab und zu vermisse, „normal“ zu sein…auf der anderen Seite könnte ich mir gar kein anderes Leben vorstellen…“

Kurz sah ich zu Mokuba.

Der Junge konnte sich glücklich schätzen.

Auch wenn ich Setos Meinung nicht ganz teilte.

„Weißt du…“, begann ich deshalb, „Ich denke Mokuba wäre manchmal so viel glücklicher, wenn du mehr Zeit mit ihm verbringen würdest. Ich denke, deine Präsenz in der Villa fehlt ihm…“

Seto schwieg daraufhin.

Er schien darüber nach zu denken.

Wahrscheinlich wusste er genau, dass ich eigentlich Recht hatte.

Gerade als er zu einer Antwort ansetzen wollte, wurde ich auf eine Gruppe Jugendlicher aufmerksam, die vielleicht fünfzig Meter von uns entfernt unter einer alten Eiche saßen.

Ich kannte diese Eiche.

Und auch die, die dort saßen.

„Yugi!“, rief Mokuba entzückt und lief begeistert auf die Gruppe zu.

Ich versteifte mich merklich.

Das hatte mir gerade noch gefehlt…

Seto bemerkte meine Reaktion und legte mir kurz seine Hand auf die Schulter.

„Keine Angst. Ich regele die Sache.“, erklärte er und nickte mir zu.

Doch ich schüttelte mit dem Kopf.

„Ich schaff das schon. Keine Sorge.“

Seto sah mich einen Momentlang schweigend an und wollte etwas erwidern, da wurden wir in unserem Gespräch schon unterbrochen.

„Joey! Seto! Ihr hier? Zusammen?!“, stellte Tristan geschockt fest und sah uns ungläubig an.

Er stand direkt vor uns, nicht nur er, auch Thea und Yugi waren zu uns getreten.

„Joey! Was ist mit dir passiert?“, fragte Thea besorgt und zeigte auf die Wunde an meiner Stirn.

„Ja Tristan. Du hast uns richtig erkannt.“, erwiderte ich auf Tristans geschockten Kommentar, dann wandte ich mich an Thea: „Mach dir keine Sorgen um mich, Thea. Mir geht es gut.“

Sie runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das behauptest du jedes Mal.“, warf sie mir vor.

Ich erwiderte nichts.

Yugi mischte sich ebenfalls ein: „Joey wo bist du gewesen? Du hast die ganze Woche gefehlt. Hat das was mit der Verletzung an deiner Stirn zu tun?“

Ich wollte schon antworten, dass sie das nichts anginge, doch Seto kam mir zuvor:

„Ich weiß nicht was daran so schwer zu verstehen ist. Doch euer Freund ist doch eindeutig nicht dazu bereit, mit euch darüber zu sprechen. Warum lasst ihr in also nicht einfach in Ruhe?“

Verwundert sah ich ihn an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er sich so schnell in das Gespräch einschalten würde.

„Aber Seto…wir…“, begann Yugi, doch Tristan unterbrach ihn sofort:

„Ach halt die Klappe Kaiba. Du hast hier gar nichts zu melden! Und was wir mit unserem Freund bequatschen, oder nicht, geht dich einen feuchten Dreck an!“, brüllte er und verschränkte wie Thea die Arme vor der Brust.

Seto lächelte leicht.

Kein warmes, freundliches Lächeln. Sondern ein Kaltes, Unbarmherziges.

„An deiner Stelle würde ich aufpassen, was du sagst, Taylor. Ein Anruf genügt und dein Leben wird zu deiner persönlichen Hölle werden.“, erklärte er ruhig und überlegen.

„Soll das eine Drohung sein?“, fragte Tristan zornig und trat einen Schritt auf Kaiba zu. Seine Hand ballte sich zur Faust.

Ungläubig sah ich von Tristan zu Seto. Sie stritten sich…wegen mir?

Schnell stellte ich mich zwischen die beiden und breitete die Arme zu beiden Seiten aus.

„Hört auf damit!“, sagte ich bestimmt und sah sie erwartungsvoll an.

Tristans Haltung entspannte sich etwas.

Seto verschränkte die Arme. Seine Miene war unergründlich. Es war schwer zu sagen, ob meine Ansage bei ihm Wirkung gezeigt hatte.

Er schwieg.

Das war ein gutes Zeichen.

„Leute…ich kann euch im Moment nicht erklären was in den letzten Tagen los war. Macht euch einfach keine Sorgen, okay?“, bat ich meine Freunde leise.

Yugi schüttelte leicht mit dem Kopf. Er schien nicht zu wissen, was er darauf antworten sollte.

Thea sah enttäuscht aus.

Tristan war es, der erneut etwas sagte.

„Joey…wir sind deine Freunde! Vertraust du uns nicht mehr?“, fragte er, seine Augen vor Überraschung und Verwirrung weit aufgerissen.

Ich schwieg.

Ich konnte es weder bejahen noch verneinen. Vertrauen nützte in dieser Hinsicht wenig… Die Sache mit meinem Vater war einfach viel zu persönlich…

Mein Schweigen war scheinbar Antwort genug…

„Also wenn das so ist…tut mir leid Joey, aber…eine Freundschaft baut auf Vertrauen auf. Wenn du uns nicht vertraust, wie sollen wir dann weiterhin befreundet sein?“, fragte er traurig.

Entsetzt sah ich ihn an.

War das sein ernst?

Ich sah zu Yugi. Er schien immer noch unsicher, widersprach Tristans Aussage jedoch nicht.

Als ich Thea ansah, drehte es mir spürbar den Magen um.

Mir wurde schlecht.

Es war ihr ernst…

Sie hatten mir gerade mehr oder weniger die Freundschaft gekündigt.

Leicht schüttelte ich mit dem Kopf.

Seto griff sanft nach meinem linken Arm.

„Lass uns gehen, Joseph.“, sagte er leise.

Ich wandte den Blick von meinen ehemaligen „Freunden“ ab und sah ihn an.

Dann nickte ich.
 

**
 

Schweigend saß ich neben Seto im Auto und starrte gedankenverloren aus dem Fenster.

Ich war ihm unendlich dankbar für den Vorschlag wieder zurück zur Villa zu fahren.

Mokuba der hinter uns saß fragte mich etwas, doch ich hörte ihn nicht.

Zu sehr war ich gefangen in meinem Gedankenstrudel.

Seto antwortete ihm statt meiner. Seine Antwort verstand ich nicht.

Sie drang nicht zu mir durch.

Sie hatten mir ihre Freundschaft gekündigt…weil ich ihnen nicht sagen konnte, was in den letzten acht Jahren in meinem Leben schief gelaufen war…

Einfach so, ohne mit der Wimper zu zucken…

Habe ich es nicht anders verdient?

Schließlich hätte ich mich ihnen schon längst anvertrauen können. Stattdessen habe ich sie belogen, immer wieder, genauso wie ich mich selbst belogen hatte.

Doch war das so unverständlich?

Für sie schon…sie wussten nichts von meinem Leben! Gar nichts!

Also war ich selber schuld…

Ich hätte es auch anders haben können.

Doch ich hatte mich für diesen Weg entschieden…oder nicht?

Ich realisierte die Situation nur langsam…

Meine einzigen „Freunde“ die ich hatte, hatten sich von mir losgesagt…
 

Ich hatte das Gefühl mit jedem weiteren Tag der verging, stürzte ich tiefer und tiefer…

Würde der Tag, an dem ich endlich den Fallschirm öffnen konnte noch kommen? Oder deutete tatsächlich alles auf Kollision?

Und was hieße das?

Wie würde es danach werden?

Wie viel mehr konnte ich noch aushalten? Gab es für mich überhaupt ein „Danach“?

Die Antwort auf diese Frage wusste ich längst.

Kapitel 22

Close the Door
 

Kapitel 22:
 

Ich saß auf der Fensterbank und sah gedankenverloren nach draußen.

Eine Stunde war vergangen, seit wir die Villa wieder betreten hatten.

Seit dem saß ich hier, starrte in den immer dunkler werdenden Himmel und dachte nach. Die Tatsache, dass die wenigen Menschen, mit denen ich so etwas wie eine Freundschaft aufgebaut hatte, sich heute von mir losgesagt hatten, beschäftigte mich sehr.

Tief in meinem Inneren wusste ich ganz genau, das dieser Tag hatte kommen müssen.

Denn der Umstand, dass ich meinen Freunden nie die Wahrheit gesagt hatte, über meine häusliche Situation, und dass ich sie immer wieder belogen hatte, nur um ihren Fragen auszuweichen, war Grund genug für diese Reaktion.

Trotzdem…es traf mich härter als gedacht.

Denn nun stand ich wirklich so gut wie allein da. Die einzigen Menschen, denen ich jetzt noch etwas bedeutete waren Duke, der sich im Moment allerdings geschäftlich in Amerika aufhielt, und die Bewohner dieses Hauses.

Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, jetzt, da ich nicht mehr bei meinem Vater wohnte, würde es endlich bergauf gehen.

Doch scheinbar gab es für mich wirklich kein „bergauf“.

Für mich gab es nur bergab.

Und diese Erkenntnis stürzte mich in ein tiefes Loch.

Die Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit, die von mir Besitz ergriffen, hemmten mich und beraubten mich jeglicher Handlungskompetenz. Ich wusste, ich strudelte direkt in eine meiner depressiven Phasen. Und wünschte mir sehnlich, sie würde schnell vorbei gehen.
 

Was wohl als nächstes auf der Liste stand? Fragte ich mich, als ich meinen Kopf langsam nach hinten an die angenehm kühle Wand lehnte.

Diese Aneinanderreihung negativer Situationen wollte scheinbar nie enden.

Wie lange soll das noch so weiter gehen?

Irgendjemand da oben schien mich zu hassen, wie die Pest.

Anders konnte ich das, was mir nun seit Jahren widerfuhr nicht erklären…

Wahrscheinlich habe ich es einfach nicht anders verdient…
 

Als es an der Tür klopfte, sah ich nicht auf.

Er trat nach kurzem Zögern ein und schloss die Tür leise hinter sich.

Seine Schritte näherten sich mir, das Bett knarrte leise, als er sich auf dessen Kante niederließ.

Ich war ihm dankbar dafür, dass er hier her gekommen war.
 

„…Joseph?“, sprach er mich leise an.

Ich reagierte erst nach einigen Sekunden und wandte meinen Kopf kurz in seine Richtung.

Er sah besorgt aus.

Wegen mir…das wusste ich…doch war es gerechtfertigt?

Mein Leben wie es jetzt war, hatte ich mir doch selbst ausgesucht…

Denn hätte ich ernsthaft etwas ändern wollen, hätte ich es jederzeit tun können.

Doch ich hatte nichts getan.

Gar nichts…
 

Ich schloss für einen Moment die Augen und lehnte den Kopf erneut zurück an die Wand.

„Weißt du…ich habe es nicht anders verdient…“, sagte ich leise und sah ihn erneut an.

Verwirrt zog er die Augenbrauen leicht zusammen.

„Wie kommst du darauf?“

„…Ich bin selbst Schuld.“, antwortete ich und lächelte ihn traurig an.

Der Schmerz in meinen Augen war ihm nicht entgangen.

„Wenn ich ehrlich zu ihnen gewesen wäre…all die Jahre…dann hätten sie keinen Grund gehabt an meinem fehlenden Vertrauen zu appellieren. Sie haben Recht.

Ich habe ihnen nie Vertraut.

Ich habe nie irgendjemandem vertraut…“

„Du hattest deine Gründe.“, erwiderte er.

„Ja, die hatte ich. Doch was waren das schon für Gründe? Ich kann mir nicht mal selbst erklären, warum ich jedes Mal lieber gelogen habe, statt die Wahrheit preis zu geben. All die Jahre…

Weißt du, Seto…ich habe kein Recht mich zu beschweren…ich habe mir mein Leben selbst ausgesucht. Keiner hat mich gezwungen so zu handeln…“

Seto stand auf, trat langsam auf mich zu und schüttelte mit dem Kopf.

„Du kannst nichts dafür.“, sagte er leise.

„Doch, Seto! Ich hätte all die Jahre ein anderes Leben führen können, wenn ich mich jemandem anvertraut hätte. Stattdessen habe ich mich kampflos ergeben…“

„Du kannst nichts dafür.“, wiederholte er.

Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln.

„Hör auf damit, Seto…ich war doch der einzige, der etwas an der Situation hätte ändern können.“

Er schüttelte erneut mit dem Kopf.

„Nein Joseph. Du bist nicht Schuld…“

Ich schluchzte und vergrub mein Gesicht zwischen den angezogenen Knien.

„Ich hätte nur etwas sagen müssen…“

„Joseph…“

Er legte mir sanft eine Hand auf die Schulter und zog mich langsam an seine Brust.

Ich lehnte mich Halt suchend an ihn und krallte die Rechte in sein weißes Hemd.

„Ich wollte das alles doch gar nicht…“, versuchte ich eine Entschuldigung.

Er strich mir beruhigend über den Rücken.

„Ich weiß, Joseph….ich weiß…“

Ein erneutes Schluchzen ließ mich erzittern und ich verstärkte den Griff meiner rechten Hand.

„Ich habe immer gehofft, er würde sich ändern…“

„Ja…du kannst nichts dafür…“, flüsterte er erneut.

Er umschlang mich mit beiden Armen und hielt mich fest.

Es fiel mir unheimlich schwer seinen Worten zu glauben.

Doch eigentlich wusste ich tief in meinem Inneren, dass er Recht hatte und meine Selbstvorwürfe nicht notwendig waren.

Es dauerte lange, bis ich mich endlich beruhigte.

Meine Atmung normalisierte sich, die Tränen versiegten. Trotzdem lehnte ich immer noch an seiner Brust, jetzt mehr vor Erschöpfung als vor Trauer.

Er löste seinen linken Arm, legte ihn mir unter die Knie, hob mich hoch und trug mich zum Bett.

Sanft setzte er mich auf der Bettkante ab und griff dann nach der Decke um sie beiseite zu schieben.

„Leg dich hin, Joseph. Ruh dich aus.“, sagte er und lächelte mich liebevoll an.

Ich nickte leicht und ließ ich zur Seite sinken und schloss für einen Moment die Augen.

Als er Anstalten machte, den Raum zu verlassen, setzte ich mich jedoch schnell wieder auf und sah ihn entsetzt an.

„Keine Sorge. Ich komme gleich wieder. Ich sage nur Roland bescheid.“, erklärte er beruhigend, als er meinen Blick bemerkte.

Ich nickte beruhigt und legte mich hin.
 

Kurze Zeit später kam er zurück ins trat zu mir ans Bett.

„Bleibst du heute Nacht bei mir?“, fragte ich ihn flüsternd.

„Ja.“, erwiderte er mit einem warmen Lächeln und legte sich dann neben mich.

Vorsichtig zog er mich erneut in eine feste Umarmung.

Ich schloss die Augen, legte meinen Kopf auf seine Schulter und genoss die Wärme, die er Ausstrahlte.

Seto zog die Decke über uns beiden zu Recht und löschte dann das Licht der Nachttischlampe.

Nach wenigen Minuten war ich erschöpft, aber beruhigt eingeschlafen.
 

**
 

Seto lag noch lange wach und betrachtete im fahlen Licht des Mondscheins das erschöpfte und blasse Gesicht des jungen Mannes, der sich eng an ihn gekuschelt neben ihm befand.

Seufzend strich er mit den Fingerspitzen seiner linken Hand leicht über das Ohr des Schlafenden.

Er war wütend.

Wütend auf diejenigen, die diese schönen, braunen Augen erneut zum Weinen gebracht hatten. Wütend auf diejenigen, die diesen zerbrechlichen, schmächtigen Jungen neben ihm erneut tief verletzt hatten.

Er hatte das alles nicht verdient…doch mit jeder weiteren Verletzung, jedem weiteren kleinen Riss in dem Herzen des Achtzehnjährigen stieg die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht mehr die Kraft oder den Mut dazu hatte, aufzustehen und sich dem Ganzen entgegenzustellen.

Seto seufzte erneut leise.

Er würde das nicht länger zulassen.

Keiner hatte das Recht, demjenigen, den er liebte, so viel Leid zuzufügen.

In Zukunft würde er einfach noch mehr auf den schlafenden jungen Mann neben ihm acht geben.
 

**
 

„Du schmeißt mich raus???“, fragte sie entsetzt und stand mit einem Ruck auf. Der Stuhl fiel krachend nach hinten zu Boden und ich erinnerte mich daran, dass dieselbe Szene erst vor kurzem in umgekehrter Rollenverteilung stattgefunden hatte.

Seto sah sie ausdruckslos an.

„Ich biete dir an auf meine Kosten in einem Hotel zu nächtigen, solange du nicht auf eigenen Beinen stehen kannst. Daran ist meiner Meinung nach nichts auszusetzen.“

„Nein, Seto! Du wirfst mich aus deiner Villa und ich weiß genau warum.“

Mit einem Ruck drehte sie den Kopf zu mir um und fixierte mich aus zusammengekniffenen Augen.

Mir lief es eiskalt den Rücken herunter bei diesem Blick.

„Es ist wegen IHM! Er ist dir wichtiger als deine eigene Familie!“

Seto schüttelte unwirsch mit dem Kopf.

„Mach dich nicht lächerlich, Maya.“, erwiderte er mit weiterhin ruhig gehaltener Stimme.

„Lächerlich?? Ich mache mich nicht Lächerlich, ich stelle Tatsachen fest! Du ziehst ihn mir vor! Wie konntest du dich nur von diesem Bettler um den kleinen Finger wickeln lassen?!“

„Maya, ich bitte dich…“

„Er ist doch nur eine kleine, widerliche Made, die du irgendwo auf der Straße gefunden und aus irgendeinem emotionalen Antrieb heraus aufgesammelt hast! Wie kannst du das nur zulassen?“

Ich zuckte zusammen und stand ebenfalls auf.

Doch bevor ich mich abwenden und den Raum schnellstmöglich verlassen konnte, legte mir Roland die Hand auf den Arm und zog mich zurück auf meinen Stuhl.

Fragend sah ich ihn an, doch er schüttelte nur stumm mit dem Kopf und deutete mit einem Nicken in Setos Richtung.

Meine Augen wanderten zu Seto.
 

Er schien kurz vor einer Explosion zu stehen. Ich sah wie die Wut in ihm brodelte und er schien dem Drang zu widerstehen seine Cousine in Grund und Boden zu schreien. Es war ein ungewohntes Bild. Er zeigte selbst jetzt, da er versuchte seine Gefühle zu unterdrücken, eine für mich noch so ungewohnte Seite.
 

Und wieder war klar erkennbar, das Seto Kaiba erst Zuhause er selbst war. Die Fassade, die er in der Öffentlichkeit präsentierte fiel hier fast komplett von ihm ab. Ich nahm an, es lag daran, dass sein Zuhause sein Refugium war. Es war der einzige Ort, an dem er von der Publicity geschützt war. An dem er tun und lassen konnte was er wollte.
 

Trotzdem spürte ich, wie sehr er sich in diesem Moment nach seiner Maske sehnte, wie sehr er im Moment der gefühlskalte Geschäftmann sein wollte.
 

Seto atmete einmal tief durch und wandte sich dann an seine Cousine: „Hör zu, Maya. Ich rate dir bei aller Freundschaft, nimm deine Sachen, lass dir von Roland das Geld geben und verlass sofort mein Haus! Bevor ich mich vergesse und etwas tue was ich später bereue!“

Er hatte ruhig gesprochen, doch seine Stimme war eiskalt und es schwang ein lauernder Unterton in ihr.

Maya sah ihn entsetzt an.

Sie verstand sofort wie ernst ihm diese Worte waren.

Ungläubig starrte sie ihn an. Wandte dann den Blick kurz zu mir und wieder zu ihm zurück.

„Ich…kann nicht glauben dass dir das ernst ist.“

„Oh Maya…du willst nicht wissen, WIE ernst mir meine Worte wirklich sind.“

Leicht schüttelte sie den Kopf.

Dann drehte sie sich um und trat mit energischen Schritten zur Tür. Bevor sie den Raum verließ wandte sie sich einen Moment um und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.

„Das ist nur deine Schuld. Das werde ich dir nie verzeihen. Und vergessen werde ich es erst recht nicht!“

Dann verschwand sie.
 

Stille legte sich über die zurückgebliebenen.

Keiner wagte etwas zu sagen.

Ich schluckte.

Ihre Worte klangen nicht gerade sehr verlockend.

Seto ließ sich langsam zurück auf seinen Platz sinken und atmete tief durch.

Roland stand auf und verließ den Raum.

Wahrscheinlich gab er Maya das Geld und bestellte ihr ein Taxi…
 

Ich rührte mich nicht.

Das war alles ein bisschen viel auf einmal. Erst kündigt man dir die Freundschaft, dann wirst du bedroht…toll wie du dein Leben auf die Reihe kriegst….sagte ich innerlich zu mir selbst.
 

Mokuba war es, der sich schließlich zu seinem Bruder wandte und ihn bewundernd anlächelte.

„Danke großer Bruder. Endlich sind wir die Furie los.“

Seto nickte leicht.

Schien sich noch nicht von seinem Beinahausbruch erholt zu haben.

Ich hatte den Eindruck sein Beinahausbruch war ihm sehr unangenehm.

Also erhob ich mich leise und verließ mit wenigen Schritten den Raum.

Ich wollte die beiden Brüder allein lassen und Seto die Chance geben sich zu beruhigen.
 

Auf dem Weg nach oben in mein Zimmer begegnete mir Roland.

Er legte mir kurz die Hand auf die Schulter.

„Alles okay, Joseph?“

Ich nickte unsicher.

Wusste nicht, was ich von dieser ganzen Sache halten sollte.

Schließlich hatte Maya schon recht…wenn ich nichts zu Seto gesagt hätte, dann wäre sie noch hier. Ich hatte ihn ja mehr oder weniger dazu gedrängt sie rauszuschmeißen.

Und es tat mir Leid.

Auch wenn ich sie nicht mochte hatte ich ein schlechtes Gewissen.

Roland lächelte mich aufmunternd an.

„Keine Sorge, in einer viertel Stunde ist sie verschwunden. Ich habe ihr ein Taxi gerufen. Und gib nichts auf das was sie gesagt hat. Seto weiß sehr wohl was er tut.“
 

Ach ja? Tat er das?

Und warum konnte er es mir dann nicht erklären?

Ich erwiderte das Lächeln so beruhigend wie möglich, damit Roland sich nicht weiter um mich sorgte.

Dann wandte ich mich ab, um in mein Zimmer zu gehen.

Dort ließ ich mich ins Bett fallen und seufzte leise auf.

Langsam wurde es wirklich Zeit mit Seto ein klärendes Gespräch zu führen.

Doch dazu würde ich mich wohl niemals bereit fühlen…
 

Und der Gedanke es noch einen Moment aufzuschieben war verlockend. Eine Situation in der ich wieder einmal emotional gesehen durchdrehen würde, kam bestimmt schnell genug.

Also konnte ich das Gespräch auch bis dorthin verschieben.
 

Seufzend setzte ich mich wieder auf, griff nach meinem Rucksack und holte die anstehenden Hausarbeiten heraus.

In Ruhe widmete ich mich dem Lernen. Für Morgen stand der Nachschreibetermin für eine der beiden versäumten Klausuren fest und ich wollte davor noch einmal alle wichtigen Mathematischen Formeln durchgehen. Schließlich bot sich für mich hier die Chance die verpatzte Note wieder auszugleichen.
 

Nach zwei Stunden schob ich meine Schulsachen zurück in den Rucksack, ließ meinen Kopf ins Kissen sinken und schloss die Augen.

Ich war müde und fühlte mich ziemlich kaputt.

Anscheinend war ich noch nicht so hundertprozentig auf der Höhe.
 

Seto klopfte an der Tür und trat unaufgefordert ein. Als er den schlafenden Körper auf dem Bett unter einem Berg von Decken entdeckte lächelte er leicht und lehnte sich leise seufzend gegen den Türrahmen.

Er hatte gehofft Joseph wach anzutreffen. Er hatte endlich reden wollen, doch scheinbar bot sich auch an diesem Abend keine Gelegenheit dazu.

Kommt davon wenn du so feige bist, dachte er missmutig, über sich selbst.

Hätte er schon vor ein, oder zwei Stunden seinen Mut zusammen genommen um zu seinem Freund zu gehen, wäre dieser mit Sicherheit noch wach gewesen.

Also Morgen auf ein Neues…nahm er sich vor und verließ leise das Zimmer.

Kapitel 23

Close The Door
 

Kapitel 23:
 

Erschrocken setzte ich mich kerzengerade auf und sah mich gehetzt um.

Nur langsam realisierte ich die Situation.

Okay…du befindest dich in Seto Kaibas Villa. Es ist alles in Ordnung. Dein Vater ist nicht hier. Und das brüllende Geräusch ist lediglich Corey Taylor aus der Band: Stone Sour, der dir mit dem Lied: „Hell & Consequences“ in den Ohren liegt.

Seufzend fuhr ich mir durch die Haare, schob diese aus meiner Stirn und schaltete das Radio auf dem Nachtkästchen neben meinem Bett mit einer fließenden Bewegung aus.

Sofort verstummte das Geschrei.

Kurz schloss ich die Augen, verdrängte alle negativen Gefühle und Gedanken in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses und stand dann auf um mich im Bad für die Schule fertig zu machen.

Nach einer wohltuenden, ausgiebigen Dusche und dem Zähneputzen fühlte ich mich um Welten besser. Ich griff nach den frischen Boxershorts, schlüpfte schnell hinein und zog mir dann ein weißes T-Shirt über. Danach zwängte ich mich in die verhasste Schuluniform, versuchte verzweifelt die Krawatte zu richten und schmiss sie dann, nach einem genervten Brummen, in die hinterste Ecke meines Zimmers.

Das schlechte Gewissen Delia gegenüber meldete sich sofort. Also seufzte ich laut und hob das verhasste Ding wieder auf, legte es fein säuberlich auf mein bereits gemachtes Bett und zupfte dann vor dem Spiegel an meinem Kragen herum, bis dieser halbwegs ordentlich umgeschlagen war.

Wie gut das in der Schule nur bei Veranstaltungen Krawattenpflicht herrschte.

Ich nahm meinen Rucksack vom Boden auf, stopfte die restlichen, benötigten Schulsachen hinein und machte mich dann auf den Weg nach unten. Ein Blick auf die Uhr versicherte mir genug Zeit dafür, unten einen Kakao zu trinken und eine Kleinigkeit in meinen Magen zu befördern.

Unten saßen Mokuba und Seto bereits am Tisch, Seto wie immer mit den neuesten Nachrichten in Form von ausgeblichenem Altpapier vor der Nase. Mokuba stopfte sich gerade ein übergroßes Brötchen vollgeschmiert mit Nutella zwischen die Lippen und grinste mich freudig an, als ich den Raum betrat.

„Hallo Joey“, nuschelte er und kaute genüsslich an seinem Zuckerbrot.

Ich lächelte leicht, nickte ihm zu und setzte mich dann etwas verunsichert neben Seto, gegenüber von Mokuba auf die andere Seite des Tisches.

Ich schielte kurz zum Herrn des Hauses, der seine Zeitung einen Moment senkte und mich sanft anlächelte.

Ich erwiderte das Lächeln zögernd, und wandte mich dann dem Frühstückstisch zu.
 

„Nein. Du musst in die Firma, ich kenne diesen Blick genau, Seto. Du hast das ganze Wochenende zu Hause verbracht und gestern kaum Zeit gehabt, dich um geschäftliches zu kümmern. Und wir können Mokuba nicht eine Stunde lang warten lassen an seiner Schule“, erwiderte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Seto tat es mir gleich und verkniff sich das Lächeln, dass sich bereits seit fünf Minuten immer wieder in seine Mundwinkel stahl.

„Das ist schon okay…“, begann er zu schlichten, doch ich unterbrach ihn sofort.

„Nein ist es nicht! Ich fahre mit der U-Bahn nach Hause!“

Er schüttelte den Kopf und setzte erneut an, etwas dagegen sagen zu wollen, doch auch diesmal ließ ich ihn nicht zu Wort kommen.

„Die Sache ist längst entschieden, Seto! Roland holt erst Mokuba und dann dich, bringt dich in die Firma und fährt Mokuba nach Hause. Und nein! Roland kann dann nicht einfach noch mal losfahren und mich holen, das ist Spritverschwendung, es reicht schon, dass er dich dann später ebenfalls holen muss!“

Diesmal hielt er das Lächeln nicht zurück.

„Also gut. Was hältst du davon dann nach der Schule einfach zu mir in die Firma zu kommen? Dann sparst du dir das U-Bahn-Geld und die Fahrt von Roland loht sich wenigstens.“

Überrascht sah ich ihn an. Langsam löste ich meine Arme und vergrub meine Hände in den Hosentaschen.

„Das ist gar keine schlechte Idee. Aber werde ich dich nicht stören?“

„Nein. Ich habe heute sowieso kaum Lust dazu, mich mit meinen verblödeten Angestellten auseinander zu setzen und es stehen einige Meetings an, heute Nachmittag. Also störst du mich nicht. Die Frage ist eher, ob du dich nicht langweilst, während du auf mich wartest.“

„Mach dir keine Sorgen deswegen. Ich werde die Zeit zum Lernen nutzen. Schließlich soll ich die Arbeit morgen in Geschichte bereits wieder mitschreiben. Dafür muss ich jedoch noch einiges tun.“

Seto nickte und wandte sich dann zu seinem Platz um, um sich wieder an seinen Laptop zu setzen.

„Dann ist es abgemacht.“

Ich nickte ebenfalls und verließ mit einem leichten Lächeln auf den Lippen das Klassenzimmer um mir unten in der Cafeteria einen Milchshake zu holen.
 


 

„Joseph Wheeler?“

Verwirrt blieb ich stehen und sah den Mann vor mir mit hochgezogenen Augenbrauen an. Automatisch wich ich einen Schritt zurück.

Kurz musterte ich die Uniform und den Wagen mit dem anmontierten Blaulicht auf dem Dach.

Beides sprach für sich.

„Sind sie Joseph Wheeler?“ fragte er Mann erneut.

Ich nickte zaghaft.

„Ja, der bin ich. Warum? Was wollen Sie?“, entgegnete ich verunsichert.

Ich hatte nichts angestellt soviel war klar.

„Mr. Wheeler es geht um die Sache mit ihrem Vater letzte Woche. Wir versuchen seit dem, Sie zu erreichen um ihre Aussage aufzunehmen. Nachdem ihr Bekannter für sie Anzeige erstattet hat, haben wir weder von ihm noch von ihnen etwas gehört…“

„Was?“

Erschrocken sah ich ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

„Ich glaube, ich verstehe nicht…Anzeige? Wofür?“

Der Mann räusperte sich und senkte den Blick.

„Dafür das ihr Vater sie Jahrelang misshandelt hat.“
 

Betroffen starrte ich ihn an.

Langsam wich ich einen weiteren Schritt zurück.

Was…hatte das zu bedeuten? Ich hatte keine Anzeige erstellt. Ich wollte mit der Polizei nichts zu tun haben.

„Da muss ein Irrtum vorliegen…“, flüsterte ich leise und senkte den Blick zu Boden.

Was war hier los?

Was hatte Seto getan?

Und warum hatte er mir nichts gesagt?
 

„Nein Sir.“, er wandte sich kurz um und holte eine Akte aus dem Auto. Er schlug sie auf, blätterte kurz und reichte mir dann ein Dokument.

„Hier ist die Anzeige und die Aussage ihres Freundes.“

Ich nahm den Zettel entgegen, überflog kurz die Aussage und starrte dann betroffen auf die Unterschrift.
 

Seto Kaiba
 


 

Der Polizist erklärte mir die Sache so gut wie möglich. Mein Vater befand sich in Untersuchungshaft. Seto hatte gegen ihn ausgesagt. Ebenfalls Roland, der schließlich dabei gewesen war, als mein Erzeuger versuchte, mich zu erwürgen.

Seit dem hatten sie versucht mich zu erreichen. Doch da ich weder im Krankenhaus, noch in der alten Wohnung aufgetaucht war, hatten sie sich hier vor der Schule postiert um mich abzufangen.

Um meine Aussage aufzunehmen…
 

Ich musste mit aufs Revier.
 

Sie positionierten mich an einen breiten Tisch. Mir gegenüber nahmen zwei Polizisten platz.

Man fragte mich nach einem Anwalt.

Ich schüttelte nur stumm mit dem Kopf.
 

Sie stellen mir Fragen…viele Fragen…auch sehr intime Fragen.

Seit wann schlug Sie ihr Vater? Welche Blessuren trugen Sie davon? Mussten Sie deshalb schon ins Krankenhaus? Hat er je gedroht Sie umzubringen? Hat er Sie vergewaltigt? Sexuell Missbraucht?

Hatte ich je sein Geschlechtsteil anfassen sollen? Gab es Anzeichen dafür, dass er es je von mir verlangen könnte? War er auch im nüchternen Zustand auf mich losgegangen? Wie oft? Wann begann es? Weshalb hatte ich mich nie gewehrt? Warum war ich nicht zur Polizei gegangen? Hatte ich noch Kontakt zu meiner Mutter? Wo wohnte sie? Hatte ich Kontakt zu meiner Schwester? Wie alt war Sie? Hatte sie sich je gemeldet?
 

Ich beantwortete sie alle…

Irgendwann legte ich innerlich einfach einen Schalter um. Verbannte alle Emotionen in den hintersten Winkel meines Herzens.

Eine große Leere breitete sich in mir aus.

Nur so war ich in der Lage, ihre Fragen zu beantworten. Monoton arbeitete ich ihren Fragenkatalog ab, gab so genau wie möglich die Auskünfte, die sie von mir verlangten.

Irgendwann schloss ich die Augen.

Es war leichter, sie nicht sehen zu müssen. Leichter, zurückzukehren, zu all den Situationen, von denen sie verlangten, dass ich mich an sie erinnere.
 

Ich hatte beinah den Eindruck mein Leben in Kurzform noch einmal zu durchleben.

Als ich nach zwei Stunden endlich gehen durfte, war ich unendlich müde.

Ich fühlte mich grauenvoll. Nur langsam kehrte mein Herz wieder zu mir zurück. Nur langsam war ich in der Lage, eine Emotion nach der anderen zurück in mein Herz zu holen. Um wieder etwas zu fühlen. Wieder zu existieren.

Ich setzte mich auf eine Bank, vor den Polizeipräsidium und vergrub das Gesicht zwischen den Händen.

Langsam, nur ganz langsam wurde ich mir bewusst, was ich gerade geschafft hatte.

Welchen Stein ich ins Rollen gebracht hatte.

Nun gab es kein zurück mehr.

Keine Chance mein Altes Leben weiter zu leben.

Ich würde nie wieder mit meinem Vater allein sein müssen. Nie wieder mit ihm zusammen wohnen müssen. Der Staatsanwalt hatte genug beweise.

Diverse Narben auf meinem Körper, Bilder von den Blessuren, die er mir zugefügt hatte.

Untersuchungsergebnisse aus dem Krankenhaus von damals, als er mich so brutal zusammen geschlagen hatte. Die Berichte meines ehemaligen Hausarztes. Setos Worte. Und Rolands Zeugenaussage.
 

Es war vorbei…
 

Langsam kehrte ich wieder in die Wirklichkeit zurück. Und spürte, wie sich ein Gefühl ganz besonders in meinem Inneren ausbreitete und alle anderen überdeckte.

Zorn!

Wütend stand ich auf, verließ die Gegend um das große, mächtige Polizeigebäude und wandte mich stattdessen Richtung Innenstadt.
 

Ohne auf die Dame am Empfang zu achten, die mir nachrief, ich solle gefälligst erst meine Bitte vortragen, stapfte ich in den Aufzug und drückte auf den obersten Knopf.
 

„Pling“

Endlich öffneten sich die Aufzugtüren. Ich erkannte diesen Ganz sofort wieder. Doch statt wie das letzte Mal einen leeren Platz, rechts, direkt neben dem Aufzug hinter den Bürotisch vorzufinden, saß dort eine junge, dynamische und sehr hübsche Dame, die die Vorzüge ihrer Figur über die Maßen betonte.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, fragte sie mit einem freundlichen und gleichzeitig herablassenden Lächeln.

Kurz starrte ich sie an, wandte dann meinen Blick ab und schüttelte leicht mit dem Kopf.

„Nichts!“, erwiderte ich schroff und steuerte direkt auf das Büro des Firmeninhabers zu.

„Warten Sie! Sie dürfen dort nicht so einfach rein platzen! Haben sie überhaupt einen Termin? Mister Kaiba ist im Moment sehr beschäftigt!“, rief sie schockiert und eilte mir nach um mich aufzuhalten.

Noch bevor sie mich erreichte, klopfte ich einmal laut gegen die Tür und riss diese eine Sekunde später schon auf.

Ohne auf das Gezeter der Sekretärin hinter mir zu achten, die sich schon bei Seto entschuldigte, mich nicht aufgehalten zu haben, und erklärte, sie wüsse nicht wer ich sei, würde jetzt jedoch den Sicherheitsdienst rufen, sei dies sein Wunsch, postierte ich mich direkt vor meinem Mitschüler, zeigte anklagend mit dem rechten Zeigefinger auf seine Brust und fragte voller Zorn: „Was hast du dir dabei gedacht?!“

Verwirrt erwiderte Seto meinen Blick, wandte sich dann einen Moment an seine Sekretärin, schickte sie mit einem eiskalten Blick und den Worten: „Verschwinden Sie! Es ist schon in Ordnung!“, aus dem Raum und drehte sich dann wieder zu mir um.

Fragend sah er mich an.

„Was ist los?“

„Wie konntest du es wagen, Seto?! Weißt du wie geschockt ich war, als diese Typen plötzlich vor mir aufgetaucht sind? Warum hast du das getan? Und warum hast du mir nichts gesagt?“

Fragte ich ihn und zitterte am ganzen Körper. Ich spürte, wie meine Knie weich wurden und musste mich zwingen nicht einfach direkt hier auf die Knie zu fallen und mein Gesicht zwischen den händen zu vergraben. Plötzlich fühlte ich mich nackt. Völlig nackt und mir wurde kalt. Eiskalt.
 

Verwirrt starrte Seto mich an. Seine Augen waren leicht geweitet. Dann stand er auf, ging langsam um den Schreibtisch herum und trat auf mich zu, doch ich trat mehrere Schritte zurück, um ihn auf Abstand zu halten.

„Von was sprichst du?“, fragte er leise nach und versuchte in meinen Augen zu lesen, was mich so unbändig wütend machte.
 

Das Zittern wurde stärker und die Kälte ergriff mein innerstes. Ich wich noch ein Stück zurück und spürte dann wie plötzlich alle Kraft auf mir wich. Meine Schultern, die ich vor lauter Anspannung hochgezogen hatte, sackten herab. Ich wandte den Blick von ihm ab und musste mich an die Wand hinter mir anlehnen um nicht einfach hier und jetzt umzukippen.
 

„Du hast meinen Vater angezeigt, ohne mir etwas davon zu sagen.“, sagte ich leise, fast tonlos. „Und nach der Schule standen plötzlich zwei Polizisten vor mir, die mich sofort mit ins Revier genommen haben um meine Aussage aufzunehmen. Und du hast nicht mal den Anstand, mir davon etwas zu sagen…“,

Ich schloss die Augen. Die Wut war verraucht und machte Platz für eine unbändige Traurigkeit, die mich vollkommen ausfüllte.
 

Seto schluckte.

Scheiße…

Langsam ging er einige Schritte auf mich zu.

Ich hob warnend die Hand.

„Komm bloß nicht näher!“

„Joseph, ich…“

„Nein! Du hast mich hintergangen. Du hast mir die Polizei aufgehetzt. Zwei Stunden lang durfte ich ihnen sämtliche Fragen beantworten, von meinem Verhältnis zu meiner Mutter, über meine Gefühle gegenüber meinem Vater, bis hin zu der Frage, ob er mich sexuell Missbraucht hat! Zwei Stunden lang bin ich durch die Hölle gegangen, ohne Vorwarnung. Und dann soll ich dir Vertrauen? Du hast mir nichts gesagt! Du hast mich einfach ins offene Messer rennen lassen. Das nennst du also Vertrauen? Willst du mich zerstören?“, schrie ich ihn an.

Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln.

Ich konnte sie kaum zurück halten.
 

Ich schloss die Augen.

Ließ mich langsam an der Wand hinter mir zu Boden gleiten. Ich zog die Knie an.
 

Schweigen breitete sich zwischen uns aus.
 

Schließlich wandte Seto sich um, ging zu seiner Telefonanlage auf dem Schreibtisch und gab der Sekretärin durch, er wolle für heute nicht mehr gestört werden.

Dann drehte er sich zu mir um.

Hilflos sah er mich an.

Er setzte sich wieder in Bewegung, trat auf mich zu und kniete sich vor mich hin.

„Joseph…“, begann er zaghaft.

Ich reagierte nicht.

Versuchte das Chaos in meinem Inneren in den Griff zu kriegen. Versuchte den Zorn zu vergessen, die Wut aus meinem Herzen zu verbannen. Die Trauer ließ mich nicht los. Stumm rannen Tränen über mein Gesicht.

Immer noch hielt ich die Augen geschlossen.

Wartete…
 

„Joseph ich wollte dich nicht verletzen. Es tut mir leid…“, erklärte Seto leise.

Langsam öffnete ich die Augen und sah ihn an. Kurz fuhr ich mir mit den Handrücken über die Augen, um die Tränen fortzuwischen.

„Das war so nicht geplant…“

Er räusperte sich.

Rutschte etwas näher zu mir und griff nach meiner linken Hand.

Ruckartig zog ich sie von ihm weg.

„Lass mich!“

Mit zusammengebissenen Zähnen starrte ich ihn an.

Ich wollte seine Nähe nicht.

Seto schloss für einen Moment die Augen, schien sich zu sammeln und sah mir dann offen ins Gesicht.

Schmerz stand in seinem Blick.

Schmerz und Trauer.

„Als ich dich fand, Joseph…wie du da lagst, voller Blut, besinnungslos, überall blaue Flecken…dann die Tür, eingeschlagen, aus den Angeln gerissen…Neben dir lag ein Messer, blutverschmiert…

Al sich deinen Vater sah, roch, erkannte, was für ein widerliches Arschloch er war. Als ich endlich realisierte, was wirklich passiert war. Als ich endlich spürte, wie ernst die Lage war…da war ich…überfordert.

Und ich wusste, ich musste die Polizei informieren! Es musste ein Ende haben. Egal wie!

Also rief ich Roland an. Und die Polizei. Wir brachten dich zu mir, ruften den Arzt und sprachen danach auf dem Polizeipräsidium mit den Offizieren und dem Staatsanwalt. Und ja…ich unterschrieb die Anklage. Ich unterschrieb auch meine Aussage. Und schwor mir, dich so lange wie möglich davon fernzuhalten. Aus Angst, vor deiner Reaktion. Ich hatte Angst, du könntest mich dafür hassen, dass ich diese Sache ohne es mit dir zu besprechen einfach an mich genommen hatte.

Dass ich das Zepter in die Hand genommen hatte.

Also sagte ich nichts, gab der Polizei zu verstehen, dass ich nicht wollte, dass sie in meine Villa einfielen. Und hoffte, dass sich die Gelegenheit ergeben würde, dir zu erklären, was ich getan hatte. Und warum…“
 

Verwundert sah ich ihn an.

„Du hast versucht mich zu schützen?“

Er nickte.

„Ja…ich wollte dich nicht einfach damit konfrontieren. Ich wusste wie du reagieren würdest. Und das Risiko, einen Bruch zwischen uns heraufzubeschwören wollte ich nicht eingehen.

Es tut mir Leid, Jospeh. Es tut mir unendlich Leid dass ich dir nichts gesagt habe. Ich tat es nicht um dich zu verletzen.

Wirklich. Bitte glaube mir! Das ist das Letzte, was ich will.“
 

Irgendetwas in meinem Inneren signalisierte mir mit aller Kraft, dass ich ihm glauben sollte. Und dass ich es bedenkenlos konnte.

Und irgendetwas in mir, sagte mir, dass ich ihm verzeihen durfte.

Ohne Zweifel. Ohne Reue.
 

Ich senkte meinen Blick, starrte einen Moment lang schweigend auf meine Knie und versuchte mein Innerstes zu verstehen und den richtigen Schalter zu finden, um ihn schnellstmöglich zu drücken. Damit dieses Chaos verschwand. Diese Unsicherheit. Und die Verzweiflung, die sich in den letzten Stunden nach und nach in mir breit gemacht hatte.
 

Tief atmete ich ein. Dann sah ich auf.

Setos Blick war voller Trauer, Wärme und Angst.

Trauer über diese Situation. Angst vor Ablehnung. Wärme? Wärme wegen mir?

Ja…
 

Ich nickte.

„Ich glaube dir.“
 

Ein Stein schien von seinem Herzen zu fallen.

„Und kannst du mir auch verzeihen?“, fragte er leise.

Ich zögerte einen Moment und nickte dann erneut.

„Ja, ich denke schon. Auch wenn es wohl ein paar Stunden, oder Tage, dauern wird.“

Er verzog kurz den Mund zu einer schmerzlichen Grimasse.

„Ja das kann ich verstehen.“
 

Erneut breitete sich Schweigen zwischen uns aus.

Die Situation hatte sich zwar gebessert, doch die Stimmung war immer noch zum zerreißen gespannt. Seto schien unsicher. Wusste nicht, was er noch sagen sollte.

Und ich war müde.

Unendlich müde.
 

„Musst du noch arbeiten?“, fragte ich ihn leise.

Setos Blick schweifte kurz seinen Schreibtisch, dann sah er mir tief in die Augen.

Nach einem Intensiven Blick antwortete er: „Nein. Wenn du willst rufe ich Roland an, damit er uns abholt.“
 

Ich nickte erleichtert.

Ich wollte in mein Bett. Und in Ruhe über die Situation und das heute Erlebte nachdenken.
 


 

Als ich eine Stunde später in meinem Bett lag, konnte ich nicht schlafen. Die Begegnung mit den Polizisten und das danach folgende Gespräch zwischen mir und Seto spukten durch meinen Kopf und ließen mich trotz der Müdigkeit kaum zur Ruhe kommen. Ich wusste nicht, wie ich mich Seto gegenüber nun Verhalten sollte. Sollte ich ihm einfach so verzeihen? Ja…natürlich. Er hatte es nicht Böse gemeint. Und natürlich hatte er die Polizei gerufen…Er MUSSTE in dieser Situation so handeln. Alles andere wäre abwegig gewesen. Ich konnte schließlich nicht von ihm oder Roland verlangen, dass sie tatenlos dabei saßen, während ich mich von meinem Vater verprügeln lies. Doch wie sollte mein weiteres Leben nun verlaufen? Was würde bei der Verhandlung raus kommen? Würde ich dort erneut Aussagen müssen? Ich hoffte inständig, dass ich darum herum kommen würde…Ich wollte weder meinen Vater dort sehen, noch vor den Zeugen mein Leben ausbreiten und wieder in jedes kleinste Detail erklären müssen, was passiert war und wie es mir danach ergangen war. Diese zwei Stunden mit den Polizisten hatten mir heute schon voll und ganz gereicht. Doch konnte diese Verhandlung überhaupt ohne mich laufen? War ich nicht der wichtigste Zeuge? Ich würde sicher eine Vorladung bekommen. Und dann musste ich hin. Komme was wolle.

Ich seufzte leise.

Das war alles eindeutig zu viel.
 

Seit Roland uns von der Firma abgeholt hatte, hatte ich mit Seto kein Wort mehr gesprochen. Und das belastete mich. Ich wollte mit ihm sprechen. Ihn fragen, wie es nun weiter ging. Ihn bitten, mich aus dieser Sache herauszuhalten. Ihn bitten, das alles rückgängig zu machen. Ihn bitten bei mir zu sein. Mich in den Arm zu nehmen. Mich ganz fest zu halten. Und die Gedanken zu verdrängen.
 

Ich wollte bei ihm sein. So sehr, sehnte ich mich nach seiner Nähe.

Ich wollte nicht allein sein. Hier nicht liegen und mich meinen Gedanken hingeben.
 

Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Kurz wurde mir schwarz vor Augen. Das war etwas zu schnell…, dachte ich und schüttelte kurz den Kopf. Als der Schleier vor meinen Augen verschwand, schwang ich die Beine aus dem Bett und stand auf. Ich zog mir die Jogginghose, die ich achtlos neben das Bett geworfen hatte, an und ging zur Tür um mein Zimmer zu verlassen. Ich schloss die Tür sachte hinter mir und ging leise nach unten um mir etwas zu trinken zu holen. In der Küche brannte Licht. Verwundert stieß ich die Tür auf und sah Roland, der an der Theke gelehnt mit einem Glas Wasser in der Hand gedankenverloren nach draußen in die Dunkelheit starrte.

Als er die Tür hörte, sah er auf. Lächelte mich sanft an und trank einen Schluck von seinem Wasser.

„Hey.“, begrüßte er mich leise.

„Hey.“, antwortete ich ebenso leise und holte mir ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser.

„Kannst du nicht schlafen?“, fragte er und sah mich besorgt an.

Ich schüttelte leicht mit dem Kopf.

Er seufzte.

„Naja, da bist du wohl nicht der Einzige. Ich kann auch kein Auge zudrücken, und der Herr des Hauses ist vor fünf Minuten ebenfalls hier aufgetaucht und hat sich ein Glas Wasser genehmigt“

Verwundert sah ich ihn an. Seto war auch hier gewesen? Er konnte auch nicht schlafen.

„Es ist beunruhigend.“, überlegte Roland und sah wieder nach draußen.

Fragend legte ich den Kopf zur Seite.

„Was meinst du?“

„Diese Unruhe. Keiner kann schlafen, alle wandern sie ziellos durchs Haus. Selbst Mokuba war vorhin noch wach, als ich nach ihm sah. Und das jetzt, um halb zwölf Uhr nachts.“

Ich nickte.

Er hatte recht.

Und irgendwie hatte ich das Gefühl es war meine Schuld.

„Tut mir leid…“, erwiderte ich daher leise.

Verwirrt sah er auf.

„Was tut dir leid?“

„Das ist sicher meine Schuld. Ich bringe ziemlich viel Unruhe in euer Haus.“

Lachend schüttelte Roland den Kopf.

„Hör auf so zu denken, Joey. Wir sind alle froh darüber, dass du hier bist. Und die einzige, die Unruhe ins Haus gebracht hat, ist Maya. Man spürt ihre Nachwirkungen. Zumindest bei Mokuba. Und dass du und Seto heute kaum ein Auge zu drücken könnt, das liegt mit Sicherheit daran, dass mal wieder tausend unausgesprochene Worte zwischen euch liegen. Ich spüre förmlich, dass etwas im Busch ist. Und er hat erzählt was heute Nachmittag passiert ist.“

Überrascht weiteten sich meine Augen.

„Er hat es dir erzählt?“

Roland nickte lächelnd.

„Er hat sich ziemliche Sorgen gemacht, wegen dieser Sache. Verständlicher weise. Ich habe ihm gleich gesagt, er solle mit dir reden, doch wie es scheint ist unser Seto Kaiba nicht immer so mutig wie ich eigentlich von ihm dachte. Zumindest nicht wenn es um dich geht.“

„Wenn es um mich geht?“, zweifelnd zog ich eine Augenbraue hoch und brachte Roland damit zum Lachen.

„Jetzt siehst du aus wie er!“, kopfschüttelnd stieß er sich von der Theke ab, trank den letzten Schluck seines Wassers aus und stellte sein Glas in die Spüle.

„Ja wenn es um dich geht ist er oft ein ziemlicher Hasenfuß. In anderen Lebenslagen kann man ihn wirklich nicht als Feigling bezeichnen. Also scheint es etwas an dir zu geben, was ihn immer wieder verunsichert.“

Roland lächelte mich warm an.

„Ich werde nun ins Bett gehen. Mal sehen ob ich nach den Glas Wasser jetzt besser schlafen kann. Gute Nacht, Kleiner.“

Er strubbelte mir liebevoll durchs Haar und verließ dann die Küche.

Verwirrt sah ich ihm nach. Seine Worte hatten noch mehr Chaos in meinem inneren verbreitet als eh schon herrschte.

Kurz schüttelte ich mit dem Kopf, brachte dann meine Haare wieder halbwegs in Ordnung und trank ebenfalls mein Glas leer.
 

Ohne einen wirklichen Gedanken zu fassen, stieg ich hinauf in die erste Etage und trat vor Setos Schlafzimmertür.

Ich klopfte leise an und wartete einen Moment.

Etwas knarrte leise, dann hörte ich nackte Füße über den Holzfußboden laufen. Schließlich ging die Türklinke nach unten und die Tür öffnete sich langsam.
 

Seto trug ein weißes Shirt und eine graue Jogginghose.

Verwundert sah er mich an und trat dann einen Schritt zur Seite.

„Willst du rein kommen?“

Ich nickte und trat etwas unsicher an ihm vorbei, tappste zum Bett und setzte mich auf dessen Kante.

Seto schloss die Tür wieder, drehte sich langsam zu mir um und musterte mich mit einem intensiven Blick.

„Alles okay?“ fragte er leise und trat auf mich zu, setzte sich im Schneidersitz vor sein Bett und sah zu mir auf.

Ich schüttelte leicht mit dem Kopf.

Fragend hob er eine Augenbraue.

„Was ist los?“

„Ich mache mir Gedanken über die Verhandlung. Ich stelle mir die ganze Zeit vor, wie es wäre dort in diesem Gerichtssaal zu sitzen und meinem Vater gegenüber gestellt zu sein. Ich versuche mir vorzustellen, den Geschworenen all die Fragen des Staatsanwaltes zu beantwortet und komme einfach nicht darüber hinweg, festzustellen, dass ich das glaube ich nicht schaffe!“

Erklärte ich ihm mit leiser Stimme. Betreten senkte ich den Blick auf meine ineinander verschränkten Hände.

Seto hob die Hand und legte sie sanft auf meinen linken Arm.

Kurz strich er mit dem Daumen über die Haut meines Handrückens, dann lächelte er mich zuversichtlich an.

„Wir bekommen das hin, Joseph. Du bekommst das hin! Wenn es zu schwer wird für dich, dann werde ich mich darum kümmern, dass die Verhandlung ohne deine Anwesenheit läuft. Die Polizei hat deine Aussage. Du musst nicht zwingend dort hin. Auch wenn es sicher gut wäre für dich, auch um mit der Sache abschließen zu können. Und um deinem Vater für immer Lebewohl zu sagen.“

Betreten wandte ich meinen Kopf ab.

„Ihm Lebewohl sagen? Ich wünsche mir viel lieber ihn nie wieder sehen zu müssen.“

Seto nickte verstehend.

„Ja, ich kann mir vorstellen, dass diese Vorstellung dir zuwider ist.“

Ich atmete tief durch und schwieg.

Seto strich mir erneut liebevoll über den Arm und ich löste meine ineinander verknoteten Finger und meine Linke mit seiner rechten Hand zu verschränken.

Er erwiderte den leichten Druck meiner Finger und wartete darauf, dass ich meine nächste Frage formulierte.

„Und dann, Seto? Was passiert dann?“

Verwirrt runzelte er die Stirn.

„Was meinst du?“

Ich schwieg kurz. Dann erklärte ich, leise und mit leicht verzweifeltem Unterton: „Wenn mein Vater weg ist, habe ich keinen Platz mehr, wo ich hin kann. Meine Mutter will mich nicht, was aus tiefsten Herzen auf Gegenseitigkeit beruht und andere Verwandte habe ich nicht. Außer einer Tante…doch die hat keinen Platz und kein Geld um mich aufzunehmen. Ich bin noch nicht volljährig, ich darf also nicht allein leben. Soll ich dann ins Heim? Ich will nicht ins Heim! Lieber ziehe ich meine Aussage zurück und hole ihn aus dem Gefängnis!“

Langsam hob Seto die linke Hand und strich mir sanft die einzelne Träne, die sich aus meinem rechten Augenwinkel gelöst hatte, aus dem Gesicht.

„Joey…niemals werde ich zulassen, dass das geschieht. Ich werde nicht zulassen, dass du zu deiner Mutter ziehst, oder dass du ins Heim musst.“, erwiderte er voller Wärme.

„Aber…“

Er schüttelte nachdrücklich mit dem Kopf.

„Nein. Du bleibst bei uns. Bei mir. Wenn du es willst. Und so lange du willst.“

Verwundert sah ich ihm in die Augen. In seinem Blick lag so viel Echtheit. Und so viel Geborgenheit.

Seine Hand, die immer noch auf meiner Wange lag, schob mir sanft das Haar hinter mein rechtes Ohr und vergrub sich in meinen Nacken.

Ganz langsam zog er mich zu sich auf den Boden und schloss mich in seine Warmen Arme.

„Ist das dein Ernst?“, fragte ich ihn leise und schloss die Augen.

Mein Herzschlag beruhigte sich. Tief atmete ich seinen angenehmen Geruch ein und legte meinen Kopf an seinen Hals.

Sanft strich er mir über den Nacken und verstärkte die Umarmung, sobald er spürte, dass ich nichts dagegen hatte.

„Ja das ist mein ernst.“, erwiderte er geduldig.
 

Ich löste mich leicht aus seiner Umarmung, um ihm in die Augen sehen zu können.

„Aber warum?“, fragte ich ihn voller Hoffnung.

Er lächelte leicht, löste die Hand, die immer noch auf meinem Rücken lag und griff nach meiner Hand, um seine Finger erneut mit meinen zu verschränken.

Dann sah er mir tief in die Augen. Unsicher erwiderte ich seinen Blick.

Seine Augen waren voller Wärme, voller Zuversicht.

Dann beugte er sich vor und legte seine warmen Lippen langsam auf meine und verschloss sie zu einem sanften Kuss.

Meine Augen schlossen sich wie von selbst und ich erwiderte seinen Kuss vorsichtig.

Meine Hand löste sich von seiner und ich griff nach seinem T-Shirt, zog ihn noch näher zu mir und ließ mich von ihm in eine warme Umarmung ziehen.

Seine Zunge wagte sich vor, strich mir vorsichtig über die Lippen. Ich öffnete den Mund einen spalt breit und unsere Zungen verschmolzen zu einer.

Seine Hand, die wieder auf meinem Rücken lag, zog mich noch ein Stück näher zu sich. Die andere lag in meinem Nacken und streichelte mir leicht über die nackte Haut.

Ein angenehmer Schauer rann über meinen Rücken.

Noch nie hatte ich mich so geborgen gefühlt wie in diesem Moment.
 

Nach einer Weile, ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, löste er den Kuss und sah mich lange an. Seine Augen waren voller Wärme und das leichte Lächeln auf seinen Lippen ließ mein Herz noch höher schlagen. Liebevoll fuhr er mir mit der rechten Hand sanft über die leicht gerötete Narbe auf meiner Stirn.

Dann beugte er sich leicht zu mir vor und schloss für einen Moment die Augen.

„Weil ich dich liebe“, antwortete er leise auf meine Frage.

Erleichtert erwiderte ich das Lächeln.

Langsam hob ich die Hand und strich ihm mit den Fingerspitzen über die Wange.

Dann zog ich ihn am Nacken zu mir zurück und wir küssten uns erneut.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So das wars, meine Lieben :)

Vielen Dank für eure Treue und dass ihr bis zum Schluss durchgehalten habt. Bitte bedenkt, dass diese Story über mehrere Jahre geschrieben wurde.

Das Ende habe ich bewusst zu dem Zeitpunkt gewählt, weil ich wusste, würde ich weiter schreiben fände die Geschichte kein Ende. ;)

Nochmals vielen lieben Dank für alle Kommentare und für all eure Ermutigungen.

LG
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Kommentare zu dieser Fanfic (77)
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Von:  DariaLuna
2015-07-10T23:58:08+00:00 11.07.2015 01:58
Also erst einmal: Danke für ein paar ganz wunderbare Stunden die ich Dank deiner Geschichte haben durfte.
Ich bin immer noch ganz hingerissen. Du hast den Figuren auf ganz fantastische und vor allem glaubhafte Weiße so viel Leben eingehaucht...wow 💞

Das schöne war das es zu keinem Zeitpunkt zu über trieben oder aufgesetzt gewirkt hat, alles war einfach irgendwie genau richtig dosiert.

Normalerweise sind Geschichten mit Gewalt und Schmerz eigentlich nicht so mein Fall, aber deine hat mich von der ersten Seite an gleich mitgerissen und ich konnte Sie bis eben nicht mehr aus den Händen legen.

Und deswegen wollte ich mich bedanken.

Danke für diese tolle Geschichte.
Danke für das Mitführen.
Danke für das Herzklopfen.

Danke für eine ganz wundervoll geschriebene Geschichte die ich bestimmt nicht zum letzten Mal gelesen habe.😺

Ganz liebe Grüße und einen steht kreativen Geist.
Daria^^

Antwort von:  -Ray-
12.07.2015 14:08
Wow! Ich freu mich riesig über deine Worte und dass es dir gefallen hat. :) vielen Dank für deinen lieben Kommentar!
Von:  Lunata79
2015-03-08T01:07:15+00:00 08.03.2015 02:07
Oawh, der Schluss ist einfach nur wundervoll.
Nach diesem stetigen Auf und Ab hat sich Joey dieses Happy End aber auch schwer verdient.
Antwort von:  -Ray-
08.03.2015 20:24
Ich freu mich dass es dir gefallen hat Close the Door zu lesen :) danke für deinen Kommentar <3
Von:  LittleHope
2014-12-25T15:16:25+00:00 25.12.2014 16:16
Ich muss sagen deine ff ist super geworden
Ich mag das Pärchen Seto x joey

Von:  Shijin
2014-01-02T22:21:41+00:00 02.01.2014 23:21
Jetzt ist sie also fertig! Daran hatte ich schon fast nicht mehr geglaubt und deshalb habe ich mich tierisch gefreut, als sie aus der Versenkung wieder aufgetaucht ist.
Nun zur Story: Ich habe mir heute mal die Zeit genommen, sie komplett zu lesen. Ganz besonders ist mir aufgefallen, dass es zwischen dem letzten Kapitel und denen, die vor ein paar Tagen on gingen, keinen Stilbruch gibt.
Sehr positiv!
Ansonsten ist die Story abgerundet, wunderschön geschrieben, super viel Gefühl. Ich finde die Charaktere überhaupt nicht OOC. Alle Verhaltensweisen lassen sich durch die Umstände erklären. Besonders gefallen mir auch die Nebencharaktere Roland und Delia. Du hast dir über jeden Gedanken gemacht und sie liebevoll eingebaut. Vor allem denke ich gerade an die Situation am Frühstückstisch mit Roland's Familie. Wunderschön! Okay, die Cousine hätte ich da jetzt nicht unbedingt gebraucht. Zwischen Seto und Joey war genügend Unausgesprochenes. Die Szene mit seinen Freunden im Park fand ich sehr wichtig und nochmal bezeichnet für Joey's Gefühlszustand.
Deinen Schreibstil finde ich klasse und durch das Layout lässt sich alles super lesen.
Vielen Dank für diese tolle Story!
Antwort von:  -Ray-
03.01.2014 20:33
Danke für diesen sehr wertvollen Kommentar :)
Von:  Silverdarshan
2013-02-17T21:23:11+00:00 17.02.2013 22:23
Oje, schon so lange ist das letzte Kapitel her... so lange schon lässt du uns schmoren ;___;
Ich hoffe sehr, dass du diese tolle Story noch nicht aufgegeben hast. Ich lese sie immer wieder gerne und hoffe immer noch auf eine Fortsetzung. Einfach eine wundervolle und süße Geschichte!
Vielleicht erbarmst du dich uns Lesern ja noch ;)
Ich würde mich jedenfalls ausgesprochen darüber freuen :D

LG Silverdarshan
Von:  ushios
2010-09-19T21:47:00+00:00 19.09.2010 23:47
das kapitel ist super geschrieben ich hoffe sehr das es bald weiter geht ansonsten schließe ich mich den andern an
Von:  -Eve-chan-
2010-09-04T08:24:52+00:00 04.09.2010 10:24
Auch mich hast du mit dem Kapitel überrascht, ich hätte nicht gedacht das sowas passiert. Du bist eine echte Dramaqueen, aber genau das mag ich XD
Das Kapitel war wieder toll, ich finde den Schluss wieder mega fies. Da stürzt Joey doch erneut in sein Loch, wenn Seto ihn einfach so sitzen lässt. Ich bin gespannt was weiter passiert, du machst es wie immer spannend.

Liebe Grüße Eve
Von:  Sky2
2010-08-30T18:36:39+00:00 30.08.2010 20:36
ähm...wow!
das kapitel ist wirklich der wahnsinn! ich hätte noch stunden weiter lesen können! du hast alles so genial beschrieben und die gefühle (vorallem joeys gefühle) sehr gut rüber gebracht! und der kuss war wirklich toll beschrieben (ich weiß ich wiederhole mich, aber mir fehlen grad echt irgendwie die worte!)

der kleine cliffi am ende ist ein bisschen fies!
^^
ich verstehe setos reaktion nicht so ganz, hat er angst, dass er joey mit dem kuss verletzt oder überfordert hat oder ist er selbst überfordert?
auf jeden fall ist es, glaub ich nicht gut joey so das sitzen zu lassen!

also ich warte gespannt auf das nächste kapitel und kann nur sagen mach weiter so!
lg sky
Von: abgemeldet
2010-08-30T14:00:54+00:00 30.08.2010 16:00
Ich hätte nicht erwartet, dass du das Kapitel so gestaltest, ehrlich nicht. Das heißt aber nicht, dass ich es schlecht finde, ganz im Gegenteil, ich finde es wundervoll.

Schon in dem Moment, als Seto durch die Tür gesprintet kam um nach Joey zu sehen, war mir klar, dass das Kapitel ein wenig mehr auf die romantische Beziehung von Seto und Joey legt.
Das Joey auf Seto abfärbt, finde ich toll, ich meine jetzt das Schulterzucken, was eigentlich Joey die ganze Zeit gemacht hat.

Es deprimiert mich, das Joey sich solche verzweifelten Gedanken über sein Vertrauen gegenüber Seto macht. Die Vergangenheit Joeys ist echt nicht leicht gewesen, dass hat man noch einmal gemerkt, als er sie Seto erzählt hat.

Der Kuss war wirklich sehr schön beschrieben und Joeys Gefühle haben mich ergriffen, dass er endlich Wärme, Sicherheit und Geborgenheit in einer Person gefunden hat. Dass Seto den Kuss so abrupt den Kuss beendet hat, kann ich auch verstehen, er wollte Joeys Gefühle nicht verletzen, was er doch nicht getan hat!

>< Es bleibt mal wieder spannend

Vielen Dank

LG Perpendikel
Von:  Silverdarshan
2010-08-29T18:58:51+00:00 29.08.2010 20:58
oh... das.ist.mies.
ganz blöde stelle um aufzuhören...
wirklich süß beschrieben, ich habe die funken der beiden regelrecht fliegen hören :)
ich hoffe du lässt uns nicht allzu lange zappeln. der arme joey wird sicherlich völlig erschüttert und verletzt sein...


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