Schwan und Wolf von --Tina-- ================================================================================ Kapitel 4: Abschied? -------------------- Mein Körper versagte mir den Gehorsam und ich wäre gefallen, wenn ich nicht brutal an meinen Oberarmen aufrecht gehalten worden wäre. Links und rechts stand jeweils einer der Werwölfe des Rudels, dessen Anführer ich in einem Anflug von Größenwahn beleidigt hatte. Verflucht seien der Vollmond und mein Hitzkopf, welche mich dazu gebracht hatten, einen Streit über ein verschüttetes Bier anzufangen. Die Finger der beiden Werwölfe bohrten sich regelrecht in meine Haut, besonders der Mann zu meiner Rechten gab sich alle Mühe mir weh zu tun, hatte ich ihm doch zu Anfang dieses ungleichen Kampfes die Nase gebrochen und noch immer lief ein kleines Rinnsal von Blut aus seinem nun schiefen Riesenzinken. Doch selbst dieser Anblick brachte mich nicht dazu zu grinsen, viel zu sehr schmerzte mir jede Stelle an meinem Körper, hatten doch fünf ausgewachsene Werwölfe auf mir rumgeprügelt. Und selbst wenn sie nur Menschen gewesen wären, hätte ich kaum eine Chance gehabt diesen Kampf zu gewinnen, doch hätte ich mich zurückziehen können, was mir dank der instinktiven Reaktionsschnelle meiner Rasse ein Leichtes hätte sein sollen. Doch man hatte mir keine Gelegenheit gegeben zu fliehen, das Rudel hatte mit mir gespielt und immer wieder einen Fluchtweg geöffnet, um ihn im letzten Moment wieder zu versperren. Jetzt hing ich zwischen den beiden Männern, während der Rudelanführer, Jack nannten sie ihn, mit verschränkten Armen zusammen mit den restlichen zwei Rudelmitgliedern vor mir stand und mich abfällig betrachtete. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Atem ging schnell. Mit jedem Atemzug sog ich das Ekel erregende Gemisch aus Blut, Schweiß und Hass auf und ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu würgen. Ich hatte Angst, anders konnte man es nicht ausdrücken. Und das Schlimmste war, dass die anderen Werwölfe das ebenso riechen konnten, wie ich ihren Hass auf mich. Ich konnte mir noch so viel Mühe geben, nach Außen hin so unbeeindruckt wie möglich zu sein, doch sie wussten wie es mir ging und allem Anschein nach, machte ihnen gerade das Spaß. Jack beugte sich etwas zu mir herunter, da ich den Kopf hängen ließ. „Das soll dir eine Lehre sein, sich mit uns anzulegen.“, grollte er mit einem fiesen Grinsen auf den Lippen und unwillkürlich erwartete ich einen weiteren Angriff. Ich hatte mich anscheinend nicht getäuscht, denn der Rudelanführer holte mit der rechten Hand aus. Erst dachte ich, er würde mir mit voller Wucht in den Magen schlagen wollen und zu spät für eine Reaktion sah ich das Aufblitzen eines Messers. Doch was hätte ich auch machen sollen, gehalten von zwei ausgewachsenen Werwölfen und kaum mehr in der Lage zu stehen? Das Messer traf mich an der Seite und ich schrie gepeinigt auf. Wenn möglich schien der Schmerz noch zuzunehmen, als das Messer wieder aus der Wunde gerissen wurde und ich fiel nach vorne in den Dreck, als mich die beiden Werwölfe los ließen. Ich drehte mich auf den Rücken und presste keuchend die Hände gegen die Verletzung. Blut sickerte aus der Wunde und nur verschwommen sah ich, dass sich jemand über mich beugte. Ich brauchte einen Moment, um meinen Blick auf Jack zu fokussieren. Er grinste auf mich herab, als er eine Lederschnur aus seiner Hosentasche holte. An der Schnur hingen, wie an einer Kette, verschiedene Sachen und ich meinte Ringe, Knöpfe und sogar einen Zahn zu erkennen. „Von jedem der von mir Getöteten nehme ich ein Souvenir mit. Lass mal sehen, was du so zu bieten hast.“, flüsterte er mir mit einer Stimme zu, die es selbst mir kalt den Rücken runter laufen ließ. Er hatte schon etwas ausgemacht, denn er griff zielsicher an den Ausschnitt meines T-Shirts und holte eine schmale Goldkette hervor, an der ein kleines Medaillon hing. Nicht das! Die einzige Erinnerung, die ich an mein Leben vor meinem Werwolfbiss hatte und das ich selbst dann nicht verkaufte, wenn ich wieder total abgebrannt war. Lass die dreckigen Finger davon, wollte ich Jack anschreien, doch wurde daraus nur ein Flüstern. Der Rudelführer lachte nur, zerriss die schmale Kette und steckte den Anhänger zusammen mit seiner Lederschnur zurück in die Hosentasche. Die Werwölfe drehten sich um, sie wollten gehen und mich hier verbluten lassen. Ich wollte sie anschreien, sie auffordern hier zu bleiben und meine Wut und Ohnmacht an ihnen auslassen, doch außer einem heiseren Stöhnen kam kein Ton aus meiner Kehle. Ich wurde davon geweckt, dass jemand auf das untere Ende des riesigen Sofas sprang und damit auch auf meine Füße. Sofort schnellte ich hoch und fasste die Person unerbittlich mit meiner rechten Hand an der Kehle, während meine Linke eine zum Schlag erhobene Faust formte. Dabei knurrte ich auf, was jeden echten Wolf dazu gebracht hätte vor Angst zu winseln und den Schwanz zwischen die Beine zu klemmen. Gerade noch rechtzeitig konnte ich meine Hand stoppen, bevor sie das zarte Gesicht der mittlerweile auch Zähne fletschenden Vampirin traf. Einen Moment schaute ich erstarrt, mit fliegendem Atem und rasendem Herzschlag, auf die Frau vor mir. Es hing kein Blutgeruch in der Luft und mein eigener Geruch nach Angst wurde fast gänzlich durch den Duft von Rosenblüten und Seife überdeckt, den das zarte Mädchen nur wenige Zentimeter vor mir verströmte. „Scheiße! Willst du dich umbringen?“, fuhr ich Sina keuchend an und ließ ihren Hals los, schubste sie leicht von mir weg. In diesem Moment hatte ich die Kraft und die Gelegenheit ihr das hübsche, kleine Genick zu brechen. Wieso ich es nicht tat, entzog sich völlig meiner Kenntnis, hätte ich damit doch freie Bahn zur Flucht gehabt. Vielleicht war es weil ich wirklich nur im Notfall tötete und meine Instinkte wohl im Moment eingerostet waren, gaukelten sie mir doch erstaunlicherweise vor, die Vampirin sei keine direkte Gefahr. Vielleicht war es aber auch, weil der Traum die Erinnerungen wieder hoch geholt hatte und das so unschuldig und rein wirkende Mädchen meine Nerven auf irrationale Weise etwas beruhigte. Sich den Hals reibend sah mich Sina stumm und fragend von der einen Seite des Sofas an, während ich mich auf der anderen Seite aufsetzte und die Beine an meinen Körper heranzog. Sie sah so verletzlich und bekümmert aus, waren das etwa Tränen in ihren Augen? Ich hatte sie doch nicht ernsthaft verletzt, denn das täte mir leid. Doch sofort schimpfte ich innerlich mit mir über diesen Gedanken. Die Vampirin war selbst Schuld, wenn ich ihr wehgetan hatte. Welches vernunftbegabte Wesen griff auch einen schlafenden Werwolf an? Immer noch ging mein Atem zu schnell und ich wischte mir mit einer Hand über das schweißnasse Gesicht. Die Vampirin schaute mich weiterhin beharrlich an, der Ausdruck von Mitleid eindeutig in ihrem Blick erkennbar. „Ich habe dich geweckt, weil du anscheinend einen Albtraum hattest, denn du hast geschrien. Obwohl die Weckmethode vielleicht nicht die Beste war.“, gab das Mädchen zu und schielte in meine Richtung. Ich hatte im Schlaf geschrien? Wie peinlich! Ich hatte nicht gerade selten Albträume, hatte ich in meinem Leben doch schon viel Schlechtes gesehen und nach dem, was ich letzte Nacht erlebt hatte, war das eigentlich kein Wunder. Doch dass die Vampirin mich in einem so verletzlichen Moment sah, passte mir gar nicht. Automatisch wanderte mein Blick zum Fenster, um Sina nicht ansehen zu müssen. Ich bemühte mich, mein Gesicht so ausdruckslos wie möglich zu halten, während ich so tat, als würde mich das Ganze nicht interessieren. Die Sonne stand schon hoch am Himmel – es war fast Mittag! Wieso hatte mich dieses blutsaugende Miststück von Vampir nicht geweckt? Sie hatte eben noch groß getönt, ich könnte nach dem Frühstück gehen. Doch bevor ich mich in meine Wut hineinsteigern konnte wurde mir klar, dass ich es heute Morgen vor Sonnenaufgang wohl nur schwer bis zur Stadt geschafft hätte. Jetzt waren meine Wunden völlig verheilt, ich fühlte mich ausgeruht und voller Tatendrang. „Willst du mir erzählen, was vorgestern passiert ist?“, fragte Sina mitfühlend, aber auch eindeutig neugierig. Wütend fixierte ich sie. Das Vampirmädchen sollte ihre neugierige Nase nicht in meine Angelegenheiten stecken! Doch anstatt ruhig zu sein, rutschte die Kleine wieder etwas näher an mich heran und schaute mich erwartungsvoll an. Ich sah deutlich die roten Abdrücke meiner Finger an ihrem hellen Hals, doch Sina setzte sich freiwillig näher an mich heran. Wieso zum Teufel hatte diese Mädchen keine Angst vor mir? Leise seufzte ich, war mir doch gerade klar geworden, dass ich sie selbst dann nicht mehr töten könnte, wenn mein Leben davon abhinge. Wie sollte ich auch jemanden verletzen, die so viel Vertrauen in mich hatte und ihr Leben in meine Hände legte. Eben als ich sie am Hals gepackt hatte, hätte sie sich losreißen können, doch stattdessen hatte sie ruhig gewartet, bis ich sie losließ. In diesem Moment hätte ich sie töten können, aus reinem Instinkt heraus. Dummes kleines Ding! „Ich hätte den Rudelführer vorgestern nicht `flohverseuchter Bettvorleger` nennen sollen.“, erklärte ich mit einem Schulterzucken und versuchte meiner Stimme einen scherzhaften Klang zu geben. Ich wusste nicht, was mich da geritten hatte. Ich wollte nicht mit der Vampirin reden und ihr schon gar nicht mein Herz ausschütten, doch der Satz war schneller raus, als ich es verhindern konnte. „Deine eigene Rasse hat das getan? Werden die Wölfe dafür nicht bestraft?“, fragte Sina irritiert. Sie klang wirklich erstaunt darüber, dass die anderen Werwölfe mir das angetan hatten oder dass ich darüber nicht empörter war. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und starrte mich an, als versuche sie eine Lüge in meinem Gesicht zu entdecken. Ich erwiderte ihren Blick ebenso starr, blieb äußerlich völlig ruhig. „Bei uns gibt es einen Rat, der Übergriffe von Vampiren auf unsere Rasse und auch auf Menschen überwacht. Im ersten Fall wird das geahndet und im zweiten Fall werden die Überfälle vertuscht und bei zu auffälligem Verhalten wird der Vampir exekutiert, da er eine Gefahr für unsere Rasse darstellt.“, erklärte Sina und ich musste zugeben, mich interessierte das, was sie sagte. Ich hing geradezu an ihren Lippen, konnten diese Informationen doch vielleicht einmal wichtig sein. Und so nickte ich ihr nur zu, als sie mich anschaute. Tatsächlich redete das Mädchen einfach weiter. „Bei so einer Tagung des überregionalen Rates, das passiert einmal im Jahr, ist auch meine gesamte Familie dabei. Ich darf noch nicht mit, denn ich hab meinen Blutdurst noch nicht ganz unter Kontrolle, aber ich bin ja auch erst um die sechzig Jahre ein Vampir und damit die Jüngste in meiner Familie. Mein Vater sagt, dass es nach fünfzig bis siebzig Jahren erträglicher wird und langsam merke ich auch, dass ich besser damit umgehen kann. Aber da der Rat mitten in einer Stadt, einem neutralen Ort voller Menschen tagt, hielten wir es für besser noch ein Jahr zu warten. Regionale Treffen finden, den jüngeren Vampiren zuliebe, meist hier statt, da hier keine Menschen sind und werden je nach Bedarf einberufen. Meine Familie duldet zumindest hier keine Angriffe auf Menschen, wir nehmen Tiere oder Blutkonserven.“, plapperte Sina drauf los und gestikulierte dabei lebendig mit ihren Händen herum, während ich die Informationen in mich aufsog. Diese Familie von Vampiren verzichtete also anscheinend auf Menschenopfer, was Sinas Jagden im Wald erklären würde. Ich konnte jedoch nicht verhindern, dass sich auch ein Gefühl von Mitleid für die kleine Vampirin in den Vordergrund schlich. Sechzig Jahre verwandelt und immer noch keine Kontrolle über ihr Verlangen? Sie war eine Gefangene in diesem goldenen Käfig, konnte sie doch nicht einfach ohne Begleitung von ihrer `Familie` in die nächste Stadt gehen. Ich wurde spätestens nach ein, zwei Wochen unruhig, wenn ich nicht weiter ziehen konnte. Langsam glaubte ich zu wissen, weswegen mich Sina verpflegt und aufgepäppelt hatte. Sie war einsam. Das arme kleine Ding, wo sie doch so lebenslustig und aufgedreht schien. „Hasst du deinen Erzeuger nicht? Er hat dir schließlich dein Leben zerstört. Wenn ich wüsste, wer mir das angetan hat, dann würde ich ihm den Hals umdrehen.“, knurrte ich. Was musste das nur für ein Vampir sein, der dieses fröhliche Mädchen nicht nur biss, sondern sie auch in einen Vampir verwandelte? Ich konnte mir gut vorstellen, wie Sina als Mensch auf einer Wiese stand und sich im Sonnenschein so schnell um die eigene Achse drehte, bis ihr schwindelig wurde oder der Mittelpunkt jeder Party war. Wie anders und um wie viel trostloser musste ihr Leben jetzt sein? Mein Leben hatte sich verändert, aber nicht sehr stark. Ich hatte immer noch keine richtigen Ziele im Leben und war froh, wenn ich in Ruhe gelassen wurde und meine Freiheit hatte. „Im Gegenteil. Ich bin Henry dankbar, dass er mich verwandelt hat, denn sonst wäre ich schon lange tot. … Damit meine ich jetzt nicht, dass ich schon achtzig Jahre alt wäre. Ich war mein ganzes Menschenleben krank, war erschöpft, wenn ich nur ein paar Treppen stieg, konnte nicht mit anderen Kindern spielen, später nicht auf Empfängen tanzen. Ich glaub nicht, dass ich meinen zwanzigsten Geburtstag erlebt hätte, wenn mein Vater mich nicht mit diesem Geschenk gesegnet hätte und dabei lag er nur noch wenige Tage entfernt.“, erklärte das Mädchen und redete sich regelrecht in Rage. Mittlerweile war sie aufgestanden und wanderte unruhig zwischen Sofa und Fenster hin und her. Ich folgte ihr mit meinen Augen, doch wagte ich mich nicht zu bewegen. Das konnte ich mir nun weniger vorstellen: Sina als kränkliches und erschöpftes Kind oder als junge Frau, die zu schwach war, um nur ein paar Treppen zu steigen. Dazu war das Vampirmädchen einfach zu aufgedreht und viel zu lebendig, die beiden Bilder über die junge Frau in Einklang zu bringen, schien mir irgendwie unmöglich. Wieder etwas ruhiger werdend, lächelte mich Sina kurz an. Sie hatte mittlerweile ihre Wanderung aufgegeben und drehte sich nun so vor das Fenster und schaute hinaus, dass ich in dem Gegenlicht nur noch ihre Silhouette erkennen konnte. „Du möchtest bestimmt los, bevor dich die Dunkelheit wieder hier einsperrt.“, sagte Sina leise. Es wirkte etwas traurig, jetzt wo ich wusste, dass sie sich einsam fühlen musste. Und plötzlich hatte ich es nicht mehr so eilig hier weg zu kommen, wie viele Tage musste das Vampirmädchen sonst alleine hier verbringen. Was für ein Unsinn! Hier roch es nach Freiheit und ich wäre dumm die Gelegenheit nicht zu ergreifen. „Ja. Wenn ich gleich losgehe, dann komme ich noch gut bis in die nächste Stadt oder noch weiter.“, erklärte ich und erhob mich jetzt auch vom Sofa. Das brachte mich auch wieder dazu, meine nackten Füße zu bemerken. Ich rollte genervt mit den Augen, das hatte ich ja ganz vergessen! Wo hatte die Vampirin wohl meine Schuhe versteckt? Ich schaute runter auf meine Zehen und wackelte damit. „So kann ich aber nicht los.“, murmelte ich und als ich aufschaute, sah ich in das grinsende Gesicht von dem Vampirmädchen. Sie schüttelte den Kopf und betrachtete ihre eigenen Füße. Dann sprang sie leise vor sich hinsummend los und ich konnte ihr nur verwundert hinterher schauen. Sina verschwand durch eine Tür und ich hörte, wie sie mit Geschirr klapperte und eine Mikrowelle in Betrieb nahm. Geschirr? Das bedeutete Essen und da hätte ich nichts gegen einzuwenden, doch hatte die Kleine nicht gerade etwas von losgehen erzählt? Schon kam das Vampirmädchen wieder zurück und trug ein Tablett mit Teller und Glas vor sich her. „Hier. Du kannst solange etwas Essen, während ich die Schuhe hole.“, meinte Sina und stellte mir das Tablett auf den Couchtisch. Mir stieg der Duft nach gekochtem Fleisch in die Nase und ich sah auf dem Teller irgendwelche in Soße ertränkten Nudeln, ich tippte auf Ravioli aus der Dose. In dem Glas war nur Wasser, was wohl daran lag, dass in einem Haus mit lauter Vampiren nur Dosenfraß lagerte. Mich wunderte es sowieso, dass hier überhaupt etwas Essbares vorhanden war, doch vielleicht kam ja mal ein Mensch zu Besuch, der natürlich nichts über die Essgewohnheiten der Hausbesitzer ahnen durfte. Ich machte mir so meine Gedanken, während ich das Essen wieder gierig in mich hinein schaufelte, so gesehen hatte ich ja seit fast einem Tag nichts mehr gegessen. Dabei schaute ich mich etwas in dem Zimmer um, da Sina schon wieder hinter einer weiteren Tür verschwunden war. Der Raum war genauso edel und elegant eingerichtet, wie auch das Bad und die anderen Zimmer zuvor, doch hatte es nicht diese persönliche Note, wie das Schlafzimmer, in dem ich aufgewacht war. Mittlerweile kam mir der Verdacht, dass es sich dabei um Sinas eigenes Zimmer gehandelt hatte, passte die freundliche Wandfarbe und der Rosenstrauß doch zu dem fröhlichen Mädchen. Ich schluckte gerade den letzten Bissen herunter, der Teller war in Rekordzeit leer gewesen, da kam die Vampirin wieder in den Raum. Sie trug neben meinen stabilen Schuhen noch einen Rucksack im Arm und ließ sich damit neben mir auf das Sofa fallen. Automatisch wollte ich ein Stück weg rücken, doch zwang ich mich ruhig zu bleiben, auch wenn die Kleine nur einen Meter neben mir saß. Wenn Sina wahrgenommen hatte, dass ich zusammengezuckt war, dann hatte sie es sich nicht anmerken lassen. Sie stellte mir mit einem breiten Grinsen die Schuhe vor die Füße und meinte mit einem Augenzwinkern: „Hier. Damit du schnell und weit wegrennen kannst von diesem Ort des Grauens.“ Ort des Grauens? Das war vielleicht doch ein bisschen übertrieben. Ich musste ebenfalls lächeln, während ich mich nach den Schuhen und einem Paar Socken die darin waren, vorbeugte. „Was ist mit dem Rucksack?“, fragte ich neugierig und schielte hoch zu Sina, während ich die Socken anzog und die Schuhe zuband. Die Vampirin schob die Klappe hoch und öffnete die Zugbänder des Rucksacks und hielt ihn mir so hin, dass ich hinein sehen konnte. Ich ließ den letzten Schuh ungebunden und schaute lieber in das Innere des Rucksacks. Ich konnte darin einen Satz Kleidung erkennen und Sina holte ein eindeutig benutztes Portemonnaie aus dem Stoffbeutel hervor. „Da ist etwas Geld drin, damit du dir heute Nacht ein Zimmer nehmen kannst.“, erklärte sie, während sie den Geldbeutel hoch hielt. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war wirklich sprachlos! Dieses Vampirmädchen, das eigentlich mein Todfeind sein müsste, hatte mir liebevoll einen Rucksack gepackt und machte sich sogar Sorgen darum, wie ich die Nacht verbrachte. Irgendwie berührte diese Geste etwas in meinem Herzen, denn so hatte sich niemand mehr um mich gesorgt, seit ich vor zehn Jahren mein Leben hinter mir gelassen hatte und damit meine Familie und Freunde. Ich musste schlucken und wandte mich mit großer Hingabe meinem zweiten noch immer offenen Schuh zu. „Danke.“, murmelte ich mit belegter Stimme. Ich spürte förmlich Sinas Blick auf mir ruhen, wie sie mir dabei zusah, wie ich meinen Schuh zuband. Sie schwieg und packte das Portemonnaie wieder zurück, knotete ordentlich die Schnüre wieder zusammen und schloss die Klappe darüber. All das sah ich aus den Augenwinkeln, während ich mich mit gespielter Sorgfalt um meine Schnürsenkel kümmerte. Als ich fertig war, sah ich auf und schaute direkt in die Augen meiner kleinen Vampirfreundin. „Lass uns raus gehen! Du brauchst Sonne und Auslauf.“, erklärte Sina auf einmal wieder völlig überdreht und sprang von dem Sofa auf. Woher wollte dieses penetrante Vampirmädchen bitte wissen, was ich brauchte? Sie war wirklich unberechenbar. Mal ging sie mir auf die Nerven mit ihrer sonnigen Art und ich sehnte mich danach, wieder mal alleine zu sein, hatte ich doch seit anderthalb Tagen die Zeit wo ich wach war immer Gesellschaft gehabt hatte. Ein anderes Mal gab sie mir das Gefühl, jemanden um mich zu haben, der sich um mich sorgte. „Verdammt, ich bin doch kein Hund! Ich brauche keinen Auslauf!“, knurrte ich mal wieder missmutig in Sinas Richtung. Ich richtete mich dabei bedrohlich auf, bis ich nur noch Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war. Ich achtete auf Kleinigkeiten in Sinas Haltung und Mimik, doch nichts sagte mir, dass sie sich vor mir ängstigte. Nein, sie grinste mich sogar frech an! Ich gab mir doch wirklich alle Mühe unnahbar und gefährlich zu wirken, doch anstatt einen Sicherheitsabstand zu mir zu halten, vertraute mir dieses naive, dumme Ding. Ich schüttelte den Kopf, das Mädchen wäre bei einem anderen Werwolf ziemlich schnell ziemlich tot. Sina ging immer noch grinsend zu der größten der von diesem Raum ausgehenden Tür. Als das Vampirmädchen sie öffnete, konnte ich in einen Flur schauen, zumindest wenn man die Glastür nach draußen und die Garderobe in Betracht zog. Ich nahm mir den Rucksack von dem Polster des Sofas und folgte Sina in den Flur. Etwas verwirrt sah ich ihr dabei zu, wie sie sich hohe Stiefel anzog und einen Mantel von einem Haken nahm, der ihr bis über das Knie ging. Nachdem sie die Knöpfe geschlossen hatte, schauten nur noch Hals, Kopf und Hände des Vampirmädchens hervor. „Was machst du da? Ist Sonnenlicht nicht tödlich für Vampire?“, fragte ich irritiert. Sina nickte ernst, während sie angestrengt die Garderobe musterte und schließlich in den Jacken und Mänteln rumwühlte. „Hier, diese Jacke wird Joel schon nicht vermissen. Und ja, Sonnenlicht kann Vampire töten, aber erst nach ein, zwei Stunden. Je jünger ein Vampir ist, desto anfälliger sind wir und ich muss ehrlich sagen, dass mir direktes Sonnenlicht wehtut. Aber bevor du fragst: die Fenster hier sind aus Spezialglas.“, erklärte Sina und warf mir eine dunkelbraune Jacke zu, die wohl ungefähr meine Größe haben müsste. Wer wohl Joel war? Wahrscheinlich einer ihrer `Brüder`, denn wer sollte sonst seine Jacke hier hängen haben. Ich schnallte mir die Jacke an den Rucksack und stand etwas hilflos in dem Flur herum. Ich wusste nicht, wie und ob ich mich verabschieden sollte, doch Sina nahm mir die Entscheidung ab. Sie nahm sich einen Schirm aus dem Ständer, der an der Garderobe stand und ging auf die Haustür zu. „Kommst du?“, fragte das Vampirmädchen mit einem kecken Blick zurück zu mir. Dann öffnete sie die Haustür, spannte den Schirm auf und trat hinaus. Sina wartete, bis ich neben ihr stand, dann zog sie die Tür ins Schloss und tänzelte die Treppe hinunter. Leise lachte ich in mich hinein. So hätte ich mir Sina als Mensch vorgestellt: lachend und fröhlich hüpfend im Sonnenlicht, nur der Schirm passte nicht ganz zu dem Bild. Langsamer folgte ich ihr und schulterte den Rucksack, während ich die Träger in eine für mich bequeme Länge einstellte, die Jacke immer noch hinten am Rucksack befestigt. Ich warf einen Blick zurück. Das Haus war wirklich eine alte Villa oder eher gesagt ein wahrer Landsitz und wirkte wie aus dem vorigen Jahrhundert, war jedoch gut restauriert. Doch das nahm ich nur nebenbei wahr, mein Blick wurde vielmehr magisch von dem nahen Waldrand angezogen. Nur wenige hundert Meter und ich wäre mitten im Unterholz und nur fünf Kilometer von der nächsten Stadt entfernt, wohin ich den Weg auch ohne Kompass finden würde dank der Werwolfs eigener Instinkte. Mein Blick wanderte weiter zu Sina, die ruhig neben mir stand und mich anscheinend die ganze Zeit beobachtet hatte. Sie hatte ein neutrales Gesicht aufgesetzt, es lag kein Vorwurf oder Misstrauen darin, nur etwas Wartendes. „Wenn du gehen willst, halte ich dich nicht auf. Du kannst mich aber auch in den Garten begleiten.“, sagte die kleine Vampirin und sah mich aus unschuldigen Kinderaugen an. Sie drehte dabei den Schirm und wirkte wieder so lieb und niedlich, dass ihr niemand das dunkle Geschöpf, das in ihr schlummerte, zutrauen würde. „Was willst du mir zeigen?“, fragte ich und wand mich nach kurzem Zögern endgültig vom Waldrand ab. Auf die fünf Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an. Das auf meine Worte folgende Lächeln von Sina ließ mich belustigt schnauben. Dass man die Kleine mit so einfachen Sachen glücklich machen konnte, zeigte mir wie einsam sie doch sein musste. Und so gingen wir nebeneinander über einen gepflasterten Weg um das Haus herum. Oder besser gesagt, ich ging und das Vampirmädchen hüpfte im Schlenderschritt neben mir über die Steinplatten. Erst nach ein paar Augenblicken fiel mir auf, dass Sina vielleicht einen Meter neben mir war und ich hatte nicht das Gefühl, dass ich mehr Abstand zwischen uns bringen musste. Verwundert über mich selbst, merkte ich im ersten Augenblick nicht, dass die Vampirin stehen geblieben war. „Das wollte ich dir zeigen.“, strahlte Sina und machte eine Handbewegung nach vorne, wobei sie aber darauf achtete ihre Hand nicht unter dem Schatten ihres Sonnenschirms hervorlugen zu lassen. Ich schaute nun auch geradeaus und vor mir lag ein Garten mit mehreren Rosenstöcken, alle mit Blüten in rot, gelb und orange bedeckt. Ich schloss einmal kurz die Augen und zog den entspannenden Duft nach Rosenblüten ein. Dieser Ort kam mir langsam vor, wie eine Oase der Ruhe und Erholung und wäre nicht das nagende Gefühl der Angst, dass Sinas Familie irgendwann wieder kommen könnte, hätte ich hier gut noch einen Tag verbringen können. Das Vampirmädchen ging noch ein paar Schritte weiter und ließ sich vor einem der gelben Rosensträucher nieder. Vorsichtig rupfte sie verblühte Rosen ab, den Schirm hielt sie dabei in der linken Hand. Ich stellte mich neben sie und sah ihr dabei zu, wie sie die Pflanze versorgte. Ich befand mich in einem Zwiespalt: ein Teil von mir wollte gehen und die Freiheit genießen, aber die andere Hälfte von mir wollte noch ein bisschen die Ruhe hier genießen, denn zur Ruhe kam ich nur selten auf meiner Wanderung. Sina brach eine noch blühende Rose ab und hielt mir die Blume hin. Aus Reflex griff ich zu, war selbst über mich erstaunt, wie bereitwillig ich meine aus Selbstschutz gezogene Sicherheitsdistanz brach und so nah an die Vampirin herantrat. Ja, ich konnte jeden Augenblick hier fliehen, die Vampirin war durch ihren Sonnenschirm behindert und ich wäre damit auch entgegen der Rassenunterschiede schneller. Doch ich brauchte nicht fliehen. Weder mein Instinkt, noch mein Kopf sagten mir, dass ich rennen sollte und das war ein schönes, lange nicht mehr gekanntes Gefühl. „Wieso ist dir dein Leben so wenig wert, dass du dich andauernd in Probleme bringst?“, fragte Sina mich plötzlich und sah von ihrer Arbeit auf. Die braunen, klaren Augen bohrten sich regelrecht in meine und ich musste den Blick abwenden. Die Wahrheit war, ich wusste es nicht, hatte ich doch noch nie darüber nachgedacht und eigentlich war mir auch nie bewusst gewesen, dass ich mein Leben absichtlich in Gefahr brachte mit meiner Lebensweise. Fielen Prügeleien und zielloses Wandern denn schon unter `sein Leben gefährden`? „Vielleicht weil es egal ist, ob ich lebe oder tot bin. Der Unterschied würde niemandem auffallen.“, murmelte ich leise und erst als ich es aussprach, wusste ich, dass es die Wahrheit war. Meine Eltern waren tot, meine kleine Schwester und ich hatten uns in den Jahren auseinander gelebt, bei der Arbeit hatte ich nach meinem Werwolfbiss gekündigt und die paar wirklichen Freunde würden mich auch schnell vergessen haben. Mich würde niemand vermissen und diese Erkenntnis tat weh, auch wenn ich es nie zugeben würde. Ich spielte mit der gelben Rose in meiner Hand und traute mich nicht wieder in die stechenden Augen der Vampirin zu blicken. Hohn, Spott oder gar Mitleid hätte ich jetzt nicht ertragen. „Das glaub ich nicht. Selbst ich würde um dich trauern, obwohl wir uns erst kurz kennen und unsere Rassen sich nicht gerade gut verstehen. Du bist etwas unnahbar, aber bist ehrlich und ganz selten lächelst du sogar.“, erklärte Sina leise, aber so als meine sie wirklich jedes Wort ernst. Verwundert schaute ich wieder zu dem kleinen Vampirmädchen, das immer noch zu meinen Füßen vor dem Rosenstrauch kniete. Sie lächelte mich an und nickte bestätigend. „Sei vorsichtig auf deiner weiteren Reise, Thomas Cole.“, flüsterte Sina und stand nun auf. Sie sah mich mit einem halben Lächeln an und legte mir im Vorbeigehen die Hand auf meine Schulter. Ich zuckte leicht zusammen, als Sina mich berührte und ich sah ein trauriges Aufblitzen in ihrem Gesicht und sofort tat mir mein Verhalten leid. Ich wollte etwas sagen, sie aufhalten oder sonst etwas tun, denn mein schlechtes Gewissen machte mich gerade regelrecht fertig. Doch alles was ich schließlich tat, war hinter dem Vampirmädchen her zu sehen, wie sie in ruhigen Schritten dem Pfad aus Pflastersteinen folgte und schließlich hinter einer Ecke des Hauses verschwand. Ich stand hier in einem Meer aus Blüten, die einen berauschenden Duft verströmten und fühlte mich doch so schlecht, wie schon lange nicht mehr, nicht körperlich, sondern seelisch. Sina hatte mir mit ihrer eigenen Einsamkeit gezeigt, wie verlassen ich mich selbst fühlte. Zehn Jahre als einsamer Wolf durch die Welt ziehen hatten ihre Spuren hinterlassen und ich hatte ganz vergessen, wie es war, wenn man jemanden hatte, der sich um einen kümmerte. Missmutig drehte ich mich um und ging in Richtung Baumgrenze. Eigentlich müsste ich laut jauchzend durch den Wald rennen, weil ich dem Tod von der Schippe gesprungen und einem Vampir entkommen war, doch ich fühlte mich nur kaputt und war mit meinen Gedanken ganz woanders. Ich kam nur sehr langsam voran, schien doch mit jedem Schritt der Rucksack schwerer zu werden und meine Beine ebenfalls. Nach vielleicht zehn Minuten langsamer Wanderung blieb ich noch einmal stehen und sog die Luft bewusst ein. Ich hatte Glück. Der Wind wehte genau von der richtigen Richtung und ich konnte die Rosenblüten riechen, die ich mittlerweile unbewusst mit dem kleinen Vampirmädchen verband. Doch darüber lag der beißende Geruch nach Raubtieren. Es roch nach Wölfen oder besser gesagt Werwölfen! Hosted by Animexx e.V. 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