Miseinen: Only Yesterday von the-suicide-circus (Eine Geschichte über Rukis Vergangenheit) ================================================================================ Kapitel 3: Cage --------------- Meine Haut berührte kalte Fliesen, ein seltsamer Geruch stieg mir in die Nase. Ich öffnete meine Augen, wo war ich? Alles war verschwommen, doch ich erkannte das Badezimmer unserer neuen Wohnung. Wie lange hatte ich hier gelegen? Mein Körper fühlte sich seltsam schwer an. Es war schon fast dunkel draußen, die Sonne musste schon längst untergegangen sein und durch das kleine Fenster drang nur wenig Licht. Ich versuchte aufzustehen, doch als ich mich auf meinen linken Arm abstürzen wollte, schmerzte und brannte dieser unheilvoll und ich sackte wieder zusammen. Erschrocken über mich selbst starrte ich auf meinen Unterarm. Die weiße Haut war ebenso wie die gleichfarbigen Fliesen am Boden blutverschmiert. Angewidert schloss ich die Augen, die zu tränen begonnen hatten. Was hatte ich getan? Als ob es gegen die Schmerzen helfen würde, drückte ich meinen Arm an meinen Oberkörper, doch im selben Moment ließ mich heftiges Klopfen an der Tür zusammenschrecken. „Kommst du heute auch mal da raus, oder was soll das?! Ich warte schon fast eine Stunde, als beeil dich mal!“, erklang die genervte Stimme meines Bruders durch die verschlossene Tür, während er weiter dagegen klopfte. Schnell richtete ich mich auf, wenn irgendjemand das hier sehen würde... Doch als ich das Licht anmachte, konnte ich erst erkennen, wie blutverschmiert Fliesen und Waschbecken wirklich waren. Mein Herz raste, eilig griff ich nach einem Handtuch und hielt es unter den laufenden Wasserhahn. Draußen vor der Tür hörte ich meinen Bruder mit zornigen Schritten hin und her gehen, „Hörst du mir überhaupt zu?!“ Wieder lautes Hämmern, „Jetzt mach endlich, verdammt!“ „Bin gleich fertig...“, sagte ich mit zitternder Stimme und begann, die schon fast eingetrockneten Spritzer auf dem Boden aufzuwischen. Das rote Tuch würde ich einfach auf meine Haare schieben. Doch das Waschbecken war mindestens genauso verschmiert, wie konnte man durch einen einzigen kleinen Schnitt nur so viel Blut verlieren? Doch als ich unter weiteren genervten Kommentaren meines Bruders anfing, meinen linken Unterarm abzuwaschen, wurde mir einiges klar. Da war nicht nur ein Schnitt. „Matsumoto Takanori, ich hab nicht den ganzen Tag zeit, also mach endlich diese verdammte Tür auf!“ Doch kaum hatte er zu Ende gesprochen, hatte ich bereits aufgeschlossen und schob mich so schnell wie möglich und ohne ihn anzusehen vorbei in mein Zimmer, wo ich mich erstmal erschöpft aufs Bett sinken ließ. Abwesend strich ich mit dem Daumen über meine Wunden. Es war klar, dass das irgendwann passieren würde. Doch was mir wirklich Angst bereitete, war die Tatsache, dass ich mich nicht an die anderen drei Schnitte erinnern konnte, die auch noch viel tiefer waren. Das erklärte wenigstens das viele Blut. Ich zog den Ärmel über meine Hand und versuchte, einfach nicht daran zu denken. Aber Fakt war, dass ich total die Kontrolle über mich selbst verloren hatte. Das durfte nicht noch einmal passieren. Völlig k.o. starrte ich gegen die Decke, aus dem Wohnzimmer drangen laut die Stimmen meiner Eltern in mein Zimmer. Seit wann waren sie zu Hause? Ich hatte es nicht bemerkt. Draußen war es bereits völlig dunkel, ich hörte die Badezimmertür aufgehen und meinen Bruder herausstürmen. Hatte er es denn so eilig? Warum eigentlich? Doch kaum hatte ich mich zu Seite gedreht und meine Augen erneut über meinen Arm schweifen lassen, traf mich eine so erschreckende Erkenntnis, dass ich aufsprang und mit rasendem Puls aus dem Zimmer stürzte. Die Klinge. Ich hatte nicht an die Klinge gedacht, sie musste noch irgendwo am Boden liegen. Verdammt, dachte ich mir. Wie konnte ich das nur vergessen?! Doch noch bevor ich das Bad erreichte, erklang bereits die scharfe Stimme meiner Mutter durch die Wohnung. „Takanori, kommst du mal bitte kurz?“ Ihre Stimme war beunruhigend leise. Ich schluckte, folgte jedoch und betrat mit pochendem Herzen den Raum. Meine so genannte Familie hatte sich um den Esstisch versammelt, mein Bruder stand neben meinem Vater und musterte mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. Meine Mutter blickte nicht auf sondern starrte gegen die Tischplatte, während mein Vater anfing zu sprechen. „Was ist das?“, fragte er schon fast mit einem Lächeln. Ich blickte auf, mein Herz stand still. Als ob er die Antwort nicht wissen würde, drehte er das noch blutverschmierte scharfe Metall zwischen seinen Fingern und blickte von mir zu der Rasierklinge. Ich zuckte nervös mit den Schultern, starrte wieder zu Boden, konnte jedoch aus den Augenwinkeln erkennen, wie sich die Miene meines Vaters verfinsterte. Meine Mutter schluchzte. Er stand auf. Ich ahnte, was jetzt kommen würde. Doch mein Bruder kam mir und meinem Vater zuvor; er eilte zu mir, packte meinen linken Arm, was mich vor Schmerz fast auf schrieen ließ, und zog den Ärmel hoch. Ich wollte ihn zurückziehen, doch er war stärker und es tat weh. Er musterte meine Wunden kurz, dann zog er mich näher zu Vater und hielt ihm mein Kunstwerk entgegen. Ich wagte es nicht, aufzusehen. Meine Mutter schluchzte erneut, lauter. „Was soll das?“, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Und als ich nicht antwortete, kam die längst erwartete Ohrfeige in dem Moment, als mein Bruder mich losließ und ich stürzte zu Boden. „Antworte mir gefälligst!“, schrie mich der alte Mann an, seine Hand immer noch ausgestreckt, Verachtung spiegelte sich in seinen Augen. „Ich...ich...“, begann ich, doch mein Stimme versagte. Ich durfte nicht weinen. Nicht vor ihm. „Willst du noch eine?!“, drohte er mit lauter Stimme, doch meine Mutter war bereits aufgesprungen und hielt ihn zurück. Mein Bruder hatte längst den Raum verlassen, während meine Vormünder begonnen hatten, über den hohen Puls meines Vaters zu diskutieren und dass er sich nicht so aufregen sollte. „Ich kläre das schon“, warf meine Mutter laut ein, mein Vater wollte protestieren, doch sie schickte ihn aus dem Zimmer. Dann war es plötzlich still. „Ich weiß wirklich nicht mehr weiter...“, fing sie nach einiger Zeit mit brüchiger Stimme an, „Ich bin ja schon einiges gewöhnt von dir, aber dass du so weit gehen würdest, nur um Aufmerksamkeit zu bekommen, hätte ich wirklich nicht erwartet. Was muss ich denn noch tun, damit du aufhörst, deinem Vater solche Sorgen zu bereiten?!“ Ich wusste, dass sie weinte. Man konnte es ihrer Stimme anhören. „Warum...“, begann sie erneut und ich verfolgte mit meinen Augen ihre langsamen Schritte in Richtung Tür. „Warum kannst du nicht wenigstens ein bisschen wie dein Bruder sein? Mehr... verlange ich doch gar nicht von dir.“ Und mit diesen Worten, den Worten, die ich auf dieser Welt am meisten hasste, verließ sie ebenfalls den Raum und ließ mich am Boden kauernd zurück. Still lag ich da; und die lang ersehnten Tränen tropften langsam auf den weißen Teppich. Im Endeffekt kam ich mit zwei Wochen endgültigem Hausarrest davon, in denen es meine Eltern so gut wie möglich vermieden, mit mir zu sprechen. Sie ordneten auch an, dass ich nicht mit ihnen gemeinsam zu Abend aß, sondern alleine in meinem Zimmer, ahnten jedoch nicht, dass dies die schönste Strafe von allen war. Nur mein Bruder, der ausgerechnet jetzt keine Sommerschule hatte da sein Lehrer in den Ferien war, versäumte keine freie Minute, in der er mich ungehindert schikanieren konnte. Sie hatten ihn dazu verdonnert, auf mich aufzupassen und zu achten, dass ich auch ja wie angeordnet jeden Tag mindestens zwei Stunden Japanisch und eine Stunde Mathe lernte, da meine Noten ja so „grottenschlecht“ waren. Er jedoch hackte lieber bei jeder Gelegenheit auf mir rum, anstatt mir zu helfen oder gar mich einfach in Ruhe zu lassen. Ich wäre schon nicht abgehaut, obwohl ich öfters mit dem Gedanken spielte. Aber mir war lieber er als mein Vater, und so vergingen die nächsten zwei Wochen meiner lang ersehnten Sommerferien angenehm schnell. Und zu meinem Erstaunen hatte ich mich in Japanisch sogar ein wenig verbessert, trotz der anfangs schlechten Kritik meines Bruders. Ich musste eben nur wollen. Doch Mathe würde ich einfach nie kapieren, meinte er zumindest, aber das machte nichts. Wer brauchte denn schon Mathe, wenn er Rockstar werden wollte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)