Jeder für sich von -Sanna- ================================================================================ Kapitel 1: Wenn Niemand An Deiner Seite Ist ------------------------------------------- Draußen war es bereits pechschwarze Nacht, doch meine Umkleide wurde von grellem Neonlicht erleuchtet. Ich seufzte und nahm einen Schluck Wasser. Der Auftritt hatte mich mehr Kraft gekostet als sonst, ich hatte mich vollkommen verausgabt. Dabei hatte ich mir vorgenommen meine Energie einzuteilen – dies war erst der Anfang unserer Deutschland - Tour. Wie dem auch sei. „Hey Gustav!“ Bill und Tom kamen reingestürmt, beide bei bester Laune. Wie immer nach einem Konzert – die beiden liebten die Bühne. Sie sahen mich an. „Komm schon, wir wollen noch feiern gehen!“, meinte Bill voller Enthusiasmus, „Das Konzert war fantastisch, ein grandioser Start für unsere neue Tour!“ Ich winkte jedoch ab. „Nehmt es mir nicht übel, aber ich bin tierisch müde.“, sagte ich. Tom zog eine Schnute. „Gustav, sei kein Spielverderber.“, sagte er mit bettelndem Blick, „Schlafen kannst du immer noch, heute gibt’s Party!“ „Georg kommt auch mit.“, fügte Bill hinzu, „Lass uns nicht hängen, was macht das denn für einen Eindruck wenn wir nur zu dritt kommen?“ Ich seufzte leise. Der Eindruck. Ja natürlich, darauf mussten wir achten... Immer noch sahen mich die Zwillinge mit Hundewelpenaugen an, bis ich schließlich aufstand. „In Ordnung. Ich komm in fünf Minuten raus und feiere mit.“, sagte ich also widerwillig. Tom stieß einen Jubelschrei aus und Bill fiel mir um den Hals. „Geht doch.“, meinte er, grinste und verließ mit seinem Bruder den Raum. Einen Moment verweilte ich so. Du solltest glücklich sein. Andere würden töten um zu einer Feier wie dieser gehen zu dürfen. Komm schon, setz ein Lächeln auf. Deine Fans wollen dich glücklich sehen. Ja. Das wollten sie immer. Man wollte mich glücklich sehen. Also machte ich mich fertig, zog eine Kappe an und setzte mein Lächeln auf. Ich musste glücklich sein. Wer interessiert sich schon für verzweifelte Musiker? Seit zwei Stunden saß ich nun hier und nippte immer noch an meinem ersten Getränk, sah den anderen drei zu wie sie das Partyleben voll und ganz genossen. Bill war irgendwo auf der Tanzfläche dieses Clubs und Tom saß mit Georg an der Bar – beide mit einer hübschen Blondine, die sie umgarnten. Wieder seufzte ich. Ich hatte von Anfang an nicht mitkommen wollen, ich hatte ja gewusst, dass ich wieder nur hier sitzen würde und dem Geschehen zusehen würde. Es war doch immer wieder das Gleiche. Wie schon so oft in letzter Zeit kamen die dunklen Gedanken in mir hoch, die ich bis vor ein paar Monaten immer noch gut verstecken konnte. Bis sie zu stark wurden. Schon lange waren wir – Tokio Hotel – eine der wohl erfolgreichsten Musiker Deutschlands. Und wir begannen sogar international an Erfolg zu gewinnen, unsere Fangemeinde wuchs stetig. Manch einer würde wohl alles dafür geben, nur einen Tag lang unser Leben leben zu dürfen. Und wenn ich ehrlich war, wünschte ich mir nichts sehnlicher als das. Mit irgendjemandem das Leben tauschen zu dürfen und wenigstens einen einzigen Tag lang normal sein zu dürfen. Einfach nur Gustav. Nicht der berühmte Schlagzeuger von Tokio Hotel. Ich nahm einen kleinen Schluck von meinem Getränk und suchte Bill auf der Tanzfläche. Nach einer Weile entdeckte ich ihn dann auch zwischen einigen anderen Menschen, mit denen er tanzte und feierte, was das Zeug hielt. Ich bezweifelte, dass unser Sänger mitbekam, wie sehr uns der Erfolg zu schaden begann. Denn Bill war schon seit Monaten nicht mehr er selbst, erst recht nicht nachdem unser neues Album alle bisherigen Rekorde gebrochen hatte und unser Management sogar über eine Welttournee nach den Deutschlandkonzerten nachdachte. Dem Sänger käme dies nur entgegen. Er liebte die Musik, das hatte er immer getan. So sehr, dass ihn diese Liebe vollkommen blind für das machte, was hinter all den guten Seiten unseres dauerhaften Erfolges stand. Ich erinnerte mich an einen Streit zwischen Tom und Bill vor kurzem. Ich war mir ziemlich sicher, dass es um den Ruhm ging, der unserem Sänger den Verstand vernebelte. Es war ein heftiger Streit gewesen, so schlimm, wie seit langem schon nicht mehr. Tom war danach zu mir gekommen, vollkommen am Ende. Ich wusste, dass er selten zu jemandem kam wenn er verzweifelt war. Es musste wirklich schlimm gewesen sein. „Was passiert nur mit uns?“, hatte er mich immer wieder gefragt, „Was macht man mit uns?“ Es waren diese Fragen die mir zeigten, dass er wohl noch als einziger sah, dass etwas mit unserem Erfolg ganz und gar nicht in Ordnung war. Ich konnte ihm keine Antwort geben. Warum wusste ich nicht. Vielleicht wollte ich ihm es einfach nicht sagen, weil ich nicht wusste ob er es verkraften konnte. Unser Sieg, unser erreichtes Ziel – der Erfolg in der Musik – ist unser Ende gewesen. Das passierte mit uns. Manchmal erkannte ich meine Freunde nicht mehr wieder. Wie sehr wir uns doch alle verändert hatten! Wenn uns jemand mit uns selbst vor ein paar Jahren gegenüberstellen würde, wahrscheinlich würden wir uns gar nicht erkennen, schoss es mir durch den Kopf. „Hey Gustav, was hockst du da so alleine rum du Trauerkloß!“, Bill kam außer Atem von der Tanzfläche zu mir herüber. Schnell verpackte ich meine Gedanken wieder weit hinten in meinem Unterbewusstsein und setzte ein Lächeln auf. „Warum haben wir dich denn mitgenommen, wenn du hier nur ganz alleine sitzt?“, meinte er und griff nach meiner Hand, „Komm schon, feiere mit!“ Schon zog er mich auf die Tanzfläche und ehe ich irgendetwas tun konnte, war ich mitten im Geschehen. [i[Na gut. Dann muss ich tanzen, wenn man das von mir erwartet. Macht schließlich einen guten Eindruck... Einige Wochen ging unser Leben so weiter. Immer wieder ein Auftritt irgendwo in Deutschland und Partys bis spät in die Nacht die ich damit verbrachte, abseits zu sitzen und zu beobachten. Gedanken nachzuhängen, sehr einsamen Gedanken die ich mit niemandem teilen konnte. Die ich mit niemandem teilen durfte. Unser Management hatte beschlossen – unser neues Album war gut genug um eine Welttournee zu wagen. Nach unserem letzten Konzert in Deutschland würden wir aufbrechen. Es würden einsame Wochen werden, das wusste ich. Und ich behielt Recht. Nachdem wir durch Europa getourt waren, sollte es in Asien weitergehen. Von da aus nach Australien, wo wir unser erstes Konzert auf diesem Kontinent in Sydney geben sollten. Dann würden wir nach Amerika fliegen. Und das krönende Abschlusskonzert würde in New York stattfinden. Es war ein Mammut-Projekt, das war uns allen bewusst. Unsere Tour beinhaltete mehr Konzerte, als wir je am Stück gegeben hatten. Tausende Autogrammstunden nach, vor und zwischen den Konzerten. Und natürlich Interviews, immer und überall wo uns Reporter begegneten, in aller Herren Länder. Bill und Tom waren sich einig: Das würde das größte Abenteuer unseres bisherigen Lebens werden. Auch Georg teilte die Vorfreude der Zwillinge und brannte darauf, die ganzen fernen Länder zu bereisen und mit der Band neue Erfahrungen zu sammeln. Mich hatte keiner gefragt, was ich von der Tournee hielt. Und ich war auch sehr glücklich darüber – ich hätte nicht gewusst was ich antworten sollte. Denn ich hatte Angst vor der uns bevorstehenden Reise. Große Angst vor den vielen Konzerten, vor dem wachsenden Erfolg und all dem Menschen, die ich anlächeln musste. Wie sollte ich so lange lächeln können und meine Mauer aufrechterhalten? Ich hatte so sehr gehofft, wir würden Urlaub machen nach unserer Deutschlandtour. Aber diese Hoffnung war enttäuscht worden. Ein weiterer Kampf stand mir bevor und ob ich ihn heil überstehen würde...wagte ich zu bezweifeln. † Kapitel 2: Hinter Dem Ende Der Welt ----------------------------------- Wir waren nun in Russland angekommen und hatten in St. Petersburg ein riesiges Open Air Konzert gegeben. Meine Finger taten unglaublich weh, so lange hatte ich noch nie Bass gespielt. Es war ein wirklich bombastischer Auftritt gewesen und wir hatten eben die wohl beste Show seit langem hingelegt. Dementsprechend erschöpft betrat ich meine Umkleide und ließ mich dort nieder. Ich bezweifelte, dass die anderen noch vorhatten irgendwo hin zu gehen und das kam mir nur entgegen. Noch eine Feier ohne, und auch nur eine weitere Nacht ohne hätte ich höchstwahrscheinlich nicht überstanden. Meine Hand griff in die Tasche unter der Bank auf der ich saß und zog ein kleines Päckchen heraus. Ich merkte, wie ich zitterte. Es war wirklich nötig. Ich löste die Schnur, die das Papppaket geschlossen hielt und öffnete es. Wie automatisch griffen meine Hände nach dem weißen Paper, formten geübt einen Joint daraus. Während ich ihn mir zwischen die Lippen steckte, nahm ich mit der anderen Hand ein Feuerzeug heraus, zündete mir das Ding an und nahm einen langen Zug. Genau das hatte ich gebraucht. Ich schloss die Augen und lehnte mich gegen die Wand, noch einen Zug nehmend. Langsam beruhigte ich mich wieder, meine Erschöpfung spürte ich nicht mehr. Genüsslich blies ich den Rauch aus und betrachtete, wie er sich verflüchtigte. Wann hatte ich damit angefangen, Gras zu rauchen? Ich wusste es schon gar nicht mehr – irgendwann auf einer Party war es gewesen. Ich war nach draußen gegangen und das Mädchen, was mir schon den ganzen Abend gefolgt war, hatte mir was angeboten. „Hiermit kommst du sogar hinter das Ende der Welt.“, hatte sie gesagt, mit einem Lächeln was kein Zaudern zugelassen hatte. Und sie hatte Recht behalten. Nach dem ersten Zug war ich weit, sehr weit geflogen. Bis hinter das Ende der Welt, an einen wunderschönen Ort. Wenn ich so darüber nachdachte – ohne regelmäßige Besuche an diesem Ort würde ich wohl kaum mehr überleben. Dass ich süchtig war, war mir bekannt. Und die Folgen machten sich bereits bemerkbar. Ich wurde aggressiv, wenn ich nichts hatte. Nervös, fürchterlich nervös und aggressiv. Jedes Mal erhöhte ich die Dosis ein Stückchen mehr, sonst konnte ich nicht mehr den Ort voller Ruhe und Harmonie erreichen, das wusste ich. Ich musste dort hinfliegen. Mein Leben konnte man nicht mehr wirklich ein Leben nennen – es hatte sich ebenso aufgelöst, wie der Rauch vor meinen Augen. Das Leben als Star ließ nun einmal nicht mehr zu, dass ich glücklich sein konnte. Jedenfalls nicht ohne. Und noch ein Stich ins Glück, die Wunde bleibt für immer... Ich musste lächeln. Bill hatte gewusst, was sich zwischen mir und dem Mädchen abgespielt hatte. Wahrscheinlich hatte er uns beobachtet. Das Lied war eine Reaktion darauf gewesen. Er war wütend gewesen und hatte sich riesige Sorgen gemacht, dass ich so ende wie das Mädchen im Lied. Wir hatten nie darüber gesprochen, kein einziges Mal. Und ich hatte ihm auch nicht gesagt, dass ich diesem Mädchen in seinem Lied ähnlicher geworden war, als er es geahnt hatte. Ich hatte auch nicht vor, es ihm zu sagen. Es war einfach besser so. Wieder nahm ich einen Zug von meinem Joint. Ohnehin glaubte ich, dass er es nicht mehr verstehen könnte. Dieser Bill, der mir damals wütend das Blatt mit seinem Text hingeworfen hatte und befohlen hatte ich solle es lesen – er war in meinen Augen verschwunden. Jedem von uns war bekannt, dass unser Sänger den Erfolg nicht verkraftet hatte. Eigentlich war es uns auch von Anfang an klar gewesen. Warum hatten wir nicht umgedreht, als wir noch gekonnt hätten? Darauf wusste wohl keiner eine Antwort. Nachdenklich blickte ich auf den Joint zwischen meinen Fingern. Keiner von uns konnte mehr aufhören. Wir hatten alle mit dem Erfolg unsere Laster gewonnen, jeder ein anderes. Und mittlerweile war es nur noch Tom, der sich dagegen wehrte, wobei ich glaubte dass auch er diesen Kampf nicht mehr lange durchhalten würde. Wir konnten nicht mehr zurück, dazu waren wir viel zu weit gegangen. Als wir anfingen, an Ruhm zu gewinnen hatte ich mit Gustav eine sehr gute Freundschaft. Ungefähr das, was zwischen Bill und Tom geherrscht hatte. Doch mittlerweile war auch diese Verbindung nur noch eine Erinnerung in der Kategorie „Damals, als wir hätten umdrehen können“. Gustav hatte angefangen, sich zu verschließen, als Bill angefangen hatte abzuheben. Und damit eine weitere Freundschaft zwischen uns unmöglich gemacht. Ich war ihm nicht böse. Wenn er es für besser hielt, sollte er so handeln wie er es tat. Er musste selbst wissen, was gut war und was nicht. Das mussten wir alle. Ein wenig müde seufzte ich. Ich hatte wirklich genug nachgedacht für heute. Also schloss ich die Augen, nahm einen weiteren Zug und entspannte mich. Und flog erneut hinter das Ende der Welt. † Kapitel 3: Ich Will Ausbrechen ------------------------------ Müde streckte ich meine Glieder aus. Es war gerade mal drei Uhr und am letzten Tag hatten wir einen kraftraubenden Auftritt in Hongkong hinter uns. Heute sollte es weiter gehen, nach Australien. Ich rappelte mich so schnell es die Müdigkeit erlaubte auf, wenn ich trödelte würde ich nur einen weiteren Streit provozieren und von Streitereien hatte ich gestrichen die Nase voll. Erst vorgestern hatte ich mich wieder gestritten – mit meinem Bruder. Wieder einmal war es um das leidige Thema gegangen. Er war vollkommen abgehoben und hatte sich selbst vergessen. War zu einer oberflächlichen Marionette unseres Managements geworden. Genau das, was er vorher so sehr gehasst hatte. Ich seufzte und begab mich in mein Bad, machte mich fertig. Als wir angefangen hatten, auf Touren zu gehen, hatte ich mir immer mit Bill ein Zimmer geteilt. Wir hätten uns ohnehin die ganze Zeit auf der Pelle gehockt, so war es für alle einfacher gewesen. Aber das war lange nicht mehr so. Schon seit geraumer Zeit hielt ich mich auf Abstand von meinem Bruder, den ich mehr und mehr nicht mehr wieder erkannte. Es tat weh, zu sehen wie er sich so veränderte. Und nicht nur Bill tat das. Wir hatten uns alle verändert, und das nicht gerade zum Guten. Gustav war mehr und mehr eingegangen, je größer unser Erfolg geworden war und jeglicher Versuch, ihn hinter seiner Mauer rauszuholen war fehlgeschlagen. Was mit Georg vor sich ging wusste ich nicht einmal und das machte mir große Angst. Ich wusste sehr genau, dass er ein Mensch war, der zu einer Menge fähig war. Und dass er irgendetwas tat, was ihm schadete, war kaum zu übersehen. Als ich mich einmal mit ihm darüber unterhalten wollte, wurde er richtig wütend. Ich war davon überzeugt, wenn David Jost nicht hereingekommen wäre um mit uns die Termine für die folgende Woche zu besprechen – er wäre auf mich losgegangen. Ich spürte einen Stich im Herzen. Tokio Hotel war keine Band mehr. Und wir waren keine Freunde mehr. Was wir waren – das wagte ich nicht zu denken. Still ging ich hinunter und nahm mein Frühstück zu mir, Gustav saß mir schweigend gegenüber, den Blick starr auf einen Punkt im Nirgendwo gerichtet und mit den Gedanken anscheinend weit weg. „Morgen Gustav.“, sagte ich zu ihm und sein Blick wanderte zu mir. Ein wenig erschrocken blickten die Augen mich an, dann lächelte er. Wieder tat mein Herz weh. Wusste er, wie falsch sein Lächeln aussah? „Hi.“, antwortete er, „Gut geschlafen?“ Ich nickte. „Und du?“ „Klar doch.“ Eine Lüge. Ich seufzte leise und biss in mein Toast. So konnte das nicht weitergehen. Ich musste unbedingt etwas gegen seine Abschottung tun. Sonst würde er daran zu Bruch gehen – wenn er das nicht schon längst war. „Gustav, Tom!“, Bill kam herein gelaufen, wie immer im Stress, „Seid ihr etwa immer noch hier? Unser Flugzeug geht in weniger als zwei Stunden, beeilt euch gefälligst! Sonst kommen wir zu spät!“ Sofort stand der Schlagzeuger auf und verzog sich. Ich jedoch funkelte meinen Bruder böse an. „Dir auch einen wunderschönen guten Morgen.“, zischte ich. Bill seufzte erschöpft. „Jetzt mach hier nicht einen auf beleidigt.“ meinte er, „Wir müssen uns beeilen. Pünktlichkeit ist bei unserem Leben wichtig, das weißt du genau, Tom!“ Ich verkniff mir eine weitere Antwort, jetzt brachte eine Auseinandersetzung ohnehin nicht. Mein Bruder war sowieso schon zur Hälfte in Australien. Es vergingen einige Tage, in denen sich nicht wirklich etwas Spannendes abspielte, abgesehen von dem Alltäglichen. Streitereien zwischen mir, meinem Bruder und Georg, verzweifelte Versuche, zu Gustav durchzudringen und Interviews über Interviews in denen wir dem Rest der Welt unsere heile Welt verkauften. Wie heil sie doch war wurde mir wieder bewusst gemacht, als wir einen Tag Auszeit in Texas hatten. Ich stand relativ spät auf, hatte es wirklich genossen einmal wieder lang schlafen zu können. Auf dem Weg hinunter zum Frühstückssaal kam ich an Bills Zimmer vorbei und hielt inne. Bildete ich mir das ein oder... Ich klopfte gegen die Tür. „Bill?“, fragte ich, „Alles in Ordnung?“ Keine Antwort. Dann hörte ich es wieder. Ein Würgegeräusch, was mir einen Schauder über den Rücken laufen ließ. „Hey!“, rief ich, dieses Mal ernsthaft besorgt, „Mach die Tür auf!“ Trotz vehementem Klopfen tat sich nichts. Ich griff schnell in meine Hosentasche und zog den Schlüssel zu Bill Zimmertür heraus. Ein Glück hatten wir wenigstens mit der Tradition, zu dem Zimmer des jeweils anderen Zwillings einen Schlüssel zu besitzen, noch nicht gebrochen. Hastig schloss ich auf und lief in das Bad. Was sich mir dort offenbarte, war ein Bild was ich nie vergessen würde. Bill kniete vor der Toilette, vollkommen am Ende und erbrach sein wohl gerade zu sich genommenes Frühstück. „Bill, verdammt noch mal!“, rief ich und zerrte meinen Bruder von der Toilettenschüssel weg, „Was machst du da für eine Scheiße!“ Mein Zwilling sah mich erst erschrocken an, dann lächelte er matt. „Was wohl?“, antwortete er mit kratziger Stimme, „Ich kotze.“ „Du Idiot!“, schnauzte ich ihn an und nahm ihn auf den Arm. Behutsam legte ich ihn auf das Bett. Ich legte eine Hand auf seine Stirn, konnte jedoch keine besonders hohe Temperatur feststellen. „Ich bin nicht krank.“, sagte Bill. „Das sehe ich aber ganz anders.“, meinte ich und überlegte. Vielleicht hatte er was Schlechtes gegessen, oder etwas was er nicht vertrug. Doch mein Zwilling lachte nur leicht und richtete sich auf. „Ich bin nicht krank.“, wiederholte er und sah mir in die Augen. „Verarschen kann ich mich selbst!“, sagte ich laut, „Erzähl mir nicht du würdest...“ Meine Stimme versagte, als mir bewusst wurde, was sich mir hier gerade offenbarte. „Du tust es mit Absicht.“ „Natürlich, Tom.“, antwortete Bill mir, „Das muss ich. Oder glaubst du die Öffentlichkeit liebt eine singende Schwabbelschwarte?“ Wut keimte in mir auf. „Hör auf so einen Schwachsinn zu reden!“, rief ich, „Du bist verdammt noch mal nicht dick!“ Der Schwarzhaarige gab keine Antwort. Ich seufzte und schwieg ebenfalls einen Moment, um mich zu beruhigen. „Wie lange tust du das schon?“, fragte ich dann. „Keine Ahnung. Vielleicht ein paar Wochen.“ Ein paar Wochen. Vielleicht. Oder doch schon ein paar Monate? Mein Herz fühlte sich an, als ob es jeden Moment zerbrechen würde. Ich glaubte zu verstehen, was in meinem Zwilling vor sich ging. Dieses Getue, nur noch auf Äußerlichkeiten Wert zu legen und vollkommen abgehoben zu sein war nur ein Mittel gewesen um zu vertuschen, was wirklich mit ihm los war. Er legte keinen Wert darauf, andere zu betrügen, nein – vor allem versuchte er, sich selbst zu betrügen. Mein Bruder war auch gefallen, ebenso tief wie Gustav und Georg. Ich hatte noch lange mit Bill geredet – ohne Erfolg. Er hatte nicht einsehen wollen, dass er sich damit nur mehr zerstörte. Mittlerweile war es Nacht, das Ende unseres freien Tages. Ich saß vor dem Fenster meines Hotelzimmers. Was passierte nur mit uns? Wir zerbrachen, einer nach dem anderen. Doch keiner wollte es sehen, keiner hatte die Kraft, die Wahrheit zu sehen. Ich sah sie. Und ich wollte sie bekämpfen. Ich wollte wieder zurück. Zurück zu dem Leben, in dem wir unseren Traum lebten, nicht unseren Albtraum. Doch immer wieder merkte ich, dass mir die Kraft fehlte, um dahin zurück zu kommen. Ich konnte nicht mehr, meine Zweifel holten mich ein. Und was mir nachts blieb waren die Fragen. Was ging nur mit uns vor? Warum haben wir nicht aufgehört? Werden wir je wieder uns gegenüberstehen und uns als Freunde sehen? Oder haben wir keine Zukunft mehr? † Kapitel 4: Vergessener Zwilling ------------------------------- Unser letzter Auftritt in New York rückte immer näher und ich wurde mit jedem Tag nervöser wegen diesem Termin. Dieses Konzert sollte etwas ganz Besonderes werden, das hatte ich mir fest vorgenommen. Es sollte das beste Konzert werden, was wir je gegeben hatten. So wie damals... Ich schüttelte den Kopf. Um in Erinnerungen zu schwelgen hatte ich wirklich keine Zeit. Heute Abend war ein Konzert in San Fransisco und davor hatte ich noch einiges zu erledigen. Ich musste mit David sprechen, er machte Druck, da ich schon seit längerer Zeit nichts Neues an Texten zustande gebracht hatte. Dabei stand das nächste Album schon in den Startlöchern und hatte noch nicht annähernd genug Songs. Es stimmte, ich hatte schon längere Zeit überhaupt nichts mehr geschrieben. Mir fehlten einfach Zeit und vor allem gute Ideen. Ich war damit beschäftigt...andere Dinge zu tun. Ich griff nach meiner Kleidung und zog mich an. Prüfend sah ich mein Spiegelbild an. Na ja... Dünn war ich noch nicht. Noch lange nicht. Ich seufze leise. Dass mein Zwilling nun von dieser Sache wusste, war mir gar nicht lieb. Hätte ich doch nur gesagt, mir sei schlecht. Ich war zu dumm. Ich kannte Tom gut genug, um zu wissen dass er mich nicht mehr damit in Ruhe lassen würde. Im Moment ließ er sowieso niemanden in Ruhe. Ewiger Kämpferinstinkt. Manchmal nervte das wirklich. Natürlich...irgendwo war es schon verständlich. Aber im Moment könnten wir wirklich alles gebrauchen – nur niemanden der in offenen Wunden herumstocherte. Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel und verließ dann mein Zimmer. Ob es auffallen würde, wenn ich nichts aß? Wenn ich nur niemandem begegnen würde, dann... „Hey Bill.“, Tom kam um die Ecke gebogen. Der hatte mir grade noch gefehlt... „Hi.“, antwortete ich knapp. „Alles klar bei dir?“, fragte mich mein Bruder und sah mich an. Ich seufzte. Ich war wirklich nicht in Stimmung für so etwas. „Das weißt du selbst gut genug.“, antwortete ich also. Ich hörte ein trauriges Seufzen und spürte leichte Gewissensbisse. Doch schnell verdrängte ich diese Gefühle wieder – wie praktisch doch meine perfekte Schauspielerkunst war. Ich konnte nicht nur den Rest der Welt überzeugen, nein ich überzeugte meistens auch mich selbst. Als ob es mir schlecht gehen würde. Absolut lächerlich. Ich hatte keine Probleme in meinem Leben, alles was ich tat war nötig, um unseren Erfolg als Band aufrecht zu erhalten. Dass Tom das nicht verstehen konnte, war wirklich schrecklich. Mein Bruder verstand überhaupt nichts mehr von mir. Er sollte mich einfach nur in Ruhe lassen, aber natürlich würde er das nicht tun. Bildete er sich etwa immer noch ein, er müsste allen helfen? Das war doch mehr als lachhaft. Niemand hier hatte Probleme! Niemand... Das Konzert in San Fransisco war nicht wirklich gut gewesen, was vor allem an Georg gelegen hatte. Dieser Idiot hatte wirklich jeden zweiten Ton verhauen! Wütend betrat ich meine Umkleide und bereitete mich auf das Interview vor, was wir nach diesem Konzert noch geben sollten. Hoffentlich würde sich Georg da ordentlich aufführen, was würde das denn sonst für einen Eindruck machen! Es war wirklich verantwortungslos, was meine Bandkollegen wieder einmal taten. Lag ihnen denn überhaupt nichts mehr an der Musik? Eine halbe Stunde später saßen wir also in irgendeinem Club vor dem amerikanischen Reporter, der – glücklicherweise – der deutschen Sprache mächtig war. „Wie läuft es bis jetzt auf Ihrer Welttournee?“, war die erste Frage. Meine Güte, dieser Kerl hatte wirklich einen starken Akzent. War ja schrecklich. „Super.“, antwortete ich sofort, „Das ist das Beste, was wir bis jetzt gemacht haben!“ Ich bemerkte einen zweifelnden Blick von Tom. Na ganz toll! Hoffentlich hatte der Reporter das nicht gesehen. „Ist es nicht sehr...“, der Mann überlegte kurz, er schien nach dem passenden Wort zu suchen, „Sehr anstrengend?“ „Klar ist es das.“, antwortete wieder ich, „Aber trotzdem macht es unglaublichen Spaß! Wir waren noch nie in so kurzer Zeit an so vielen fantastischen Orten.“ Es war eigentlich immer so, dass ich die Interviews führte – die anderen drei würden doch sowieso nur Mist erzählen, der unserem Image schadete. Da war es besser wenn ich das übernahm. Nachdem der Mann noch einige Fragen gestellt hatten – größtenteils Standardfragen, die uns bis jetzt so gut wie jeder Reporter gestellt hatte – bedankte er sich und verließ uns. „Das Beste, was wir je gemacht haben?“, fuhr Tom mich an, sobald die Tür sich geschlossen hatte, „Das war wohl die größte Lüge, die du je gesagt hast!“ Was sollte das denn nun wieder?! „Krieg dich mal wieder ein, Tom!“, sagte ich wütend, „Das war eben genau das was der Typ hören wollte!“ Doch mein Bruder schnaubte nur ärgerlich und stand auf. „Und genau deshalb hättest du es nicht sagen sollen!“, rief er, „Denn das hier ist nicht das Beste, das hier ist das Schlimmste was wir je getan haben!“ Jetzt reichte es aber endgültig! „Was willst du damit sagen!“, erwiderte ich wütend. „Ich will euch verdammt noch mal sagen, was für eine gequirlte Scheiße das alles hier ist!“, Tom redete sich richtig in Rage, „Seid ihr vollkommen blind?! Unser Erfolg, unsere Musik machen uns kaputt! Wir machen uns kaputt!“ „Du übertreibst, Tom.“, versuchte ich ihn wieder zu beschwichtigen, „Ich versteh ja, dass das ein bisschen anstrengend...“ Doch Tom unterbrach mich: „Ein bisschen anstrengend?!“, schrie er mich an, „Es ist Wahnsinn!“ „Es ist nichts, was wir nicht schaffen können!“, erwiderte ich, „Tom, du bist mein Zwilling. Wir haben doch bisher alles geschafft. Du bist nur erschöpft, vielleicht ist das Ganze einfach zu viel Stress für dich. Wir können doch David fragen, ob er uns noch einen Tag frei gibt.“ Für einen Moment schwieg Tom und sah mich an. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass es nicht nur ein wenig Stress war, was Tom zermürbte. Es war mehr, so viel mehr. Für eine Sekunde spürte ich das Zwillingsband zwischen uns, spürte den Schmerz in meinem Bruder. Dann erlosch es. „Nein Bill.“, sagte Tom dann und senkte den Blick, „Wir sind keine Zwillinge mehr. Schon lange nicht mehr.“ † Kapitel 5: Nach Dem Letzten Tag ------------------------------- Hier sind die N24 News des Tages. Kurz vor dem Ende der Welttournee der berühmten und erfolgreichen Rockband Tokio Hotel wurde das letzte Konzert in New York aus noch unbekannten Gründen abgesagt. Das Management wollte sich bis jetzt noch nicht dazu äußern, wir halten Sie auf dem Laufenden Hier sind wieder die N24 News des Tages, mit neuen, schockierenden Informationen zu der Rockband Tokio Hotel. Der Manager David Jost gab heute in einer Pressekonferenz die Auflösung der Band bekannt. Gründe seien unter Anderem starke Spannungen zwischen den Mitgliedern und Überforderung. Die Fangemeinde ist zutiefst erschüttert, es gingen tausende Fanbriefe ein, in denen die Bandmitglieder zu einer Wiedervereinigung angefleht wurden. Dies sei jedoch, so Jost, unwahrscheinlich Der ehemalige Bassist der Band Tokio Hotel Georg Listing wurde heute mit einer Überdosis Heroin in ein Krankenhaus eingeliefert. Ob er überleben wird, sei noch unsicher, so ein Sprecher des Krankenhauses. Seine ehemaligen Bandmitglieder sind zutiefst betroffen und sein früherer Bandkollege Tom Kaulitz kam sofort in das Krankenhaus, um ihn zu besuchen. Hier sind die N24 News, heute mit einer dringenden Nachricht. Der ehemalige Schlagzeuger der Rockband Tokio Hotel Gustav Schäfer wird seit heute Morgen vermisst. Zuletzt wurde er nahe seines Hauses gesehen, jede Information über sein Verschwinden ist der örtlichen Polizei mitzuteilen. Wie heute Mittag bekannt gegeben wurde, starb Georg Listing an den Folgen seiner langen Drogensucht in einem Klinikum. Mehrere Versuche des ehemaligen Musikers, clean zu werden, schlugen fehl. Tom Kaulitz, langjähriger Freund und früherer Bandkollege des Verstorbenen äußerte sich tief betroffen, sein Zwillingsbruder Bill Kaulitz erschien ebenfalls. Es sei, so Bill, die erste Begegnung mit seinem Bruder seit langem. Gustav Schäfer, ehemaliger Schlagzeuger der Band, wird immer noch vermisst. Der ehemalige Sänger der Rockband Tokio Hotel Bill Kaulitz, äußerte sich heute zu den Gerüchten, er leide an einer Essstörung. „Mit mir ist alles in Ordnung und ich esse immer noch genug, meistens sogar zu viel.“, sagte er lachend zu einem Reporter. Ob das die Urheber der Gerüchte überzeugen wird, ist zweifelhaft. Heute Vormittag fand ein Bauarbeiter die Leiche von Gustav Schäfer, ehemaliger Schlagzeuger in der seit drei Jahren aufgelösten Band Tokio Hotel in einem baufälligen Haus. Es sei offensichtlich, dass er Selbstmord begangen hat, sagte ein Polizeisprecher. Neben der Leiche fanden sich einige persönliche Gegenstände, sowie ein Abschiedsbrief. † Kapitel 6: Der, Der Nicht Gerettet Wurde ---------------------------------------- An die, die einmal meine Freunde waren. „Warum?“, wird wohl eure Frage sein, „Warum hast du das getan?“ Ich möchte versuchen, sie euch zu beantworten und euch gleichzeitig bitten, mir zu verzeihen. Ich weiß, dass das hier ein Fehler war. Trotzdem war es der einzige Ausweg, der mir geblieben ist. Tom. Ich weiß, dass du meinen Schmerz gesehen hast. Ich weiß, dass du dich nicht von meiner Mauer hast täuschen lassen. Und ich weiß, dass du dir so sehr gewünscht hast, ich würde mich dir öffnen. Verzeih mir, dass ich es nicht getan habe. Ich konnte es nicht. Und Bill. Auf diesem Weg möchte ich dich um einen letzten Gefallen bitten. Sieh dir unser Video an, du weißt welches ich meine. Das Video, was wir damals gedreht haben, an diesem Nachmittag im Herbst, bevor wir berühmt wurden. Sieh es dir an und beantworte mir diese Frage: Wo ist der Junge mit den schwarzen Haaren hin, der gesagt hat „Wenn ich berühmt werde, dann will ich vor allem niemals mich selbst vergessen!“ Ich wünsche mir, dass du diesen Jungen wieder findest. Damit würdest du mir einen großen Gefallen tun. Ich hoffe, dass dieser Brief der Öffentlichkeit preisgegeben wird, denn durch den Tod habe ich endlich genug Kraft bekommen um all das sagen zu können, was ich im Leben nie gewagt habe auch nur zu denken. Man hat euch erzählt, es hat Spannungen zwischen uns gegeben. Doch es war mehr, es war wesentlich mehr als das. Die Wahrheit ist, dass uns unser Ruhm getötet hat. Man hat uns ausgenommen und als Marionetten benutzt. Wir waren keine Menschen mehr und alles, was wir in unseren Interviews gesagt haben, war höchstwahrscheinlich eine Lüge. Unser ganzes Leben bestand aus Lügen und aus nichts mehr. Ich hatte so sehr gehofft, dass ich wieder leben kann wenn Tokio Hotel nur einmal Geschichte ist. Doch wie schon so oft wurden meine Hoffnungen enttäuscht. Denn immer noch war ich nur der berühmte Schlagzeuger einer Band, wie es sie nie zuvor gegeben hat. Das ist die traurige Wahrheit. Ich habe mein Leben nicht selbst beendet – das hat unser Traum für mich getan. Ich habe nichts weiter getan, als im Jenseits das zu suchen, was mir im Leben genommen wurde. Und das bin ich selbst. Also seid nicht traurig, denn gestorben sind wir alle schon lange. Gustav Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)