Apathie von Ryourin ================================================================================ Kapitel 1: "Kopf oder Zahl?" ---------------------------- We are growing up with too much love - Inside a shell - a living corpse. Inside our selves we are a waste but have to save the world; where I too can see the light when I shut my eyes - Responsibility we have to take on for free. Ich habe letzte Nacht eigentlich nur Dúnés "80 Years" gehört, und es (bzw. der zitierte Absatz hier) hat meine Schreiberei maßgeblich beeinflußt. Warum auch immer. Ich glaube, es wirft kein gutes Licht auf mein Hirn, aber... gut. "Kopf oder Zahl?" „Bei einem Bombenanschlag der Hamas sind 27 Israelis ums Leben gekommen, darunter mindestens zehn Kinder“, leiert die tonlose Stimme des Sprechers der Acht-Uhr-Nachrichten herunter. „Israel reagierte mit einem Angriff seinerseits, bei dem Wohngebiete Palästinas zerstört und unzählige Zivilisten verletzt wurden“, labert er weiter. Jan hört nur die Hälfte von dem, was gesagt wird, da er zu beschäftigt ist, seiner Katze Grimassen zu schneiden. „Lass das Tier in Frieden, ja, Schatz?“, weist seine Mutter ihn geistesabwesend an, während sie stoisch Wäsche bügelt und immer wieder gedankenverloren auf den Fernseher starrt. „Und zieh es nicht am Schwanz, Schatz, das gefällt ihm nicht.“ Jan grinst nur und schubst die Katze vom Sofa. Sie beschwert sich mit einem lauten Miauen, doch er wirft nur die Fernsehzeitung nach ihr. Das Vieh hat es auf Stress angelegt, denkt er gelangweilt, kann sich jedoch nicht dazu aufraffen, ihm nachzulaufen. Im Fernsehen neigen sich die Nachrichten dem Ende, doch er registriert nur beiläufig den Mord an vier Farbigen in Berlin-Mitte. Irgendwas müssen sie je getan haben, denkt er, und mault seine Mutter an, wie lange sie noch bügeln will. Es ist bereits viertel nach acht, und er will nicht länger auf das Abendbrot warten müssen. „Du weißt doch, dass wir auf Papa warten“, versucht seine Mutter ihn zu besänftigen. „Er arbeitet an einem wichtigen Fall.“ Jan verdreht nur die Augen. „Was kann wichtiger sein als das Abendessen?“, fragt er mit vollem Ernst. „Es ist schon lange her, dass er mit uns gegessen hat“, meint er seufzend und ignoriert das seltsame Gefühl in seiner Magengegend. Irgendwas muss seinem Magen nicht behagt haben. „Ein Mordfall“, meint seine Mutter in knappen Worten. „Nichts, was in deinem Alter wichtig wäre“, fügt sie hinzu, und Jan verdreht erneut die Augen. „Als ob“, murmelt er, und denkt an seinen Vater. „Die Leichen können warten. Sind eh schon tot“, sagt er frustriert, und seine Mutter seufzt nur. „Achte auf deine Wortwahl“, befiehlt sie ihm mütterlich und wuschelt durch seine Haare. „Mama!“, ruft er entrüstet und flüchtet vor ihren Händen. Seine Mutter lacht; der Nachrichtensprecher berichtet über ein weiteres Terrorattentat. Sie lächelt nur milde. „Es ist schon spät, Schatz. Geh schlafen.“ „Ich bin 16, Mama“, antwortet er, immer noch entrüstet. „Außerdem muss ich nochmal zu Tim“, fügt er hinzu und ignoriert den müden Blick seiner Mutter. Stattdessen springt er vom Sofa auf. „Wegen Mathe“, erklärt er lässig und stapft schon Richtung Tür. Der besorgte Blick seiner Mutter trifft ihn nicht, ebenso wenig wie die monotone Aufzählung der verstorbenen Soldaten in Gott-weiß-wo. „Pass auf dich auf!“, ruft sie ihm hinterher, während die Tür ins Schloss fällt. Jan hört ihr nicht zu. Das Haus seines Freundes befindet sich nur ein paar Blöcke weiter, und er verfällt in einen raschen Trab dorthin. „Jo“, grinst Tim ihn an, als er laut schnaufend vor seiner Haustür steht. Offenbar wurde er erwartet. Tim jedoch zieht nur die Tür zu und bittet ihn nicht hinein; er tut es nie. „Wohin heute?“, fragt Tim gelangweilt, und Jan zuckt nur die Schultern. „Du entscheidest.“ „Gut. In die Dürerstraße“, beschließt Tim, und Jan gähnt. „Da waren wir doch erst am Mittwoch“, wendet er ein, und Tim wirft ihm einen bösen Blick zu. „Hast ‘ne bessere Idee?“ Er schüttelt wortlos den Kopf, und sie laufen ohnehin schon ihrem Ziel entgegen. Jan weiß nicht mehr, wann dieser Mittwoch gewesen ist. Es ist nicht wichtig. „Kopf oder Zahl?“, fragt Tim ihn, und das Prozedere ist dasselbe wie jeden Tag. „Kopf“, antwortet er, und sein Freund grinst ihn an, als die Münze mit der eins nach oben liegen bleibt. „Pech gehabt, Kumpel“, meint Tim und lacht immer noch. „Heute sind’s also keine Weiber.“ Jan seufzt und versucht, seine aufkommende Genervtheit zu unterdrücken. Irgendwer ist immer noch besser als niemand, denkt er, und achtet nicht darauf, dass Tim auf obszöne Art erfreut wirkt, bis er dessen Aufregung fast körperlich spüren kann. „Kommt einer?“, fragt Jan, obwohl er die Antwort anhand der Reaktion seines Freundes ohnehin schon erkennen kann. Tim nickt. Eine dunkle, schemenhafte Gestalt kommt auf der entgegengesetzten Seite des Bürgersteiges näher in ihre Richtung, und Jan muss an sich halten, nicht einfach hinüber zu sprinten und alles andere zu vergessen. Doch Tim hat es schlimmer erwischt, denn er wechselt kommentarlos die Straßenseite; Jan fackelt nicht lange und spurtet geräuschlos hinterher. Keine zwei Minuten später rennt Tim frontal in den Schemen hinein. „Pass doch auf, du Idiot!“, faucht er den Schemen an, und dieser lässt nur ein entrüstetes Schnauben hören. „Pass mal selber auf“, gibt der Schatten erbost zurück, und Tims Miene erhellt sich ein winziges bisschen. „Kannst du haben“, zischt Tim ihm zu, und mit seiner fröhlichen Miene wirkt der Satz sonderbar grotesk. Ohne weitere Umstände rammt er seine Faust in das Gesicht des Fremden. Der taumelt, getroffen von der Wucht des unerwarteten Schlages, einige Schritte zurück. Er wäre in die Knie gesunken, hätte Jan ihn nicht im letzten Augenblick am Arm gepackt; Tim schenkt der Situation einen irritierten Blick. „Wart ab“, murmelt Jan und schickt sich an, den Fremden auf den schwarzen Asphalt zu stoßen. Dessen angeschlagener Zustand und die Bordsteinkante tun ihr übriges: Er kommt hart auf dem Stein auf und flucht unterdrückt. Noch kann er fluchen. Jan fragt sich kurz, ob die Kinder in Gott-weiß-wo ähnlich wüste Flüche kennen, doch der Gedanke ist innerhalb eines Bruchteils wieder verschwunden. Er hat etwas zu erledigen. Der Tritt scheint den Fremden unvermittelt zu treffen, denn die Luft wird offenbar urplötzlich aus seinem Lungenflügel gepresst, als Jans Fuß mit seinem Brustkorb kollidiert. Zwar ist Jan sich nicht sicher, aber er könnte schwören, eine Rippe knacken gehört zu haben. „Was... hab ich euch getan?“, stößt der Nicht-mehr-Schemen hervor, während er versucht, wieder eine angemessene Menge an Sauerstoff in seinen Brustkorb zu saugen. Es funktioniert nicht, so wie er japst, denkt Jan, und überhört die Frage. Tim dagegen kichert. „Nichts“, antwortet er fröhlich, und der Fremde sieht die beiden unverwandt an. „Warum... dieser Hass?“, fragt er gequält, bevor Tims Fuß mit einem lauten Knacken seinen Unterarm zu einer breiigen Masse zermalmt. „Hass?“, fragt Jan lachend, während er das Geschehen beobachtet. Dann tritt er näher und springt mit aller Kraft auf die kraftlos zuckende Hand des verletzten Fremden. Das schmerzerfüllte Atemgeräusch und das gepeinigte, fast weibische Quieken nimmt er nur unterschwellig war. „Wir hassen nicht“, antwortet Jan nun auf die Frage und lächelt noch immer, als er dem quiekenden Schädel auf dem Boden einen Tritt versetzt. Er fühlt sich seltsam schwerelos, seltsam leicht; deswegen hört er das Knacken der Knochen nicht. Es irritiert ihn nicht mal das plötzliche Schweigen. „Idiot“, meint Tim plötzlich, während er auf die verdrehten Gliedmaßen des Bewusstlosen starrt. „So ein Idiot.“ Jan legt den Kopf schief und sieht Tim fragend an. Der wirft ihm einen amüsierten Blick zu. „Der Schwachkopf glaubt tatsächlich, wir hätten Spaß daran, Leute zu hassen“, meint er, und Jan grinst schwach zurück. „Klar. Deswegen haben wir auch soviel Spaß“, meint er flapsig, und Tim klopft ihm zustimmend auf den Rücken, während sie weiter die Dürerstraße entlang laufen. Ein Schemen taucht am Ende der Sackgasse auf, in deren Richtung sie laufen. Tim sieht ihn grinsend an. „Ja oder nein?“, fragt er, und Jan zuckt die Schultern, bevor er antwortet. „Ich weiß nicht“, murmelt er, und überlegt kurz. „Kopf oder Zahl?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)