Sieben Siegel von RitterSport ================================================================================ Prolog: Ein kleiner Prolog -------------------------- Ein kleiner Prolog Die Bibliothek von Kathu ist einer der größten des Landes. Sie ist altehrwürdig, wie könnte es auch anders sein, und gelegentlich ein wenig zu gestaubt. Aber dafür gibt es ja Praktikanten. Praktischerweise ist es eine magische Bibliothek und die Bücher sind es nicht weniger. Anstatt mühselig durch die einzelnen Stockwerke und ewig langen Gänge wandern zu müssen kann man hier seine Bücher einfach herbei rufen. Und schon sollten die Wälzer aus dem Regal zum interessierten Leser geschwebt kommen. Natürlich nur bei korrekter Angabe von Autor, Titel und Erscheinungsjahr. So steht es zumindest in der Gebrauchsanweisung. Sehen wir uns doch kurz die Realität an: Eine junge Frau stand an diesem Dienstag Morgen im großen Lesesaal und brüllte: „LENARD ARRIBES! VON DER THEORIE DER BESTIMMUNG MAGIEHISTORISCHER KUSTWERKE! ! 1798! KOMM SOFORT HIER HER!!“ „Von der Theorie der Bestimmung magiehistorischer Kunstwerke“ ist die etwas 1000-seitige Pflichtlektüre im ersten Semester Kunst und soll genau genommen nur ein wenig die Studenten einschüchtern. Denn neben seinem Umfang war es auch noch die kompletten 1043 Seiten lang tödlichst langweilig. Der Name der Frau war Miss Willets und sie war Unterbibliothekarin ersten Ranges. Zu ihren Aufgaben gehörte es aufmüpfigen Büchern ein bisschen auf die Sprünge zu helfen. Gelegentlich auch Praktikanten, aber wer wird denn da einen Unterschied sehen. Kaum 10 Sekunden Nach dem Miss Willets Stimme die Scheiben in den Fassungen hatte klirren lassen kam ein dickes in Leder gebundenes Buch um die Ecke geflattert. Es wirkte schwerfällig und träge und generell ein wenig lustlos. Mit einem lauten Knall fiel es auf einen der langen Tische. Miss Willets reichte es an den verängstigt aussehenden Kunststudenten weiter und strich sich einen entflohene Strähne zurück hinters Ohr. Dann lächelte sie und sagte: „Mit der Zeit werden sogar Bücher taub. Das nächste Mal einfach lauter rufe. Ja?“ Der Student nickte und Miss Willets ging, um das Register neu zu sortieren. Sie gehörte zu der Sorte von Leuten, die absolut in ihrem Beruf aufgehen. Für Miss Willets war es mehr eine Berufung und um keinen Preis der Welt hätte sie ihre Arbeit aufgeben wollen. Sie liebte Bücher, auch wenn diese hier gelegentlich bissen, und mochte das Ambiente der Bibliothek. Es fühlte sich nach zu Hause an. Was zum Teil auch daran lag, dass Miss Willets tatsächlich in der Bibliothek wohnte. Es ist eine der Traditionen, die einfach existierten, egal wie unsinnig und lange überholt sie sind. Diese begründetet sich auf alter Zeit, als die Menschen in Notfällen noch aus ihren Strohhütten ins nächste Steingebäude geflohen waren. So wurde auch noch in neueren Zeiten in denen Fürsten nicht mehr so sonderlich dazu neigen Häuser anzuzünden (besonders deshalb, weil es keine Fürsten mehr gibt) immer noch das Amt des Nachtwächters vergeben. So kam es, dass Miss Willets 2 Zimmer unterm Dach bewohnte. Und war damit dummerweise als einziges lebendes Wesen anwesend, als eines Nachts Gaya aus einem der Bücher fiel. Flederling ---------- Das erste Kapitel Wer denkt, dass es Nachts stockfinster ist, hat aber mal gewaltig geschnitten. Es ist erstaunlich, wie viel Licht ein kleiner Mond und ein paar armselige Sternlein geben können, doch für Miss Willets reichte es völlig aus. Sie schlich die große Treppe in der Haupthalle hinunter. Sicher an ihre schmale Brust gedrückt hatte sie „Sprüche und Zauber für alle Lebenslagen – Band 1“. Auch wenn es gegen den Eid ging, den sie geschworen hatte, würde sie die Schwarte dem Verursacher des nächtlichen Geräusches um die Ohren hauen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie dieses rechthaberische Lehrbuch sowieso nie leiden können. Bibliothekarinenehre hin oder her. Miss Willets horchte auf, als sich das Geräusch, dass sie aus dem Schlaf gerissen hatte, wiederholte. Eine Art Rascheln, nur bedeutend lauter. Als würde jemand versuchen ein verdammt dickes Buch zu zerreißen. Sie meinte es aus der Abteilung „Angewandte Gravitation“ gehört zu haben und tastete sich mit einer Hand an den Regalreihen in die entsprechende Richtung. Jetzt hätte sie sich doch ein wenig mehr Licht gewünscht. Das erledigte sich jedoch recht schnell von selbst, als Miss Willets den Gang H-L einbog und beinahe erblindete. Das Rascheln hatte aufgehört und nun war ihr auch klar wo es hergekommen war. Im Mittelpunkt eines Strahlenkranzes schwebte ein Buch. Kein gewöhnliches. Noch nicht mal in dieser Bibliothek. Keins der Bücher die hier lebten schwoll für gewöhnlich auf beängstigende Größe an um dann zu explodieren, wie es dieses Buch tat. Miss Willets wurde von der Druckwelle nach hinten geschleudert und verlor auf dem kurzen Flug ihren Waffenwälzer, da sie schützend die Arme vors Gesicht gerissen hatte. Sie prallte am Regal ab und blieb einen kurzen Moment benommen liegen. Doch dann nahm sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln war und kam mit beachtlichem Tempo wieder auf die Beine. Den Morgenmantel am Kragen zusammengerafft, die Augen zu schmalen Schlitzen gekniffen. Nicht gerade das Bild einer Rachegöttin. „Besuchern ist Magie in diesem Gebäude nicht gestattet!“ zischte Miss Willets die Gestalt, die das Buch ausgespuckt hatte an. Diese wimmerte nur. Das plötzliche Leuchten hatte Nachtsicht der Bibliothekarin nicht gerade verbessert und so dauerte es ein wenig, bevor sie des Wesen erkennen konnte. „Ach du Scheiße.“ murmelte sie tonlos, als es schließlich soweit war. und verstieß damit katastrophal gegen ihre eigene Regel nicht zu fluchen. Das Wesen war grau. Nicht das Bei-Nacht-Sind-Alle-Katzen-Grau-Grau sondern ein leichiges Zombie-Grau. Mal ganz abgesehen von den Flügeln. Fledermausaritg, hauchdünn. Man konnte gegen das Mondlicht die Adern durchscheinen sehen. Es rollte ein wenig auf dem Parkett herum und brummelte unwillig. Miss Willets erkannte lange, schwarze Haare und Kriegerkleidung. Und eine Menge Ärger am Horizont. Sie seufzte und begann den Besucher vorsichtig zu entwaffnen. Sie hatte die Sprüche zurückgeholt und hielt sie im Anschlag während sie das Wesen um recht viel Metal erleichterte. Der Eindringling erwachte als Miss Willets gerade den letzten Band von der Abenteuerromanreihe um Prinz Punning über dem Kopf des Geflügelten in Position brachte. Stöhnend setzte das Wesen sich auf. „Wer bist du?“ fragte Miss Willets leicht säuerlich. Sie hatte festgestellt, dass die Magie zwar keine größeren Schäden hinterlassen hatte, aber die Bücher in der Umgebung nun vor Angst zitterten. So etwas machte sie immer wütend. Sie stupste das Wesen mit dem Schuh an, als es nicht antwortete. Es fauchte und Miss Willets riss den Spruchband sofort in Angriffsstellung. „Wer bist du?“ wiederholte Miss Willets hinter ihrem Buch. „Gaya.“ murmelte es vom Boden. „Was?“ „Mein Name. Mein Name ist Gaya.“ sagte Gaya und setzte sich auf. „Bist du gefährlich?“ „Nein?“ „Gut, dann steht auf und kommt mit. Ich brauche jetzt eine schöne Tasse Tee.“ Miss Willets schickte die Bücher zurück in ihre Regal und schleifte den leicht benommenen Gaya in ihre Küche. Sie war sich fast sicher, dass er keine Ahnung hatte, was hier passierte und sie hatte beim besten Willen keine Lust auf dem kalten Boden herum zu sitzen, wenn sie das Verhör auch woanders führen konnte. Ihr spezieller Bibliothekarinenpragmatismus riet ihr außerdem zu einem Heißgetränk und so was fällt ja bekanntlich auch nicht vom Himmel. Ist es dumm, einem völlig Fremden, der aus einem Buch gefallen ist, zu vertrauen? Vermutlich für jeden normalen Menschen schon. Miss Willets 6.Sinn sagte ihr aber, dass sie nichts zu befürchten hatte. Gaya saß, als hätte er noch nie im Leben auf einem Stuhl gesessen. Die Beine dicht am Körper, den Kopf auf den Knie. Die Flügel waren um den Körper gewickelt. Das ganze wirkte wie ein Klumpen Fledermaus in Menschenform. Miss Willets stellte eine Tasse Darjeling vor Gaya auf den Tisch. Verwundert starrte sie auf die Hand, die sich irgendwo zwischen Knie und Kinn hervor schlängelte. „Sehr schön.“sagte sie dann: „Erzähl mir was du bist.“ „Ein Anakah.“ murmelte Gaya und tippte mit einer grauen Fingerspitze die Tasse an. „Und...“ ungeduldig trommelte Miss Willets auf die Tischplatte. Im Licht konnte sie erkennen, dass das Wesen an ihrem Küchentisch ein zweites Schlüsselbein hatte. Dann fiel es ihr wieder ein. „Du bist ein Flederling!“ rief sie überrascht. Gaya knurrte. „Entschuldige. Aber es ist komisch, wenn eine Person aus meinem Lieblingsroman auf einmal in meine Welt kommt.“ „Was?“ Zum ersten Mal zeigte er wirkliches Interesse. „Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber die Welt die du kennst existiert nicht wirklich.“ Miss Willets lächelte. „Das kann aber nicht sein. Ich meine...“ er brach ab. Es handelte sich bei dem Roman den Miss Willets meinte um „Die Revolution“ von Gomez Ramone. Es ist ein dünnes Büchlein, im Vergleich zu dem was sonst noch in den Regalen in diesen Hallen wohnt. Es handelt von Verrat und Freundschaft und großen Umbrüchen und gilt als überhaupt verdammt pathetisch. Es ist vor allem bei Autonomen und solchen die sich dafür halten beliebt. Miss Willets war zwar eine der letzten Personen, die man als autonom oder irgendwie radikal geartet hätte bezeichnen können, aber sie mochte die idealistischen Vorstellungen der Hauptpersonen. Sie erinnerten sie an eine Jugend die sie so nie gehabt hatte. Miss Willets zog es schon immer vor, in einer Welt aus Druckerschwärze und Papier zu leben. „Nun, wir werden wohl das Gremium informieren müssen.“ sagte sie und blickte den traurigen Fledermausjungen an. Er konnte noch nicht sehr alt sein, aller höchstens 20 und Miss Willets glaubte, dass er heillos überfordert war. Was den Tatsachen entsprach. Sie selbst hatte mittlerweile kaum mehr Probleme mit magischen Unfällen. Nach dem fünften Besucher aus einer anderen Welt wird auch das zur Routine. Sie würde sobald es möglich war den Jungen in kompetentere Hände übergeben und alles würde gut werden. Schon früh in ihrer Berufslaufbahn hatte Miss Willets gelernt, dass an Orten wie der Bibliothek, wo großes Magiepotential ungenutzt vor sich hin existiert, nun mal niemand vor seltsamen Sachen sicher ist. Auszug aus „Die Revolution“ von Gomez Ramone. Seite 77, Absatz 5 „Natürlich wissen wir, dass wir niemals das Ungeheuer, dass diese Monarchie ist, ausrotten können. Was jetzt aber nicht heißen soll, dass wir es nicht trotzdem versuchen können. Deshalb sind unsere Aktionen politisch. Es ist politisch, wenn ich mich hier auf die Straße setzte und die mich wegtragen müssen. Es ist politisch, wenn ich auf den höchsten Turm dieser Stadt fliege und unser Plakat aufhänge. Ich kann schweigen und diesen König mitsamt seinen Grausamkeiten hinnehmen. Oder ich kann es lassen.“ Das waren die Worte der Frau mit den langen,braunen Haaren. Sie packte ihre Papiere zusammen und verließ das Podium. Im Saal brandete lautes Gemurmel auf. Jarlie Ki war Seherin, Geistermedium und äußerst schlecht gelaunt. Es war bedeutend zu früh, zu hell und sie hatte nicht die geringste Lust ihr warmes Bett zu verlassen. „Verpiss dich und lass mich pennen!“ brüllte sie deshalb. „Ich bitte dich. Mach doch kein Drama daraus. Du wirfst nur einen kurzen Blick und schon bin ich wieder weg.“ sagte Miss Willets kühl. „Nur einen kurzen Blick. Du spinnst! Und nachher hab ich wieder den ganzen Tag Kopfweh. Vergiss es!“ Jarlie verzog sich unter die Decke und hoffte. Lieder vergeblich. „Na schön.“ sagte Miss Willets. „Daran bist du jetzt selbst Schuld.“ Sie legte ein kleines Notizbuch auf den Nachttisch und gab ihm recht klare Anweisungen. Dann verließ sie das Zimmer. Unter der Bettdecke kam ein gequältes Stöhnen hervor. Miss Willets wartete im Wohnzimmer. Es war klein, bunt und der nicht besonders subtile Geruch von Räucherstäbchen hing in der Luft. Interessiert betrachtete die Bibliothekarin ein Gemälde. Es schien selbst gezeichnet zu sein und Miss Willets war sich recht sicher, dass es nicht ohne den Einsatz bewusstseinserweiternder Substanzen entstanden war. Ein Vogel war abgebildet. Seine Federn schienen aus Tannenzapfen zu bestehen und im Hintergrund wanderte eine Horde Elefanten auf langen, dünnen Beinen durch eine himbeerfarbene Wüste. Bunte Federn klebten an der Wand und auf den Regalen. Dicke Teppiche bedeckten den Boden und Miss Willets selbst hatte sich auf dem Sofa niedergelassen. Sie hatte Gaya, den jungen Anakah, in der Bibliothek gelassen. Er schlummerte friedlich, aufgrund ihres Spezialtees, und sie hoffte das die Wirkung noch ein Weilchen anhalten würde. Dies hier schien eine längere Angelegenheit zu werden. Innerlich kochte Miss Willets. Die ganze Sache ging ihr gegen den Strich. Nicht nur, dass das Gremium ihr die Verantwortung übertragen hatten, sondern auch noch die Tatsache, dass die einzige Hilfe, die sie im Moment bekommen konnte, an chronischer, schlechten Laune litt. Das Gremium ist die oberste Instanz der Stadt Kius. Die Erfahrung zeigt, dass die Mitglieder dieses Gremiums fürchterlich arbeitsscheu sind. Sämtliche Aufgaben, die delegiert werden können, werden auch delegiert. Keine Gnade vor der Beamtenmentalität ist in diesem Fall absolut zutreffend. Und so kam es, das Miss Willets sich selbst um ihren Besucher kümmern durfte. Der Magiebeauftragte Inolf hatte sämtliche Einwände abgewiesen und war frühstücken gegangen. Es dauerte länger als Miss Willets gedacht hätte. Dann stand Jalie am Treppenabsatz, um ihren Kopf schwirrte das Notizbuch. Es quietsche und schnappte in unregelmäßigen Abständen nach ihren Ohren. Miss Willets lächelte fast bei dem Anblick. „Mach es weg. Sofort.“ sagte Jarlie und schlug nach dem Notizbuch. Es versuchte an ihren Haaren zu knabbern. „Hilfst du mir?“ „Du weißt, dass das Erpressung ist, oder?“ „Natürlich.“ Miss Willets pfiff leise und das Büchlein rauschte zu ihr. Zutraulich setzte es sich auf ihre Hand und ließ sich brav in der Handtasche verstauen Es ist ein weit verbreiterter Irrtum, dass Personen, die das zweite Gesicht besitzen, nur in die Zukunft sehen können. In Wahrheit ist es bedeutend einfacher für eine sehende Person, in die Vergangenheit, als in die Zukunft zu blicken. Die Zukunft ist fließend und verändert sich mit jeder Entscheidung, die wir treffen. Die Vergangenheit steht fest. Miss Willets hatte festgestellt, dass es dieses Mal anders war, als bei den anderen Besuchern. Gaya war nicht im übertragenen, sondern im tatsächlichen Sinne durch ein Buch gekommen. Alle anderen hatten sich irgendwo aus der leeren Luft materialisiert. Der Flederling hatte ein Buch als Medium benutzt, auch wenn er keine Ahnung hatte wie es dazu gekommen war. Und Miss Willets brauchte alle Fakten die sie bekommen konnte um diesem Mysterium auf die Spur zu kommen. Sie brauchte den Buchtitel. Mysteriös --------- Mysteriös In der „Magical Fair“, der berühmtesten Klatschzeitschrift dieser Welt steht in der Aprilausgabe (1989) in der Rubrik „Leute“ über Jarlie Ki: Jarlie Ki ist vielleicht nicht die begabteste Seherin. Aber ganz sicher die, deren Vorhersagen am konkretesten sind. Leider ist ihr Style umso grauenerregender. In Miss Willets Personalakte steht unter „Sonstiger Bemerkungen“: Unsterblichkeit (temporär) bewilligt. „Was soll das heißen?“ fragte der oberste Zeremonienmeister und war leicht aufgebracht. „Na ja.“ murmelte ein obligatorischer Kricher im Kaputzenmantel: „Irgendwie muss es Störungen im Äther gegeben haben. Und jetzt haben wir ihn verloren.“ Der oberste Zeremonienmeister versuchte nicht zu schreien. Das wäre dann doch des Klischees zu viel gewesen. „Besorgt mir meinen Auserwählten. Sofort.“ zischte er zwischen den Zähnen hindurch. Genervt trommelte er auf die Lehne des ebenfalls obligatorischen Thrones. Dieses Ding war unbequem wie die Hölle und außerdem hasste der oberste Zeremonienmeister die weiße Katze die im Lieferumfang enthalten gewesen war. Sie haarte fürchterlich. Eigentlich hatte der oberste Zeremonienmeister niemals oberster Zeremonienmeister werden wollen. Er war recht begabt in handwerklichen Dingen und Tischler wäre doch nett gewesen. Die leidigen familiären Umstände hatten jedoch einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Jarlie Ki brauchte Atmosphäre um ihre Gabe benutzen zu können. Das äußerte sich vor allem in exzessiven Gebrauch von Kerzen (schwarz), magischen Zeichen und bunten Federn. Im Prinzip hatte Miss Willets kein Problem damit. Außer, ihr Bibliotheksboden wurde zum Opfer dieser Atmosphäre. Leider, so hatte Jarlie gesagt, waren Ferndiagnosen noch nicht möglich. Und so beendete sie das letzte verschnörkelte Symbol und verkündete begeistert: „Fertig.“ Miss Willets stand mit saurem Gesicht daneben und biss sich auf die Zunge, um jeden Kommentar im Keim zu ersticken. Neugierige Bücher hatten sich in den umliegenden Regalen versammelt. Aus allen Ecken raschelte es, als würden die Bücher flüstern. Zusammen mit dem flackernden Schein der Kerzen und den gezeichneten Linien auf dem Parkett ergab sich ein ausreichend gruseliges Setting. „Und jetzt bitte mal die Klappe halten. Ich brauch Konzentration.“ Auf Zehenspitzen trippelte Jarlie durch das komplizierte Muster und setzte sich in die Mitte. Die Magie, die Jarlie hier anwendet, beruht auf einem Phänomen, das die Wissenschaftler „Zeitaura“ nennen. Wie immer, wenn Wissenschaftler etwas benennen, ist dies eine beschissene Beschreibung. Tatsache ist folgendes: Vor einigen Jahren fanden findige Forschungsmagier heraus, dass jedes Wesen eine Art Abdruck hinterlässt. Bei allem, was dieses Wesen tut. Am besten stellt man sich das als eine Art Schemen vor. Diese „Zeitgeister“ kann man sichtbar machen. Man braucht dazu nur einen Propheten und ein bisschen Magie. Eigentlich kein Hexenwerk also. Das Problem ist nun aber, dass diese Schatten auch sehr schnell wieder verblassen. Bis zu 34 Stunden später sind die Geister aber noch recht gut zu erkennen. Jarlie Ki murmelte die magischen Liturgien und um sie herum begann das Muster das sie gezeichnet hatte sich zu verändern. Die Beschwörungsformel war notwendig um die Magie in die richtigen Bahnen zu lenken. Die meisten Menschen glauben, dass Zauber nur in sehr alten und sehr toten Sprachen wirken. Das stimmt so nicht ganz. Eigentlich kommt es nur darauf an, dass der Tonfall stimmt. Magie ist ziemlich dickköpfig und mag es überhaupt nicht, wenn man ihr etwas befiehlt. Fast kann man sagen, dass Zauber ein bisschen wie Bücher sind. Die Kreidemuster krochen wie Schlangen über den Boden. Sie verbanden sich,trennten sich wieder und bildeten komplexe Muster. Miss Willets stand mit immer noch noch oben gezogenen Augenbrauen daneben und hatte den Eindruck, als würden die Linien selbst wissen was zu tun war. Als die erste der Kerzen erlosch erhoben sich die Schatten. Durchsichtig, aber dezent in allen Regenbogenfarben schimmern flimmerten sie durch die Regalreihen. Sie bewegten sich abgehackt und eckig. Jarlie ließ die Geisterzeit schneller fließen. Da das Medium sich während der Beschwörung nicht auch noch auf die Vorgänge konzentrieren konnte, die es da beschwor, achtete Miss Willets darauf was die durchscheinenden Gestalten so trieben. Als der Zeitraffer an der richtigen Stelle angekommen war brüllte Miss Willets: „Stop!“ Sofort schaltete Jarlie auf Standbild. In der Luft zitterte das Abbild des Buches kurz vor seiner Zerstörung. Miss Willets legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue nach oben. „Die Magische Enzyklopädien in neuer Übersetzung?“ fragte Miss Willets. Dann flacketen die Bilder ein letztes Mal auf und veschwanden. Jarlie riss die Augen auf. Sie atmete, als wäre sie gerade einen Maraton gelaufen. „Was hab ich verpasst?“ keuchte sie. „Offensichtlich ist unser Besucher aus einem Standartwerk der magischen Grundlagen gekommen. Was eigentlich unmöglich sein sollte. In diesem Buch dürfte noch nicht mal genügend Magie für eine Tasse Tee aufzuwärmen sein.“ antwortete Miss Willets und legte einen Memozettel auf die Überreste des Rituals. Sollte sich ein Praktikant ums Aufräumen kümmern. „Nun.“ sagte Jarlie und erhob sich. „Dein Besucher. Ich geh nach Hause und hau mich noch 'ne Runde aufs Ohr.“ Miss Willets kehrte in ihre gemütlich warme Küche zurück und fand Gaya an ihrem Tisch sitzend vor. Mehr oder weniger. Auf seine eigenartige Weise hatte er sich auf einem Stuhl zusammengefaltet und war mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen. Er sabberte ein wenig. Miss Willets seufzte und setzte Teewasser auf. Dann rüttelte sie Gaya wach. „Ich hoffe ernsthaft du kannst lesen.“ informierte sie ihn dann. „Warum?“ „Wir werden ein wenig lesen müssen. Diese Magie ist mir ein Rätsel.“ Gedankenverloren rührte Miss Willets in ihrem Tee. Gutes Personal ist schwer zu finden. In der magischen Bibliothek von Kathu hat man dieses Problem auf Recht kreative Weise gelöst. Man gewährt den Angestellten vorübergehende Unsterblichkeit und dafür erhält man gut ausgebildete Fachkräfte die länger als nur 40 bis 50 Jahre Leistung bringen können. Ein Arbeitsvertrag der Bibliothek sieht üblicherweise eine Laufzeit von 200 Jahren vor. Dann setzte die Alterung wieder ein. Man bildete seinen Nachfolger aus, geht in Rente und hat praktisch das ganze Leben noch vor sich. Miss Willets hatte also schon einiges in ihrer Berufslaufbahn gesehen. Magische Wunderlichkeiten liefen ihr öfters über den Weg, aber meistens konnte man sie recht einfach analysieren. Dieser Zauber jedoch spielte verstecken. Miss Willets hasste solche Spielchen. Gaya druckste herum. „Na ja...also...lesen gehört nicht zu den Dingen die ich besonders gut kann.“ murmelte er schlussendlich. „Schon gut.“ sagte Miss Willets und tätschelte dem Flederling die Hand. Gaya lächelte schwach. Es war früher Nachmittag, als die beiden in den großen Lesesaal traten. Draußen nieselte es, aber die Lampen verbreiteten warmes Leselicht. Gaya ergab sich mit leichtem Widerwillen in sein Schicksal und Miss Willets rief routiniert die Bücher herbei. Währenddessen an einem anderen Ort aber ungefähr zur selben Zeit hörte sich der oberste Zeremonienmeister ungeduldig das Gestammel seines Lakain an. Er war noch recht jung und sein kricherisches Verhalten noch nicht absolut perfekt. „Es sieht so aus, als hätten wir den Auserwählten gefunden.“ murmelte der Lakai zum Fußboden. „Wo?“ fragte der oberste Zeremonienmeister und trommelte auf der Thronlehne. Der Kissenberg in seinem Rücken wirkte zwar ein wenig fehl am Platz, aber in diesem Fall war dem obersten Zeremonienmeister sein Rücken wichtiger als irgendein Eindruck. Im Stillen verfluchte er immer noch seinen Vater, dass er ihn gezwungen hatte das Familiengeschäft zu übernehmen. „Wie es scheint hat er in der Bibliothek Unterschlupf gefunden. Die Magie hat den Zauber vermutlich umgelenkt und er ist am falschen Ort angekommen.“ „Na schön. Ich möchte diese Angelegenheit abgehackt haben. Holt ihn mir und wir können dieses Ritual gleich nach dem Abendessen durchziehen. Morgen früh sind wir dann schon im Palast.“ der oberste Zeremonienmeister lächelte zufrieden. Der Lakai zog sich vorsichtig und immer schön in Richtung Boden gebückt zurück. Der oberste Zeremonienmeister war klug genug, um nicht den verhängnisvollsten Satz eines jeden Bösewicht auszusprechen. Erfahrungsgemäß hatten Leute, die: „Nun kann mich nichts mehr aufhalten! Muhahaha!“ sagen eine erstaunlich geringe Restlebensdauer. Dennoch. Ein wenig böses Lachen hatte doch noch niemand geschadet. Oder? Rauchende Asche --------------- Rauchende Asche Miss Willets war verzweifelt. Ein Zustand der wirklich äußerst selten vor kam. In ihrer geliebten Bibliothek gab es allem Anschein nach kein einziges Buch, dass ihr erklären konnte, mit welchen Phänomen sie es zu tun hatte. Das war ihr vorher noch nie passiert. Bisher hatte Miss Willets mit den passenden Suchparametern früher oder später immer etwas gefunden was ihr half die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Sie hockten an einem der langen Lesetische. Miss Miss Willets hatte sich erbarmt und Gaya erklärt wie man sich richtig auf einen Stuhl setzte. Der Flederling passte zwar immer noch nicht wirklich ins Gesamtbild, aber Miss Willets tröstete sich damit, dass sie wenigstens das hinbekommen hatte. Gaya saß immer noch tief über sein Buch gebeugt. Er schaute so plötzlich nach oben, das Miss Willets fast zusammengezuckt wäre. „Und was ist mit dem Buch passiert, aus dem ich raus gefallen bin.“ fragte er. „Hat sich in Wohlgefallen aufgelöst.“ murmelte Miss Willets und dachte nach. „Obwohl. Man könnte es mit dem Reparaturzauber probieren, auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering ist.“ sagte sie dann mehr zu sich selbst. Die Asche des Buches hatte ein Praktikant fein säuberlich zusammen gekehrt in einem Beutelchen im Lager verstaut. Theoretisch wäre es also möglich. Vielleicht, so dachte Miss Willets, ließen sich an dem Buch selbst Spuren sichern, mit denen man diesen Unfall erklären könnte. „Na schön.“ sagte Miss Willets und erhob sich mit entschlossenem Gesichtsausdruck. Wir gehen jemanden suchen der uns dabei helfen kann.“ Die Bücher verstanden das Signal und flatterten in ihre Regale zurück. Gaya erschrak als das Buch das er eben noch in Händen gehalten hatte mit den Deckeln wedelte und zu seinen Kameraden flog. Dann stolperte er Miss Willets hinterher. „Und wer kann uns dabei helfen?“ fragte Gaya. Miss Willets lächelte. „Jemand der mir noch einen Gefallen schuldet.“ Sie machte eine kurze Pause. „Aber vielleicht erst morgen früh.“ Während sie die Treppen zu Miss Willets kleiner Wohnung emporstiegen erklärte Gaya, dass sie sich nicht die Mühe machen sollte die Schlafcouch aus zuklappen. Flederlinge, sagte er, würden bevorzugt in einer Art Kauerstellung schlafen. Eine Decke nahm er trotzdem gerne an, denn die Flügel würden in der Nacht gerne kalt werden. „Und es gibt nichts unangenehmeres als kalte Flügel. Die können ziemlich unangenehm sein.“ fügte er noch an und zog eine Grimasse. In dieser Nacht lag Miss Willets noch lange wach. Sie dachte ausnahmsweise nicht nach, sondern starrte an die Decke. Ein unbestimmtes Gefühl hielt sie wach. Gerade so, als wollte eine neue Idee an ihren Hinterkopf klopfen, sich aber nicht so recht trauen und lieber draußen warten bis jemand ihr die Hintertür öffnen würde. Dummerweise wusste Miss Willets noch nicht so genau wo diese Hintertür sein sollte. Und so starrte sie immer noch die Decke an und wartet auf etwas, ohne zu wissen was es war, als sie ein sehr reales Klopfen hörte. Miss Willets setzte sich aufrecht und lauschte. Da war es wieder gewesen. In unregelmäßigen Abständen tockte etwas gegen die Außenmauer. Beinahe lautlos huschte Miss Willets aus dem Bett. Sie schlich in die Küche und entdeckte Gaya in der Ecke neben der Couch. Fest in seine Decke gewickelt und offenbar tief schlafend. Er war beinahe augenblicklich wach, als sie ihn an der Schulter berührte. Mit großen Augen schaute er sie an und Miss Willets flüsterte: „Hörst du das Geräusch?“ „Hört sich an, als würde jemand versuchen hier hoch zu klettern.“ flüsterte er nach ein paar Sekunden, die Miss Willets wie Stunden vorkamen, zurück. Flink wie eine Katze war der Flederling auf den Beinen und sah sich im Raum um. „Haben Sie irgendwelche Waffen im Haus?“ fragte er Miss Willets. „Nicht hier.“ antwortete Miss Willets. Gaya zog den Schürhaken aus dem Gestell am Kamin. „Das muss reichen.“ sagte er mit grimmigem Gesichtsausdruck. Dann brach die Hölle los. Die Fenster zersplitterten. Scherben schossen durch das Zimmer und Miss Willets zog es vor in Deckung zu gehen. Sie rollte unter den Küchentisch und klammerte sich an „Sprüche und Zauber für alle Lebenslagen – Band 1“. Miss Willets war noch nicht dazu gekommen das Buch wieder in sein Regal zu schicken und so hatte es sich in der Küche gemütlich gemacht. Zusammen hockten sie nun unterm Tisch und harrten der Dinge die da kommen würden. Das Buch, aus dem Gaya gekommen war, heißt nicht nur „Die Revolution“, sondern handelt auch von einer. Und unser junger Flügelfreunde hier gehörte zu den Revolutionären. Es ist absolut unwichtig, ob die Sache für die man kämpft wichtig, oder einfach nur bescheuert ist, wenn man mitten in einer Straßenschlacht steckt. Dann zählt nur noch, ob du dich verteidigen kannst. Ich möchte es folgendermaßen ausdrücken: Gaya gehörte zu den Leuten, die die Freiheiten für die sie gekämpft hatten später hinaus auch noch genießen konnte. Der oberste Zeremonienmeister fragte sich wenig später wieder einmal, wie inkompetent ein Mitarbeiter eigentlich sein konnte, als er sich den Bericht der „Truppe Rückhohlaktion“ anhörte. Drei völlig verbeulte Gestalten kauerten vor dem obligatorischen Thron und mühten sich um Erklärungsversuche. „Er hatte so ein Metallteil, Meister.“ stotterte derjenige von ihnen, der noch die meisten seiner Zähne hatte. „Schürhaken“ murmelte der mit einem sehr interessanten Abdruck auf der Stirn ihm zu. Der oberste Zeremonienmeister glaubte spiegelverkehrt „uber für al“ lesen zu können. „Ihr wart zu dritt.“ sagte er langsam und mit Nachdruck. „Ihr hattet Waffen.“ fügte er hinzu. „Stellt ihr euch eigentlich mit Absicht so blöd an?“ Die Lakaien blickten schuldbewusst auf den Boden. „Na ja...also die beste Ausbildung hatten wir jetzt auch nicht gerade.“ nuschelte der mit dem Abdruck in seinen imaginären Bart. „Wie bitte?“ zischte der oberste Zeremonienmeister. „Also eigentlich bin ich Buchhalter.“ sagte Stirnabdruck trotzig. „Genau.“ setzte der, der bis jetzt geschwiegen hatte nach. „Niemand hat gesagt, dass es so schwierig wird. Und niemand hat was von der Verrückten mit den Büchern gesagt.“ „Was hattet ihr denn erwartet?“ rief der oberste Zeremonienmeister. „Das die Übernahme der Regierung ein Spaziergang wird?“ Er schüttelte den Kopf. „Bei den Göttern...was seid ihr doch alle für Vollidioten.“ Ernsthaft bestürzt über so viel Naivität rauschte er mit stilvoll gebauschter Robe von dannen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)