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Cod3s

von

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Prolog: Judgement

Das Büro lag still vor mir. Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt und spähte in den dunklen Raum. Nichts. Zur Sicherheit schaltete ich mein Nachtsichtgerät ein, sodass ich durch das grüne Licht mehr Einzelheiten sehen und einen möglichen Angreifer, in der Dunkelheit lauernd, ausmachen konnte. Niemand. Leicht frustriert öffnete ich die Tür ganz und betrat den mit Computern voll gestopften Raum, ohne mir großartig Mühe zu geben, leise zu sein. Das ging einfach alles zu unkompliziert…

Ächzend ließ ich mich in den Drehstuhl aus Leder fallen und schaltete einen der PCs an. Sekunden später flammte auch schon der blaue Desktop auf und erhellte das Büro soweit, dass ich genug sah und das sperrige Nachtsichtgerät abnehmen konnte. Mit dem Fuß wippend wartete ich, bis der Computer vollständig hochgefahren war. Genervt schaute ich erst auf meine Armbanduhr –es war schon 3:30- und dann wieder auf den Bildschirm. Gott, wie langsam waren diese Computer denn? Dürfte man von der Regierung nicht etwas mehr technischen Fortschritt erwarten? Ich wollte mich grade nach der guten alten Schreibmaschine als Druckerersatz umsehen, als der PC es doch noch geschafft hatte, sich in diesem Leben komplett aufzubauen. Ich rutschte näher an das Gerät heran und schaltete mein Headset wieder ein.

„Ares?“

Nach wenigen Sekunden hörte ich das typisch schnarrende Geräusch des Gerätes und darauf eine tiefe Bassstimme. „Ach? Meldet sich der Herr auch mal?“

Ich grinste. „Wie geht’s deiner Begleitung?“

Als Antwort hörte ich eine Mischung aus Wimmern und dem kläglichen Versuch zu Schreien.

„Wir verstehen uns prächtig.“, brummte Ares` Stimme vergnügt. Ich verzog das Gesicht. „Nimm ihr doch wenigstens den Knebel aus dem Mund. Das ist ja nicht mit anzuhören …“

„Ihr Geheule auch nicht.“, gab er zurück. Dann hörte ich ihn seufzen. „Ich glaub ich muss dir das mit dem > Geiseln nehmen < noch mal erklären- Du bist viel zu warmherzig, Junge.“

Ich verdrehte die Augen und äffte ihn genervt nach. „Ja, ja ein anderes Mal.“, antwortete ich gelangweilt und öffnete einen der etlichen Ordner, welche den Computer wohl hilflos überlasteten.

„ Ich wäre dann soweit, Ares. Wonach soll ich eigentlich suchen?“

„Nach einer Datei…“ Gespielt zog ich die Brauen hoch. „Na das ist ja mal was Neues.“, antwortete ich ironisch. Ares antwortete nicht- war auch besser so. Ich war vollkommen übermüdet und wollte nur nach Hause. „Haben wir auch einen Namen?“

„ Ja. Sie heißt > Judgement <. Ein Dokument des Militärs.“ Während Ares noch sprach, suchte ich mich schon in Windes Eile durch die verschiedenen Ordner. Wenigstens hatten sich diese Beamten die Mühe gemacht, ein bisschen System einzubauen. Nach wenigen Minuten hatte ich den Ordner des Militärs von unserem Land gefunden. Hoffnung flammte in mir auf. Ich spürte schon meine weiche Matratze in meinem Rücken und das weiche Kopfkissen und- ehe ich an meine dicke Bettdecke denken konnte, holte mich dieser alte Schrottkasten aus meinen Gedanken, indem er lautstark piepsend eine ID Nummer verlangte, die mich dazu rechtfertigte, diesen Ordner zu öffnen.

„Friss, scheiß Kasten.“, murrte ich und schob den Ausweis, den wir uns vor kurzem angeeignet hatten, in den dafür vorgesehenen Schlitz am PC. Ein Suchicon in Form eines albernen Cartoon- Detektivs erschien.

Und wieder warten. Meine Laune erreichte einen neuen Tiefpunkt. Endlich erkannte der Rechner die Karte und akzeptierte sie. Ich öffnete den Ordner und etliche neue bauten sich visuell auf. Seufzend suchte ich weiter.

„Was ist das überhaupt?“

„Hä?“ Ich versuchte mich zu beruhigen. So sehr ich ihn auch schätzte, aber Ares konnte schon anstrengend sein.

„Die Datei.“, begann ich erneut. „ Judgement. Was genau klau` ich überhaupt?“

„Das geht dich leider nix an.“ Super. Nun auch noch Geheimniskrämerei…

„Ich hab sie.“, benachrichtigte ich ihn, öffnete den Ordner und wollte meinen Augen nicht trauen. Das Dokument >Judgement< gab es ungefähr 100-mal. Ungläubig gab ich Ares Bescheid. Seine Antwort kam sofort.

„Na und ? Dann kopier sie alle…“ Ich lachte entsetzt auf. „Wie stellst du dir das vor?! Jedes dieser Dokumente ist mehrere 1000 KB groß!“

„Ja und?“, kam es gelangweilt zurück. Langsam verlor ich die Geduld. „ Soviel passt nicht auf eine Diskette…“

„… Wie bitte ?!“, brüllte er mir wütend ins Ohr. „ Du hast nur eine dabei?“ Ich sprang auf.

„Du hast mir nicht gesagt, dass wir eine halbe Festplatte stehlen!“, schrie ich ebenso wütend wieder zurück. Doch dann besann ich mich wieder und ließ mich zurück in den Stuhl fallen.

„Na schön… dann bleibt mir nichts anderes übrig als alle durchzuschauen. Sagst du mir jetzt, wonach genau … “

„Nein, bleib davon!!“ Ich überhörte seine Warnungen einfach. Schließlich war ich kein Kleinkind mehr, ich war sehr wohl in der Lage mit militärischen Berichten, Kriegsbildern oder was auch immer sich hinter dieser Datei versteckte, klarzukommen- was das anging, war ich abgehärtet.

„Bleib locker, Ares. Ich bin nicht dumm. Vermutlich ist nur eine die Richtige und die anderen sind unwichtig.“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Meistens ist die Älteste- also die zuerst angelegte- Datei die echte. Da ist sie …“

„Wag es ja nicht, sie zu öffnen!“ Ares schien zu toben. Soll er ruhig, dachte ich trotzig, ich wusste, was ich tat- und ich wollte nach Hause! Vermutlich hastete er schon die Treppen hoch um mich aufzuhalten. Bis der da wäre, bin ich längst fertig…

„Dann lass uns doch mal schauen, was du denn bist.“, murmelte ich und öffnete den Ordner mit der Ordnungsnummer 66.

Begegnung im Sturm

„Beeil dich lieber, Finja. Das wird bald noch stärker regnen.“

Ich nickte und hielt die Plastiktüte noch näher an meinen Körper.

„Keine Sorge. Wenn ich laufe, bin ich in 5 Minuten zu Hause.“

Die alte Verkäuferin lächelte. „Pass auf dich auf.“

Winkend verließ ich den kleinen Laden und blieb noch einen Moment unter der bunt gestreiften Markise stehen. Meine Nachbarin hatte nicht untertrieben- der Himmel war grau und der feine Nieselregen verdichtete sich langsam zu dicken Tropfen. Schnell setzte ich noch meine Kapuze auf, stopfte meine langen braunen Haare unter sie und rannte los.

Wie gut, dass ich mir zur Vorsicht Gummistiefel angezogen hatte, denn sonst hätte ich nach wenigen Metern nasse Füße gehabt.

Flink sauste ich um die Straßenecken. Ich hatte Glück, dass die meisten Bewohner dieses Viertels bei schlechtem Wetter in ihren Häusern ausharrten und darauf warteten, dass die Straßen trocken und für sie wieder sicher begehbar werden (der Albtraum eines jeden Rentners- rutschige Gehflächen!) und so musste ich niemandem auf meinem Weg ausweichen.

Nur noch eine Ecke- und dann sollte der Weg für mich enden…

Beinahe hätte ich aufgeschrieen, als plötzlich ein schwarz gekleideter Mann, einer großen Mauer gleich, direkt hinter der Biegung auftauchte. Ich versuchte noch auszuweichen, indem ich im vollen Lauf nach rechts sprang, dabei nur knapp die Bordsteinkante verfehlte und zu fallen drohte. Meine Tüte flog mir voraus und ich sah mich schon im Regenwasser liegen, als sich plötzlich eine prankengleiche Hand wie ein Schraubstock um meinen Oberarm schloss und meinen Fall stoppte. Gerade in dem Moment, als ich zu meinem Retter hochschauen wollte, schleuderte mich dieser mit einer enormen Kraft zurück auf den Weg und gegen die nächste Hauswand, sodass mir die Luft weg blieb.

Verwirrt und auch sehr erschrocken starrte ich den Mann an. Er war komplett in schwarz gekleidet – schwarze Schuhe, schwarze Hose und ein schwarzer, langer Ledermantel, auf dem der feine Regen in winzigen Tropfen abperlte. Die Kapuze des Mantels, der ihm über die Kniebeuge ging, hatte er tief ins Gesicht gezogen, sodass ich ihn nur schemenhaft darunter erkennen konnte… soweit ich es erkennen konnte war sein Gesicht kantig und schlecht rasiert, mit ausdruckslosen hellen Augen. Über der rechten Schulter trug er ein in schwarzes Leder verpacktes Bündel, sein linker Arm, mit dem er mich gefangen hatte, hing nun schlaff herunter. Das schwer aussehende… was auch immer es genau war, schien ihn in keiner Weise zu stören oder daran zu hindern, jemanden zu retten.

„D- danke… Sir.“, sagte ich zaghaft, aber höflich und wollte mich daran machen, meine Sachen vor dem Regen zu retten. Doch bevor ich auch nur einen Schritt machen konnte, ließ mich seine tiefe Stimme in der Bewegung verharren.

„Wohnst du hier?“

„W- wie bitte?“, fragte ich erstickt. Und als hätte er sich mit der Natur abgesprochen, kam in diesem Moment Wind auf, blies ihm den langen Mantel nach hinten und gab die Sicht auf ein über 1 Meter langes Schwert frei, das an seinem Gürtel befestigt war. Erneut blieb mir die Luft weg und ich stolperte vor Schreck ein paar Schritte zurück.

„Ich habe dich gefragt, ob du hier wohnst.“, wiederholte der Mann ruhig, aber ernst und gefasst. Die antike Waffe hypnotisierend hauchte ich ein „Ja“ und der Mann hob langsam seinen linken Arm- in Richtung des Griffes seines Schwertes. Für einen kurzen Augenblick schrie eine innere Stimme in mir auf, dass ich um mein Leben rennen sollte und ich hätte es beinahe getan- wäre sein Arm nicht weiter in die Höhe gewandert und hätte das Bündel über seiner rechten Schulter ergriffen. Mit übertriebener Vorsicht legte er es ab und trat einen Schritt von ihm weg. Schweigend schaute er mich an und ich schaute mit wild pochenden Herzen zurück. Nur zögernd senkte ich meinen Blick auf sein Gepäck – und erhielt einen erneuten Herzstillstand. Sein „Gepäck“ besaß nackte Füße und Hände!

Einen Schrei unterdrückend ließ ich mich neben den Menschen fallen. Nun erkannte ich, dass er in einen ähnlichen schwarzen Ledermantel engewickelt war.

Plötzlich blitzte etwas unterhalb meines Kinns auf- eine schwarze Klingenspitze, die rötlich schimmerte. Ich hielt die Luft an.

„Kümmere dich um ihn.“, brummte der Mann in meinem Rücken nun bedrohlich. „Keine Polizei, kein Krankenhaus. Verstanden?“ Ich nickte und die Klinge verschwand aus meinem Sichtfeld.

Vorsichtig strich ich seinem Opfer die Kapuze aus dem Gesicht. Es war ein Junge, vielleicht so alt wie ich und er war bewusstlos. Entsetzt wischte ich ihm einige schwarze Strähnen aus seinem Gesicht.

„Seine Lippen sind blau… und er ist ganz kalt.“ Und in einem lebensmüden Ausbruch von Wut und Unüberlegtheit fuhr ich herum in die Höhe und schrie: „Was haben Sie mit ihm-?“

Doch das einzige, was ich sah, war die Straßenlaterne auf der anderen Straßenseite, die in der anbrechenden Dämmerung angesprungen war und über mir brach das Gewitter nun endgültig aus.

Pitschnasse Modesünden

Hilflos schaute ich die Straße rauf und runter. Niemand- kein Auto, kein Passant…

Wer sollte auch schon hier und um diese Uhrzeit vorbeikommen? , fragte ich mich bitter. Wieder betrachtete ich den Jungen zu meinen Füßen, wie er bewusstlos –fast leblos- dalag.

Keine Polizei, kein Krankenhaus…

Ich hatte nicht vergessen, was dieser Mann gesagt hatte und um ehrlich zu sein, war ich nicht erpirscht darauf gewesen, herauszufinden, was passieren würde, wenn ich ihm nicht gehorchte. Der Regen war nun so stark geworden, dass das Rinnsal am Rande der Straße zu einem größeren Strom herangewachsen war- und mitten drin meine Einkäufe.

Ich seufzte. Es brachte nichts, ihnen nachzutrauern, der Junge hatte eindeutig Vorrang. Ich musste ihn aus den Regen bringen, irgendwie- und das schnell!

Ich kniete mich wieder neben ihn und zog ihn etwas in die Höhe, sodass er gegen die Häuserwand gelehnt vor mir saß, aber immer noch zur Seite wegrutschen drohte, als hielt ich keinen Menschen in den Armen, sondern ein Stofftier.

Ich schluckte leicht, als ich sah, wie groß er eigentlich war …

Nach kurzem Überlegen nahm ich seinen Arm und legte ihn über meine Schulter. Danach kam der zweite, dann hievte ich ihn ganz auf meinen Rücken und stemmte mich in die Höhe.

Eins musste ich dem Mann lassen… egal, was er mit dem Jungen gemacht hat, er hat ihn auf jeden Fall nicht hungern lassen.

Und so schwer beladen und stark taumelnd, schritt ich durch den Regen und brauchte für einen Weg von maximal einer Minute ungefähr fünfzehn. Hinzu kam, dass ich mich mit seiner Größe um einiges verschätzt hatte- er war so groß und ich so klein, dass seine Arme vor meinem Körper bis zu meinem Bauch baumelten und ich seine nackten Füße auf dem Boden fast hinter mir her zog. Irgendwann kam ich zu Hause an und konnte ihn von den Schultern nehmen- zum Wohle meines Rückens, der sich, nun nicht mehr unter der Last leidend, schmerzvoll meldete. Schnell zog ich den Haustürschlüssel und schloss auf. Dann nahm ich ihn von hinten unter den Schultern und hielt ihn vorne vor der Brust, genau wie beim Erste-Hilfe-Kurs gelernt und zog ihn ins Haus, direkt in mein Wohnzimmer. Dort angekommen, legte ich den Jungen längs vor den Kamin, den mein Großvater in schweißtreibender Eigenarbeit meinen Eltern mit dem Haus zu ihrer Hochzeit geschenkt hatte, stapelte Holzscheitel auf und entfachte sie. Kurze Zeit später hatten sie Feuer gefangen und begannen, den Raum mit einer angenehmen Wärme zu erfüllen.

Ächzend schälte ich mich aus den Regensachen und ging zur Haustür zurück, um diese zu schließen und meinen tropfnassen Mantel aufzuhängen. Ein Blick auf den Boden sagte mir, wie nass unsere Klamotten waren- eine lang gezogene Wasserspur zog sich durch meinen ganzen Flur. Ich seufzte.

Schnell lief ich in mein Zimmer, holte ein paar Sachen und kehrte zurück ins Wohnzimmer. Schon am Eingang strich mir die mollige Wärme des Feuers übers Gesicht. Vorsichtig näherte ich mich dem Jungen- von dem ich nicht mal den Namen kannte- und legte die Sachen ab. Er sah schon wesentlich gesünder im Gesicht aus, als gerade eben. Seine Lippen waren nicht mehr ganz so blau und auch seine Wangen hatten wieder Farbe angenommen. Erleichtert setzte ich mich neben ihn und legte mir die Handtücher zurecht. Erst einmal raus aus diesem hässlichen Mantel…

Ich öffnete die schlichten schwarzen Knöpfe und machte mich an den Reißverschluss zu schaffen.

„Du bist besser verpackt, als jedes andere Packet, das ich je geöffnet habe.“, sagte ich schmunzelnd, zog den Mantel auseinander – und erstarrte zum erneuten Mal an diesem Tag zur Salzsäule. Der Junge war bis auf die Unterwäsche nackt…

Ich spürte, wie das Blut in meinen Kopf schoss und ich machte mich schleunigst wieder daran, ihn einzupacken.

Mit klopfenden Herzen stand ich auf und ging- oder besser: stolperte- im Zimmer auf und ab. Wer war dieser Junge und was zum Teufel hatte dieser Kerl mit ihm gemacht?! Die schlimmsten Horrorszenarien spulten sich in meinem Kopf ab und ich wurde immer nervöser.

Keine Polizei… lief es mir eiskalt den Rücken herunter.

Ach verdammt! Was sollte ich tun?

Vielleicht erstmal allen Mut zusammen nehmen und dem Jungen helfen, hallte eine Stimme durch mein Hirn. Ich nickte, als wolle ich mir selber Recht geben und legte ihn erneut mit zittrigen Händen frei. Mein Herz begann wieder wild zu rasen, als ich seinen Körper erblickte. Es war erstaunlich; sein Körper war so durchtrainiert, dass es selbst jetzt, wo er so erschlafft und bewusstlos vor mir lag, so aussah, als spannte er jeden Muskel an. Wie in Trance legte ich meine Finger über seinen Brustkorb, der sich leicht hob und senkte, ohne ihn dabei wirklich zu berühren und doch stellten sich meine Nackenhaare elektrisierend auf…

Mit offen stehendem Mund schaute ich ihn an und es kostete mir sehr viel Kraft mich von seinem Oberkörper zu lösen und ihn höflicherweise auch mal ins Gesicht zu schauen- was nicht weniger schön war. Er musste so alt sein wie ich, denn er hatte jungenhafte Gesichtszüge, die nicht so recht zum Rest des Körpers passten. Wieder wischte ich ihm eine halbnasse Strähne seines pechschwarzen Haaren gedankenversunken aus seinem Antlitz und fragte mich, was er für Augen haben könnte.

Erst nach einigen Minuten begann ich ihm den Mantel komplett auszuziehen und zur Seite zu legen. Dann bettete ich seinen Kopf auf eines der Sofakissen und deckte ihn mit meiner Bettdecke zu. Neben sein Lager legte ich einen meiner Pullover, die mir um Nummern zu groß waren. Es war ein Geschenk meiner Großeltern aus Amerika- ein grauer Pulli mit eingearbeiteten Flies und typischen Touristen- Aufdruck. Und natürlich in XL… die Begründung meiner Oma war, dass das der Letzte gewesen sei und nicht mehr nachgeliefert werden konnte- Haha….

Aber so waren sie eben, das war ihre Art ihren Verwandten klar zu machen, dass es ihnen gut ging; andere schrieben halbe Romane auf Postkarten, sie verschickten Souvenirs.

Ich saß dem Jungen noch lange Zeit im Sessel gegenüber und betrachtete ihn stumm. Dann irgendwann stand ich auf und begab mich in den Flur, zog mir meine Regensachen wieder an, nahm diesmal einen Schirm mit und machte mich in die Nacht auf, um das von meinem Wocheneinkauf zu retten, was der Regen noch hoffentlich nicht fortgespült hatte.

Ein neuer Anfang

Das erste, an das ich mich erinnern konnte, war Wärme. Durchdringende, wohltuende Wärme am ganzen Körper. Mein Gesicht glühte fast. Und dann waren da noch diese Gerüche …

Etwas rauchig, verbranntes lag in der Luft, so als hätte jemand einen Wald in Brand gesteckt. Aber da war noch etwas anderes- etwas Angenehmes. Der Duft von Blumen, ganz leicht und süß.

Wo war ich?

Langsam öffnete ich meine Lider und es dauerte eine Weile, bis ich alles scharf sah. Links in meinen Augenwinkeln flackerte ein rotgelbes Licht- war das Feuer? Schlaftrunken und schwerfällig drehte ich meinen Kopf. Ja, da war ein Kamin…

Nun schaute ich mich genauer um und endlich entdeckte ich die Quelle des anderen betörenden Duftes. Ich lag unter einer dicken, weichen Decke. Vorsichtig setzte ich mich auf und merkte erst jetzt, wie schwer und matt ich mich fühlte. Stöhnend hielt ich mir den schmerzenden Kopf. Ich brauchte erneut einige Minuten, um mich vollends zu orientieren und klar denken zu können. Der Raum war nur durch das Feuer im Kamin spärlich erleuchtet, aber das, was ich sehen konnte, kam mir in keiner Weiser bekannt vor. Man hatte mich ausgezogen- oder war ich das selber gewesen?

… Wer war ich eigentlich?!

Angestrengt kramte ich in meinem Gedächtnis nach etwas, wie einem Namen, jedoch vergebens. Neben mir lag ein grauer Pullover mit einem auffälligen roten Aufdruck- ein „I“, gefolgt von einem Herzen und der komischen Buchstabenfolge „NY“.

Ich runzelte die Stirn. NY… das war die Abkürung für New York, hallte eine Stimme in meinem Kopf, ein Staat der Vereinigten Staaten von Amerika, 128.401 km² groß, liegt an der Westküste und hat über 17,6 Millionen-

Moment! Warum konnte ich mich an so etwas erinnern, aber mein eigener Name war mir entfallen?!

Verwirrt rieb ich mir über die Augen. Verdammt- was war hier los? Ich stand vorsichtig auf und sah mich wieder um. Vielleicht gab es in diesem Raum ja irgendwelche Hinweise, wer ich war… Um den Kamin platziert stand eine schlichte dunkle Sofagarnitur mit weißen Kissen, auf dem Sims des Kamins waren ein paar Bilderrahmen aufgestellt worden, die immer ein junges Mädchen mit Erwachsenen zeigte. Ihre Eltern und Großeltern vielleicht? Das Mädchen war vielleicht 6 Jahre und ich musste zugeben, dass sie ganz niedlich aussah, wie sie breit in die Kamera lächelte und sich an das Hosenbein des einen Mannes klammerte.

Aber kein Anzeichen von mir. Frustriert durchsuchte ich weiter den Raum. Weiter hinten, im Halbdunkeln liegend, stand ein Holztisch mit Stühlen und einem Strauß Blumen als Dekoration. Über der Lehne hang ein Mantel, ein Schwarzer aus Leder und auf einmal überkam mich ein Gefühl der Erleichterung. Ohne weiter zu überlegen, zog ich ihn an und als ich nun das kalte Leder auf meiner Haut spürte, fühlte ich mich sicherer und geborgen. Vorsichtig strich ich über seine Oberfläche, schloss die Augen und genoss einfach das Gefühl, das mich durchströmte. Ich wusste nicht, wie ich zu dieser Annahme kam, aber ich war mir sicher, dass dieser Mantel mir gehörte. Auf der Höhe meiner Hüfte befanden sich Schlaufen und als ich sie ertastete, schossen mir Bilder und Gefühle durch den Kopf; das Gefühl von scharfem Metall, kalt und poliert. Doch als ich die Augen wieder öffnete und an mir herabblickte war dort nichts zu sehen.

Bevor ich richtig darüber nachdenken konnte, hörte ich Schritte. Alarmiert schaute ich in die Richtung, aus der sie näher kamen und reflexartig schossen meine Hände an die Schlaufen- und griffen ins Leere. Verwirrt über meine eigene Handlung stand ich Sekunden da, bis ich erneut das polternde Geräusch hörte. Ohne großartig zu überlegen, was und vor allem warum es tat, sprang ich hinter die Tür des Wohnzimmers, wartete, bis die eintretende Person im Zimmer stand und riss sie dann ohne zu zögern von hinten zu Boden. Ehe diese schreien konnte, drehte ich sie herum, meine Rechte schnellte an die Gurgel, mit meinen Beinen drückte ich ihren Unterköper runter und meine Linke spannte ich zur Faust geballt an und ließ sie in der Luft ruhen.

Im dämmrigen Licht erkannte ich, dass es ein Mädchen war. Würgend und mit vor Schreck aufgerissenen Augen umklammerten ihre zierlichen Hände mein Handgelenk und versuchten, den Druck auf ihren Hals zu lindern.

Gerade als ich sie auf grausame Weise von ihren Schmerzen erlösen wollte, stieg mir erneut dieser süße Geruch in die Nase und plötzlich erkannte ich ihr Gesicht. Sie war das kleine Mädchen auf den Bildern, auch wenn ihre Züge nun weniger kindlich und im Moment auch weniger glücklich waren – ich war mir sicher, dass sie es war!

Wie aus einen Albtraum erwachend starrte ich sie an.

„Lass… lass mich bitte los…Ich… tue dir… nichts.“, würgte sie erstickt und zog noch kräftiger an meinem Arm. Erschrocken löste ich den tödlichen Griff und stolperte von ihr zurück.

Was hatte ich getan? , fragte ich mich selber mit wild pochenden Herzen. War ich wirklich bereit gewesen, dieses Mädchen zu töten?!

Hustend rappelte sie sich auf und schaute mich genauso verwirrt und ängstlich an, wie ich sie.

„Wer bist du?“, hauchte ich schwer atmend. Es dauerte eine Weile, bis sie mir antwortete. Sie hielt eine Hand an ihrem Hals und massierte diesen. Ich musste wirklich fest zugegriffen haben…

„Fin…ich meine- Finja“, sagte sie mit rasselnder Stimme. „Und du?“

Anstatt eine Antwort zu geben, wich ich ihrem Blick aus und schaute mich um.

„Was ist passiert? Wie bin ich hierher gekommen?“

Fin lächelte schief. „Wie wäre es, wenn du erst einmal meine Frage beantwortest.“, sagte sie vorsichtig- aber nicht vorsichtig genug.

Nein, kann ich nicht!“, fauchte ich wütend, dass sie zusammenzuckte. Eingeschüchtert von meinen eigenen Worten, schaute ich stumm zu Boden. Fins Blick ruhte auf mir und nach einigen Sekunden des Schweigens ergriff sie leise das Wort.

„Du warst bewusstlos, als ich dich fand. Ein Mann war bei dir und hat dich im strömenden Regen liegengelassen und mir gesagt, dass ich mich um dich kümmern soll.“

Gespannt, aber auch ungläubig lauschte ich ihren Worten.

„Ein Mann?“, murmelte ich und sie nickte. Langsam und vorsichtig rutsche sie näher an mich heran. Sie erzählte mir die Geschichte, von ihrer Begegnung mit dem unheimlichen Mann, bis hin zum jetzigen Zeitpunkt. Sie war sehr kleinlaut und Angst schwang in ihrer Stimme mit.

Nach eine kurzen Pause fragte sie dann: „Erinnerst du dich?“

Niedergeschlagen schüttelte ich den Kopf. Das alles hatte sich wie ein Krimi angehört und es tat mir unheimlich weh, dass sie mittendrin war. „Nein, nichts.“, seufzte ich, danach musste ich lachen und ich schaute ihr traurig ins Gesicht. „ Ich kenne ja nicht einmal meinen Namen…“ Fin war sichtlich verwirrt und kam dann noch näher, um eine Hand auf meine Schulter zu legen. Ich wollte wegschauen, doch ihre andere Hand schmiegte sich an meine Wange und zwang mich mit sanfter Gewalt sie direkt anzuschauen. Ihre grünen Augen flackerten vor Mitleid und Sorge.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen; ich hatte versucht, sie umzubringen…

Plötzlich verzog sich ihr Gesicht und sie runzelte die Stirn. Gerade, als ich fragen wollte, was los sei, fuhr auch ihre andere Hand an meine Stirn und schob mir die Haare zur Seite.

„Halt mal still…“, bat sie mich und sie ging noch näher an mein Gesicht, dass es mir unangenehm wurde. Vorsichtig, beinahe ängstlich fuhren ihre zarten Finger über meine Haut.

Auf einmal spürte ich einen stechenden Schmerz oberhalb meiner Schläfe, sodass ich zusammenzuckte. Im gleichen Augenblick flackerten erneut Bilder durch meinen Kopf und diesmal hörte ich sogar etwas.

Ich sah einen Mann in einen schwarzen Mantel gekleidet, der mich ausdruckslos anschaute und sich nicht bewegte. Dafür hörte ich mich selber hysterisch schreien. Ich schrie einen Namen, Flüche, Verwünschungen und flehende Sätze, die ich jedoch nicht ganz verstand. Nur den Namen dieses Mannes hörte ich klar und deutlich: Ares.

Eine neue Welle von Schmerzen, als würde ich bei lebendigem Leibe verbrannt werden, durchströmte mich und dann verschwanden die Bilder.

Erschrocken riss ich die Augen auf und befand mich wieder in Fins Wohnzimmer.

„Oh mein Gott…“, hörte ich sich murmeln.

„Was denn?“, fragte ich sie, doch sie stand nur stumm auf, zog mich in die Höhe und führte mich in ein Badezimmer. Das Licht hier war unangenehm grell und weiß. Kreidebleich schob sie mich vor den Spiegel. Die ersten Sekunden starrte ich nur erschrocken in mein Spiegelbild- es kam mir so vor, als schaute ich in das Gesicht eines Fremden - doch dann schob Fin mir die Haare aus der Stirn, sodass mein Augenmerk auf etwas anderes glitt:

Oberhalb der linken Schläfe erblickte ich eine münzgroße rötliche Stelle, die bei jeder Berührung schmerzte. Innerhalb dieser Stelle zeichneten sich, im Dreieck angeordnet, Einstichstellen von Nadeln oder ähnlichem ab. Auf meiner anderen Schläfe war die gleiche Wunde zu sehen. Während ich ungläubig in den Spiegel schaute, ging Fin nervös in dem kleinen Zimmer auf und ab.

„Weißt du, was das ist? Verbrennungen!“, informierte sie mich aufgebracht.

„Was hat der Typ nur mit dir gemacht?!“ Aufgelöst fuhr sie sich durch ihre langen, braunen Locken und murmelte irgendwelche Sachen vor sich hin. Ich schob meine Haare weiter nach hinten, um zu schauen, ob ich noch irgendwo anders am Kopf solche … Verbrennungen hatte, als mir etwas in meinem Nacken auffiel. Stirnrunzelnd verharrte ich.

„Fin? Kannst du mal gucken, was das ist?“

Ich spürte, wie sie sich an meinem Hals zu schaffen machte und dann, genau wie ich, stutze.

„Das… ist eine Tätowierung, glaube ich. Eine Zahlenfolge…“ Ungläubig zog ich eine Braue hoch. Fin wischte mit dem Daumen über eine Stelle meines Nackens und nickte.

„Ja eindeutig! Eine Tätowierung. Du hast einen komischen Geschmack, mein Lieber…“

„Lies vor…“

„Wie?“

„Lies die Zahlen vor.“ Schulterzuckend antwortete sie: „OK, also…. 9537648210… also ich erkenne da keinen Sinn raus.“ Sobald sie die Zahlenfolge ausgesprochen hatte, schrie erneut eine Stimme in meinem Kopf und wie in Trance sprach ich ihr leise nach:

„ ID Inhaber : Nero … Größe: 178 cm… Geburtsjahr: 1989… Mitglied seit: 1991…“

Stumm stand Fin hinter mir und starrte mich im Spiegel an. Verwirrt blinzelte ich mich selber an. „Was?!“, fragte sie.

Zögernd wiederholte ich den Satz und ihr Blick wurde noch ungläubiger.

„M- Moment… heißt das, du hast eine Identitätsnummer im Nacken eintätowiert?“

Ich zuckte unschuldig mit den Schultern. „Anscheinend ja.“, murmelte ich.

Sie schüttelte den Kopf und lachte. „Du kannst dir vollkommen sinnlose Zahlenreihenfolgen und ihre Bedeutung merken, aber deinen eigenen Namen kriegst du nicht auf die Reihe?!“ Erneut schüttelte sie den Kopf. Nun schaute ich sie direkt an.

„Glaubst du ich bin dieser… Nero?“ Fin hob die Hände und verzog das Gesicht. „Wahrscheinlich… Ich denke mal, dass du dir nicht die ID Nummer eines anderen in den Nacken stechen lässt oder?“

Dann fuhr sie sich wieder durch die Haare und stöhnte. „Gott, was soll ich nur machen? Ich versteh das alles nicht …Warum bist du hier? ... Woher kommst du? … Wer genau bist du?“ Sie starrte mich frustriert an und ich musste bitter schmunzeln. Soweit war ich auch schon gekommen….

Ich strecke ihr meine rechte Hand hin. „Ich bin … Nero.“ Was für eine dumme Geste, schalt mich etwas in meinem Kopf, doch ich empfand sie jetzt gerade angebracht. Nach kurzer Verwirrung ergriff Fin lachend meine Hand und schüttelte sie.

„Na, das ist doch wenigstens mal ein Anfang.“

Sie hatte ein angenehmes Lachen, das ich stundenlang hätte hören können und ich schwor mir, Fin so wenig wie möglich in diese Sache um meine Identität mit rein zuziehen, damit sie auch in Zukunft lachen konnte.

Ich seufzte. „Und was machen wir jetzt?“ In dem Moment meldete sich mein Magen so lautstark, dass ich rot anlief. Wieder lachte sie. „Ich sehe mal nach, was ich noch an Essbarem im Haus habe.“

Gedanken

Wenig später saßen wir wieder im Wohnzimmer am Esstisch. Ich hatte noch eine Konservendose mit Suppe aus dem Regen retten können, die Nero sich nun manierlich, aber doch sichtlich begierig einverleibte. Ich saß ihm schweigend gegenüber und beobachtete ihn.

Nero… ein wirklich ungewöhnlicher Name. Ich kannte diesen Namen nur aus dem Geschichtsunterricht und hatte sonst noch niemanden getroffen, der so hieß- bis jetzt.

Er bemerkte meinen Blick und schaute fragend von seinem Teller auf.

„Ist etwas?“ fragte er vorsichtig und deutete schnell auf seine dampfende Suppe. „Möchtest du? Ich esse dir so selbstverständlich etwas vor…“, sagte er leise und man sah ihm an, dass er sich schämte. Prompt lief ich rot an, schüttelte verlegen den Kopf und richtete meinen Blick auf etwas anderes.

„Nein, nein, alles in Ordnung. Iss ruhig- ist genug da“, murmelte ich und versuchte zu lächeln. Kurz darauf widmete er sich wieder zögernd seinem Essen. Vorsichtig schielte ich erneut zu ihm.

Gott, was war los mit mir? Ich konnte mich einfach nicht an ihm satt sehen… Er war einfach so… so wow. Lange überlegte ich hin und her, was ich jetzt machen sollte, ob ich ihn ansprechen sollte oder nicht und wenn doch, über was ich mit ihm reden sollte, bis er mir die Entscheidung abnahm.

„Wie sah dieser Mann eigentlich aus?“ Ich brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was er genau meinte.

„Der, der bei dir war? Nun… viel habe ich nicht erkannt. Er war ziemlich groß und war nicht gerade der Gepflegteste- Drei-Tage Bart, kantiges Gesicht … und kalte Augen.“ Bei diesen Erinnerungen lief es mir eisig den Rücken runter. Nero dachte einige Momente nach und fragte dann irgendwann: „Glaubst du, dass ich… zu ihm gehöre?“

Seine Stimme hatte etwas verachtendes, was ich ihm nicht verübeln konnte.

Ich verzog nachdenklich das Gesicht. „Vielleicht… Zumindest hatte er genau den gleichen Mantel an wie du.“, sagte ich und deutete auf Neros, den er immer noch trug. Darunter war er immer noch nackt, doch das schien ihn nicht weiter zu stören- im Gegensatz zu mir, denn es verlangte schon einiges an Beherrschung, nicht die ganze Zeit hinzustarren. Ich schwor mir, dass ich mich um dieses „Problem(chen)“ als nächstes kümmern würde.

Gedankenversunken schaute er an sich runter und strich über den Mantel. Ich sah ihm an, dass ihm diese Lösung der Frage nicht erfreute und ich versuchte ihn aufzumuntern.

„Aber vielleicht haben sie dich ja auch … entführt oder so und dir einfach irgendwelche Sachen angezogen.“, sagte ich schnell, doch im nächsten Moment schüttelte Nero den Kopf. „Nein.“, widersprach er leise. „ Das ist meiner – ich weiß es.“ Dann schaute er auf und sah mir direkt ins Gesicht. „Ich bin … oder war ein Mitglied von diesem Verein mit den Identitätsnummern – was auch immer dieser tut.“

Ich verzog das Gesicht. „ Na – Verein würde ich das nicht nennen.“ Ich versuchte schnell ein Lächeln, welches zu einer schiefen Grimasse mutierte. „Nichts gegen dich, aber … ich kenne keinen Sportverein, der so unheimlich herumläuft, sich ID- Nummern in den Nacken tätowieren lässt und mit… Schwertern Passanten bedroht.“

Nero murmelte etwas, von dem ich nur „umbringen“ verstand und schaute wieder nachdenklich auf seinen Teller. Ich hatte das Gefühl, dass ich lieber nicht nachfragen sollte. Dann schob er mir den Teller entgegen.

„Danke, aber ich habe keinen Hunger mehr.“, nuschelte er. Ich nickte nur und brachte den Teller in meine Küche. Dort verharrte ich kurz und schaute durch die offene Tür zurück ins Wohnzimmer. Von hier aus konnte ich ihn sehen, wie er allein am Tisch saß und sichtlich versuchte, sich an etwas zu erinnern.

Eins war mir klar- auch wenn ich es zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau wusste, aber er konnte keine schöne Vergangenheit gehabt haben. Ich stellte das Geschirr in das Waschbecken und schlenderte zurück. Irgendetwas musste es doch geben, was ich tun konnte. Ein Mensch hinterlässt immer eine Spur- das hörte man doch in jedem Krimi! Nero quälte sich mit diesem Unwissen und ich wollte ihn nicht leiden sehen.

Kümmere dich um ihn… und das hatte ich auch vor! Ich fasste für mich einen Entschluss und schwor mir, ihn bis zum Ende durchzuführen.

Als ich wieder im Wohnzimmer war, schaute Nero nicht einmal auf. Erst als ich ihn ansprach, sprang er regelrecht vom Stuhl und starrte mich verschreckt an. Ich lächelte leicht, um ihn zu beruhigen. „Es ist schon spät. Morgen sehen wir weiter, okay?“

Er nickte und ich legte ihm die Decken, die noch vor dem Kamin lagen, auf das große Sofa. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt und die schwarz-graue Asche glühte nur noch leicht. Ich warf einen Holzscheitel in die Glut, wünschte Nero eine gute Nacht und wollte selber ins Bett gehen, als ich seine Stimme noch einmal hörte.

„Fin?“ Ich blieb im Türrahmen stehen und schaute zurück. Der Sofarücken verbarg ihn.

„Ja?“

Er antwortete nicht gleich. „Warum tust du das alles für mich? Ich … ich glaube, ich bin gefährlich.“

Ich seufzte. Ja, irgendwie schon, dachte ich. Aber das war mir egal.

„Ich will dir einfach helfen.“

Ich schwieg und wartete ab. Es war nicht gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass er mir Leid tat oder noch schlimmer- dass ich ihn einfach mal fröhlich sehen wollte, weil ich glaubte, dass er mit einem Lächeln umwerfend aussieht, dass ich ihn nur bei mir haben wollte…

Es dauerte, aber dann hörte ich ein gehauchtes „Danke“ und ich drehte mich wieder meinem Zimmer zu, als mich plötzlich Gewissenbisse quälten.

Gott, ich war ein verdammter Egoist und er bedankte sich auch noch für mein eigennütziges Vorhaben! Abrupt blieb ich stehen und guckte noch einmal zurück.

„Nero?“ Keine Antwort.

Verdutzt zog ich die Brauen hoch und wartete. Doch bevor ich erneut nachfragen konnte, hörte ich ein leises Schnarchen. Auf Zehenspitzen schlich ich zurück, lugte vorsichtig über das Sofa und musste grinsen.

Nero war eingeschlafen. Das ging aber schnell, staunte ich und legte meinen Kopf auf meinen, auf die Sofalehne gelegten Armen ab. Wieder ertappte ich mich dabei, wie ich ihn verträumt beim Schlafen betrachtete und rief mich in Gedanken wütend zur Ordnung.

Kopfschüttelnd ging ich in mein Zimmer, zog mir meine Schlafsachen an (bei dem Gedanken, dass Nero zurzeit so etwas nicht besaß, wurde mir wieder ganz anders…) und kroch unter meine Bettdecke.

Ich träumte.

Von großen, schwarzen Männern, die mich wegzerrten und einsperren wollten. Doch zum Glück kam mein leicht bekleideter Retter mit einem riesigen Schwert an und befreite mich. Danach gingen wir durch den Regen, es war bitterkalt, doch er drückte mich ganz fest an sich, sodass ich nicht fror. Ich genoss die Wärme in vollen Zügen. Dann küsste er mein Haar und mich durchlief ein Schauer.

„Ich bin gefährlich, Fin.“, hauchte er plötzlich ungewöhnlich tief und der Druck seiner Arme nahm schlagartig zu. Entsetzt starrte ich ihm ins Gesicht und erkannte das kantige, viel ältere Gesicht von meinem und seinem Peiniger.

Ich wand mich in seinem Griff und rief verzweifelt Neros Namen.

Doch nichts half.

Die Warnung des Mannes echote durch die Luft- keine Polizei.

Ich fing an zu weinen und schrie nur noch heftiger nach Nero. Unsere Umgebung fing Feuer, alles brannte, der Mann zog auf einmal sein Schwert, das nur noch unheimlicher in dem Glanz der Flammen rötlich schimmerte.

Er holte aus und dann…

Dann schreckte ich auf. Schwer atmend lag ich in meinem Bett, Schweißperlen auf meiner Stirn und die linke Hand in mein Bettlacken verkrallt, während meine Rechte meinen Hals umschloss. Mein Herz zersprang beinahe in meiner Brust und wollte sich nicht beruhigen. Nach Stunden – so kam es mir zumindest vor- hatte ich mich wieder einigermaßen gefasst, sodass ich aufstehen konnte, ohne gleich zusammenzusacken.

Ich versuchte an nichts zu denken, nicht an Nero, nicht an den Traum, nicht daran, wie spät oder welcher Tag heute war – an gar nichts, denn ich befürchtete, dass die Bilder wieder zurückkommen würden. Ich hockte reglos auf meiner Bettkante, die Hände um meinen Nacken gelegt, bis ich irgendwann das Zwitschern der Vögel hörte.

Nachforschungen

Als ich an diesem Morgen erwachte, hörte ich das dumpfe Dröhnen von Autos und das muntere Plaudern von Menschen, die sich auf den Straßen unterhielten. Sonnenstrahlen schienen ins Wohnzimmer und mir ins Gesicht, sodass ich noch mit geschlossenen Augen liegen blieb und die Wärme genoss.

„Frühstück?“

Erschrocken schlug ich die Augen auf und erblickte Fins strahlendes Gesicht, samt leuchtenden Augen, direkt über meinem.

Verdutzt starrte ich sie an und bekam keinen Ton raus. Sie hatte sich über das Sofa gebeugt und grinste mich frech an. Fin trug eine helle Bluse und einen karierten Faltenrock, der sie wie ein Schulmädchen aussehen ließ und sie hatte ihre langen braunen Haare zu einem Dutt zusammengebunden, aus dem einige Strähnen heraushingen.

Mein Puls ging schneller.

Sie lachte, richtete sich wieder auf und ging um das Sofa herum zum Esstisch. Mit verwirrtem Blick schaute ich ihr nach.

„Ich dachte mir, du könntest Hunger haben.“, sagte sie in einem lockeren Plauderton, setzte sich an den Tisch und winkte mich zu ihr. Ich schaute verblüfft auf den großzügig gedeckten Tisch. Große Kannen Milch und Tee standen dort, Wurst, Käse, etliche Marmeladensorten, Honig und ein Berg von Brötchen. Erstaunt zog ich die Brauen hoch.

„Erwartest du ´ne Fußballmannschaft?“

Wieder lachte sie und zog mit einer Unschuldsmiene die Schultern hoch. „Ich wusste doch nicht, was du magst.“, antwortete sie und griff nach einem Vollkornbrötchen. Seufzend stand ich auf und angelte nach dem Mantel, der neben dem Sofa lag.

Wenn ich ehrlich war, hatte ich überhaupt keinen Appetit. Gemütlich schlenderte ich zu ihr und fuhr mir durchs Haar, als sie plötzlich in ihrer Bewegung, ihr Brot aufzuschneiden, verharrte und mir auf die Brust starrte.

Ich blieb stehen, schaute an mir herunter und schlang mir räuspernd meinen Mantel um meinen nackten Oberkörper. Ich spürte, wie mir heiß wurde. Verlegen schaute Fin wieder auf ihr Brötchen und schmierte sich Butter drauf. Schweigend setzte ich mich und nahm mir auch eins.

„Und? Gut geschlafen?“, fragte ich irgendwann, um die Stille zu durchbrechen.

Sie schaute hektisch auf und schaute mich erst einige Sekunden verwirrt an, bevor sie mir mit einem leichten Lächeln antwortete.

„Ja, ja … ganz gut. Und du?“ Ich zuckte die Schultern. „Es war auf jeden Fall bequemer als der Fußboden.“

Als ich ihr nun ins Gesicht schaute, hatte sie wieder ihr strahlendes Lächeln auf den Lippen und mir war leichter ums Herz.

Auf einmal hob Fin die Hand und deutete mir, dass ich warten solle, als sie im nächsten Moment aufstand und noch kauend eine Tüte aus dem Nebenzimmer holte.

„Hier. Ich hoffe sie passen dir.“ Sie reichte mir ein schlichtes, langärmliges Hemd und eine Jeans, samt Socken und einfachen Schuhen. Zögernd nahm ich die Sachen entgegen.

„Die hast du doch etwa nicht extra gekauft oder?“, fragte ich etwas irritiert. Sie schüttelte den Kopf.

„Der Sohn einer Nachbarin hat sie mir gegeben.“

Misstrauisch zog ich die Brauen hoch.

„Einfach so?“ Fin lächelte verlegen und winkte ab. „ Ich hab ihr erzählt, dass mein Cousin zu Besuch sei und keine warme Kleidung mitgenommen habe. Du kommst aus Frankreich.“, fügte sie hinzu, als ich sie noch ungläubiger anschaute. Ich nickte verstehend.

„Isch bin also dein Cousin, ´m?“, sagte ich mit stark übertriebenem Akzent, sodass Fin lauthals lachen musste. Ich würde mich an diesem Lachen wohl nie satt hören…

Nachdem wir unser Frühstück beendet hatten, ging ich kurz ins Badezimmer, wusch mich und zog mir die Klamotten an. Sie passten.

Fin erwartete mich schon mit interessiertem Blick und ich musste mich erst ein paar Mal um mich selbst drehen, bevor sie mit einem zufriedenen Nicken sagte: „Ja, so kann man mit dir vor die Tür gehen.“

Dann ging sie zu der Eingangstür und zog sich dort ein Paar Stiefel an.

Mit fragendem Blick folgte ich ihr. „Willst du weg?“

Fin nickte und machte sich daran, einen hellen Mantel anzuziehen. Sie zog sich die langen Haare, die sie in der Zwischenzeit wieder offen trug, aus ihrer Jacke, als sie sich grinsend zu mir drehte. „Ich hab mir ein paar Gedanken gemacht. Über dich. Und über diesen komischen Verein, in dem du anscheinend bist.“

Das letzte klang etwas abwerteten, aber ich konnte es ihr nicht übel nehmen.

„Es gibt bestimmt Seiten und Informationen darüber im Internet.“ Ich nickte verstehend. „Und das willst du jetzt überprüfen.“, stellte ich fest, aber Fin schüttelte den Kopf.

„Nicht ich … wir.“ Und mit diesen Worten warf sie mir ebenfalls eine Jacke zu und zog mich, ehe ich nachfragen konnte, was sie denn jetzt vorhabe, am Arm vor die Tür.
 

Es war ein kleines Städtchen, in dem Fin lebte – obwohl es Dorf eher treffen würde. Verträumte kleine Straßen, gesäumt von riesigen alten Bäumen, die jetzt Anfang Herbst ihre Blätter verloren und das Laub, als würde es regnen, durch die Luft flog und flächendeckend auf den Wegen lag. Und uns kamen fast nur alte Leute entgegen … Fin erzählte mir, dass sich hier jeder kannte und wie zum Beweis mussten wir fast alle zwei Minuten stehen bleiben und eine alte Dame nach der anderen begrüßen- und mich immer als den Cousin aus Frankreich vorstellen. Zu meiner Verwunderung kaufte uns jeder diese Lüge ab. Man freute sich für Fin, dass sie mal wieder Besuch von ihrer Familie bekam, fragte mich Sachen über meine Herkunft und was ich denn so täte. Meistens antwortete Fin für mich und ich beschränkte mich auf ein beipflichtendes Nicken. Nach 15 Minuten Fußweg und ungefähr 20 Unterhaltungen später (ich konnte inzwischen schon mit perfekten französischem Akzent „Ich freue mich, endlich meine geliebte Cousine wieder zu sehen“ sagen…), erreichten wir den Kern der Stadt. Die Häuser, die hier standen, sahen sehr alt aus. Die Fassaden hätten schon seit etlichen Jahren einen neuen Anstrich und reichlich Putz gebraucht und die Häuser an sich standen etwas schief aneinander gelehnt. Aufgeregt erzählte Fin mir Geschichten über verschiedene Häuser und Straßen und schlenderte mit mir weiter. Wir kamen an Lebensmittelmärkten, Kleider- und Schuhgeschäften und Zeitschriftenläden vorbei. Ich entdeckte sogar einen Friseur – alles klein und unauffällig gehalten, aber ich hatte den Eindruck, dass man in diesem Dorf überleben konnte und es an nicht all zu viel fehlte.

„Sag mal… warum gibt es denn so viele alte Leute hier?“, fragte ich irgendwann leise, nachdem wir zum x-ten Mal einem alten Ehepaar klar machen mussten, dass ich Fins Cousin war und nicht ihr Freund oder Verlobter (Obwohl ich zugeben musste, dass ich gegen diese Lüge nichts gehabt hätte- wäre mal eine Abwechslung gewesen…).

Fin antwortete in normaler Lautstärke. „ Das hier ist eine sehr alte Stadt. Es ist eine der wenigen, die damals nicht vom Krieg zerstört wurde. Die meisten sind hier groß geworden und hängen sehr an ihr. Außerdem gibt es hier nicht sehr viele Möglichkeiten für junge Leute eine Ausbildung anzufangen oder zu arbeiten- außer man möchte in dem Laden von Opa und Oma aushelfen.“, fügte sie schmunzelnd hinzu. Ich runzelte die Stirn.

„Und warum bist du dann hier?“

Sie schwieg lange und schaute zu Boden.

„Ich hänge an den Leuten hier. Sie haben mir immer geholfen, wenn ich etwas brauchte und wenn ich Fragen hatte, konnte ich zu ihnen gehen.“ Sie schaute mich an, aber ich konnte ihren Blick nicht deuten. „Sie sind… sozusagen meine Familie.“

Mir lag eine Frage auf der Zunge und ich spielte lange mit dem Gedanken, sie auszusprechen, schluckte sie dann jedoch runter. Fin schaute mich immer noch so an, als wüsste sie, was mir durch den Kopf ging. Als ich sie dann fragend anschaute, schüttelte sie den Kopf und zog mich weiter. Hatte sie etwa … erleichtert ausgesehen? Oder gar dankbar?

„Da vorne ist unser Internetcafe.“, sagte sie munter und deutete auf ein größeres Haus mit einem großen Schild über dem Eingang.

Die zu meinem Erstaunen junge Angestellte grüßend, schloss Fin die Tür hinter sich und fing ein lockeres Gespräch mit ihr an. Die Frau, vielleicht Ende 20, nickte mir flüchtig zu und plauderte mit Fin weiter über das Wetter und gab ihr nebenbei eine Karte für einen PC. Etwas verwundert darüber, dass ich mal zur Abwechslung meinen einstudierten Satz nicht aufsagen musste, folgte ich Fin zu unserem Computer. Das Cafe war nicht gut besucht, aber auch nicht vollkommen leer. Ein paar Tische weiter saß ein älterer Herr, der sich die Brille von der Nase geschoben und sich so weit zum Bildschirm gebeugt hatte, dass er beinahe mit der Nasenspitze diesen berührte und angestrengt versuchte, die Zeichen darauf zu entziffern. Belustigt sah ich ihm eine Weile zu, bis die junge Frau kam und ihm lautstark den Fahrplan von einem Bus vorlas.

Inzwischen hatte auch Fin das Internet hochgefahren und rief ein Suchprogramm auf.

„Dann mal los.“, sagte sie und tippte mit flinken Fingern meinen Namen ein. „Darf ich noch mal deine Nummer sehen?“, fragte sie mich dann.

9537648210.“, antwortete ich sofort. Erstaunt sah sie mich an. „Du hast aber ein gutes Gedächtnis...“, bemerkte sie anerkennend und tippte die Zahlen ein. Ich war ungefähr genau so verwundert, wie sie. Ich musste nicht groß nachdenken, um mich an die Zahlenkombination, die ich bis jetzt nicht einmal gesehen hatte, zu erinnern. Fin gab die Bestätigung für die Suche und das Programm startete. Im Nu spuckte es etliche Seiten aus. Über den geschichtlichen Nero, der Rom niedergebrannt hatte, Artikelnummern, die die Zahlenfolge auch nur ansatzweise beinhalteten und andere nutzlose Treffer.

„Nichts.“, bestätigte Fin enttäuscht.

„Wäre ja auch zu einfach gewesen oder?“, fragte ich und bekam nur einen beleidigten Blick ihrerseits an den Kopf geschmissen. „OK, versuchen wir doch einfach deinen gesamten Steckbrief…“

Wieder nichts. Diesmal wurde sogar eine Singlebörse angegeben, dessen Fenster Fin mit einem wütenden Schnaufen wieder schloss und erneut auf die Tastatur einhieb. Mit ungläubigem Blick schaute ich auf das Eingabefenster. >Freaks in schwarzen Mänteln und Waffen<

„Glaubst du wirklich, damit finden wir etwas?“

Fin antwortete mir erst gar nicht, sondern gab nur mit einem mürrischen Brummen den Suchbefehl. Ich seufzte und ließ sie gewähren.

Zu meiner Verwunderung spuckte der PC echt Seitenvorschläge aus.

Die ersten Treffer waren, wie zu erwarten, nicht zu gebrauchen- Leseproben für irgendwelche schlechten Krimis, Internetkataloge, bis hin zu Homepages von Gothikgemeinschaften.

Fin war schon das ganze Fenster mit der Maus abgefahren, als uns gleichzeitig ein Link zu einem Zeitungsartikel in die Augen sprang. Stumm öffnete sie das Fenster und wir lasen die ersten Zeilen:
 

Brand in der Landesdatenbank- unbekannte Täter immer noch nicht gefasst

Fin blinzelte und sog die Luft scharf ein. „Davon hab ich vor kurzem im Fernseher etwas gesehen…“, murmelte sie aufgeregt, danach verstummte sie und ich konnte aus den Augenwinkeln beobachten, wie ihre Augen über die Zeilen huschten.

Mittwoch, der 23. Sept.: In der vergangenen Nacht sind mehrere Leute in das Gebäude der Regierung eingedrungen. In dem Gebäude wurden die wichtigsten Daten des Landes gesammelt und archiviert. Danach haben sie das Gebäude in Brand gesteckt und sind geflohen. Bis jetzt ist noch nicht bekannt, ob sie etwas entwendet haben, die Spurensicherung geht aber stark davon aus. Die Täter nahmen eine Angestellte, die sich als Letzte noch in dem Gebäude aufgehalten hatte, zur Geisel, gaben sich jedoch ihr nicht zu erkennen.

„Ich habe nur zwei gesehen, aber ich bin mir sicher, dass sie mehr waren.“, berichtet die 26-jährige. „Ich konnte sie nicht genau erkennen, es war sehr dunkel und diese >Freaks< haben schwarze Mäntel getragen, aber das ist ja heute nichts Besonderes… Mich haben sie jedoch mit ihren komischen Waffen fast zu Tode erschreckt. Ich hatte panische Angst…“

Die junge Frau ist die einzige Augenzeugin. Obwohl eine Vergewaltigung oder eine Misshandlung ausgeschlossen werden können, haben die Ärzte sie als „verwirrt und zur Zeit nicht zurechnungsfähig“ eingeschätzt. „Es ist uns schon vorher bekannt gewesen, dass sie in früher Kindheit wegen gewisser Ereignisse unter Wahnvorstellungen gelitten hat.“, so ihr Arbeitsgeber und Leiter der Datenverwaltung der Regierung, Herr …
 

Ich las nicht weiter. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken runter. Bei dem Artikel war ein Bild beigefügt worden, dass zum einen ein ausgebranntes Gebäude zeigte und daneben das Bild einer jungen Frau in förmlichen Kleidern. Sie lächelte freundlich, doch ich sah in diesem Moment nur ihr verweintes Gesicht, wie sie ein Stück Stoff im Mund hatte und mich mit zerzausten Haaren und eingerissnen Kleiden panisch anstarrte. Und plötzlich erhob sich aus dem niedergebrannten Dachgeschoss und den verrußten Fassaden des anderen Bildes ein neues Haus- riesig, mit etlichen Etagen, ragte es in den dunklen Nachthimmel, pechschwarz, nur schwach vom Mond angestrahlt und die wenigen Räume, in denen Licht brannte, sahen wie schaurige, glühende Augen aus. Ich kniff die Augen zu und versuchte die Bilder aus meinem Kopf zu kriegen, aber sie waren da- als hätten sie sich in mein Hirn eingebrannt. Ich spürte, wie mir jemand eine Hand auf die Schulter legte.

„Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?“ Besorgt schaute mir Fin ins Gesicht. Und dann zog sie die Brauen hoch.

„Kannst du dich erinnern?“, fragte sie mit hoffnungsvoller Stimme. Ich nickte, schüttelte aber sofort den Kopf. Sie seufzte und strich mir über den Rücken, was mich noch mehr erzittern ließ. Sie zog den Balken des Fensters bis zum Ende des Artikels. Dort war der Verweis auf ein Forum zu dem Thema und Fin öffnete diesen Link. Ich registrierte den Text nicht sofort, da ich noch immer damit beschäftigt war, die Erinnerungen aus meinem Kopf zu kriegen. Erst als mich Fin nervös am Ärmel zupfte und zum Bildschirm deutete, wurde ich wieder aufmerksamer.
 

Boss23: Unglaublich, diese ganze Geschichte… Da schaffen es ernsthaft ein paar Typen in ein Regierungsgebäude(!) einzubrechen, wieder rauszumarschieren, das Ding auch noch in Brand zu stecken und dann ohne irgendwelche Hinweise spurlos zu verschwinden! Wenn ihr mich fragt ist die Regierung selbst schuld- solche wichtigen Daten auf einem Haufen zu sammeln und dann noch so dumm zu sein und kein vernünftiges Personal einzustellen. (20:30)
 

Bücherwurm: Ja- ich bin ganz deiner Meinung … die Frau tut mir schrecklich Leid. Sie hat so viel durchgemacht und dann glaubt man ihr nicht einmal.(20:53)
 

Boss32: Tust du das etwa?! Also ich kann der Tante nicht ganz glauben … Männer in schwarzen Mänteln und … komischen Waffen. (21:30)
 

Bücherwurm: Ich hab in einem andren Bericht gelesen, dass sie Schwerter hatten. (21:59)
 

Fin und ich schauten uns an. In ihren Augen blitze es und schnell scrollte sie weiter runter:
 

Boss32: Ja hab ich auch gelesen. Also das kann man doch nicht ernst nehmen. Die steht unter Schock- versteh ich ja, aber das ist unmöglich…(22:12)
 

Mystik: Warum ist das nicht möglich? Ich für meinen Teil glaube ihr und ich hab auch schon eine Vermutung, wen sie gesehen hat!(2:03)
 

Boss32: Oho, wir haben eine Hobbydetektivin unter uns…(14:22)
 

Bücherwurm: Ach, halt den Mund Boss32 … was meinst du damit- du weißt, wer der Brandstifter ist?(18:30)
 

Mystik: Es ist nur eine Vermutung. Ich habe von einer Organisation gehört, auf die die Beschreibung der Zeugin passt. Schwarze Mäntel, Schwerter… Es soll eine Organisation geben, die in der Untergrund- Szene sehr bekannt und schon öfter ins Visier der Regierung geraten ist.(23:36)
 

Boss32: Organisation, hm? Für mich klingt das stark nach Sekte… Normale Menschen laufen nicht mit Schwertern rum. Auf so etwas kommen nur kranke Typen, die mental nicht ganz auf der Höhe sind.(1:33)
 

Mystik: „Mafia“ würde es eher treffen.(2:04)
 

Boss32: Nenn sie, wie du willst. Für mich gehören sie in die Klapse.(2:48)
 

Bücherwurm: Das hört sich ziemlich gefährlich und abenteuerlich an, da stimm ich Boss zu. Woher hast du die Infos?(15:57)
 

Mystik: Das ist mein kleines Geheimnis. Die hab ich von einer geschützten Seite. Hat ganz schön lange gedauert, bis ich die gehackt gekriegt hab.(20:45)
 

Bücherwurm: Wie bitte ?!(21:36)
 

Boss32: Cool schick mal den Link.(21:55)
 

Mystik: Nee das mach ich nicht…Wie gesagt- mein Geheimnis. (22:05)
 

Boss32: Mann… Is´ aber nicht grad sozial von dir.(22:13)
 

Mystik: Tja und ich weiß sogar, was sie gestohlen haben! (22:51)
 

Boss32: Echt?! Was denn?(23:36)
 

Mir schlug das Herz bis zum Hals und auch Fin neben mir sah man die Anspannung an.

„Glaubst du, das ist es?“, hauchte sie und starrte auf die letzten Zeilen. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken. Sollte ich in wenigen Minuten wirklich ein paar Informationen über meine Vergangenheit erhalten? „Mafia“ würde es eher treffen…gehörte ich tatsächlich zu diesen gesuchten Tätern? Dieser … Mafia? Und was haben sie gestohlen??

„Vielleicht.“, antwortete ich ihr genauso leise.

Die Seite war zu Ende und Fin öffnete die nächste. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag.

Doch dann stutze ich. Die nächste Nachricht in diesem Forum wurde 3 Tage später geschrieben- und es war nicht das, was ich so sehnlichst erwartet habe…
 

Boss32: Hey, Mystik! Was ist los? Wo bleiben die Infos? Erst groß Reden schwingen und dann nix rausrücken… (22:54)
 

Bücherwurm: Wo bist du Mystik? (23:00)
 

Enttäuscht lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. Na toll. Wahrscheinlich hat diese Mystik doch nichts herausgefunden oder will ihr Wissen nicht teilen…

In dem Moment fiel mir in den Augenwinkeln eine Bewegung auf. Fast in unserem Rücken saßen zwei Männer in Anzügen und Sonnenbrille und schauten auf einen Laptop, der auf dem Tisch vor ihnen stand und mit einem der PCs verbunden war. Ich runzelte die Stirn. Komische Vögel.

„Nero… Schau mal.“, sagte Fin und zeigte mit dem Pfeil der Maus auf den letzten Beitrag in dem Forum:
 

Der Inhalt der Message vom 26.Sept. um 23:06 wurde gelöscht.

Ihr Chatpartner >Mystik< hat sich von dieser Plattform abgemeldet.

Absender: Unbekannt
 

Ich erstarrte. Was hatte das zu bedeuten? Und plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Instinktiv fuhr mein Kopf in die Höhe und ich suchte die zwei Männer mit den Augen. Zögernd folgte Fin meinem Blick. Die beiden Männer schauten immer noch auf ihren Laptop.

„W- was ist denn los, Ne-…“ Schnell legte ich meinen Finger an die Lippen und sie verstummte. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Diese Typen passten nicht in dieses verschlafene Städtchen. Und die Tatsache, dass sie in einem Internetcafe sitzen und ihren eigenen Laptop mitnahmen, um sich mit diesem in einen Computer einzulogen, kam mir sehr verdächtig vor. Mein Herz schlug wieder spürbar schneller. Und nun trafen sich unsere Blicke. Einer der Männer lächelte grimmig. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, doch ich konnte mich beherrschen und schaute wieder zurück auf unseren Computer.

„Mach den PC aus.“ Fin schaute mich verdutzt an.

„Tu ´s einfach.“ Zum Glück gehorchte sie. Sobald unser Bildschirm schwarz geworden war, zog ich sie langsam in die Höhe und ging mit ihr zum Ausgang. Sie guckte verwirrt, aber sie war Gott sei Dank still. Eine knappe Verabschiedung zu der Angestellten und schon waren wir draußen. Als wir um die nächste Ecke gebogen waren, zog ich so abrupt das Tempo an, dass Fin hinter mir erschrocken Luft holte.

„N- Nero, was hast du?” Ich antwortete nicht sofort, sondern warf erst einen Blick über die Schulter. In ungefähr 100 Meter Entfernung gingen die zwei Männer. Ich biss mir auf die Lippen. Verdammt…

„Wir werden verfolgt.“, antwortete ich Fin und ging noch schneller. Sie stieß einen Laut des Erschreckens aus.

„Dreh dich nicht um!“, rief ich und im nächsten Moment sagte Fin kleinlaut: „Nein… t- tu ich nicht.“ Sie holte auf und ging nun neben mir. Sie sah eingeschüchtert aus. Ohne groß drüber nachzudenken, legte ich ihr den Arm um die Schultern.„Wir müssen uns verstecken.“

Fin nickte. Sie schien gefasst zu sein und das beruhigte mich. „Ich hab eine Zentralverriegelung zu Hause. Da kommt keiner rein.“

„Nein, nicht nach Hause. Irgendwo anders…“

Fin starrte für Momente auf den Boden und schien zu überlegen. Dann nickte sie energisch und bog sofort in die nächste Seitenstraße.

Hinweise

Der Park- das war das erste, was mir in den Sinn gekommen war…

Es war Samstagnachmittag und um diese Uhrzeit war die kleine angrenzende Grünanlage des anderen Viertels gut gefüllt. Bis dahin mussten wir zwar ein gutes Stück laufen, aber wir hatten Glück und konnten unseren Vorsprung zu unseren Verfolgern ausbauen. Nero hielt mich die ganze Zeit im Arm, den Blick starr nach vorne gerichtet. Ich hatte leichte Schwierigkeiten, mit seinen ausfallenden Schritten mitzuhalten und deshalb flüsterte ich ihm kleine Wegweisungen zu und ließ mich von ihm mitziehen.

Viele Mütter und vor allem die kleinen Kinder schauten uns verdutzt an, als wir nun auf den großen Spielplatz zusteuerten und quer durch den Sandkasten stapften. Ich lief nun vorne weg und schaute mich immer öfter um, aber zum Glück war von den beiden Männern nichts zu sehen.

Mitten im Sand stand ein riesiges hölzernes Gebäude mit mehreren Etagen und etlichen Rutschen. Als kleines Kind war ich oft hierher gekommen. Schnell krabbelte ich in eine der Öffnungen und kauerte mich zusammen, damit auch Nero Platz hatte. Es war ein niedriger Raum mit einem Ausgang, der nur schwer einsehbar war- das hoffte ich zumindest. Wenige Sekunden später hockte Nero neben mir, schaute kurz nach draußen und mir dann ins Gesicht.

„Glaubst du, hier sind wir sicher?“, schnaufte er. Ihm standen Schweißperlen auf der gerunzelten Stirn. Ich nickte nur; zum Sprechen fehlte mir die Luft.

„Was macht ihr hier drin?“

Das kleine Mädchen tauchte so plötzlich am Eingang auf, dass ich erschrocken aufschrie, Nero alarmiert in die Höhe fuhr und mit der Decke kollidierte. Fluchend und den Hinterkopf massierend, setzte er sich wieder neben mich. Mein Herz raste und ich hielt mir eine Hand darauf, um zu verhindern, dass es aus meinem Brustkorb sprang. Das Mädchen kicherte.

„Spielt ihr Verstecken?“

Sie grinste und entblößte uns ihr lückenreiches Gebiss. Verwirrt starrten Nero und ich uns an.

„J- ja… das tun wir.“, sagte ich und ihr Lächeln wurde noch breiter.

„Darf ich mitspielen?“

Nero setzte gereizt zur Antwort an, doch ich kam ihm schnell zuvor.

„Nein, Kleines, tut mir Leid.“, sagte ich mit liebevoller Stimme. Das Mädchen guckte traurig zu Boden. „Aber tust du mir einen Gefallen?“

Die Kleine schaute mich fragend an. Ein Lächeln lag wieder auf ihren Lippen. „Verrate bitte niemandem unser Versteck, ja? Wenn wir gewinnen, darfst du die nächste Runde mitspielen, ok?“ Das Mädchen nickte heftig und verschwand wieder. Seufzend lehne sich Nero an die Wand und rieb sich weiter seinen Hinterkopf.

„Na wenn das mal gut geht…“ Ich nickte. Wir konnten nur beten, dass die Kleine dicht hält und niemand uns hier findet.

„Wer waren diese Leute? Und warum hat man uns jetzt verfolgt?“, fragte ich. Nero schaute mich ernst an.

„ Ich vermute mal, dass das Leute von der Regierung waren.“

Meine Augen weiteten sich.

„Von der Regierung?!“ Er nickte. Ich schaute zu Boden. Ohne eine Frage gestellt zu haben, fuhr Nero fort. „Diese Mystik aus dem Chatroom… Ihre Nachricht wurde nicht ohne Grund gelöscht.“

Wieder nickte ich. „Ja, sie hat schließlich eine Seite gehackt. Das ist strafbar.“

Nero schüttelte den Kopf. „Natürlich, aber das ist glaube ich nicht der Hauptgrund… Sie hat den Link schließlich nicht verschickt, sondern nur erwähnt. Es hätte also gereicht, sie von der Plattform zu werfen. Aber es wurde auch noch zusätzlich ihre letzte Nachricht gelöscht- nur die letzte…“ Ich wurde nachdenklich. Er hatte Recht, warum haben die Leute der Plattform das getan? Oder waren es gar nicht…?

Ich starrte ihn an. „Glaubst du etwa…?“

„Sie hatte Informationen darüber, was gestohlen wurde. Sie wusste sowieso ziemlich viel. Vermutlich sind die Typen von dieser Organisation dahinter gekommen oder- und das befürchte ich noch eher- die Regierung…“

Ich riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Konnte Nero Recht haben? Dann waren also auch die Leute, die uns verfolgten, von der Regierung geschickt worden? Mein Herz schlug schneller. „Aber wie sind sie auf uns gekommen?“

Nero antwortete nicht sofort, sondern schaute auf die gegenüberliegende Wand. Draußen schrieen die Kinder, einige Mütter waren zu hören, die nach ihren eigenen riefen. Es begann zu dämmern.

„Durch mich …“, sagte Nero dann irgendwann. Ich öffnete den Mund, suchte noch nach Worten, um ihn von dieser unsinnigen Idee abzubringen, doch er fuhr schon fort. „Ich gehöre zu dieser… dieser Mafia. Du hast selbst gelesen, wie die Augenzeugin sie beschrieben hat- du hast sie gesehen. Und ich kann mich an diese Frau erinnern, dass sie tatsächlich Angst hatte. Ich kann mich an das Gebäude erinnern. Ich war da, Fin.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das ist immer noch kein Beweis dafür, dass du am Überfall beteiligt warst. Natürlich hast du das Gebäude gesehen- irgendwann mal. Das hat schon jeder! Und auch ich konnte mir bildlich vorstellen, was für Qualen diese junge Frau durchgemacht haben muss… Das beweist gar nichts.“, flüsterte ich und legte meine Hand auf seinen Unterarm, den er sofort wegzog. Er schaute mich immer noch nicht an.

„Nein, das war keine Phantasie.“ Schweigen…

Nach Minuten setzte Nero wieder an. „Mystik hat gesagt, dass diese Mafia schon oft der Regierung aufgefallen war…“

Wut stieg in mir auf und ich schüttelte heftig mit dem Kopf. „Verdammt, nun glaub doch nicht alles, was diese doofe Kuh geschrieben hat!“

Doch Nero ignorierte mich. „Sie haben bestimmt eine Datenbank über ihre Mitglieder oder so etwas in der Art.“

„Nero, du hörst die Flöhe husten…“

„Und warum haben uns diese Typen dann verfolgt?!“, fuhr er mich an. Entsetzt über diese plötzliche Wut in Neros Stimme, starrte ich ihn an. Ich antwortete nichts. Er fuhr sich verzweifelt durch sein schwarzes Haar, zog die Beine an und verbarg sein Gesicht in seinen Armen. „Ich bin ein Dieb… Ein verdammter Mistkerl, der Geiseln nimmt und Häuser in Brand setzt.“

Vorsichtig legte ich meine Arme um ihn und streichelte ihm über den Kopf.

„Und wenn schon… Man hat dich gehen gelassen, oder? Du gehörst nicht mehr zu denen.“

„Warum?“, flüsterte er „ Warum haben sie das getan? Und warum kann ich mich an nichts erinnern?“ Hilflos zuckte ich mit den Schultern.

„Vielleicht hat es etwas mit dem Überfall zu tun?“ Nun schaute er mich doch an. „Vielleicht… etwas, dass mit dem Gestohlenen zusammenhängt…“

Nero guckte angestrengt zu Boden. Dann schüttelte er den Kopf.

„Ich kann mich nicht erinnern.“ Ich seufzte. Nun hatten wir einen Hinweis und tausend weitere Fragen mehr. Das einzige, was ich nun wirklich wusste war, dass Nero zu irgendeiner gefährlichen Gruppe gehörte, die irgendetwas aus dem hiesigen Regierungsgebäude gestohlen hat, Nero aus irgendeinem Grund ausgesetzt haben und er absolut keine Erinnerungen mehr an seine Vergangenheit hat. Wir wissen nicht, was sie gestohlen haben, noch wie die Organisation heißt, die wir suchen.

Ich wusste nicht mehr weiter und im Moment sah ich auch keine andere Möglichkeit, Nero in dieser Krise weiterzuhelfen. Weitersuchen bedeutete weiteren Ärger mit der Regierung…

Wieder seufzte ich.

Das Beste wird wohl sein, nicht mehr weiter in diese Richtung zu forschen.

„Meinst du wir können wieder nach Hause?“

Nero warf wieder einen Blick in die anbrechende Dunkelheit. Es war wohl nichts zu sehen, denn er krabbelte einen Moment später ins Freie und winkte mir.

Ausflug

Seit diesem Tag war knapp eine Woche vergangen, ohne dass etwas passierte- keine Hausbesuche von der Polizei oder diesen komischen „Mafia- Leuten“ (wie Nero sie nannte); nicht einmal eine Suchmeldung in der Zeitung oder den Nachrichten…

Somit hatten wir ein paar relativ entspannte Tage. Ich ließ mich krankschreiben und ging nicht zur Arbeit, Nero blieb, der Vorsicht wegen, die ganze Zeit im Haus und tat so, als gäbe es ihn gar nicht- doch das konnte ich mir einfach nicht mehr vorstellen.

Er war einfach… unglaublich. Ich unterhielt mich am Abend stundenlang mit ihm, er half mir bei jeder Kleinigkeit, wo ich gerade eben Hilfe brauchte- und war einfach da. Ich genoss die Gesellschaft und das Leben, das er in das große Haus gebracht hatte, auch wenn sich das Lebhafte bei ihm in Grenzen hielt. Schon nach wenigen Tagen konnte ich mir Nero nicht mehr aus meinem Leben wegdenken und der Vorsatz, ihm aus dieser „Vergangenheits-Geschichte“ zu helfen verankerte sich mehr und mehr in meinem Denken.

Und am nächsten Samstag nahm dieser Vorsatz Überhand…

„Ein Freizeitpark?“

Ich nickte heftig und strahlte über beide rotglühenden Ohren. Nero runzelte die Stirn und schaute auf die zwei Eintrittskarten, die ich ihm in die Hand gedrückt hatte. Die Unterlippe vorschiebend, verschränkte ich die Arme vor der Brust.

„Der Freizeitpark ist bei uns immer nur für ein paar Tage und sehr beliebt. War ganz schön schwierig, die Karten im Voraus zu kriegen.“, maulte ich. Er seufzte und schaute mich mit besorgter Miene an.

„Meinst du nicht, dass es noch ein bisschen zu früh ist…“ Ich schnaufte und ließ mich neben ihn in das Sofa fallen. „Nein, ist es nicht! Du hockst jetzt schon fast eine Woche hier im Haus und versauerst. Noch `ne Woche und du liegst mir tot in der Ecke.“

Er guckte immer noch besorgt. „… Ich will dich nicht in Gefahr bringen.“

Ich verdrehte innerlich die Augen. Das schon wieder…

„Dann dürftest du theoretisch auch nicht hier sein.“

Nero schwieg. Ich war es leid, stand auf und zog ihn ebenfalls in die Höhe. Immer musste man ihn zu seinem Glück zwingen.

„Nun komm, Herr Conner wartet bestimmt schon auf uns!“ Verwirrt schaute er mich an. „Dein Nachbar?!“ Ich nickte, schob ihn zur Eingangstür und nahm im Vorbeigehen meinen und seinen Mantel vom Hacken.

Wie besprochen stand auch schon der dunkelblaue Wagen in der Einfahrt. Ich winkte dem Fahrer und stieg, mit Nero im Schlepptau, hinten ein.

„Hallo, Herr Conner.“, begrüßte ich ihn und schnallte mich an. Der ältere Mann mit Halbglatze und Hornbrille grinste mich an. „Schön dich zu sehen, Finja.“

„Danke, dass Sie uns fahren.“

Herr Conner winkte ab. „Schon gut, Kleines. Ich muss ja sowieso in die Richtung.“

„Geht es Ihrer Frau besser?“

Er nickte. „Ja, ja, das wird schon wieder.“, sagte er und startete den Motor. „Mein Mädchen ist nach 42 Jahren Ehe ziemlich zäh geworden.“

Ich musste schmunzeln. Die Conners waren sehr nette Leute. Es tat mir in der Seele weh, dass Frau Conner schon wieder ins Krankenhaus gebracht werden musste.

Wieder schaute Herr Conner in den Rückspiegel und fixierte nun Nero, der stumm aus dem Fenster schaute. „Und Ihnen?“

Nero reagierte nicht und ich musste ihm erst leicht in die Seite knuffen, bevor er zuerst mich und dann verwirrt nach vorne starrte.

„W- wie bitte?“

„Fin hatte erzählt, dass es Ihnen nicht so gut ginge. Sie seien die ganze Woche über krank gewesen“, erklärte er beim Fahren und mich durchlief ein Schauer. Nero warf mir einen raschen Blick rüber und antwortete dann etwas zögernd: „Ja… das stimmt.“

„Die Grippe!“, rief ich schnell und Nero nickte zu meiner Erleichterung sofort. Herr Conner brummte etwas. „Ja, das passiert bei uns zu dieser Jahreszeit häufiger.“ Wieder schaute er in den Rückspiegel. „Passen Sie ja auf sich auf, mein Junge! Damit ist nicht zu spaßen. Und das Sie mir ja nicht unsere Fin anstecken.“

Nero lachte gekünstelt und auch ich atmete erleichtert auf. Der Rest der Fahrt verlief unspektakulär. Ich unterhielt mich ab und zu mit Herrn Conner über dies und das und Nero schaute wieder stumm vor sich hin.

Nach einer halben Stunde Fahrt waren wir da. Ich verabschiedete mich von unserem Fahrer und schleifte Nero zum Eingang.

Der Park war immer wieder erstaunlich. Er war ziemlich groß, hatte eine stolze Anzahl an Attraktionen und an Tagen wie diesen, an denen die Sonne schien und keine Wolke am Himmel zu sehen war, beinahe überfüllt. Ich konnte mein Staunen und meine Freude kaum in Zaum halten, nachdem wir an der Kasse die Karten vorgezeigt hatten und im Freizeitpark standen. Man hörte vergnügte Schreie von den Achterbahnen, laute Schüsse von den Schießbuden und mir stieg der unwiderstehliche Geruch von Popcorn, Pizza und den unzähligen süßen Sachen in die Nase, von denen man so viel essen konnte, dass einem schlecht wurde.

Nach Neros Gesichtsausdruck zu folge schien ihm im Moment aber etwas anderes auf den Magen zu schlagen. Misstrauisch schaute er auf die vielen Menschen, die an uns vorbeiliefen.

Ich seufzte. „Mensch, nun schau doch mal anders…“, bat ich Nero, stellte mich vor ihn und drückte mit den Zeigefingern seine Mundwinkel in Richtung seiner wunderschönen, fast schwarzen Augen.

Ich grinste. „Das sieht viel freundlicher aus! Man könnte glatt denken, du seiest aus freien Stücken hier.“, neckte ich ihn- ohne Erfolg.

Völlig unbeeindruckt fixierte er weiter die Leute. „Hier sind mir zu viele Menschen…“, nuschelte er leise. Ich zuckte mit den Schultern, ließ seine Gesichtszüge wieder in Ruhe und hakte mich bei ihm unter.

„Das ist halt normal für einen guten Freizeitpark… wäre blöd, wenn es anders aussehe.“

Er antwortete mir wieder nicht. Er war eindeutig sauer auf mich.

„Nero, glaube mir, wir werden hier nicht auffallen.“

Nun schnaufte er doch- wenigstens eine Gefühlsregung…
 

Der Tag entpuppte sich doch nicht als ein sinnloser Griff in den Geldbeutel, wie ich zu Anfang nach Neros unkontrollierbareren Freudensausbruch über meine Überraschung gedacht hatte. Das Wetter blieb fabelhaft, wir fielen wirklich nicht auf und ich schaffte es sogar, in Nero eine Vorliebe für Schießbuden und Autoskooter zu wecken. Er war ein Naturtalent, was diese Buden anging… Schon beim ersten Versuch hatte er einen Schlüsselanhänger – einen kleinen Plüschhasen mit Schleifchen- gewonnen.

Vollkommen entzückt, steckte ich den süßen Anhänger sofort an meinen Schüsselbund.

„Du bist echt gut!“, bewunderte ich Nero. „Wo hast du das gelernt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung… ich kann’s einfach. Ich hab nicht groß darüber nachgedacht- hab einfach geschossen.“ Nachdenklich schlenderte er neben mir her. Ich hatte mich wieder bei ihm untergehakt. Unsicher schaute er mich dann plötzlich an. „Glaubst du… ich kann das… weil- weil ich bei dieser Mafia war?“ Mir lief es eiskalt den Rücken runter, zum einen, weil ich mir vorstellte, wie Nero mit einer Pistole, Gewehr oder was auch immer Leute bedrohte- oder gar tötete – und zum anderen, weil wir wieder auf das Thema gekommen waren.

Schnell schaute ich mich nach einer Ablenkung um- und fand sie.

„Zuckerwatte!“, rief ich plötzlich. Ich spürte, wie Nero einige Zentimeter von mir wich.

„Bitte?“

Ich deutete auf einen Stand vor uns. „Zuckerwatte.“, wiederholte ich und zog ihn mit mir. „Ich hab tierischen Hunger auf dieses Zeug.“

Wenig später hatten wir uns auf eine der unzähligen Bänke gesetzt und ich hielt einen langen Stiel mit rosafarbener Watte in der Hand. Nero starrte mich unschlüssig an und sah mir dabei zu, wie ich mit den feinen Zuckerfäden kämpfte und versuchte, mich nicht ganz einzusauen. Als ich seinen Blick bemerkte, hielt ich inne und schaute verwirrt zurück.

„Was hast du? Jetzt sag bloß nicht, du hast Zuckerwatte noch nie gegessen?“

Er lächelte schief und guckte mich hilflos an. Zuerst starrte ich ihn nur perplex an, doch dann zupfte ich etwas von meiner Watte ab und hielt ihm das Stück unter die Nase. Mit hochgezogenen Augenbrauen schielte er auf den Fetzten.

„Nun iss! Das ist kein Gift…“

Zögernd stopfte er sich die Watte in den Mund- und verzog das Gesicht. „Das… ist ja süß!“ Ich konnte nicht mehr. Laut brach ich in schallendes Lachen aus.

„Du magst keine süßen Sachen, hm?“ Er schüttelte nur den Kopf. Ich seufzte. Mit ihm hatte man es wirklich nicht leicht.

„Wie findest du eigentlich mein neues Kleid?“, fragte ich stattdessen. Verwirrt schaute er auf.

„Das ist neu?“ Grimmig stützte ich die Fäuste in die Hüfte und schaute ihn klagend an.

„Ja ist es! Aber das wollte ich nicht hören- ich dachte eigentlich an ein Kompliment.“

Nero zog die eine Augenbraue hoch. „Warum willst du, dass ich dir Komplimente mache?“ Ich stand auf und baute mich vor ihm auf.

„Weil man so etwas eben macht. Regel Nummer 1.“ Nero holte Luft und ich hob drohend den Zeigefinger. „Aber bitte nicht so was, wie: >Man erkennt, dass es ein Kleid ist< oder >Du hast es richtig rum an<“ Prompt klappte Nero seinen Mund wieder zu. Er lehnte sich auf der Bank zurück, legte den Kopf schief und betrachtete mich.

„Die Farben stehen dir…“ Ich schaute an mir runter. Das Kleid war ziemlich bunt, mit leuchtenden Farben in einem Blumenmuster. Ich hatte nie richtig auf so helle und farbenfrohe Kleider gestanden, der Kauf war mehr ein Experiment gewesen und ich musste mich sehr überwinden, es heute anzuziehen.

„Meinst du wirklich?“

Nero nickte. „Ich finde, das passt zu deinen dunklen Haaren. Solltest du öfter tragen…“ Ich spürte, wie mir heiß wurde. Verlegen setzte ich mich wieder neben ihn. „… Danke.“, sagte ich und zupfte weiter an meine Zuckerwatte rum.

„Darf ich dich auch etwas fragen?“ Seine Stimme war leise geworden und er hatte die Frage sehr unsicher gestellt.

„Klar!“ Es dauerte einen Moment, bevor Nero weitersprach.

„… Du lebst alleine in dem Haus… oder?“ Verwirrt musterte ich ihn. Er saß neben mir, schaute zu Boden und nestelte an seinem Jackensaum herum. Ich war mehr als überrascht über diese Frage und auch ein wenig beunruhigt, denn über das Thema, dass er mit dieser Frage anschnitt, redete ich nicht gerne.

Ich seufzte. Irgendwann hätte ich es sowieso nicht mehr verheimlichen können. „Du willst wissen, warum ein 19- jähriges Mädchen ein so großes Haus besitzt und dort dann ohne seine Familie wohnt…“, mutmaßte ich. Nero nickte stumm. Ich schloss kurz die Augen, überlegte, wie viel Nero wissen sollte und wie viel ich bereit war, zu erzählen, ehe ich tief Luft holte.

„Meine Mutter ist schon vor längerer Zeit bei einem Autounfall gestorben. Meine Eltern haben nie geheiratet, weil die Eltern meiner Mutter damit nicht einverstanden waren- mein Vater ist Amerikaner und meine Großeltern… na ja- die hatten für meine Mutter etwas andere Pläne, wen sie heiraten sollte.“

Ich machte eine Pause und wartete ab. Nero schaute mich verstehend an. „Das tut mir Leid- das mit deiner Mutter. Aber warum wohnst du nicht bei deinem Vater?“ Mein Kopf fuhr in die Höhe und ich funkelte ihn, ohne es eigentlich zu wollen, trotzig an. So viele Leute haben mich das schon gefragt und immer wieder musste ich mich erklären.

„Weil mein zu Hause hier ist!“, sagte ich etwas lauter. „Ich bin hier groß geworden, hier sind meine Freunde- und außerdem…“ Ich seufzte. „Außerdem will ich gar nicht bei meinem Vater leben. Ich kann ihn nicht ausstehen!“ Die letzten Worte flüsterte ich nur noch. Nero runzelte die Stirn. Ich sah das und gestikulierte hilflos mit den Armen. „Nach Mamas Tod hat er den kompletten Absturz erlitten- er fing an zu trinken, zu spielen … alles eben. Mamas Eltern machten ihm Vorwürfe und stritten sich mit ihm bis aufs äußerste. Irgendwann ging er dann wieder zurück nach Amerika, um sie endgültig zu vergessen.“ Verständnislos über die Erinnerungen an meinen Vater, schüttelte ich den Kopf. „Er hatte sein Leben einfach nicht mehr im Griff und dachte, weglaufen sei die einzige Lösung.“ Wut stieg in mir hoch. Ich konnte mich noch genau daran erinnern- wie er vor mir stand, vor einer 13- jährigen, angetrunken und mit Tränen in den Augen meinen Koffer packte. Damals hatte man ihm das Sorgerecht entzogen- nicht weil er zu viel trank oder weil er sich nicht mehr um mich kümmern konnte, sondern weil ich es so entschieden hatte. Ich wollte nicht mehr bei ihm wohnen, weil ich es nicht mit ansehen konnte, wie er durch sein Leben stolperte… ich schwor mir, nie so zu werden. Von da an lebte ich bei den Eltern meiner Mutter, die zwar auch nicht viel für mich übrig hatten, mich aber trotzdem gut aufzogen und sich um mich kümmerten- immerhin war ich ja die Tochter ihres Heißgeliebten Kindes gewesen.

Neros Stimme holte mich aus meinen Gedanken wieder zurück.

„Hast du noch Kontakt zu deinem Vater?“, fragte er leise. Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich… mehr zu seinen Eltern. Sie schicken mir manchmal Sachen aus Amerika und mein Vater überweist mir monatlich etwas Geld… aber das ist auch alles.“ Ich seufzte und schaute ihn an. Wie ich erwartet hatte, spiegelte sich Mitleid und Sorge in seinen Augen wieder- wie bei jedem, dem ich die Geschichte erzählen musste.

Ich klopfte mir auf die Oberschenkel und stand auf. „Mir geht es gut! Ich habe alles im Griff und jetzt kein Wort mehr darüber, verstanden?“

Nero schaute mich noch einen Augenblick an, dann nickte er und stand ebenfalls auf. Ich schaute auf meine Armbanduhr und zog scharf die Luft ein. „Wir sollten langsam zurückgehen… Herr Conner wird uns gleich abholen!“

Doch ehe ich mir meine Handtasche über die Schulter werfen konnte, rempelte mich jemand von hinten unsanft an und fast im selben Moment spürte ich, wie man mir die Tasche aus der Hand riss. Ich schrie vor Schreck und stolperte, sodass Nero mich auffangen musste.

„Meine Tasche!“, keuchte ich entsetzt und sah, wie ein junger, hagerer Mann in der Menschenmenge verschwand. Keine Sekunde später, nachdem mich Nero wieder auf die Beine gestellt hatte, sprang er dem Dieb hinterher. Ich rief noch seinen Namen, doch er war schon in der Menge untergegangen.
 

Im ersten Moment hätte ich Fin am liebsten die Meinung gesagt- was war sie auch so leichtsinnig und nahm so eine Handtasche mit?! Aber nun war es geschehen und ich konnte nichts weiter machen, als die Standpauke auf später zu verschieben und nun die Tasche wiederzuholen.

Der Typ lief ungefähr 20 Meter vor mir durch die Menschenmenge und schien keine Probleme damit zu haben- im Gegensatz zu mir…

Ständig lief ich gegen irgendwelche mir entgegenkommenden Besucher und der Vorsprung meines Zieles breitete sich immer weiter aus. Ich fluchte innerlich. Hinter mir im beträchtlichen Abstand, hörte ich Fin, die meinen Namen rief, aber das war mir jetzt egal.

Und dann hatte ich ihn aus den Augen verloren…

Der Weg war breiter geworden, ich stand nun auf dem Platz am Eingang und flog mit den Augen über die Köpfe der Besucher hinweg. Nichts... ich hatte ihn verloren. Nun entwich mir doch ein Fluch und wütend drehte ich mich auf dem Absatz um- und da stand er direkt vor mir.

Ehe ich auch nur Luft holen konnte, holte der Kerl zum Schlag aus und donnerte mir seine Faust ins Gesicht, dass ich zurückstolperte. Mein Kopf flog in den Nacken und ich sah Sterne. Aus Reflex hielt ich mir die Hand vor die schmerzende Nase. Heißes Blut sammelte sich in meiner Handfläche und rann mir durch die Finger. Der Typ stand immer noch vor mir, die eine Hand zur Faust erhoben, die andere umklammerte Fins Handtasche. Er guckte ziemlich erschrocken von seiner Faust zu mir und zurück.

Durch meine Adern pulsierte auf einmal ein Gefühl, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht hätte beschreiben können- es war dem Gefühl ähnlich, das ich verspürt hatte, als ich Fin zum ersten Mal sah, nur viel heftiger.

Ich bring dich um, schoss es unkontrolliert durch meinen Kopf und diese Worte, hätte ich sie in diesem Moment über meine Lippen gebracht, wären nicht nur so daher geredet gewesen, nein- ich meinte sie auch so.

Ich spürte, wie ich zu zittern begann, die blutverschmierte Hand aus meinem Gesicht nahm(der Dieb zuckte plötzlich zusammen und starrte mich noch erschrockener an) und beide zu Fäusten ballte. Der hagere Mann wimmerte auf einmal, ging einige Schritte rückwärts, ehe er sich umdrehte, dabei fast über seine eigenen Beine fiel und stolpernd davonlief.

Einen Augenblick später hatte ich ihn eingeholt, sprang ihn von hinten an und riss ihn zu Boden. Nun bemerkten uns doch einige Leute und blieben erschrocken stehen. Der Typ schrie. „Helft mir! Der Typ tickt nicht ganz- ARRRRGH!!“

Der Rest seiner Hilferufe ging in einem Schmerzensschrei unter. Die Hand, in der er die Tasche gehalten hatte, verlor unter dem Druck meines Schuhs an Farbe und verkrampfte sich vor Schmerz. Mein Atem ging rasselnd vor Wut und wegen der blutenden Nase. Ein Passant trat näher an mich heran, gefolgt von drei weiteren Männern und einer Frau.

„Hey Junge! Geh gefälligst von dem Mann runter! Du brichst ihm noch die Hand!“ Ich antwortete nicht, sondern stellte nun meinen anderen Fuß auf den seitlich liegenden Kopf des Kerls und verlagerte mein Gewicht. Ein erneuter gellender Schrei entfuhr dem Typen und seine Rufe erstarben erneut.

„Spinnst du?!“, kreischte die junge Frau. Ich drehte langsam den Kopf in ihre Richtung und lehnte mich nur noch mehr auf mein linkes Bein. Die Frau schlug entsetzt die Hände vor den Mund und wich zurück.Die wimmernden Hilferufe meines Opfers blendete ich vollkommen aus. Ich grinste. Die Wut und die Mordlust nahmen immer weiter in mir zu.

„Nero !!“ Zwei Hände klammerten sich um meinen Bauch und zogen mich von dem Mann runter.
 

Ich zog mit meinem ganzen Körpergewicht an Nero, schaffte es, ihn um mich zu drehen und ihn zu Fall zu bringen. Er schrie wütend auf und zappelte, doch ehe er aufstehen konnte, saß ich auf ihm und hielt ihn an den Schultern fest.

„Beruhige dich!“

Keine Reaktion. Neros Gesicht war blutüberströmt, in seinen Augen spiegelte sich blanker Hass wieder und es schien so, als sehe er mich gar nicht.

Mit Schrecken musste ich erkennen, dass ich diesen Gesichtsausdruck kannte- damals, als er mich beinahe…

Ich dachte nicht weiter drüber nach, sondern nahm sein Gesicht in beide Hände und beugte mich zu ihm runter.

„Sieh mich an, Nero!“, bat ich ihn, doch er war immer noch wie wild. Ich schüttelte leicht seinen Kopf. „Sieh mich an!!“, sagte ich noch einmal ernster und diesmal half es. Nero starrte mich an, seine Gebärden wurden schwächer und zum Schluss kam das sanfte Glänzen in seine Augen zurück. Immer noch schwer atmend, blinzelte er, als sei er gerade aus einem Traum erwacht. Hinter mir wurden Stimmen laut. Der Dieb hatte sich aufgerappelt und war einige Meter von uns weggerobbt. Menschen hatten sich zu ihm gestellt und fragten nach seinem Befinden.

Ich ließ Nero, der sich nun die Nase hielt, aufstehen. Verwirrt schaute er zuerst mich und dann den Typen an. Das Entsetzen stand ihm ins blutige Gesicht geschrieben.

„Der Typ ist gemeingefährlich!“, schrie jemand, „Ruft die Polizei!“

Bei den Worten wurde ich aufmerksam. Ich ergriff Neros Hand und zog ihn schnell zum Ausgang. Bevor wir, von den verblüfften Blicken der umstehenden Leute verfolgt, den Park verließen, ging ich noch einmal zu dem hageren Mann, der meine Tasche gestohlen hatte. Dieser wich mit einem spitzen Schrei vor mir zurück. Ich ergriff meine Tasche, schaute ihn böse ins angstverzerrte Gesicht und beeilte mich, mehrere hundert Meter zwischen uns und diesen Freizeitpark zu bringen.

Es

Ich hatte Glück gehabt- verdammtes Glück, dass ich gar nicht verdient hatte.

Ich wusste nicht mehr, wie ich die Heimfahrt überstanden habe, ich wusste noch, dass ich die ganze Zeit über meine schmerzende Nase in einen Stapel Taschentücher gedrückt hatte und Fin neben mir sich irgendwelche Lügen ausdachte, um Herrn Conner davon abzubringen, allzu viele Fragen zu stellen.

Man fuhr mich ins Krankenhaus, um dann festzustellen, dass meine Nase nicht gebrochen war, sondern nur größere Blutgefäße geplatzt waren.

Ich habe das alles nur verschwommen mitbekommen, so als wäre ich nicht ganz in meinem Körper oder auf dieser verdammten Welt…

Doch nun stand ich bei Fin zu Hause im Badezimmer und starrte mich in dem großen Spiegel an. Meine Nase war angeschwollen, bläulich verfärbt und tat höllisch weh. Ich hatte mir mein blutverschmiertes Hemd ausgezogen und mir vorsichtig das Gesicht gewaschen. Nun schaute mich eine groteske Gestalt mit schrecklich aussehender Nase, tropfnassen Haaren und glasigen Augen aus dem Spiegel an.

In dem Moment wurde mir wieder bewusst, was ich getan hatte… und ich hasste mich dafür.

Ich hätte beinahe einen Menschen getötet- wieder! – einfach so, ohne ihn zu kennen oder ihn auch nur näher anzuschauen. Ich ballte die Hände, mit denen ich mich am Waschbeckenrand abstützte, zu Fäusten und starrte weiter in den Spiegel.

Ich hätte ihn unter meinen Füßen zerdrückt, wäre Fin nicht gekommen und … ich hatte Spaß daran gehabt! Mir kam Fins Ausdruck wieder in den Sinn, damals, als sie mich zum ersten Mal gesehen hatte- diese Angst in ihren Augen.

Ja- was anderes hatte ich nicht verdient, ich war nichts weiter als ein Irrer, vor dem man sich fürchten musste. Du bist ein Mörder! ,schrie eine Stimme in meinem Kopf, die mich schmerzhaft an Fin erinnerte. Du bist gefährlich- Für Jeden!

Ich schüttelte den Kopf, um diese Stimme wieder loszuwerden, doch sie schrie nur noch lauter in mir.

Kannst du dich noch an seine Augen erinnern? Die Tränen der Angst dort drin? Er hat dich angefleht, aber du hast nur gegrinst und ihn weiter leiden lassen. Erinnerst du dich an das Gefühl, das du dabei empfunden hast? Dieser berauschende Moment? Das war Überlegenheit…das Gefühl von Macht.

Ich schlug mir die Hände auf die Ohren, in der Hoffnung diese Stimme zu dämpfen. Mein Puls wurde immer schneller bei den Bildern, die mir jetzt durch den Kopf rasten- doch schlimmer war das, was ich dabei empfand… ein unglaubliches Hochgefühl durchströmte mich und ehe ich komplett in diesem zu versinken drohte, kniff ich die Augen zusammen und presste mir noch stärker die Hände an den Kopf.

…Hör auf…

Aber warum denn? , säuselte die Stimme. Hast du es denn nicht genossen- dieses Gefühl? Natürlich hast du es! Und das ist auch gar nicht schlimm… so bist du nun halt mal.

Das Hochgefühl verschwand und machte einem unangenehmen Knoten in der Magengegend platz. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag deutlich durch meinen Körper schlagen.

…Nein! Das ist nicht wahr! ...

Die Stimme wurde immer süßer und sanfter und ich hatte das Gefühl, dass jemand um mich herumschlich.

Du bist kaltherzig… unberechenbar…

…Hör auf…

Ich fühlte mich gefangen.

… grausam… gnadenlos…

Ich will das nicht hören…

… du bist und bleibst ein Mörder!

Das bin ich nicht!!

Schlagartig riss ich die Augen auf und starrte wieder in den Spiegel. Da sah ich mich, breit grinsend und mit böse funkelnden Augen. Mein Spiegelbild lachte.

Glaubst du wirklich, dass du deine Vergangenheit ablegen kannst?

„Egal was ich war- ich bin es nicht mehr…“, flüsterte ich mit zitternder Stimme.

Ich schaute sehr amüsiert. Natürlich…, pflichtete ich mir zynisch bei. Diese Fin hat einmal mit dem Finger geschnippt und dich zum Guten bekehrt. Aber glaub mir, so leicht wirst du dein altes Ich nicht los!

Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte, meinen Puls wieder zu beruhigen.

„Halt den Mund…“ Wieder sah ich mich lachen.

Deine Drohungen sind lächerlich! Du begehrst das Gefühl, dass ich dir zeigte, viel zu sehr, als dass du irgendetwas gegen mich tun würdest. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du wieder zur Besinnung kommst. Und dann bist du wieder der Mistkerl, der Menschen umbringt…

Ich spannte jeden Muskel an und hörte erneut mein Herz rasen- diesmal vor Wut. Mein Spiegelbild verzog sich zu einer grausam, grinsenden Fratze.

Denn das ist das einzige, was du kannst!…

In der nächsten Sekunde schnellte meine rechte Faust in die Höhe und fuhr in das Glas. Es klirrte und scharfe Glasscherben fielen aus dem Rahmen in das Waschbecken. Ich hörte, wie mein Atem schwer und tief ging und nun schaute mich aus den Resten des Spiegels ein blasser Mann mit geschwollener Nase und Schweißperlen auf der Stirn an. Ich brauchte einige Sekunden, um mich – mein jetziges, wahres Ich- dort drinnen zu erkennen.

Dann flachte die Wut ab und Verzweiflung und Verbitterung schlugen über mir zusammen. Ich stolperte zurück, vergrub die Hände in meinen Haaren und starrte die armselige Gestalt im kaputten Spiegel an, die zitternd und mit Tränen in den Augen vor mir zurückwich. Irgendwann hatte ich die gegenüberliegende Wand im Rücken, an der ich mich herunterrutschen ließ.

Dumpf vor mich hinstarrend, zog ich die Beine heran und legte meine Stirn auf meine Knie. Nur weit entfernt und ganz leise hörte ich das Klopfen an der Tür und Fins fast hysterisch klingende Stimme, die meinen Namen rief. Ich reagierte nicht…
 

Es war ein Fehler gewesen, Nero allein zu lassen- das wurde mir in dem Moment klar, als ich das Geräusch von splitternden Glas aus meinem Badezimmer vernahm.

„Nero ?“ Ich presste mein Ohr an die Tür, doch auf der anderen Seite war es still geworden… zu still und das machte mich noch nervöser.

Wieder rief ich seinen Namen und wieder kam keine Antwort. Verzweifelt fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen und schaute auf die Klinke herab. In der ganzen Aufregung hatte ich diese ganz vergessen… Vielleicht…

Mit zitternden Händen drückte ich sie herunter- und sprang fast einen Meter von der Tür weg, als diese auch tatsächlich aufging. Ich war wohl nicht die einzige, die an manche Sachen nicht dachte…

„Nero, ich komm jetzt rein!“

Als ob seine Privatsphäre jetzt eine Rolle spielt…! , schalt mich meine innere Stimme ungeduldig und ich ging unverzüglich ins Bad.

Das erste, was ich sah, war der zerbrochene Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Im Rahmen hangen noch ein paar Bruchstücke, der Rest lag im Waschbecken und über den Boden verteilt. Mein Herz schlug schneller. Was war hier passiert und vor allem- wo war Nero?!

Ich drehte mich um meine eigene Achse und stieß einen entsetzten Schrei aus, als ich ihn zusammengekauert neben der Tür, durch die ich gekommen war, entdeckte. Er hatte sein Gesicht in seine Arme vergraben und die Beine an den Körper gezogen. An den Fingerknöcheln der rechten Hand klebte Blut. Mein Blick suchte kurz wieder den Spiegel, dann ließ ich mich vor Nero auf die Knie fallen.

Er hatte kein einziges Mal aufgesehen und hätte ich nicht gesehen, dass er flach geatmet hat, wäre ich vermutlich auf den Gedanken gekommen, dass er tot sei.

„N- Nero… was ist mit dir?“ Ich streckte die Hand nach ihm aus, doch ehe ich ihn berührte, sah er auf und ich zog die Finger wieder etwas zurück.

So hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich fühlte mich an die Nacht zurück erinnert, in der ich ihn gefunden hatte, an den Zustand, in dem er sich befunden hatte- doch das war nicht mit dem zu vergleichen, was ich nun in seinem Gesicht sah: Seine Haut hatte alle Farbe verloren, die Lippen waren nichts weiter als ein dünner, blassbläulicher Strich in seinem Gesicht und in seinen Augen sah ich … ich sah gar nichts.

Ich wurde das schmerzende Gefühl nicht los, dass ich einen Toten anschaute.

Ich brauchte einige Sekunden. Nur zögernd nahm ich sein Gesicht in meine Hände, immer in der Befürchtung, dass er im nächsten Moment einfach leblos vor mir zusammensackte.

„Nero…“ Meine Stimme war nicht mehr, als ein Hauch. „Mein Gott- was ist passiert?“

In seinen Augen regte sich etwas. Sein Blick richtete sich auf mich. Ich rutschte auf Knien noch näher zu ihm und strich ihm seine schwarzen Haare aus der Stirn. Ich spürte, wie mir heiße Tränen über meine kalten Wangen flossen und streichelte ihn über seine.

„Sieh mich an Nero … bitte.“, flehte ich und ging mit ihm auf Augenhöhe. Und tatsächlich- ein wenig Glanz kehrte in seine Augen zurück.

„Fin…“

Seine Stimme war brüchig und dünn, aber ich hörte sie und das zauberte mir wieder ein Lächeln auf die Lippen. Doch das verschwand auch so schnell, wie es gekommen war, als Nero nun weiter sprach: „Geh… bitte.“

Mein Körper fühlte sich taub an, meine Hände begannen wieder zu zittern. „Was?“

„Ich bin ein schlechter Mensch, Fin. Ich… ich bin eine Gefahr für dich.“

Ich schüttelte energisch den Kopf und umfasste sein Gesicht noch stärker.

„Red keinen Unsinn!“ Neros Augen glänzten jetzt noch mehr. Plötzlich spürte ich seine kalte Hand auf meinem Arm.

„Du hast gesehen, was ich getan habe. Du selbst hast gespürt, wozu ich in der Lage bin.“ Seine Stimme hatte etwas Beschwörendes angenommen.

„Das warst nicht du, Nero.“, sagte ich verzweifelt, doch nun schüttelte er den Kopf. „Doch, Fin.“ Seine Hand verkrampfte sich. „Ich hatte mich dort nicht unter Kontrolle, aber das war ich- mein wahres Ich.“

Ich fasste ihn noch mehr in meinen Blick. „Dann werde ich dir helfen, es zu kontrollieren.“ Nero schwieg für Sekunden. Er schien ernsthaft darüber nachzudenken. „Das wirst du nicht schaffen…“, antwortete er dann. Ich lächelte bitter.

„Vielleicht.“, sagte ich ernst. „Aber dann habe ich es wenigstens versucht. Ich werde nicht zulassen, dass du dich von deiner Vergangenheit übermannen lässt. Du weißt nicht, wer oder was du damals genau warst. Du hast die Möglichkeit ein neues Leben zu leben- und dafür werde ich sorgen! Du kannst von vorne anfangen, Nero.“ Mein Gesicht war jetzt nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt. Neros Blick hatte sich verändert. Ich entdeckte Unverständnis, aber auch Hoffnung in seinen Augen.

„Du musst nur deine Vergangenheit hinter dir lassen. Denke nicht daran, was du getan hast- es ist vergangen und du kannst nichts mehr ändern. Du bist jetzt hier… bei mir!“

Seine Augen wurden feucht. „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“, antwortete er mit belegter Stimme. Ich nickte und legte meine Stirn an seine.

„Doch“, hauchte ich. „Und ich werde dir dabei helfen. Das verspreche ich…“

Im Nachhinein konnte ich nicht sagen, warum ich das getan habe, was ich nun im nächsten Moment tat. Vielleicht war es so etwas wie eine Verstärkung meines Versprechens, unser persönliches Ritual, um es auf Ewig gültig zu machen. Vielleicht aber war es auch eine ganz natürliche Reaktion auf die Nähe, diese lächerlichen Zentimeter, die ich von Nero nur noch entfernt war.

Egal was es war- ich sehnte mich nach ihm.

Meine Hände, die seine Wangen berührten, waren mir zu wenig, ich wollte mehr… mehr von ihm. Ich schloss meine Augen und sog seinen Duft und seine Wärme auf, die wieder in ihm hoch kroch. Ich spürte seinen heißen Atem, der gegen meine Lippen blies und es war mir so, als würde mein ganzer Körper unter dieser Hitze erzittern und dahinschmelzen und im nächsten Moment wurde sein Atem durch meine Lippen versiegelt. Von da an war mir alles egal.

Ich spürte, wie Neros Hand irgendwann meinen Arm losließ und mir über die Haare strich. Seine andere Hand wanderte auf meinen Rücken und zog mich mit sanfter Gewalt näher an sich heran, um dann mit mir zur Seite wegzukippen. Ich schlang beide Arme um seinen Hals, damit wir unseren Kuss nicht unterbrechen mussten. Irgendwann- nach unendlichen Stunden, wie mir schien- hatte er mich auf den kalten Fliesen des Badezimmerbodens gelegt und hang über mir. Erst jetzt bemerkte ich seinen nackten Oberkörper und erneut begann ich mit den Fingerspitzen über seine Muskeln zu streichen. Ich genoss jede lange Sekunde dieses Moments. Unser Kuss war sanft, aber intensiv und unglaublich zärtlich… unglaublich fordernd!

Nero fuhr vorsichtig meinen Hals entlang, immer tiefer und schob fast zögerlich den Träger meines Kleides zur Seite. Mein Herz machte einen Satz und hätte ich in der Sekunde meinen Atem vollkommen unter Kontrolle gehabt, hätte ich wahrscheinlich wohlig geseufzt.

Was ich in der einen Sekunde nicht konnte, tat ich in der nächsten- ich machte von meiner Lunge Gebrauch…

Das simple und einfache Klingeln der Haustür riss mich aus meinen schon fast feucht fröhlichen Träumen und Nero von mir runter. Erschrocken sogen wir die Luft ein (ich, weil ich mit dem Klingeln nun wirklich nicht gerechnet hatte und Nero wahrscheinlich wegen etwas anderem…) und starrten uns an. Mein Herz raste und dementsprechend ging mein Atem. Grimmig schaute ich zur Tür. Egal wer da am Eingang stand, wie konnte es derjenige wagen, mich…

„Scheiße…!“ Verwirrt blickte ich wieder zurück. Nero hatte sich aufgerappelt und saß nun einen guten Meter von mir entfernt auf dem Boden, die Hand vor den Mund geschlagen und knallrot. Ich blinzelte kurz, verstand dann doch und spürte selber die Wärme in mein Gesicht aufsteigen. Verlegen rückte ich mein Kleid wieder zurecht und ehe ich etwas sagen konnte, dröhnte wieder die Haustürklingel. In einem Anflug von blanker Wut stand ich auf.

„Wir… reden gleich weiter- okay?“

Nero nickte verlegen und sein Gesicht glich farblich dabei einer Himbeere mit blauer Nase.

Wütend ging ich zur Tür. Vermutlich war es nur so ein Staubsaugervertreter mit diesem typischen falsch-freundlichem Grinsen im Gesicht. Der wird sich gleich wünschen, einen anderen Beruf gewählt zu haben, dachte ich zähneknirschend. Wieder klingelte es.

„Ich komme!!“, schrie ich die Tür an, riss die Klinke runter-

und wurde im nächsten Moment aschfahl.

Ich hatte einem Mann die Tür geöffnet, von dem ich dachte, ihn nie wieder sehen zu müssen. Er lächelte. „Guten Abend, Finja.“

Ich spürte, wie mein Herz mir den Dienst versagte. Ich starrte zu dem Mann auf und atmete nicht. Dieses Gesicht… diese Augen… meine Knie begannen zu zittern. Der Mann fragte weiter. „Ist Nero da?“

Bei dem Satz taute ich auf.

Ohne groß zu überlegen schlug ich die Tür zu, doch er stellte seinen Schuh in den Türrahmen und stoppte diese. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte davon, doch ich kam nicht weit. Nur wenige Schritte später stand der Mann hinter mir und hielt mich am Arm zurück.

Ich sah keine andere Möglichkeit, als zu schreien und so Nero vor dem Mann zu warnen. Ich holte Luft, aber der Mann war wieder schneller. Blitzschnell drückte er mir seine freie Pranke auf Nase und Mund, sodass ich nur noch das Leder seines Handschuhs roch und zu einem mageren Wimmern imstande war.

„Schhhh. Wer will denn gleich losbrüllen.“, ertönte seine tiefe Stimme direkt neben meinem Ohr. Sein Arm, der zuvor meinen eigenen malträtiert hatte, schlang sich um meinen Bauch und zog mich von den Füßen. Hilflos strampelte ich in der Luft. Mein Herz stand kurz davor, mir aus der Brust zu springen.

„Wir wollen unseren Nero doch überraschen, oder? Da wird er sich bestimmt drüber freuen…“ Der Mann setzte sich in Bewegung und ich hörte, wie die Tür hinter uns leise ins Schloss fiel.

Alte Bekannte

Nervös ging ich im Badezimmer auf und ab, wie ein Tiger im Käfig und fuhr mir mit zittrigen Fingern über den Mund. Verdammt! Was hatte ich nur getan?!

Du bist über sie hergefallen- das hast du getan …, rief mir wieder eine Stimme zu und mein Blick fixierte erschrocken den Spiegel- doch diesmal war dort nichts. Ich seufzte und fuhr mir durchs Haar. Nun verlor ich endgültig den Verstand…

Fin kam mir wieder in den Sinn. Fin… was dachte sie nun von mir? Ich hätte mich am liebsten in dem Moment gern selbst geohrfeigt. Ich hatte unbewusst ihr Vertrauen ausgenutzt und sie beinahe- wütend schluckte ich den Gedanken runter und tigerte weiter auf und ab.

Du musst dich endschuldigen…

Ich lachte bitter. Leichter gesagt, als getan.

Ich beendete meinen Rundgang vor dem kaputten Spiegel und starrte in diesen. Ich versuchte eine Miene, die nach Schuldgefühlen aussah und schwankte dabei zwischen Heul- und Lachkrampf hin und her, nicht sicher, ob ich mich über mich selbst und meine Grimassen schlapp lachen oder darüber weinen sollte, dass ich es absolut nicht hinbekam, ein glaubwürdig reuemütiges Gesicht aufzusetzen.

Irgendwann drehte ich mich gefrustet um und sammelte mein Hemd vom Boden auf. Vielleicht sollte ich mir zu allererst etwas Sauberes anziehen…

Zeitschindung! , flötete die Stimme in meinem Kopf. Mit einer zornigen Handbewegung versuchte ich unsinnigerweise meine Halluzinationen zu verscheuchen und trat, das Hemd anziehend, aus dem Badezimmer- und blieb im Türrahmen stehen. Die Eingangstür war zu.

Ich runzelte die Stirn. Hatte es nicht geklingelt? Und hatte Fin nicht gesagt, dass sie gleich wieder zurückkommen wollte?! Erst jetzt fiel mir auf, dass Fin ja eigentlich schon sehr lange für die Definition „gleich“ weg war…

Vorsichtig trat ich in den Flur und schaute mich um. Gerade, als ich Fins Namen rufen wollte, hörte ich ihre Stimme.

„Nero? Ich bin hier. Im Wohnzimmer…“

Etwas irritierte mich. Ihre Stimme zitterte, war brüchig und leise. Ich ging nur wenige Schritte in den Flur hinein und lauschte. Es war still im Wohnzimmer. Irgendetwas war hier falsch. Warum war sie im Wohnzimmer? In meinem Kopf erklangen die Alarmglocken schrill.

Instinktiv schaute ich mich nach etwas um, das mir als Waffe dienen könnte- zur Verteidigung, versteht sich!, keifte mein Gewissen. Ich verdrehte die Augen. Warum sprach ich mit mir selbst und warum musste ich dabei immer von einem Extrem ins nächste fallen??

Schnell gab ich meine Suche nach einer passenden Waffe auf und schlich zum Wohnzimmer. Noch stand ich dort einige Sekunden, unschlüssig was ich machen sollte und fuhr mir nervös über die Lippen. Ich schloss die Augen, atmete tief und lautlos ein und lugte ins Wohnzimmer. Zuerst sah ich nichts, erst als ich zu Fins Esstischecke schaute, entdeckte ich sie- an einen Stuhl gefesselt und mit verbundenen Augen. Bei diesem Anblick vergaß ich alle Vorsicht. Schnell lief ich auf sie zu, löste die Augenbinde und machte mich unverzüglich daran, sie zu befreien.

„Fin! Was ist hier passiert?!“

Fin sah nicht gut aus; sie war blass, hatte verweinte Augen und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. „Verschwinde von hier Nero, bitte!“ Ihre Stimme hatte nun vollkommen an Festigkeit verloren und war nicht mehr, als ein heiseres, hohes Wimmern.

„Das werde ich tun- sobald du auch verschwinden kannst…“

Mit aufeinander gebissenen Zähnen schluckte ich einen wütenden Fluch hinunter. Was waren das für Knoten?! Zum Glück fand ich ein Messer, dass zufälligerweise auf dem Tisch lag, mit dem ich die dicken Schnüre durchbekam. Es dauerte lange, aber ich schaffte es. Fin fiel mir fast kraftlos in die Arme. Vorsichtig umfasste ich ihre Schultern und sah ihr in die Augen. Sie schaute mich verstört an. „Alles in Ordnung?“

Fins Augen füllten sich mit neuen Tränen. „ Bitte… geh weg… hau ab, ich bitte dich! Er ist hier noch irgendwo…“

Ihr Blick huschte nervös hin und her. Ich runzelte die Stirn. „Wen meinst du?“

Doch Fin hörte mir nicht zu. „Er ist wegen dir hier!“

Wer?“

Zur Antwort fiel die Wohnzimmertür in meinem Rücken geräuschvoll zu und Fin stieß so etwas wie einen Schrei aus. In einer Bewegung wirbelte ich auf dem Absatz um und zugleich in die Höhe.

Der Mann, der nun im Wohnzimmer stand, ließ auch mich aufschrecken. Er war komplett in schwarz gekleidet, trug helles kurzes Haar und zog ein langes Schwert hinter sich her- ein schwarzes, das rötlich schimmerte. Ich schluckte. Ja, das war er… diese stechenden Augen- genauso hatte Fin ihn beschrieben.

Der Mann grinste. „ `tschuldigung … Stör ich?“

Mein Herz pochte so laut in meiner Brust, dass ich befürchtete, mein Gegenüber könnte es zerspringen hören, denn in diesem Moment zog er seine hellen Brauen in die Höhe und guckte verwundert. „Was ist los, Nero? Erkennst du mich denn nicht wieder?“ Er schob die Unterlippe deutlich vor. „Jetzt bin ich aber beleidigt…“

Ich spürte, wie mir eine Schweißperle am Kinn herunter rann. Fin war inzwischen hinter mir einige Schritte zurückgegangen, zupfte mit zittrigen Händen an meinem Hemd und wimmerte mir flehende Worte ins Ohr. Doch ich hörte nicht hin- oder besser: ich hörte im Moment gar nichts, außer meine eigene Stimme in meinem Kopf, vermischt mit den Bildfetzen aus der Vergangenheit, die nicht meine zu sein schien- jedenfalls erinnerte ich mich nicht an sie. Wieder fühlte ich mich gefesselt, die Narben an meinen Schläfen begannen wieder zu brennen und ich hörte mich einen Namen schreien. Die Wut, die ich damals verspürt hatte, übertrug sich nun auf die Gegenwart. Mein Griff um das Messer wurde fester.

Doch … ich erinnerte mich sehr wohl. Jetzt, wo er vor mir stand, bekam ich alles in einen Zusammenhang. Wortlos schob ich Fin weiter nach hinten.

„Verschwinde Ares!“, presste ich mit aufeinander gebissenen Zähnen hervor. Natürlich brachte diese Drohung gar nichts- im Gegenteil…

Ares begann breit zu grinsen und schulterte locker sein Schwert. „Gott, du erinnerst dich ja doch! Das hör ’ ich gerne… Hat der Alte es doch nicht geschafft, dir das Hirn weichzuschmoren.“ Und dann gab er ein lautes, dreckiges Lachen von sich, dass ich vom ersten Moment an hasste. Doch von dem einen auf den anderen Augenblick wurde er wieder ernst, zog seinen Mantel aus, stellte sich breitbeiniger hin, umfasste den Schaft seines Schwertes mit beiden Händen und ließ es wieder seitlich von sich zu Boden sinken.

„Mal sehn, was du noch so behalten hast.“

Und damit preschte er vorwärts, war – bevor ich auch nur Luft holen konnte- bei mir und zog sein Schwert direkt vor meiner Nase in die Höhe. Einem Reflex folgend, hielt ich das Messer, das ich immer noch in der Hand hielt, vor meinen Körper und versuchte den Schwertstreich abzuwehren- ohne Erfolg.

Das zierliche Messerchen gab unter der Wucht seines großen Verwandten sofort nach, zerbrach und wurde mir aus der Hand geschlagen. Ares verweilte kurz in der Position, die er gezwungen war, einzunehmen und schaute mich mit hochgezogenen Brauen und unschuldigem Dackelblick seiner hellen kalten Augen an.

„Ups, war ich das?“ Völlig überrumpelt von seiner Schnelligkeit stand ich da und starrte ihm ins Gesicht.

„Du gehörst zu dieser Mafia, richtig?“

Wieder lachte Ares kurz und ein Funkeln stahl sich in seine Augen.

„Mafia? Das sind wir schon lange nicht mehr… aber wenn du damit besser klar kommst…“

Und wieder erwachte er im Bruchteil einer Sekunde aus seiner Starre und ein weiterer Schwerthieb durchschnitt die Luft, doch diesmal schaffte ich es, diesem auszuweichen. Ich ließ mich nach hinten fallen, stützte mich mit den Händen auf dem Boden ab, meine Beine wirbelten durch die Luft, dass Ares auf Abstand gehen musste und ich kam mit einem weiteren Schwung wieder auf die Beine. Ohne darüber nachzudenken, was ich da machte, hob ich die Hände vor meinen Körper in die Luft, drehte die Handinnenflächen nach oben und stellte mich etwas seitlich. Überrascht über meine eigene Tat, starrte ich erst ein paar Sekunden verdutzt auf meine merkwürdige Handhaltung, ehe mich Ares’ zufriedenes Schnaufen aufblicken ließ.

„Das ist Karate, falls dir der Name entfallen ist…“

Jetzt schaute ich noch ungläubiger. „So was kann ich?!“

Ares zuckte mit den Schultern, ließ sein Schwert fallen und nahm dieselbe Grundstellung wie ich ein. „Ist nix besonderes, Junge. Gehört zur Ausbildung dazu…“

Er war wieder mit ein, zwei Schritten an mich herangetreten, wehrte geschickt ein paar meiner halbherzigen Schläge ab, tauchte dann unter dem nächsten ab und zog mich mit seinen Beinen von meinen. Ich hatte noch nicht ganz den Boden erreicht, da holte er mit seinem Fuß aus und trat mir so in die Magengrube, dass ich würgte und Sterne sah. Fin rief von irgendwoher meinen Namen.

„… Genauso wie Kickboxen.“, vollendete er seinen Satz, drehte sich um und ließ mich liegen. Ich fühlte mich, als wenn mir gleich alles hochkommen würde, doch dieses Gefühl hielt Gott sei Dank nicht allzu lange an, sodass ich schnell wieder auf die Beine kam. Meine anfängliche Angst und der Funken Respekt vor diesem Schrank von Mann hatten sich mit Handkuss von mir verabschiedet und einer unheimlichen Wut höflich die Tür in mein Denken aufgehalten.

Kaum hatte ich das Gleichgewicht wieder zurückerhalten, stürmte ich mit erhobener Faust von hinten auf Ares zu, verfehlte seinen Kopf jedoch um Zentimeter, was er mir im selben Moment zugute kommen ließ, indem er meinen Arm packte und mich über seinen Rücken nach vorne gegen die nahe Wand schleuderte.

„… Und nicht zu vergessen: Judo. Sehr nützlich, wenn du mich fragst… “

Auch wenn ich im Moment nichts weiter als bunte Sterne und Punkte sah, konnte ich mir sein breites Grinsen bildlich vorstellen. Wieder ertönte Fins Stimme, doch diesmal brach sie mitten im Satz ab und ich hörte nur noch ein verängstigtes Gurgeln. Sofort riss ich alarmiert die Augen auf und sah Fin, wie sie hilflos in der Luft baumelnd das Handgelenk von Ares umklammerte, dessen Hand sich um ihren Hals geschlossen hat.

„Es ist gesünder für dich, wenn du dich aus diesem Kampf heraushältst…“, brummte der Riese.

„Lass sie los!!“, brach ich wütend hervor. Tatsächlich ließ Ares seinen Arm sinken, sodass Fin wieder auf ihren eigenen Beinen stand und schaute mir verblüfft dabei zu, wie ich versuchte, wieder Herr über meinen Körper zu werden.

„Erstaunlich… du stehst ja noch mal auf.“

Mit rasselndem Atem stemmte ich mich an der Wand hoch. Mir tat alles weh.

„Was willst du eigentlich?“

Ares legte den Kopf schief und ohne noch einmal auf Fin zu schauen, lockerte er seinen Griff und ließ sie los.

Wieder grinste er. „Was glaubst du denn, was ich will?“

Die Wut kochte in mir von Sekunde zu Sekunde mehr hoch. Ich hatte keine Ahnung.

War er gekommen, um mich – und vielleicht auch Fin- umzubringen? Aber warum hat er sich dann vorher die Mühe gemacht, dafür zu sorgen, dass ich nicht sterbe? Ich schwieg und starrte ihn nur an.

Ares seufzte. „Ich muss dir also noch weiter auf die Sprünge helfen…“

Fin huschte verängstigt hinter mich und zog mich diesmal so stark am Arm, dass ich tatsächlich gezwungen war, ein paar Schritte mit ihr mit zu stolpern. Sie drängte Richtung Flur, aber bevor wir diesen erreichen konnten, stellte sich Ares uns in den Weg.

„Bist `ne schlechte Gastgeberin, Süße, mich hier einfach so stehen zu lassen.“ Dass Fin sich überhaupt noch auf den Beinen hielt, war bemerkenswert. Ich zog sie an meine Seite und funkelte Ares an.

„Das ist eine Sache zwischen uns, Fin hat nichts mit der Organisation zu tun, also halt sie daraus!“

Ares zog gelangweilt die Schultern hoch und hielt die Tür auf. Es hatte keinen Zweck, jetzt abzuhauen, das wusste ich. Es war mir in dem Moment völlig egal, was mit mir passieren könnte- hauptsache Fin war in Sicherheit. Ich drehte Fin zu mir um, sodass sie mich mit Tränen in den Augen ansah.

„Geh. Bitte.“, flüsterte ich. Sie schüttelte langsam den Kopf und neue Tränen quollen aus ihren grünen Augen. Es tat mir in der Seele weh, sie wegzuschicken. Ich wollte sie bei mir wissen, aber ich wollte sie noch stärker nicht in Gefahr sehen. Hinter ihr sah ich Ares genervt die Augen verdrehen, dann packte er Fin kurzerhand am Handgelenk und schob sie aus der Tür. Sie schrie mir beinahe erschrocken meinen Namen zu, ehe die Tür ins Schloss fiel und Ares den Schlüssel hörbar im Schloss drehte.

„Du kennst ja die Regeln, Süße: keine Polizei!“, rief Ares ihr grinsend durch die geschlossene Tür zu.

„Lass das gefälligst.“, knurrte ich. Ares ließ seine rechte Schulter kreisen und begann um mich herum zu gehen. Ich beobachtete ihn wachsam.

„Ach, da hat’s aber wen erwischt…“, säuselte er gekünstelt. „Wäre wohl besser gewesen, ich hätte mir für dich `nen Typen ausgesucht. Obwohl…“, Ares unterbrach seinen Rundgang und verzog das Gesicht. „…Bei meinem Glück wäre der bestimmt schwul gewesen.“

Er klatschte laut in die Hände. „Egal. Deswegen bin ich nicht hier. Also? “

Er ging leicht in die Knie und nahm wieder diese Grundposition vom Karate ein und winkte auffordernd mit der Hand. In mir hatte sich inzwischen so viel Wut angestaut, dass ich dieser Einladung ohne zu zögern nachkam- und bereute es wieder im nächsten Moment, denn Ares war schneller.

Ich hatte mich ihm nicht einmal auf Armeslänge – wohlgemerkt meiner – genährt, da hatte er schon mit seiner Pranke nach meinem Kopf geangelt und mich mit ausgestreckten Arm erneut gegen die Wand geworfen- diesmal machte ich die Bekanntschaft mit Fins Geschirrschrank. Von lautem Geklirre begleitet, ging ich zu Boden. Ares hatte sich keinen Millimeter bewegt, er schaute mir nicht einmal mehr dabei zu, wie ich aus dem Scherben- und Holzhaufen heraus kroch, sondern starrte gelangweilt eine andere der vier Wände an. Mit zusammengebissenen Zähnen zog ich mir die gröbsten Glassplitter aus den Handflächen und funkelte ihn böse an.

„Bist du nun fertig mit deinem Rumgespiele?“, brummte er. Ich fasste es nicht… Ares war wirklich gelangweilt! Der Typ war echt nicht normal.

Mit einem wütenden Schrei stürzte ich auf ihn zu und hob die rechte Hand zur Faust. Wieder tauchte Ares unter meinem Schlag ab, aber diesmal war ich vorbereitet, diesmal war ich schneller…

Blitzschnell riss ich mein Knie hoch und traf Ares` Nase, sodass dieser aufschrie und gezwungen war, auf Abstand zu gehen. Einen Moment lang stand er nur da und schaute gebannt auf das Blut, dass nun an seinem Handrücken klebte, den er zuvor gegen seine Nase gedrückt hatte. Doch dann verzog er seine Lippen zu einem Lächeln und schaute mich mit einem Funkeln in den Augen an, das mir irgendwie bekannt vorkam- unter das kalte Glänzen hatte sich ein Hauch von Mordlust gemischt.

„Na bitte, geht doch…“, raunte er und wischte sich grinsend das Blut an seiner Hose ab.

Und damit begann der richtige Kampf. Die Zeit des Ausprobierens war vorbei, das wurde mir schnell und schmerzhaft beigebracht. Selbst nach langen Schlagabtauschen war Ares nicht müde genug, um von mir abzulassen. Während ich mich darauf konzentrierte, nicht allzu viele Schläge einstecken zu müssen, war er damit beschäftigt, mich auf jede erdenkliche Art anzugreifen. Mir wurde schnell bewusst, dass Ares einiges mehr beherrschte, als nur Karate.

Doch ich lernte so schnell, dass ich mir wieder selbst ein Stück unheimlich war. Irgendwann wendete sich das Blatt und nun bekam auch Ares ein paar Schläge ab. Und dann machte er einen Fehler; er ließ von mir ab und guckte mir amüsiert zu, wie ich mich schwer atmend auf die Knie stütze.

„Du hast nachgelassen, mein Lieber.“, bemerkte er. Auch ihm standen die Schweißperlen auf der verletzten Stirn. Ja, er hat einstecken müssen und dafür fühlte ich mich ein wenig stolz.

„Früher warst du ganz anders. Damals, da warst du mir ebenbürtig und gnadenlos und jetzt? Jetzt habe ich das Gefühl gegen ein Gör zu kämpfen!“, rief er mir wütend entgegen und ballte die Hände zu Fäusten. Mühsam richtete ich mich auf.

„Ist mir egal, wie ich früher war, ich will damit nichts mehr zu tun haben. Ich habe mich geändert!“ Hinter Ares blitzte sein Schwert auf.

Der Mann lachte. „Glaubst du, ja? Woher willst du das wissen? Du hast keine Erinnerungen an diese Zeit, zumindest so wenige, dass du dir nicht im Klaren bist, was du damals alles getan hast.“

Die Worte waren fast beiläufig gesprochen worden, jedoch fühlten sie sich wie ein Faustschlag in die Magengegend an.

… du bist und bleibst ein Mörder! , erklang die Stimme wieder in meinem Kopf.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du wieder zur Besinnung kommst. Und dann bist du wieder der Mistkerl, der Menschen umbringt…

Die Wut und der Hass über mich selbst schafften sich durch einen brüllenden Aufschrei Freiraum und ich stürmte erneut auf Ares zu, der mit dieser Reaktion wohl nicht gerechnet hat, denn er blieb wie angewurzelt stehen. Im nächsten Moment fiel ich mit ihm zu Boden. Im Fall griff ich über ihm hinweg nach dem Schwert und hielt es ihm schnaubend an die Kehle. Zum ersten Mal sah ich echte Verblüffung und Erstaunen in seinen Zügen.

„Halt den Mund!“, schrie ich ihn an. „Oder ich bring dich um!!“

So schnell wie die ungewohnten Emotionen in sein Gesicht getreten waren, waren sie auch wieder verschwunden.

„Dann tu es…“ Ares war auf einen Schlag hin todernst geworden und schaute mich mit festem Blick an. Er wehrte sich nicht einmal, obwohl es für ihn ein Leichtes gewesen wäre, mich von ihm herunter zu stoßen. Ich drückte die scharfe Kante fester in seine Haut, bis ein paar Tropfen dunklen Blutes den Hals hinunterflossen. Ich begann zu zittern. Eine Stimme in mir forderte seinen Tod und griff regelrecht nach meiner Hand, welche das Schwert hielt, während eine andere dagegen arbeitete. In meinem Kopf herrschte das reinste Chaos.

Töte ihn! …

Lass ihn am leben, du bist kein Mörder…

Bring ihn um…

Du wolltest dich doch bessern …

Mach schon!! …

Denk doch an Fin! ...

TÖTE IHN!!

Dumpf fiel die Klinge zu Boden. Eine Weile saß ich noch über ihn gebeugt da, doch dann stand ich schnell auf und trat von ihm zurück.

„Ich kann nicht…“, flüsterte ich, mehr zu meiner inneren Stimme, als zu Ares. Dieser richtete sich schweigend auf, das Gesicht emotionslos. Ich ging zur Tür und schloss diese wieder auf. Noch bevor ich sie ganz aufgemacht hatte, fiel mir schon Fin weinend um den Hals. Doch sie ließ mich schnell wieder los, als sie sah, dass Ares sich noch bewegte.

Er war aufgestanden und hatte sein Schwert wieder in die Hand genommen. Meine Kehle wurde trocken und ich umklammerte Fin fester. Ares kam mit gemächlich schlurfenden Schritten auf uns zu, den Blick gesenkt, sodass ich sein Gesicht nicht sah. Es war alles vorbei, das wurde mir nun schmerzlich klar. Fins Augen huschten immer schneller zwischen mir und ihm hin und her und sie wurde, je näher er kam, unruhiger. Meine Gedanken rasten.

Was sollte ich tun? Ich war zu erschöpft, um noch einmal gegen ihn zu kämpfen und nun war er gewarnt und würde besser aufpassen und-

Plötzlich hob er die freie Hand zu seinem Gesicht. Ein tiefes Brummen ertönte aus seiner Brust, erst leise, dann immer lauter und irgendwann erkannte ich das Geräusch als Lachen, ein dunkles ausgelassenes Lachen, das etwas erleichtertes, ja sogar fröhliches an sich hatte. Er hob den Kopf und fuhr sich durch die kurzen Haare.

„Ich wusste es: Du hast dich kein Stück verändert- du bist immer noch Nero…“ Ares lächelte glücklich und in seinen Augen schimmerte es ungewöhnlich, als unterdrücke er nur mit Not die Tränen. Und ehe ich mich versah, stand Ares schon vor mir und drückte mich fest an seinen muskulösen Körper.

Zurück zum Anfang

Für einen Moment- einen sehr langen sogar- fühlte ich mich, als hätte ich mich im Kinosaal geirrt, vollkommen darauf vorbereitet, einen der schlimmsten Horrorfilme zu sehen und sich dann in einer zweitklassigen Komödie wieder zu finden- zumindest empfand ich es als schlechten Scherz, als Ares, ohne Vorwarnung oder Anzeichen auf sein Handeln, Nero in die Arme schloss, als habe er seinen verlorenen Sohn wieder gefunden.

Und auch Neros Gesichtsausdruck spiegelte einen gewissen Grad von Verwirrung wider- der Rest spaltete sich in Angst, Entsetzen und Ekel auf. Irgendwann fand Nero dann doch die Kraft, sich aus der Umarmung zu befreien und auf angenehm höfliche 2 Meter Abstand zu gehen.

„Ok, Schluss jetzt! Was willst du verdammt noch mal?!“

Für einen Moment gefror Ares’ Grinsen, doch dann verschwand das Leuchten aus seinen Augen und er schaute todernst.

„Ich will, dass du dich erinnerst.“, sagte er knapp. Wieder huschte mein Blick zwischen den beiden Männern hin und her, blieb jedoch bei Nero hängen, der ungefähr genauso verwirrt aussah, wie ich mich fühlte. Er brauchte ein paar Sekunden, doch dann brach es zögernd aus ihm heraus: „Was?“

Ares trat einen Schritt näher. „Auch wenn du es nicht glauben willst… ich bin hier, um dich vor deiner Vergangenheit zu schützen, aber das kann ich nur, wenn du sie kennst.“

Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug; nicht, wegen diesem beschwörenden Tonfall von Ares, sondern weil mein ganzer Vorsatz, Neros Leben zu ändern, vor meinen Augen zu bröckeln begann. Verängstigt starrte ich zu Nero. Ich sah es in seinem Gesicht arbeiten.

„Was meinst du damit?“, hauchte er, eine Sehnsucht in den Augen, die an Ares’ blassen Lippen hingen. Dieser ging noch einen Schritt vor.

„Du siehst Bilder, stimmt’ s? Erinnerungen, die du nicht zuordnen kannst- “

Ich hatte genug. Mit wenigen Schritten stand ich an der Tür und hielt diese auf.

„Das reicht!“, rief ich wütend. „Raus aus meinem Haus!“

Sichtlich verwirrt und auch ein wenig sauer, kam Nero auf mich zu; Ares blieb da, wo er stand und verzog keine Miene.

„Was soll das, Fin?“, fragte er leise und zog die Brauen zusammen. In mir tobte ein Sturm. Grimmig stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um seinem Gesicht etwas näher zu kommen. Wieder unterschätzte ich seine Größe, denn ich redete jetzt immer noch mehr mit seinem Schlüsselbein, als ihm in die Augen zu schauen, ohne meinen Kopf in den Nacken werfen zu müssen.

„Ich lasse nicht zu, dass dir dieser Typ da irgendwelchen Mist in den Kopf setzt!“, zischte ich. Nun kam er näher.

„Das ist kein Mist, Fin.“, widersprach Nero genauso leise und bissig. „Das ist meine Vergangenheit!“

„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, nicht weiter darüber zu sprechen und es abzuhaken!“

Du vielleicht…“

Nero wurde sichtlich wütend- ich war aber auch nicht gerade ruhig. Ich schüttelte den Kopf. „Nero, er wollte dich noch vor wenigen Minuten umbringen!“ Ich betrachtete seine etlichen Schnittwunden.

„Er wird seine Gründe gehabt haben, warum er so gehandelt hat.“, erwiderte er.

Wütend lachte ich auf. „Gott, wie kannst du nur so naiv sein? Wenn du Menschen immer so einfach vertraust, dann ist es für mich kein Wunder mehr, dass du an diesen Penner geraten bist…!“

In Neros Augen funkelte es und gerade wollte er zum Konter ansetzten, als sich jemand in unserem Rücken lautstark räusperte.

„Der Penner hätte einen Vorschlag zu machen.“

Fast zeitgleich fuhren wir herum. Ares war hinter uns getreten und schaute mich mit einer Mischung aus Ärger und beleidigt sein und mit verschränkten Armen an. Ich spürte ein leichtes Schuldgefühl ganz tief in mir und lief rosa an- doch nur für den ersten Moment…

„Den einzigen Vorschlag, den ich habe, ist der, dass Sie jetzt gehen- sofort!“

„Ich glaube nicht, dass du das zu entscheiden hast…“, antwortete Ares ruhig. Mir blieb der Mund über so viel Dreistigkeit offen stehen und bekam kein Wort raus. Selbst Nero zog verwundert die Brauen hoch.

„…Es geht hier um Nero.“, brummte Ares.

Schweigen. Nero straffte sich neben mir ein wenig und schaute ihn selbstsicher an. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr der Hüne mit seiner Erklärung fort:

„Wir haben nun 2 Möglichkeiten, wie wir weiter verfahren können.“, sagte Ares an Nero gewand und hob dabei seine rechte Hand mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger vor sich. „Die erste wird wohl unser kleiner Hausdrache hier favorisieren- jedenfalls mehr, als die andere…“, fügte er zu und warf mir einen Seitenblick zu, der mich aufschrecken ließ.

„Also. Ich drehe mich auf dem Absatz um, verschwinde durch die Eingangstür und ziehe meines Weges. Ihr würdet mich nie wieder sehen. Da ich dich aber sehr gut kenne, Nero, kann ich dir jetzt schon sagen, dass dich diese Halbweisheiten, die du dir aus deinen Flashbacks und euren erbärmlichen Rechercheversuchen zusammengereimt hast, früher oder später in den Wahnsinn treiben werden. Irgendwann wirst du wieder losgehen und nach Antworten suchen und dieses Holmes und Watson- Spiel wird dich immer mehr in die Arme der Regierung treiben und das wird für dich- und wahrscheinlich auch für dich…“, und dabei durchbohrte mich Ares` Blick, „… tödlich enden.“

Nero schwieg und auch sein Blick hang an mir, als hätte ich auf einer Trauerfeier einen schlechten Witz gemacht. Ich schluckte hart und spürte, wie mein Herz allmählich zu rasen begann. Irgendwann setzte Ares dann seine Erklärung weiter fort.

„Nun die andere Variante…“, begann er und deutete nun nur noch mit dem Zeigefinger,

„… Wir setzen uns, machen zusammen etwas Hochprozentiges auf und ich plaudre etwas aus dem berühmten Nähkästchen nach dem alt bekannten Prinzip des Frage- und- Antwort- Spiels. Danach werden wir weitersehen; es ist möglich, dass ihr für gewisse Zeit untertauchen müsst, denn die Regierung wird nicht darauf warten, dass ihr euch zu erkennen gebt. Aber das kriegen wir schon hin…“

Ich runzelte die Stirn. „Wir?“

Anstatt mir eine Antwort zu geben, ruhte Ares’ Blick weiterhin auf Nero. Diesem sah man die Anspannung förmlich an. Mich hätte es nicht gewundert, wenn ich seinen Herzschlag gehört hätte. Erneut schwiegen wir drei uns an. Es lag nun an Nero und das machte mir am meisten Sorgen…

Die Möglichkeiten, die Ares uns genannt hatte, waren beide in meinen Augen nicht sehr verlockend- beide waren gefährlich. Wir würden uns so oder so- wenn man mal Ares’ Worten Glauben schenken durfte- ins Visier von Mächten stellen, die Meilen über uns standen und bei denen wir partout nichts erreichen könnten. Und wie Ares schon gesagt hatte: ich wäre trotz aller Gefahren für die erste Variante. Ich wollte Ares nicht vertrauen und war mir –zu diesem Zeitpunkt- sicher, dass er maßlos übertrieb. Und was Nero betraf: ich hätte mich darum schon gekümmert. Ich hätte niemals im Leben zugelassen, dass es soweit kommen würde. Erinnerst du dich nicht an mein Versprechen? , dachte ich bitter, sprach es jedoch nicht aus, lass deine Vergangenheit hinter dir… bitte…

Mit flehendem Blick schaute ich zu Nero, doch schon im ersten Moment erkannte ich in seinen Augen, dass ich verloren hatte…

„Nähkästchen, hm?“, fragte er und verengte die Augen. „Na schön… wer genau bist du?“

Für einen Augenblick dachte ich, dass mein Herz aussetzen würde. Ares’ angespannte Gesichtszüge wurden weicher und es zuckte verräterisch um seine Mundwinkel herum.

„Wie gesagt: das wird eine längere Geschichte…“ Ich spürte seinen durchdringenden Blick, doch ich wagte es nicht, ihn anzusehen, sondern starrte mit leeren Augen zu Boden.

„Hast du etwas Alkoholisches im Haus?“ Seine Stimme hatte nichts triumphierendes oder ironisches an sich, sie war sehr formell und neutral.

„ Ich seh’ nach…“, antwortete ich mit trockener Kehle, schlurfte fast mechanisch in die Küche und kramte nach einer Weinflasche und drei Gläsern. Meine Augen brannten unangenehm.

Als ich wieder im Wohnzimmer stand, hatten Ares und Nero die Couch, welche bei dem Kampf von A nach B gestoßen worden war, wieder richtig hingestellt und saßen sich nun gegenüber. Schweigend setzte ich mich neben Nero und reichte die Flasche an Ares weiter. Dieser drehte das dunkle Glas kurz in der Hand und seufzte. „Ein 69’er … guter Jahrgang- zu gut zum betrinken, wenn du mich fragst.“ Teilnahmslos zuckte ich mit den Schultern. Ares füllte die normalen Gläser, die ich im vorbeigehen von der Küchenablage gefischt hatte, bis zum Rand, platzierte zwei davon auf dem Tisch, während er mir das dritte mit leichtem Nachdruck in die Hand drückte und lehnte sich zurück.

„Du wolltest wissen, wer ich bin.“, stellte er fest. „Nun… ich bin Ares- mehr nicht. Ich besitze keinen Nachnamen, wenn du das wissen wolltest und einen festen Wohnsitz habe ich auch nicht. Ich bin 35 Jahre alt und habe keine Hobbys… vielleicht hatte ich mal welche, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Mein Beruf is’ mein Hobby, wenn du es so willst. Mehr gibt es über mich nicht zu wissen.“

Nero nickte. „Du wusstest von meinen Flashbacks… was weißt du darüber?“

Ares beugte sich vor. „Was hast du genau gesehen?“

Neros Augen verengten sich erneut und seine Stimme bekam einen harten Unterton.

„Dich… Du standest vor mir, während ich unheimliche Schmerzen erlitt.“

Kurz schaute ich auf Neros Schläfen. Seine schwarzen Haare waren ihm tiefer ins Gesicht gefallen und nun waren seine Verbrennungen wieder von der Seite sichtbar. Ares schwieg für Sekunden und er sah so aus, als müsse er sich beherrschen, damit er nicht etwas sagte, das er nicht sagen wollte. In seinen Augen funkelte es und ein nervöses Zucken umspielte seine Lippen. Schließlich richtete er sich auf und sein Gesicht war wieder entspannt.

„Ja, das war zu erwarten…“, sagte er und langte nach seinem Glas. „Ich denke, du wirst dich schon öfters gefragt haben, warum du dich an kaum etwas erinnern kannst… Aber bevor ich dazu komme, will ich, dass du etwas anderes verstehst: Ihr habt… >nachgeforscht<, richtig? Was habt ihr herausgefunden?“

Anstelle von Nero, antwortete ich. „Nicht viel. Wir sind auf einen Bericht gestoßen, in dem von Brandstiftung in einem Gebäude der Regierung die Rede war. Einige Leute in einem Forum haben die Vermutung angestellt, dass dafür eine Art Mafia verantwortlich ist…“

Ich stockte, als Ares nun ernsthaft ein Lachen unterdrücken musste. „Wir … nun, wir haben daraufhin vermutet, dass…“

„Dass ich daran beteiligt war und dass ich ein Mitglied in dieser Organisation bin.“, fiel mir Nero trocken ins Wort. Ares seufzte und fuhr sich durchs Haar.

„Wir stecken da beide mit drin, mein Lieber.“ Also doch… nun hatten wir es bestätigt bekommen. Erneut ging mein Herzschlag schneller.

„Wo drin genau?“, wollte Nero wissen. Sein Gegenüber antwortete ihm nicht gleich. Sie schauten sich stumm an, dann trank Ares sein Glas in einem Zug aus und beugte sich über den Tisch. Der süßliche Geruch des Weines schlug mir leicht entgegen, als Ares nun sprach: „Schon mal was Olymp gehört?“
 

Olymp…

Für den ersten Moment hätte ich beinahe automatisch Ja gesagt- mir fielen sofort mehrere Situationen ein, in denen ich den Namen schon gehört hatte. Ich holte Luft, setzte aber nicht zur Antwort an. Ares verharrte noch wenige Sekunden in seiner gebeugten Haltung, dann richtete er sich wieder auf.

„Olymp…“, wiederholte er noch einmal ernst und sah Nero an, als suche er in seinem Gesicht nach dem Anzeichen einer wiederkehrenden Erinnerung bezüglich dieses Namens.

„So nennen wir uns, also die Organisation, der wir angehören.“

„Und … was macht… ihr?“ Meine Frage war lächerlich- zumindest wenn man Ares’ hochgezogene Augenbraue mit ihr in Verbindung brachte.

„Nun, offiziell schimpfen wir uns Kopfgeldjäger. Allerdings arbeiten wir nicht mit dem Staat zusammen, aber der Begriff umschreibt ganz gut unsere Haupttätigkeit…“

Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Instinktiv tastete ich nach Neros Hand.

„Ihr… tötet Menschen?“

Ares zuckte mit den Schultern. „Nicht nur, aber: Ja. Um genau zu sein erledigen wir die Drecksarbeit für alle anderen. Wir waren die führende Organisation in der Unterwelt, die erste Anlaufstelle für jeden noch so kleinen unwichtigen Verein bis hin zu großen Firmen, die was ausgefressen haben.“ In seiner Stimme hallte etwas Stolz mit, auch wenn seine Wortwahl auf etwas anderes schließen ließ. Mir wurde etwas schwindelig bei dem Gedanken, dass mir ein Mann gegenübersaß, der anscheinend schon mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hatte und es als etwas Normales abtat. Es war Neros Stimme, die mich aus meinem Denken holte.

„Ihr ward die führende Organisation?“

Ares schwieg für einen Moment, als fiele es ihm schwer, weiter zureden. „Wir sind nicht mehr das, was wir mal früher waren, Nero.“, antwortete er ernst. „Schon lange nicht mehr. Unser Anführer, Hades, hat Fehler begangen, die uns das Leben ziemlich erschwert haben- und für einige wird er auch noch bezahlen müssen…“ Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern, als habe er das nur zu sich selbst gesagt, wie ein Versprechen, an das er sich nur noch einmal selber erinnert hat. „Aber das soll jetzt nicht unser Thema sein.“, sagte er nun wieder lauter. Nero nickte.

„Kommen wir nun zu dir…“, fuhr Ares fort. „Wie dir schon aufgefallen ist, hast du dein Gedächtnis verloren, kannst dich aber an Dinge erinnern, von denen du nicht weißt, was sie konkret zu bedeuten haben. Nun… normalerweise dürfte das nicht passieren.“

Ich runzelte die Stirn. „Was meinen Sie damit?“

Ares’ Blick huschte wieder zu mir und ich setzte mich unbewusst aufrechter hin und schob das Kinn vor. „Nenn’ mich Ares, das Sie klingt so alt.“

Ich musterte ihn mit verengten Augen. Ares sah tatsächlich nicht alt aus- immerhin war er ja gerade mal 35. Um seinen Mund herum waren leichte Falten zu erkennen- Lachfalten, die sich tiefer über seine Wangen ausbreiteten, wenn er sein freches Grinsen zur Schau stellte. Das Einzige, was ihn älter erscheinen ließ, war sein extrem hellblondes, beinahe weißes Haar, das recht kurz geschnitten war. Sein anfänglicher Stoppelbart von damals war nun dichter geworden und unter seinen hellen, kalten Augen lagen dunkle Schatten- alles an ihm war nicht sehr vertrauenswürdig. Ich straffte mich und antwortete bissig: „Wir kennen uns kaum und bis jetzt haben Sie sich mir gegenüber nicht sehr freundlich verhalten, nennen Sie mir also einen Grund, warum ich Sie wie einen Freund behandeln sollte und Sie duzen sollte…“

„Weil ich derjenige bin, der deinen süßen Hintern retten wird.“, brummte Ares.

Ich versuchte mich zu beherrschen, diesem Typen keine Ohrfeige zu geben, ihn nicht zu treten oder sonstige Gewaltakte an ihm zu verüben, was darin endete, dass Nero nun mir vorsichtig seine Hand auf meine verkrampfte Faust legte und mir gut zusprach.

„Fin, bitte beruhige dich …“ und zu Ares sagte er lauter: „Und du halt dich zurück. Ich hab’ dir gerade schon gesagt, dass du sie in Ruhe lassen sollst.“ Ares konzentrierte seinen Blick wieder ganz auf Nero- dem spitzen Kommentar schien er keine weitere Beachtung zu schenken-, während ich mit aufeinander gebissenen Zähnen dasaß und versuchte, meine Wut zu unterdrücken. Ich konnte diesen Mann von Wort zu Wort, das aus seinem Schandmaul kam, weniger leiden.

Natürlich merkte das auch Nero. Seufzend versuchte er wieder den Faden zu finden.

„Was hast du jetzt damit gemeint, dass meine Flashbacks nicht normal seien?“

„Das, was ich gesagt habe.“, erwiderte Ares wieder vollkommen gelassen. Seine Stimme hatte schon wieder diesen komischen Unterton bekommen, dieses rätselhafte in seinen Worten mit dem Funken Freude, als mache es ihm Spaß, uns im Dunkeln tappen zu lassen. „Aber das ist halt das besondere an dir- das einzigartige…“

Er hielt inne. Da Nero nur die Stirn in Falten legte und ich mir vorgenommen hatte, von nun an meinen Mund zu halten, um zu verhindern, dass mir etwas rausrutschte, was diesem Killer missfallen könnte, fuhr Ares schnell wieder fort, als niemand antwortete.

„Beantworte mir eine Frage, Nero. Woher kennst du deinen Namen? Ich denke nicht, dass ihr so einfaltsreich gewesen seid und euch den Namen einfach ausgedacht habt- und dann noch einen so außergewöhnlichen.“

Nero zögerte einen Moment, doch dann legte er seine freie Hand in den Nacken. „Nun… ich hab’ da so eine komische ID- Nummer im Nacken.“

Ares faltete die Hände und legte sein Kinn darauf ab. „Hm… sehr interessant. Und was fällt dir bei 995347356 ein?“

Ich ahnte etwas, sprach es aber nicht aus, sondern sah zu, wie Nero für eine Sekunde die Augen schloss und nachdachte. Als er sie wieder öffnete, sagte er etwas verwirrt:

„Das… das bist du, Ares, aber-“ Er blinzelte und verzog fragend das Gesicht. Meine Augen weiteten sich und auch Ares zog gespielt die Brauen in Richtung Haaransatz.

„Na sieh’ mal einer an… woher weißt du das denn?“, fragte er spöttisch. „Und was ist mit dem letzten Wocheneinkauf, hm? Wie viel habt ihr eingekauft? Wie viel hat alles einzeln gekostet?“ Mein Herz klopfte schneller. Das konnte doch nicht sein…

„Warum kann ich mich an so was erinnern, Ares?“, fragte Nero beinahe hilflos. Ares lehnte sich zurück. „Bist du immer noch nicht drauf gekommen?“

Wieder ruhte sein Blick auf mir. „Deine Freundin hier hast’ s wohl schon verstanden…“ Erst jetzt merkte ich, dass ich Nero mit offenem Mund anstarrte. Ares tippte sich gegen die Stirn.

„Du hast das hyperthymestische Syndrom, Nero. Ein Fotografisches Gedächtnis.“

Die Wahrheit

„Ich- ich habe was?“, stotterte ich fassungslos.

Ares wiederholte noch einmal seine Worte und ließ mir Zeit, das Gehörte zu verdauen. Ich fuhr mir nervös durchs Haar und langte zum ersten Mal nach meinem Glas. Der Wein- so alt und teuer er auch sein mochte- schmeckte widerlich.

„Aber… was hat das mit meinem Gedächtnisverlust zu tun?“, fragte ich dann nach einer Weile.

„Ne’ ganze Menge…“, gab Ares zurück, „In gewisser Maßen, hat er dich vor Schlimmerem bewahrt. Denn eigentlich solltest du dich an gar nichts mehr erinnern…“

„Aber warum? Was hat er denn getan, dass man ihm sein Gedächtnis nehmen musste?“

„Die Frage ist nicht, was er getan hat, sondern was er gesehen hat…“, sagte Ares ernst. Augenblicklich durchforstete ich meine spärlichen Erinnerungsbrocken nach etwas wichtigem, wurde aber schnell von Ares unterbrochen.

„Du wirst nichts finden, Junge. Dieser Teil deines Gedächtnisses ist tief in deinem Unterbewusstsein verankert. Um dich daran zu erinnern, braucht es schon etwas mehr… Bilder, bestimmte Worte, die du damit verbindest, Geräusche oder Empfindungen.“

Sofort fielen mir wieder etliche Situationen ein, die auf Ares’ Beschreibung passten: Das Bild von der Augenzeugin und dem Gebäude, die Zahlenkombinationen in meinem und Ares’ Nacken- und meine Erinnerung an Ares selbst und meine merkwürdigen Brandmale an meinen Schläfen. Vorsichtig tastete ich nach ihnen. „Diese Verletzungen… du hast etwas damit zu tun, oder?“ Meine Stimme war schärfer, als ich beabsichtigt hatte. Ares schlug fast unmerklich die Augen nieder.

„Ja. Die Erinnerung, die du hast, ist die, an die Maschine, die das Gedächtnis löscht- wir nennen sie 'Memoria'. Ich war derjenige, der dich da drauf gesetzt hat, das gebe ich zu… aber auch ich habe nur einen Befehl befolgt.“

Seine Worte waren wie ein Schwall kaltes Wasser in mein Gesicht. Meine Hand schloss sich fester um Fins. Er war an allem schuld? Ich begann zu zittern; vor Zorn oder weil ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand, konnte ich nicht genau sagen.

„Warum?“, fragte ich noch einmal konzentriert ruhig. Er blieb stumm, studierte nur mein Gesicht, dass ich innerlich noch unruhiger wurde.

„Du weißt von dem Vorfall im Regierungsgebäude?“, fragte er dann plötzlich. Fin und ich nickten.

„Also war das tatsächlich Olymp gewesen?“

Ein dunkles Grinsen zog sich über sein Gesicht. „Natürlich.“, sagte er stolz, „Das war seit langem mal wieder etwas anspruchsvolleres.“

Fin rümpfte die Nase.

„Was haben wir dort genau gesucht?“, fragte ich schnell, ehe Fin wieder einen bissigen Kommentar fallen lassen konnte.

„Eine Schreibdatei. Hades hatte schon vor Monaten ein Auge auf ein Programm des Militärs, Judgement genannt, geworfen. Wir beide sollten die dazugehörige Datei entwenden- allerdings ist vieles an dem Abend falsch gelaufen…

Am Anfang sah noch alles gut aus. Wir hatten uns aufgeteilt: du solltest die Datei besorgen und ich kümmerte mich derweil um unsere Gesellschaft- die ausgesprochen hübsch war, abgesehen von ihrem lauten Mundwerk, das kaum zu ertragen war …“ Ares’ Grinsen war noch breiter geworden und hatte etwas Schelmisches erhalten. Ich fühlte mich unweigerlich an die Frau, von der der Zeitungsartikel berichtet hatte, erinnert, sah ihre leidenden Gesichtszüge und ihre verweinten Augen. Auch wenn Ares anscheint der Frau keine Gewalt angetan hatte - wenn man dem Artikel glauben durfte- wurde mir jetzt, wo ich sein breites Grinsen sah, trotzdem schlecht bei dem Gedanken. Ich schwor in diesem Augenblick, Fin niemals alleine mit ihm in einem Raum zu lassen.

„Du hast dir an dem Tag ziemlich viel Zeit gelassen.“, fuhr Ares unbeirrt weiter fort, „Aber irgendwann hast du dich dann bei mir gemeldet. Die ganze Diskussion, die wir dann führten, soll jetzt mal egal sein- am Ende warst du, mehr oder weniger, gezwungen, die Datei zu öffnen- und da lag unser erster Fehler.“

Ich runzelte die Stirn. „Wieso? Was war das für eine Datei?“

Ares beugte sich wieder vor. „Ein Code.“, raunte er, „Ein ungefähr 5000-stelliger Code, bestehend aus Buchstaben, Ziffern und Zeichen, sprich das ganze Repertoire einer normalen Computertastatur, willkürlich zusammengesetzt und ohne System. Ein Passwort für eins der wichtigsten Militärprogramme, die es gibt. Und unser kleiner lebender Fotokopierer hier hat genau diesen Code in seinem verdammten Schädel abgespeichert- und alles nur, weil Mister Ich scheiß drauf, was mein Partner von sich gibt meint, schneller ins Bett zu kommen, wenn er wieder seinen Alleingang durchzieht und nicht auf mich wartet! Und als ich dann endlich da war, hast du schon wie hypnotisiert vor dem Computer gesessen und dieses Wirrwarr angestarrt.“

Ares’ wurde zum Ende hin immer lauter und ungehaltener, bis er sich letztendlich schnaubend und die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt zurück in den Sessel fallen ließ. Zögernd schauten Fin und ich uns an. Ich spürte, wie mir die Wärme bei den Worten in mein Gesicht aufstieg. Irgendwie konnte ich seinen Worten nur wenig Glauben schenken…

„Und… dann habt ihr das Gebäude in Brand gesteckt?“, fragte Fin ungläubig.

„Das war unser zweiter Fehler!“, rief Ares in anfängliche Rage verfallend und hob wütend die Arme. „Das wäre nicht passiert, wenn dieser Schrott- PC nicht alle paar Minuten nach einem Ausweis gefragt hätte und du ansprechbar gewesen wärst…“, und achselzuckend fügte er auf mein Stirnrunzeln hinzu: „Was glaubst du, warum du dich immer um das technische kümmerst und ich mich um das humane, hm? Das Ende der Geschichte ist zumindest, dass sich der Kasten selbst in die Luft gejagt hat.“

Mein Herz klopfte schneller. Wie schon vorhin begann ich, in meinem Gedächtnis zu kramen. Ein Code…

„Ist die Originaldatei denn noch erhalten?“

„Nein.“

Ich schluckte. „Das heißt… ich bin der Einzige, der den Code kennt?!“

Ares nickte ernst. „Ja und genau diese Tatsache hat dich um deine Erinnerungen gebracht. Denn wenn Hades eine Macke hat, dann ist es sein paranoides Denken. Wer den Code besitzt, besitzt auch Judgement und da er glaubt, dass du ihm den Code nicht freiwillig überlassen würdest oder du dich gar gegen ihn stellst, hat er ihn dir versucht zu nehmen.“

Fin schüttelte mit dem Kopf. „Aber… ist es nicht einfacher, jemanden dazu zu zwingen, etwas zu sagen, etwa durch- “

„Durch Folter?“, fiel Ares ihr ins Wort und lachte. „Dann hätte Nero erst recht nicht den Mund aufgemacht- und selbst wenn… wer hätte Hades die Sicherheit gegeben, dass es der richtige Code ist?“ Er hielt inne. „Nein. Wenn man eins nicht beherrschen kann, dann sind es die Gedanken von anderen Menschen. Man kann sie manipulieren oder beeinflussen, aber man kann nie die wahren Gedanken eines anderen ergründen oder ihn dazu zwingen, sie Preis zu geben. Das Einzige, was Hades machen konnte und tat, waren Neros Erinnerungen zu löschen, um zu garantieren, dass ihm selbst niemand gefährlich werden könne- was, wie wir ja jetzt schon herausgefunden haben, nicht von Erfolg gekrönt war.“

Ich nickte schwer. „Weil mein Fotografisches Gedächtnis im Unterbewusstsein sitzt.“

„Es ist mehr ein Teil deines Instinktes. Du kannst es nicht steuern, geschweige denn bewusst darauf zurückgreifen. Das wusste Hades aber nicht. Er dachte, dass Memoria auch dein Fotografisches Gedächtnis knacken könnte. Zum Glück hat sie es nicht getan…“

„Weiß Hades, dass sein Plan nicht aufgegangen ist?“, fragte ich vorsichtig. Ares schüttelte den Kopf. „Noch nicht und ich hoffe auch inständig, dass er es nicht allzu schnell erfährt. Denn dann hätten wir auch noch Olymp im Nacken sitzen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich verstehe das nicht. Warum ist er dieses Risiko eingegangen, wenn er mich doch wirklich als… Bedrohung angesehen hat? Warum… warum hat er mich nicht einfach getötet?“ Neben mir zuckte Fin unter meinen Worten zusammen. Ares lächelte leicht, doch es war kein fröhliches Lächeln, sondern voller Mitleid und Ernst.

„Weil es nicht Hades’ Charakter entsprechen würde. Es ist viel schrecklicher, als hilfsloser Pflegefall bis zum Ende seines sinnlosen Lebens gefüttert werden zu müssen, keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können, weil man nur noch sabbernd in der Ecke sitzt und in seinem eigenen Urin versauert, als jemandem kurz und schmerzlos eine Kugel ins Hirn zu jagen.“, antwortete Ares kühl. „Wie gesagt: dein starkes Unterbewusstsein hat dich vor schlimmeren bewahrt. Hätte Hades die Maschine noch stärker eingestellt, dann hätte sie dich wohl umgebracht… es war das erste Mal, dass er sie überhaupt so stark eingestellt wurde.“

„Sie… wird also auch öfters eingesetzt?“, vermutete Fin vorsichtig. Ares nickte.

„Bei jedem, der neu in Olymp aufgenommen wird. Allerdings werden demjenigen nur gewisse Erinnerungen gelöscht, gleich einer Amnesie, sodass er sich nicht mehr an seine Herkunft oder seinen Namen erinnert.“

Bei diesem Satz fielen mir wieder Ares’ frühere Worte über seine Person ein, dass er nur Ares hieße und keinen Nachnamen besäße. Jetzt, bei genauerem Hinsehen, entdeckte ich auch an seinen beiden Schläfen rechteckige blasse Narben, die sich beinahe nur noch als dünne weiße Fäden über die Haut zogen. Ich merkte, dass Ares mich scharf ansah, doch ich sprach ihn nicht auf seine Narben an.

„Also wurde mein Gedächtnis schon zum zweiten Mal gelöscht…“

Ares seufzte. „Nein, du bildest in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme. Im Gegensatz zu fast allen anderen bist du schon dein ganzes Leben lang bei Olymp. Man hat dich als Kleinkind auf der Straße gefunden und aufgezogen. Somit war es nie erforderlich gewesen, dein Gedächtnis zu manipulieren- bis vor ein paar Wochen.“

Fin rutschte neben mir nervös hin und her und streichelte meinen Handrücken. Ich saß nur da und starrte Ares ohne irgendwelche Emotionen an. Ich fühlte nichts, ich dachte mir nichts bei seinen Worten, mich ließ alles einfach unheimlich kalt und das war erschreckend…

„Und jetzt?“, fragte ich tonlos, aller Kraft beraubt, „Was sollen wir jetzt tun, nachdem ich das alles weiß? Einfach weiterleben?“

Mein Gegenüber lachte bitter. „Das wird wohl Wunschdenken bleiben. Das Problem ist die Regierung… Wir sind keine Unbekannten mehr für sie und durch deine Auftritte der letzten Tage- für die du mehr oder weniger nichts kannst- sind wir erneut in ihre Scheinwerfer gelaufen. Es ist zu gefährlich, hier zu bleiben und zu hoffen, dass sie euch beide nicht finden, denn das werden sie irgendwann.“

„Und wo sollen wir hin?“ Fins Stimme klang leicht hysterisch. „Ich habe keine Verwandten in der Nähe…“ Ares schüttelte entschieden den Kopf.

„Nein, ich will dich und deine Familie da weitestgehend raushalten. Ich werde dich, Nero, erst einmal von hier wegbringen und dann-“

„Was soll das heißen?“, unterbrach Fin ihn barsch, doch er blieb erstaunlich ruhig und schaute sie nur durchdringend an.

„Noch steckst du nicht allzu tief mit drin… du bist nur ein Mädchen, dass mit Nero zusammen war, aber man hat dich noch nicht mit Olymp in Verbindung bringen können. Vielleicht wird man dich zu Neros Person befragen, wenn du Glück hast, lässt man dich sogar ganz in Ruhe.“

Abrupt fuhr Fin hoch und baute sich vor Ares auf. „Das ist mir egal! Ich kann doch nicht so tun, als sei nichts geschehen und die Dumme spielen! Nein, ich werde mitkommen- egal wohin!“, fügte sie bissig hinzu, als Ares gerade etwas einwerfen wollte. Dieser zog nur eine Augenbraue hoch und musterte sie genau. „Bist du dir sicher? Jetzt gibt’s noch die Möglichkeit, auszusteigen…“

Fin schüttelte so heftig mit dem Kopf, dass ihr ihre braunen Locken um die Ohren flogen. Nun ruhte Ares` Blick auf mir und er zog erwartungsvoll die Braue hoch. Ich wich seinem Blick aus und dachte nach. Es schien gefährlich zu werden- zu gefährlich für ein Mädchen wie Fin. Aber auf der anderen Seite wollte ich sie nicht alleine lassen. Ich mochte sie, sehr sogar und das schlimmste, was ich mir vorstellen konnte war, nicht zu wissen, ob es ihr gut ginge, ob irgendetwas passiert wäre, wenn ich jetzt durch diese Tür gehen würde und sie zurückließe…

Ich schaute auf und nickte Ares zu.

„Na schön.“, brummte Ares daraufhin, leerte sein nachgefülltes Glas und erhob sich ebenfalls. Fin ging ihm nicht einmal bis zur Schulter. „Dann pack’ mal ein paar Sachen zusammen.“

Fin schob sichtbar die Unterlippe vor, funkelte den Riesen noch einige Sekunden an, drehte sich dann aber auf dem Absatz um und verschwand in ihr Schlafzimmer. Als sie außer Hörweite und die Wohnzimmertür wieder ins Schloss gefallen war, schien alle Anspannung von Ares abzufallen. Er fuhr sich mit den Händen über Gesicht und Nacken und brummte etwas vor sich hin, was sich verdächtig nach „Weiber“ anhörte.

Nach einigen Sekunden, in denen ich versuchte, mich zu sammeln, stand auch ich auf. Unruhig verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein aufs andere, immer noch mit mir innerlich ringend, ob ich Ares darauf ansprechen sollte. Schlussendlich nahm mir Ares selber die Entscheidung ab. „Ich hoffe, ich habe nun alle deine Fragen beantwortet, Nero…“

Automatisch nickte ich. Als Ares dann zur Tür gehen wollte, brach es aus mir heraus.

„War ich so wie du? Ich meine… habe ich auch… Menschen getötet?“

Ares blieb stehen und grinste breit. „Nein… du wußtest zwar, wie du’s anstellen sollst, hast dich aber immer geweigert, einem Menschen wirklich gewollt zu töten.“ Er lachte. „Wir haben uns regelmäßig darüber in die Wolle gekriegt. Du hast mir ständig Vorträge gehalten und immer mit erhobenem Zeigefinger neben mir gestanden, wenn ich bei einer Mission wieder einen ins Jenseits befördert hatte. Und ich habe vergeblich versucht, einen Killer aus dir zu machen. Glaub mir, wir hätten nicht unterschiedlicher sein können- aber das hat uns zu einem perfekten Team gemacht… und, naja, zu Freunden.“, fügte er zögernd hinzu. Ares hielt inne und wurde wieder ernst. „Nero, es tut mir wirklich Leid, was ich dir angetan habe… wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen-“

„Schon gut…“, sagte ich monoton. Wieder lachte Ares, aber diesmal war es ein erleichtertes und fröhliches Lachen, wie ganz zu Anfang, nach unserem Kampf.

„Du hat dich wirklich kein Stück verändert, Kleiner- obwohl… das mit Fin hätte ich echt nicht gedacht.“

Verwirrt blinzelte ich. „Wie meinst du das?“ Ares’ Blick huschte zur Tür, dann wurde sein Grinsen so breit, dass ich böses ahnte.

„Was ich damit meine?“, rief er übertrieben laut und schlich zur Tür. „Ich hätte nie gedacht, dass du es so lange bei der Kleinen aushältst - immerhin hast du früher fast täglich deine Bettgefährtinnen gewechselt.“ Mir wurde heiß.

„W- was?!“, krächzte ich heiser. Ares nickte heftig.

„Ja! Gott, du konntest von den Weibern nicht genug kriegen- ständig musste ich dich morgens aus irgendwelchen fremden Betten ziehen.“

Mein Kopf stand kurz vorm explodieren. Er sprach definitiv zu laut und das Haus war definitiv zu klein, als dass Fin diese Unterhaltung nicht mitbekommen hätte.

„Sei still!“, zischte ich flehend und versuchte ihn von der Tür wegzuziehen. Ares stand kurz vor einem Lachanfall, den er nur mit Mühe unterdrücken konnte. Mit seinem linken Arm hielt er mich spielendleicht auf Abstand. „Ach sag’ mal… die Rothaarige von neulich… die war a echt heiß gewesen! Haste dir mal zur Abwechslung die Nummer von ihr notiert?“

„ARES!!“

Als nächstes zog Ares blitzschnell die Tür auf und mit ihr fiel, von einem Aufschrei begleitet, eine vollkommen erschrockene Finja ins Wohnzimmer, die sich nur mit etlichen artistischen Verrenkungen auf den Beinen halten konnte. Ares selbst brach nun vollkommen in schallendes Gelächter aus, während ich mir wünschte, im Erdboden zu versinken, auf die Größe eines Staubkorns zusammen zu schrumpfen oder sonst wie zu verschwinden. Fins Gesicht hatte die Farbe einer Himbeere angenommen und starrte entweder mich oder Ares zornig an.

„Mein Gott, ihr glaubt auch alles“, prustete Ares lauthals los und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Immer noch knallrot blinzelte Fin Ares an.

„Also… hat er nicht…“ Ihr Blick suchte meinen und ein neuer Schwall von Scham übergoss mich.

„Was, unser Nero?!“, lachte Ares und deutete auf mich. „Der hat doch schon verlegen die Straßenseite gewechselt, wenn ihm nur ein Minirock entgegen kam.“

Und damit marschierte Ares glucksend aus dem Wohnzimmer.

Cobra 11 mal anders...

Es dauerte eine Weile, bis wir uns alle wieder beruhigt hatten- ungefähr eine halbe Stunde, da ich jedes Mal, wenn ich Nero über den Weg lief, erneut feuerrot anlief und weil Ares partout nicht über seinen Lachanfall hinweg kommen wollte. Mistkerl…

Doch dann kippte die Stimmung wieder so schnell, wie sie aufgekommen war und Ares drängte uns zum gehen. Ich warf einen letzten Blick zurück in mein verwüstetes Wohnzimmer. Mein Geschirr lag in Scherben, Bilder bedeckten den Fußboden und mein Schrank war nur noch ein einziger Holzhaufen… Kurz flammte Trauer auf, die dann aber schnell in Wut umschlug und ich mich zügig zum Gehen umdrehte und zähneknirschend an Ares vorbeihuschte, der mir mit einem Gentleman- Grinsen die Haustür aufhielt, als sei er die Unschuld in Person.

Mistkerl… Arsch… Rüpel…

Den ganzen Weg zu seinem Auto, das er eine Straße weiter geparkt hatte, ratterte ich in Gedanken mein ganzes spärliches Sammelsurium an Beschimpfungen runter und verfluchte zum ersten Mal meine gute Erziehung und mein wohlbehütetes, schimpfwortfreies Zuhause.

Als wir in die andere Straße einbogen, blieben Nero und ich wie angewurzelt stehen. Ich staunte mit offenen Mund und vergaß für einen Moment meine Wut, während Nero neben mir einen hohen Pfiff ausstieß.

„Nicht schlecht…“, merkte er respektvoll an. Ares, sichtlich in unserer Bewunderung badend, strich mit einem breiten Grinsen über die im Licht der Straßenlaternen glänzende Motorhaube. „Ja, das ist meine Süße… ein Prachtstück, also benehmt euch und macht nix schmutzig!“

Und mit dieser Warnung stieg er in den schwarzen Jaguar und startete den Motor, der wie eine Katze geduldig vor sich hinschnurrte, bis Nero und ich auf der Rückbank Platz genommen hatten.

Es dauerte nicht lange, bis ich diese Entscheidung, hier- zu Ares- einzusteigen, aufs tiefste bereute… um genau zu sein bis zur ersten Kurve, die der Jaguar mit fast 50 Sachen nahm, sodass ich mit enormer Wucht an Nero gepresst wurde.

„Von 0 auf 100 in 5 Sekunden!“, sagte Ares stolz und beschleunigte weiter. Warum hatte ich keine Zweifel an seinen Worten…?

Vorsichtig und mit klopfendem Herzen richtete ich mich wieder auf und krallte meine Finger in das edle beige Lederpolster.

„Das war gerade eine 30er Zone!“, rief ich aufgebracht und schaute mich über die Schulter um, um sicher zu gehen, dass Ares bei seiner Raserei nicht einen Rentner dabei geholfen hatte, seinen Lebensabend drastisch zu verkürzen. Doch unser Fahrer zuckte nur mit den Schultern.

„Du sagst es- es war eine 30er Zone… außerdem sind das doch sowieso nur Richtgeschwindigkeiten, die irgendwelche Langweiler beim Verkehrsamt aufgestellt haben.“, lachte er und schaltete einen Gang höher.

Ich gab meine sinnlosen Moralpredigten über Verkehrssicherheit kurzerhand auf und versuchte, nicht allzu oft auf den Tacho zu schauen. Nero ging es anscheinend auch nicht besser- er war ungewöhnlich blass geworden und als Ares das im Rückspiegel sah, fügte er hinzu: „Hey, wenn ihr auch nur ans Kotzen denkt, könnt ihr gleich draußen nebenher laufen!“

„Glaub mir, das würde ich im Moment sogar vorziehen…“, erwiderte Nero gepresst. Wahrscheinlich hätte Ares auf diesen Kommentar bissig geantwortet, wäre in diesem Moment nicht ein ohrenbetäubendes Kreischen zu hören gewesen, das von E-Gitarre und Schlagzeug begleitet wurde und mich erneut an Neros Seite springen ließ. Ares drückte Augen verdrehend auf einen Knopf an seinem Handy, das an die Freisprechanlage angeschlossen war und beendete den Angriff auf mein Trommelfell. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, meine Hände hatten sich so sehr in Neros Mantel gekrallt, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten und mein Atem ging stockend. Ich würde in diesem Auto noch sterben, da war ich mir sicher…

„Wer stört?“

„Du solltest dein Handy lieber ausschalten. Man weiß nie, wer sich so alles in das Telefonnetz einklinkt, um herauszufinden, wo sich gewisse Leute aufhalten…“, flötete eine helle Frauenstimme etwas verzerrt durch die Freisprechanlage. Ares’ Blick wurde von einer Sekunde zur nächsten hart.

„Was willst du?“, knurrte er und passte sein Tempo annähernd dem vorgeschriebenen an, als fühlte er sich tatsächlich überwacht. Ich blinzelte zu Nero hoch, der genauso ahnungslos und überrascht aussah, wie ich mich fühlte.

„Du hast Nero neben dir sitzen, stimmt’ s?“ Ein Ruck ging durch Neros Körper, er richtete sich auf und holte Luft, als wolle er antworten, doch Ares brachte ihn durch eine harsche Handbewegung zum Schweigen.

„Was willst du?“, fragte er noch einmal mit seiner gewohnt tiefen Bassstimme. Ein Kichern war zu vernehmen, wie das eines kleinen Mädchens.

„Nero ist bei dir…“, mutmaßte die Frau, „Das ist gut… sehr gut sogar.“ Ares’ Finger griffen fester um das Lenkrad. „Haltet euch da gefälligst raus, kapiert? Er ist raus aus der Geschichte, also lasst ihn in Frieden!“, schrie er so laut, dass ich zusammenzuckte.

„Nein Ares, er steckt tiefer denn je mit drin…“, entgegnete die Frau, vollkommen unbeeindruckt von seinem Wutausbruch. Ares presste verbissen die Kiefer aufeinander und schwieg. Als niemand ihr antwortete, fuhr die Frau fort:

„Hör zu, egal was du vorhattest- lass es sein und komm zum gewohnten Treffpunkt!“

„Und was ist wenn ich das nicht tue?“, brummte Ares.

„Du solltest es lieber tun.“, erwiderte die Stimme ernst und dann fügte sie noch beiläufig klingend hinzu: „Ach ja… ich will dir ja nicht in deinen Fahrstil reinreden, aber ich an deiner Stelle würde mal in den Rückspiegel gucken.“ Danach war nur noch ein „Klick“ zu hören und die Verbindung war unterbrochen.

„Wer war das?“, fragte Nero sofort, doch seine Frage sollte vorerst unbeantwortet bleiben.

Flüchtig schaute Ares in den Rückspiegel und fast hätte er seinen Blick auch wieder auf die Straße gelenkt, hätte er in dem Moment nicht noch einmal genauer hingesehen. Ich sah, wie sich Ares’ Augen weiteten.

„Scheiße…“, murmelte er und dann schrie er: „Runter mit euch!!“

Beinahe zur selben Zeit keuchte Nero neben mir erschrocken auf und starrte aus dem Rückfenster. Neugierig geworden, drehte ich mich ebenfalls um. Hinter uns fuhr ein Nachtschwarzer Mercedes mit getönten Scheiben. Er sah edel aus- und teuer, aber das war es nicht, was so besonders an dem Auto war- vielmehr seine Fahrer ließen einen erstickt aufschreien…

Ich sah noch kurz, wie der Beifahrer sich bei voller Fahrt aus dem Fenster lehnte und etwas in seiner Hand hielt, ehe Ares’ donnernde Stimme noch einmal durchs Auto hallte und Nero mich ohne weitere Vorwarnung auf die lederne Rückbank runterdrückte und er ebenfalls, halb auf mir liegend, in Deckung ging.

Es folgte ein ohrenbetäubendes Geräusch und feine Glassplitter flogen durch den Jaguar. Dumpf knirschend bohrte sich eine weitere Kugel durch die Stoßstange des Wagens. Ich hatte die Augen zugekniffen und die Hände an die Ohren gelegt. Über meinen spürte ich Neros Hände, unter dessen Oberkörper ich verborgen lag. Ares, den Kopf zwischen die Schultern geschoben, hatte an Tempo zugelegt und nun war ich froh über den PS- starken Motor mit der grandiosen Beschleunigung. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein Autobahnschild an uns vorbeisauste.

Die Schüsse blieben plötzlich wieder aus und so wagten Nero und ich es, uns vorsichtig aufzurichten. Durch den Jaguar wehte nun ein leichter Wind, dank der durchlöcherten Heckscheibe. Das Polster des Beifahrersitzes war aufgeplatzt und gelbes Futter quoll aus den Löchern. Der schwarze Mercedes war verschwunden.

„Die… die haben auf uns geschossen!“, keuchte ich und starrte durch den Rückspiegel auf Ares, als habe er dafür eine Erklärung.

„Kluges Mädchen…“, knurrte dieser nur und fuhr noch schneller. Nun schaute auch Nero ihn an. „Waren das welche von der Regierung?!“

„Nun- mir fällt kein anderer ein, der sich von euch in die Schuhe gepisst fühlen könnte!“

Ich sparte mir den Kommentar, der mir schon auf den Lippen lag und schüttelte stattdessen ungläubig den Kopf. „Aber wie haben die uns denn gefunden?“

Nun drehte sich Ares in voller Fahrt halb nach hinten um und schaute mich mit hochgezogener Augenbraue an. „Glaubst du immer noch, dass ihr Unbekannte für die seid, nach den Aktionen, die ihr euch geleistet habt…?“

Ich holte schon wieder Luft, als Nero sich einmischte: „Können wir das später bereden?! Sie sind wieder hinter uns!“

Genau in dem Augenblick wechselte der Mercedes wieder in unsere Spur und kam uns bedrohlich nah. Ich hörte, wie Ares das letzte bisschen des Gaspedals runterdrückte, der Wagen heulte lautstark auf und machte einen bemerkenswerten Satz nach vorne. Es schien wirklich so, als würden wir dem anderen Wagen davon fahren und dennoch fluchte Ares laut. Er schlängelte sich zwischen den vorderen Autos durch, doch ich konnte den Mercedes immer noch hinter uns erahnen.

„Was sollen wir jetzt machen?“, rief ich Ares hilflos zu. Für Sekunden schwieg er, dann aber wechselte er schnell auf die rechte Spur und schnitt dabei fast einen LKW.

„Hört mir jetzt genau zu!“, fuhr er uns scharf an, „Wenn ich gleich >jetzt< sage, werdet ihr aus dem Auto springen und euch verstecken…“

Ich schluckte hart und betrachtete die Bäume, die als unklare Strichfolge an uns vorbeizogen. „Springen??“, kreischte ich, „Aus dem fahrenden Auto?! Niemals!“

„Ihr tut, was ich sage, sonst überlebt ihr die nächsten 5 Minuten nicht!“

„Ach und du glaubst, wir hätten da eine größere Überlebenschance, wenn wir aus einem Auto springen, das 200 Sachen drauf hat?!“, schrie ich zurück. Nero neben mir zog sich die Jacke zu.

„Ok, wir machen es…“

Ich starrte ihn an, als habe er gerade die Existenz des Weihnachtsmannes samt Rehntieren nachgewiesen. „Du bist verrückt…“

Nero langte mit der einen Hand nach meinem Rucksack, berührte mich mit der anderen sanft an der Schulter und schaute mir tief in die Augen. „Vertrau’ mir, Finja. Bitte, nur dieses eine Mal.“

Ich schaute ihn flehend an. „Ich vertraue dir liebend gern tausend Mal, aber jetzt-“

„OK, Leute, haltet euch bereit!“, unterbrach Ares’ Stimme mich. Er war in der Zwischenzeit von der Autobahn runter auf einen einfachen Rastplatz gefahren, der links und rechts von dichten Bäumen abgeschirmt war und hatte sein Tempo gedrosselt. Nero zog mich näher an sich heran und hielt mich mit seiner Linken fest umklammert, die Rechte ruhte auf dem Türgriff. „Fertig?“, fragte Ares kurz. Nero nickte, während ich wimmernd den Kopf schüttelte. Ich sah uns schon auf dem Asphalt kleben…

Keine Sekunde später rief Ares das Wort, von dem ich mir sicher war, dass es das letzte war, was ich in meinem Leben vernehmen sollte, fast zeitgleich riss Nero die Seitentür des Jaguars auf und ließ sich mit mir in den Armen und ohne zu zögern aus dem fahrenden Wagen fallen. Einen Lidschlag später kugelten Nero und ich auch schon über den harten Boden. Nero hatte sich so gedreht, dass er den ganzen Aufprall auf den Asphalt abfangen musste. Nach etlichen Umdrehungen kamen wir endlich zum Stillstand. Mit wild pochendem Herzen lag ich auf ihm, während er, mich noch immer umklammernd, stöhnend und nach Luft schnappend auf dem Rücken dalag.

„Alles in Ordnung?“, keuchte er und strich mir mit zitternden Händen über die Wange. Im fahlen Mondlicht konnte ich viele kleine Schrammen in seinem Gesicht ausfindig machen. Ich nickte knapp, Tränen der Angst in den Augen, schaute dann auf und entdeckte die noch weit entfernten Scheinwerfer eines herannahenden Autos. In mir zog sich alles zusammen.

„Da sind sie wieder!“, hauchte ich entsetzt. Nero rappelte sich schlagartig auf, schaute kurz über die Schulter und zog sich und mich in die Höhe, um dann ins nächste Gebüsch zu humpeln- keine Sekunde zu früh, denn schon den Augenblick darauf fuhr der Mercedes an unserem Versteck vorbei. Ich hielt die Luft an, in der Befürchtung, dass sie meinen hektischen Atem hören könnten. Plötzlich hörten wir einen Knall, eine Explosion, so laut, dass ich mir erschrocken die Ohren zuhielt.

Dann war es still…

Ich starrte Nero an und konnte die gleiche Angst in seinen Augen sehen. Zu meiner eigenen Überraschung schoss mir nur ein Gedanke durch den Kopf, den ich nie in meinem Leben erwartet hätte: Ares!

Vorsichtig krabbelten wir aus unserem Versteck. Es war nichts zu sehen, doch hinter der nächsten Kurve flackerte es hell. Wir schlugen uns wieder ins Dickicht und arbeiteten uns durch bis zur Biegung. Durch den Schutz der Blätter sahen wir, dass etwas in Flammen stand, davor stand der Mercedes, aus dem zwei Männer in schwarzen Anzügen gestiegen waren. Einer der beiden zückte ein Handy und führte es, ohne eine Nummer zu wählen, ans Ohr.

„Zielpersonen eliminiert, Sir.“, sagte er mit kalter Stimme. Sein Partner verschränkte grinsend die Arme. Einen Aufschrei unterdrückend, schlug ich mir die Hände vor den Mund, Nero presste wütend die Lippen aufeinander.

Ares…

Ich spürte, wie mir erneut Tränen in die Augen stiegen. Hatte sich dieser Mistkerl tatsächlich für uns geopfert…? Kraftlos sank ich an Neros Seite, der mich gleich tröstend in die Arme schloss.

Doch kurz bevor ich meinen Tränen freien Lauf lassen konnte, sackte der Mann ohne Telefon auf der andern Straßenseite mit einem gellenden Aufschrei zusammen und keine Sekunde später ragte aus dem Bauch des zweiten ein blutgetränktes Schwert, das der Mann mit ungläubigem Blick und einem gurgelndem Laut anstarrte, ehe er die Augen nach oben drehte und ebenfalls leblos zu Boden fiel und die Sicht auf seinen Mörder freigab.

Ares stieg über die Leichen hinweg und hockte sich neben das Handy, das zu Boden gefallen war. „Hey, wenn ihr Bullenärsche glaubt, dass ich mich von zwei Armleuchten umnieten lasse, dann bin ich echt gekränkt. Wenn ihr dann aber auch noch mein Baby in die Luft jagt, ist der Spaß vorbei. Ich an eurer Stelle würde dafür beten, dass ihr in nächster Zeit an einem Herzinfarkt krepiert und ich euch nicht rechtzeitig finde!“ Und damit stieß er die Spitze seines schwarzen Schwertes in das Handy, sodass das Gehäuse laut knackte und zum Schluss zerbrach.

Nero neben mir sprang auf und lief, Ares’ Namen rufend, auf ihn zu. Ich verharrte noch kurz im Gebüsch und starrte die beiden ungläubig an. Dieser Mensch hatte wirklich kein Gewissen und doch war ich froh, ihn zu sehen. Gerade grinste Ares Nero frech an, als ich kopfschüttelnd auf ihn zuging. Die beiden toten Männer versuchte ich zu ignorieren, um nicht gleich in Ohnmacht zu fallen.

„Du lebst…“, sagte ich nur und schaute Ares in die hellen Augen. Auch er hatte einige Blessuren davongetragen. Der Mantel war eingerissen und verdreckt und an seiner linken Schläfe rann Blut herunter.

Ares lächelte schief auf meine Bemerkung hin. „Tja- Unkraut vergeht nicht so leicht…“ Und nun musste auch ich lächeln.

„Wir sollten von hier verschwinden, ehe es hier vor Polizisten nur so wimmelt.“, bemerkte Nero. Ares nickte und ging zu dem unversehrten Mercedes. Kurzerhand riss er das Funkgerät aus dem Monitorenbrett und startete den Motor.

Familientreffen

Nach ungefähr einer Stunde Fahrt parkte Ares das gestohlene Auto auf einen einsamen Parkplatz, der zu irgendeinem Billigsupermarkt gehörte. Wir waren noch nicht lange vom Platz runter, als uns eine Gruppe von betrunkenen Halbstarken entgegenkam, die uns schon von weitem etwas zugrölten. Nero, der die ganze Zeit über mit mir hinter Ares hergelaufen war und ich schlossen schnell zu Ares auf und ich war ziemlich glücklich darüber, als mich die beiden in ihre Mitte nahmen. Ares winkte einen von ihnen, einen schlaksigen jungen Mann mit glasigen Augen, der nicht mehr gerade gehen konnte, zu sich.

„Hast’ nen’ Führerschein?“

Der Mann grinste und mir schlug eine Bierfahne entgegen, dass mir schlecht wurde.

„Klar, Alter, wieso willst’ e das wissn?“, lallte er. Ares warf ihm die Autoschlüssel zu. Der Mann war jedoch schon so voll, dass seine Reaktionen so lausig geworden waren, dass die Schlüssel klappernd vor ihm zu Boden fielen und er bei dem Versuch, sie wieder aufzuheben, beinahe vornüber kippte. Ich schaute dem Schauspiel angeekelt zu, bis sich der Fremde wieder gefangen hatte. Seine glasigen Augen sprangen ihm beinahe aus dem Gesicht, als er den Schlüssel nun im Schein der Laternen näher betrachtete. Ungläubig starrte er zu Ares auf.

„Alter, was-?“

„Der passende Wagen dazu steht ein paar Meter weiter auf dem Parkplatz- ich denke, du wirst ihn nicht übersehn…“ Und damit klopfte Ares den Typen kurz auf die Schulter, sodass er beinahe wieder das Gleichgewicht verlor und zog an ihm und seinen Freunden, die in der Zwischenzeit auch näher gekommen waren, vorbei. Der junge Mann war sprachlos und ehe er auch nur ein weiteres Wort hervorbringen konnte, waren wir schon um die nächste Ecke gebogen.

Unsicher schaute ich über die Schulter zurück.

„Glaubst du, das war so eine gute Idee?“

Ares zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht… is’ mir aber auch egal- wichtig war, das Auto loszuwerden. Nun dürfen sie sich mit dem Ding rumschlagen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Und was ist, wenn sie jemandem erzählen, von wem sie das Auto haben?“, fragte ich. Ares grinste frech.

„Glaub mir- das können sie nicht. Die sind so zu, die werden mit einem dicken Schädel aufwachen und sich an nichts erinnern.“

„Und was ist, wenn es einer doch tut?“, gab Nero zu bedenken.

„Dann sind wir schon lange weg oder wir haben Glück und sie haben vor, das schicke Teil gleich auszuprobieren- genügend Bäume zum vorbrettern gibt’s ja hier in der Nähe.“, fügte der Riese mit einem Zwinkern hinzu. Wieder einmal lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich war mir sicher, dass Ares ein Mann war, dem man- wenn man nicht gerade zu seinen Feinden gehörte- weitestgehend vertrauen konnte, aber seine Art, mit seinen Gegnern oder auch den Menschen, die er nur als ein Mittel zum Zweck ansah, umzugehen, gefiel mir überhaupt nicht.

Doch ich schwieg dazu, denn ich wusste auch, dass solche Diskussionen bei Ares auf taube Ohren trafen.
 

Wir waren schon einige Zeit durch die Stadt gewandert, in dessen Nähe Ares das Auto stehen gelassen hatte, als mich eine schleichende Müdigkeit überfiel. Zum ersten Mal an diesem Abend schaute ich auf meine Armbanduhr. 11:43. Kein Wunder, dass ich müde war. Ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr gehabt. Fröstelnd schmiegte ich mich an Neros Seite, der sofort schützend den Arm um mich legte.

„Wohin gehen wir eigentlich?“

„Dorthin, wo wir uns immer treffen, wenn wir ungestört reden wollen.“, brummte Ares als Antwort.

Schon wieder dieses wir… irgendwie konnte ich mich immer noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass Nero zu der gleichen Organisation angehörte, wie Ares. Olymp…

Doch dann fiel mir noch jemand ein, den er mit wir gemeint haben könnte.

„Diese Frau am Telefon… wer war das, Ares?“

Der Angesprochene schnaubte verächtlich. „Die Gattin des Teufels persönlich.“, antwortete er, „Ihr werdet sie bald kennen lernen, wenn ich noch was von ihr übrig lasse.“

Bei den letzten Worten schlug Ares seinen Mantel zur Seite und legte eine Hand an den Griff seines Schwertes, was für mich eine deutliche Warnung war, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen.

Ich wusste nicht mehr ganz genau, wie lange wir noch gegangen waren, aber plötzlich und ganz unverhofft bog Ares in eine Einfahrt ein und lotste uns in einen kleinen Innenhof. Auf einem Schild stand in großen Lettern Hotel. Die Buchstaben waren schon mehrere Male überbemalt worden, doch der letzte Anstrich musste auch schon etwas länger zurückliegen, denn die Farbe blätterte sich langsam von dem alten Holz ab. Ich riss meinen Blick von dem Schild los und betrachtete das Gebäude- und hätte mich am liebsten auf der Stelle wieder umgedreht. Nicht nur das Schild hatte seinen Glanz verloren, auch das „Hotel“ gehörte ausrangiert…

Die Fassaden hatten Dank der Graffitikunstwerke etlicher möchtegern- Picassos einen bunten und hässlichen Anstrich erhalten und die Bäume und Sträucher, die vereinzelt am Rande des Weges standen, wucherten in alle Himmelsrichtungen. Von irgendwoher bellte ein Hund und auf dem Asphaltboden klebten etliche Kaugummis und Zigarettenstummel. Mich hätte es tatsächlich nicht gewundert, hätten an den beschmierten Wänden nicht auch noch leicht bekleidete Damen gestanden- sie hätten mein Bild von dieser heruntergekommenen Kaschemme nur komplettiert…

Als Ares die Eingangstür aufstieß, schlug mir ein muffiger, von Zigarettenrauch durchzogener Geruch entgegen, der eher an eine Kneipe, als ein Hotel erinnerte. Ein älterer Mann stand hinter dem Rezeptionstresen, vertieft in eine Zeitschrift, die vor ihm lag. Er trug alte, an manchen Stellen zerschlissene Kleidung und hatte sich gerade- wie war es auch anders zu erwarten- eine Zigarette angesteckt, als Ares an ihn herantrat. Er bemerkte uns nicht sofort, erst als Ares demonstrativ auf die kleine Schelle drückte, die direkt neben dem Mann stand, schaute der Hotelbesitzer grimmig auf. Für wenige Momente schien er seinen Gegenüber argwöhnisch zu mustern, doch dann entblößte er zwei gelbe Zahnreihen.

„Mr. Carter! Sie haben sich aber lange nicht mehr blicken lassen.“

Ares zuckte mit den Schultern und grinste zurück. „Ich hatte viel zu tun…“, entgegnete er höflich. Der Mann winkte ab. „Ja- das kenn ich.“

Ich konnte mir mit Mühe ein Lachen verkneifen- ein Prusten war jedoch nicht zu vermeiden. Alle Blicke waren sofort auf mich gerichtet und ich wurde rot. Stille erfüllte den Raum.

Doch dann setzte Ares zur Erklärung an.

„Meinen Sohn kennen sie ja.“, sagte er und klopfte Nero auf die Schulter. Der Mann nickte Nero zu und Nero erwiderte dies mit einem Lächeln- zumindest versuchte er es. Und wenn das nicht schon genug gewesen wäre, drückte Ares mich nun an Neros Seite.

„Und diese Schönheit hier is seine Verlobte.“ Nicht nur die Augen des Hotelbesitzers wurden in diesem Moment groß, auch Nero und mir verschlug es die Sprache. Das Grinsen des Mannes wurde noch breiter.

„Ja dann- Glückwunsch, Junge! Hast `nen tollen Fang gemacht. Aber lass dir eins gesagt sein: pass bloß auf, dass nicht irgendwann der Lack ab is. Das Eheleben hat schon so manchem Mann das Genick gebrochen…“

Er fing an zu lachen und auch Ares stieg mit seinem hässlichsten Gelächter ein. Nero und ich versuchten ebenfalls ein menschliches Lachen hervorzubringen, jedoch vergebens- ich wäre am liebsten im Boden versunken…

Noch in seinem Lachanfall drehte sich der Mann um und holte zwei Schlüssel von der Wand.

„Ich denke mal, das junge Glück will unter sich sein.“, erklärte er wieder verschmitzt grinsend und reichte einen der Schlüssel Nero, der diesen mit hochrotem Kopf entgegennahm.

Wir gingen gerade die Treppe zu unseren Zimmern hoch, als plötzlich-

„Eine Frage noch!“, rief die kratzende Stimme des Mannes uns zu. Ich blieb wie versteinert stehen. Verdammt- das war alles viel zu einfach gegangen! Wir sahen keineswegs wie normale Hotelgäste aus, er hatte bestimmt was gemerkt…

Ich hörte meinen rasenden Herzschlag. Ares blieb gelassen und drehte sich auf dem Treppenabsatz um.

„Bitte.“

„Kommt Mrs. Carter heute auch?“

„Ja. Sie hatte noch einen Termin, deswegen konnten wir nicht zusammen kommen. Sie dürfte aber bald da sein. Schicken Sie sie einfach hoch.“

Der Mann nickte. „Wie immer?“

„Wie immer…“

Nun grinste der Besitzer. „Ich stelle den Sekt kalt.“
 

Ich war verdammt erleichtert, als Ares die Tür hinter uns ins Schloss fallen ließ. Fin ließ sich sofort auf den nächst besten Stuhl fallen und atmete hörbar auf. Ares knipste in Ruhe das Licht an und zog sich seinen Mantel aus. Nach einem Moment der Erleichterung drehte ich mich wütend zu Ares um.

„Sag mal, was sollte die Aktion gerade?!“

Ares hob verwundert die Brauen. „Was? Das mit dem Sohn? Keine Angst- ich hab dich adoptiert, den leiblichen wollte ich uns ersparen…“

Ich schüttelte den Kopf und hob zornig die Hände.

„Davon rede ich doch gar nicht!“, zischte ich. Ares machte ein erstauntes Gesicht.

„Ach, du meinst die Sache mit euch beiden…“, sagte er und deutete mit seinem Finger abwechselnd auf mich und Fin. Dann grinste er. „Ich dachte, ich täte euch damit einen Gefallen.“

Ich wollte mich noch weiter aufregen, doch mir fehlten leider die Worte und so starrte ich nur zu Fin, die ebenfalls mit roten Wangen dasaß und nichts sagte.

„W- was sollte die ganze Sache überhaupt?“, fragte ich dann irgendwann. „Wieso spielen wir Familienausflug?“

„Das fragst du?! Glaubst du echt, ich bekäme hier ein Zimmer, wenn ich sage, wer ich bin und zu wem ich gehöre?“

Ares ließ sich aufs Bett fallen und massierte seine Schulter, der Mantel lag neben ihm auf dem Kissen. Im Licht der Tischlampe zeichneten sich auf seinen durchtrainierten Oberarmen die etlichen Schrammen und Blutergüsse schaurig ab. Sein Gesicht sah auch mitgenommen aus und seine Hose war an einigen Stellen aufgerissen. Fin sah auch nicht besser aus: sie war blass, hatte tiefe Ringe unter den Augen und auch ihre Kleidung hatte Löcher. Wie ich aussah, wollte ich gar nicht wissen- mir tat meine Nase immer noch höllisch weh.

„Ich find’ s erstaunlich, dass wir so ein Zimmer bekommen haben…“, sagte Fin irgendwann und klopfte sich den Staub von den Sachen.

„Die Typen hier stellen keine Fragen- vor allem nicht, wenn das Geld stimmt.“, brummte Ares und tupfte sich das fast trockene Blut vom Oberarm.

Plötzlich klopfte es. Fin schreckte hörbar auf und auch ich drehte mich alarmiert zur Tür um.

Ares stand langsam auf und griff nach seinem Schwert. Ein fieses Grinsen lag auf seinen Lippen.

„Wer ist das?“, flüsterte Fin und huschte an meine Seite. Ares` Grinsen wurde breiter. Er stellte sich mitten in den Raum.

„Ist offen!“, rief er und zog die Klinge aus der Schwertscheide. Sekunden verstrichen, ohne dass etwas passierte, doch dann wurde die Tür aufgestoßen, Ares sprang nach vorne und riss im selben Moment das Schwert hoch. Fin vergrub ihr Gesicht in meine Seite und auch ich schloss die Augen.

Einen Lidschlag später war das Klirren von Metall zu hören. Erschrocken schaute ich auf. Drei Gestalten standen auf der Türschwelle, eine davon war Ares, der seine schwarze Klinge auf eine eisblaue niederdrückte. Die Person, zu der die helle Klinge gehörte, stand in Ares Schatten. Ich konnte nur erkennen, dass sie kleiner als Ares war. Hinter der kleinen Person, ragte der Oberkörper einer dritten ins Zimmer, welche fast so groß wie Ares war. Ich konnte den Dritten nur schemenhaft erkennen, aber ich sah, dass dieser eine Hand um Ares’ Hals geschlossen hatte.

Keiner rührte sich.

Dann vernahm ich eine Stimme. Es war eindeutig die Frau, mit der Ares am Telefon gesprochen hatte. Sie hielt eine Flasche hoch.

„Schön dich zu sehen, Darling…“

Neue Verbündete, größere Gefahr

Es vergingen weitere Sekunden, bevor sich irgendjemand rührte. Plötzlich ließ Ares sein Schwert sinken und griff nach der Sektflasche, welche die Frau in den Händen hielt.

„Pfeif gefälligst deinen Köter zurück…“

Ich konnte ein Lächeln in ihrem Gesicht erahnen.

„Danke, aber ich glaube, dass ist nicht mehr nötig…“, sagte sie im lockeren Tonfall zu ihrem Begleiter. Sofort löste sich der Griff des Riesen um Ares’ Hals und der Hüne trat stumm wieder zurück in den Schatten, aus dem er gekommen war.

Mürrisch drehte sich Ares um, marschierte ins Zimmer und ließ sich erneut aufs Bett fallen. Die Frau und der Mann folgten ihm nur Sekunden später in das Licht der Nachttischlampe, sodass Fin und ich zum ersten Mal mehr als nur Umrisse von ihnen sehen konnten:

Der Mann trug genau wie Ares einen schwarzen langen Mantel, das typische Erkennungszeichen für Olymp. Er war vielleicht Anfang 30 und sehr kräftig gebaut. Sein Gesicht war verwittert, sein Blick ähnelte dem eines antiken Gladiators und soweit wie ich das erkennen konnte, zog sich über seinen gesamten Hals eine blasse Narbe.

Die zierliche Frau dagegen, stellte ein Lächeln zur Schau, das süßer nicht sein konnte…

Im Gegensatz zu ihrem Begleiter, trug sie keinen Mantel, sondern nur eine kurze schwarze Jacke. Sie sah sehr jugendlich aus, was aber wohl nur daran lag, dass sie ziemlich jugendlich gekleidet war; kurzer Rock, eng anliegende Bluse und hohe Stiefel, was ihrem Aussehen etwas verruchtes gab. Ihre kurzen dunklen Haare fielen ihr wild in die Stirn. Ich schätzte, dass sie so alt wie Ares war, vermutlich jünger.

Ares hatte inzwischen den Sekt geöffnet und trank ihn direkt aus der Flasche.

Belustigt schaute sich die Frau im Zimmer um, bis ihre dunklen Augen mich sahen. Ihr Blick verweilte auf mir, schien mich von oben bis unten zu betrachten und etwas blitzte in ihren Augen auf. Hinter den zwei Pupillen, die nun wie dunkle Perlen glänzten, verbarg sich etwas, das mir tief in die Seele sah und meine geheimsten Gedanken wild durchforstete und jede Erinnerung offen darlegte. Ich fühlte mich plötzlich nackt und schutzlos…

Mir wurde kalt und ich begann leicht zu zittern.

Endlich drehte sie sich zu Ares um und fing an zu lachen.

„Unter welchen LKW bist du denn geraten?“

Nun blitze es in Ares’ Augen böse auf. Ruckartig stand er wieder auf und marschierte auf die Frau zu. „Das habe ich dir zu verdanken, Miststück! Wenn du schon meinst, helfen zu müssen, dann tu es rechtzeitig, klar?! Was mischt du dich hier eigentlich ein?“

„Weil du schon wieder völlig überstürzt gehandelt hast! Und im Übrigen: sei froh, dass ich mich eingemischt habe- sonst würdet ihr alle schon längst tot sein.“

„Red’ keinen Scheiß! Ich wäre auch ohne dich zurecht gekommen…“, entgegnete Ares wütend. Die Frau wurde auf einmal todernst.

„Nein, wärst du nicht… Er will, dass ihr die Sache beendet und das schnell… deshalb hat er mich geschickt und-“

Er soll sich daraus halten!“, entgegnete Ares aufgebracht. Nun trat Fin, die die ganze Zeit über stumm an meiner Seite verweilt war, in die Mitte des Raumes und schrie fast genauso laut wie Ares: „Hey! Schluss jetzt!!“

Alle drehten sich zu ihr um.

„Könntet ihr vielleicht mal erklären, was jetzt auf einmal los ist? Und wer zum Teufel sind die?“, fügte sie wütend hinzu und deutete auf die Frau und den hünenhaften Mann.

Die Frau blinzelte nur und wandte sich wieder an Ares. „Wer ist das Gör, Ares?“

Dieser winkte nur ab. „Neros neue Spielgefährtin. Sie wird uns leider begleiten müssen…“

„Wie bitte?!“, kam es von Fin und mir gleichzeitig, doch die Frau hob nur die Brauen. Ihr Begleiter stand stumm da und zeigte keine Emotionen. Ares stellte sich neben die Frau.

„Ich denke, es herrscht Erklärungsbedarf…“

Fin verschränkte trotzig die Arme und murmelte etwas vor sich hin.

„Die zwei hier sind Mitglieder von Olymp, wie ihr vielleicht bereits vermutet. Er heißt Äneas. Das hier ist Kore.“

„Persephone…“, verbesserte die Frau ihn und strafte ihn mit einem bösen Blick. Ares zuckte nur mit den Schultern. Fin neben mir begann gequält zu lachen.

„Äneas… Persephone… ich habe mir ja schon vorher gedacht, dass euer Verein nicht alle Tassen beisammen haben kann- bei Ares und Nero habe ich mir noch nicht allzu viele Gedanken gemacht, aber jetzt?! Wer kommt als nächstes? Hermes und Bacchus?“

„Glaub mir, die willst du nicht kennen lernen…“, entgegnete Ares und verzog das Gesicht. Für Sekunden blieb es still, doch dann stöhnte Fin so laut auf und fing an zu schwanken, dass ich schon bereit stand, um sie aufzufangen. Sie raufte sich die Haare und setzte sich auf einen Stuhl.

„Das kann doch alles nicht real sein… ich muss träumen…“, murmelte sie. Hilflos stand ich hinter ihr. Was sollte ich denn schon tun? Ich hatte aufgehört, irgendetwas an mir oder meiner Situation unmöglich zu finden. Tröstend rieb ich ihr über die Schulter.

Stirnrunzelnd schaute die Frau, die Ares als Persephone vorgestellt hatte, zu uns rüber. „Geht’s dir gut, Kleine?“

Abrupt fuhr Fins Kopf in die Höhe und funkelte sie scharf an.

Ob es mir gut geht?! Ich wurde auf öffentlicher Straße mit einem Schwert bedroht, lebe seit Wochen mit der Angst, dass demnächst die Polizei vor meiner Tür steht, wurde in meinem eigenen Haus als Geisel genommen, mein Mobiliar wurde bei einem… einem Kampf zu Kleinholz verarbeitet, ich habe etliche Verfolgungsszenarien hinter mir, die glatt Filmreif sind und bin nun auf der Flucht und Sie fragen mich, ob es mir gut geht?!“ Fins Stimme überschlug sich beinahe. Niemand sagte etwas, allein Persephone zuckte unschuldig mit den Schultern, als überrasche sie Fins Schilderung keineswegs. Fin dagegen schlug die Hände über dem Kopf zusammen und grummelte etwas Unverständliches vor sich hin.

„Schön… ihr seid von Olymp.“, wiederholte ich vorsichtig, um das Thema zu wechseln und traute mich, Persephone direkt anzusehen. Ihr Blick war wieder normal geworden- vermutlich hatte sie das in mir gefunden, was sie finden wollte, denn nun hatte sie ein Lächeln auf den Lippen, das Wärme und Vertrauen ausstrahlte. Trotzdem lief es mir schaudernd den Rücken runter.

„Was wollt ihr von uns?“, beendete ich endlich den Satz. Persephone schaute kurz zur Tür, wo dieser merkwürdige Äneas immer noch stand und nickte ihm zu. Stumm drehte Äneas den Schlüssel im Schloss um.

„Reine Vorsichtsmaßnahme.“, erklärte sie, schaltete die Lampe aus und setzte sich zu Ares aufs Bett. Dieser guckte immer noch pikiert. Die Nacht war wieder ins Zimmer zurückgekehrt, allein das schmutzige Licht der Laternen, die draußen vor dem Hotel standen, ließ mich mehr als nur Schemen erkennen.

„Wir sind hier, um euch zu warnen- und zu helfen.“

Ares gab ein gespielt spöttisches Lachen von sich und nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Mir viel plötzlich auf, dass Ares in den letzten Stunden sehr viel Alkohol getrunken hatte- und Auto, na ja… „gefahren“ war…

Doch ehe ich diesen erschreckenden Gedanken weiterführen konnte, holte mich Fin zurück in die Gegenwart. „Warnen? Vor was?“

„Vor wem…“, verbesserte Persephone sie. Ich nickte und hob kurz die Schultern.

„Nun… davon wissen wir. Die Regierung sitzt uns im Nacken.“ Ich war erstaunt über das kindliche Lachen, was jetzt aus Persephones Mund zu kommen schien.

„Schön wär’s. Nein. Diese Spinner sind nicht das Problem…“ und damit wandte sie sich zu Ares. „Hades weiß, dass Nero wohlauf ist.“, sagte sie nun ernst.

Ares verharrte kurz in seiner Bewegung, die Sektflasche zum Mund zu führen und schien sie aus den Augenwinkeln anzuschauen. Dann setzte er die Flasche ab und fuhr sich seufzend über Gesicht und Haare. Es war still im Zimmer geworden, allein die Wanduhr tickte leise im Hintergrund. Ich konnte nicht viel mit Persephones Aussage anfangen, genauso wenig wie Fin, aber Ares schien sie ziemlich mitzunehmen.

Irgendwann brummte er: „Weißt du, wer geredet hat?“

„Niemand. Es musste früher oder später rauskommen. Aber wir haben etwas Zeit.“, sagte sie beruhigend, als Ares nun doch schnell aufschaute. „Er sucht dich und Nero Außerlandes. Ich habe dein Handysignal umgeleitet, aber da wir ja heute Abend miteinander telefoniert haben, kann es gut möglich sein, dass er schon davon Wind bekommen hat, dass er reingelegt wurde.“

Fin schüttelte mit dem Kopf. „Ich verstehe gar nichts. Wovon redet ihr?“

Ares seufzte. „Hades ist unser Anführer, Boss- wie auch immer ihr ihn nennen wollt. Ich habe euch doch von ihm erzählt…“

Ich nickte. Hades hatte verordnet, mir mein Gedächtnis zu nehmen…

„Er weiß also, dass ich noch den Code zu Judgement besitze.“, erwiderte ich.

Persephone holte erschrocken Luft. „Du hast es ihnen erzählt?“, fuhr sie Ares barsch an.

„Wir wissen alles.“, mischte sich Fin ein. Ihre Selbstsicherheit war ein Stück zurückgekehrt.

„Sie sollten wissen, warum sie Staatsfeinde geworden sind…“, fügte Ares hinzu und schaute zu Persephone auf. Diese seufzte nur.

„Nun… dann können wir uns das ja sparen.“ Sie stand auf und ging zu den Fenstern des kleinen Zimmers, zog den Vorhang zur Seite und schaute nach draußen.

„Ares, die Situation ist nun heikler, als am Anfang.“, murmelte Persephone ohne den Blick von der Straße zu lenken. Ares nickte.

„Er hat es, oder?“

Persephone antwortete nicht- ich vermutete, dass das Ja heißen sollte.

„Kurz nachdem das mit Nero passiert war. Es war nur eine Frage der Zeit, Ares…“

Er lachte. „Ja. Die Zeit scheint sich gegen uns gerichtet zu haben.“

„Wir müssen handeln, Ares.“

Persephone hatte sich umgedreht und lehnte sich jetzt gegen die Fensterbank. Ihre Augen funkelten. Ares war bei ihren Worten aufgestanden und schritt nun, die Arme erhoben auf sie zu. „Wir? Es gibt kein Wir, Kore, das habe ich dir schon vorher gesagt! Wir sind raus aus der Sache!“

„Seit wann bist du Neros Vormund? Er kann selber entscheiden!“

„Das wirst du nicht wagen…“, knurrte Ares so düster, dass sich meine Nackenhaare aufstellten. Die Luft um die beiden herum schien sich elektrisch aufzuladen, ich wartete nur drauf, dass die Funken sprühten…

„Wovon redet ihr, verdammt noch mal! Hört auf, in Rätseln zu sprechen!“

Bei meinen Worten schloss Ares die Augen, als müsse er sich sehr beherrschen, nicht loszubrüllen. Wütend biss er sich auf die Unterlippe. Anstelle von ihm, antwortete mir Persephone.

„Hades hat es geschafft, Judgement zu stehlen. Er besitzt das Programm. Das einzige, was es gibt.“

„Einfach so?“, mischte sich Fin ein. „Ich meine- er hat es einfach so gestohlen?“

Persephone nickte lachend. „Ja. Obwohl er dafür den ganzen Computer mitnehmen musste…“

Fin schüttelte mit dem Kopf. „Warum hat er das getan? Gut- er hat das Programm, aber was bringt ihm ein solches, wenn er den Code dafür nicht mehr besitzt? Ich hatte es so verstanden, dass er erst seit kurzem von Nero weiß… Warum machte er sich also die Mühe, wenn es sowieso keine Möglichkeit gab, das Programm zu öffnen?“

Persephones Blick wanderte zu Ares. „Du hast ihnen also doch nicht alles erzählt…“

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Wie kam sie darauf, plötzlich so was zu behaupten? Auch ich nahm Ares prüfend ins Auge.

Dieser zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe ihnen nichts Falsches erzählt, wenn du das meinst.“ Mein Blick verfinsterte sich und ich trat einen Schritt auf Persephone zu.

„Was ist so besonders an Judgement?“, fragte ich scharf. Diese ganze Geheimnistuerei ging mir langsam auf die Nerven. Worum ging es hier eigentlich?!

Persephone kam mir entgegen und ihre Stimme hatte alle Sanftheit verloren. „Es geht hier nicht um irgendein Programm, sondern um das größte und gefährlichste Geheimnis unseres Landes.“, sagte sie ernst.

Meine Nackenhaare stellten sich bei diesen Worten auf, aber nicht wegen ihrem Inhalt, sondern eher wegen dem Verrückten und Wahnsinnigen in Persephones Stimme.

„Eine Waffe, stärker und verheerender als die Atombombe… das ist Judgement! In diesem Programm ist die ganze Zusammensetzung niedergeschrieben, alle Kopien und Bilder der Baupläne, die man schon vor langer Zeit aus Sicherheitsgründen verbrannt hat. Jedes einzelne Bauteil, jede Chemikalie, jedes verwendete Metall wurde Jahrelang gesammelt und aufgeschrieben- das Verhältnis, die Menge, sogar der Fundort soll in diesem Programm zu finden sein.“

Sie atmete schwer, als sei sie kilometerweit gelaufen. Auch mein Herz schlug schneller. Nach einer kurzen Pause fuhr sie weiter fort. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

„Die Erfinder von Judgement sind grausame Revolutionäre, wer das Programm besitzt ist eine ernste Bedrohung für jeden… wer Judgement jemals baut…“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. Hilflos schaute ich zu Boden. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich ihre Worte verstand. Die Regierung besitzt- besaß- eine so gefährliche Waffe? Stärker als die jetzigen Schrecken, die in den geheimen Lagern einiger Länder versteckt waren?

Und ich kannte den Zugangscode dafür…

Ich fühlte, wie ich immer wackeliger auf den Beinen wurde und völlig in Gedanken versunken nach einem Stuhl tastete. Etwas flüsternd trat Fin an meine Seite. Ihre Hände zitterten.

„Soweit darf es nie kommen…“ Meine Stimme war ungewohnt brüchig geworden. Bilder schossen mir durch den Kopf, von zerstörten Städten, überall tote Menschen und andere, die um sie weinten. Sie waren alle nur schemenhaft, manche nicht mehr als Schatten, mit verschwommenen Umrissen, als glühe die Luft immer noch von den längst erloschenen Flammen.

Und mitten unter ihnen stand Fin. Ihr verschmutztes Gesicht schaute sich hilflos um, Tränen quollen aus ihren roten Augen, ihre Kleidung war zerrissen und unter ihr schimmerte ihre zarte weiße Haut hervor, die von unzähligen Verletzungen und Blutergüssen gezeichnet war.

Und schaute ich länger auf eine der Leichen, so entdeckte ich auch dort Fins Antlitz…

Ihre glasigen Augen starrten ins Leere, all ihr Glanz war verschwunden- nun zeigten sie nur noch Schmerz…

Ich merkte nichts mehr um mich herum, ich sah nur noch diese Visionen.

„Niemals…“, wiederholte ich noch einmal.

„Deswegen sind wir hier…“ Persephones Stimme echote leise nach und klang sehr weit weg, trotzdem hob ich den Kopf. Zuerst entdeckte ich Fins besorgtes Gesicht. Sie hielt meine Hand umschlossen und strich mir sanft über den Handrücken. Ich sah mit Erleichterung, dass ihre Augen ungewöhnlich stark glänzten- vermutlich war sie den Tränen nahe vor Sorge, doch genau dieses Schimmern ließ mich wieder klar denken. Ich suchte Persephone in dem Raum und fand sie mir gegenüber neben Ares sitzen, der ungewöhnlich still und in sich gekehrt war.

„Wir müssen uns beeilen, wenn wir das Schlimmste verhindern wollen.“ Sie wartete, bis ich nickte, dann fuhr sie ruhig fort: „Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist das Programm zu vernichten.“

“Das heißt, wir müssen den Computer zerstören, auf dem die Datei gespeichert ist?“

Persephone schüttelte den Kopf. „Nein, das ist zu unsicher… und dafür reicht auch nicht die Zeit. Nein, wir müssen das Programm selber löschen, alle Sicherheitskopien und alle Programme, die diese schützen.“

Ich runzelte die Stirn. „Und das soll schneller gehen?“ Persephone nickte.

„Die Erfinder haben sich sehr viel auf ihren Code eingebildet, der anscheinend von niemandem geknackt werden könne… Alles, was mit Judgement zu tun hat, läuft über diesen einen Zugangscode.“ Sie hielt inne. „Verstehst du jetzt Nero, warum du so wichtig für diese Sache bist?“

Ich antwortete nicht.

„Du hast’ s selbst gesagt, Kore: der Code gilt als unlösbar…“, sagte Ares irgendwann, den Kopf auf die gefalteten Hände gestützt. „Warum also die ganze Sache?“

Fin neben mir nickte beipflichtend.

„Gib der Technik noch ein paar Jahre, dann wird auch dieser Code kein Problem mehr für sie sein…“, antwortete Persephone ihm. Ares brummte etwas, strich sich durch die Haare und schüttelte den Kopf. Aber er schwieg. Ich brauchte etwas Zeit, um alles zu verstehen.

„Und das würde… alles beenden?“, fragte ich leise und stellte mir wieder Fin vor, wie sie durch die Ruinen ihres Lebens stolperte. Das durfte nicht geschehen…

„Es würde Hades auf jeden Fall das Genick brechen. Olymp ist am Ende und er klammert sich an dieses Programm, wie an ein Rettungsseil, weil er dadurch hofft, wieder in der Unterwelt an Bedeutung und Respekt zu gewinnen.“

„Und was ist mit der Regierung?“ Nun lächelte Persephone leicht.

„Glaub mir, die ist jetzt schon nur noch damit beschäftigt, die Sache zu vertuschen und Schadenbegrenzung zu leisten.“

Ich wusste nicht mehr, wie lange ich so stumm dasaß und vor mich hinstarrte, aber irgendwann stand Persephone auf, ging auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Überlege es dir.“ Aus irgendeinem Grund schaute ich in diesem Moment kurz zu Fin, die stumm und genauso in sich gekehrt dasaß, wie ich. Persephone bemerkte das und beugte sich zu mir herunter. Wieder stellten sich meine Nackenhaare auf und mein Herzschlag ging schneller. „Du bist der Schüssel zu ihrem Leben, Nero- zu einem ruhigen Leben…“, flüsterte sie mir ins Ohr, dann ging sie aus dem Zimmer. Äneas folgte ihr sofort.

Ares, Fin und ich blieben stumm im Zimmer sitzen. Ich schaute zu Ares. Er saß nur da und schaute mich ebenfalls an.

Sekunden reihten sich gnadenlos zu Minuten aneinander, ohne dass jemand etwas sagte. Plötzlich seufzte Ares und erhob sich langsam. Jetzt, da ich saß, sah er noch größer aus und doch schien all seine Macht und körperliche Kraft aus seinem Körper gewichen zu sein. Kurz hob er die hängenden Schultern.

„Es ist deine Entscheidung…“, sagte er monoton, dann verließ auch er das wenig beleuchtete Zimmer. Stumm schaute ich zur Tür und mir wurde klar, dass sich mein Leben wieder um 180° zu drehen schien. Ich stand erneut vor einer Entscheidung, die ich nicht treffen wollte. Gerade erst hatte ich meine Vergangenheit, die immer noch für mich im halbdunklen lag, akzeptiert und ruhen gelassen und nun sollte ich mich wieder mit ihr auseinandersetzen? Ich seufzte. Nein, verbesserte ich mich, ich musste es tun… oder? Ich spürte, wie Fin nach meiner Hand tastete.

„Willst du das wirklich tun?“ Fin hatte sich vor mich hingekniet und schaute mir tief in die Augen, sodass ich mich selbst in ihnen widerspiegeln sehen konnte- allerdings nicht genau, denn dafür waren es zu flüchtige Momente, die sie mir gewährte. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Ich fürchte, ich habe keine Wahl, oder?“

Ihre warmen Finger umfassten meine tauben stärker.

„Man hat immer eine Wahl, Nero. Du musst das nicht tun, sie können dich nicht zwingen. Und wenn doch: dann fliehen wir!“

Ich war überrascht über ihre plötzliche Entschlossenheit, dass ich verwundert die Brauen hob. Sie nickte eifrig und es blitzte hoffnungsvoll in ihren Augen. „Wir fliegen nach Amerika. Mein Vater wird uns bestimmt aufnehmen, auch wenn es mir sicher kein Vergnügen bereiten wird, ihn wieder zu sehen, aber das nehme ich in Kauf! Und wenn das nicht klappt, dann gehen wir in die Schweiz- ja, genau! Dort wird man uns ganz sicher helfen.“

Ich lächelte müde. „Das klingt beides verlockend, aber deine Idee hat viele Hacken. Ich habe keinen Pass, wie soll ich also legal außer Landes kommen? Und ich möchte nicht, dass du dich wegen mir quälen musst, Fin.“

Sie schüttelte ihren Lockenkopf. „Dann fälschen wir halt einen Pass und um mich brauchst du dir keine Sorgen mach -“ Ich drückte ihre Hand fester und sie verstummte.

„Nein, Fin…“, sagte ich ernster, als ich vorgehabt hatte. Sie schaute mich noch einige Sekunden entschlossen an, dann verpuffte der Glanz wieder und sie blickte stumm zu Boden. Der Druck auf meine Hände ließ langsam nach und schließlich zog sie ihre zitternd zurück.

Langsam griff ich nach Fins Handgelenken und zog sie auf meinen Schoß. Zuerst schien sie etwas verwirrt über mein Handeln zu sein, doch dann entspannte sie sich und schlang ihre Arme um meinen Hals. Ihr ganzer Körper schien zu beben, als ich sie ebenfalls umarmte.

„Wie können sie sich so sicher sein, dass du dich an diesen verdammten Code erinnerst? Was ist, wenn du ihn doch vergessen hast?“ Ich hörte ihr an, dass sie weinte. Ich antwortete nicht sofort, denn ihre Frage war berechtigt und das einzige, was ich antworten konnte, klang selbst in meinen Ohren lächerlich.

„Ich fürchte, wir müssen ihnen einfach vertrauen. Glaub mir, Ares ist nicht der Mensch, der etwas tun würde, von dem er weiß, dass es keinen Erfolg bringen wird. Und Persephone- nun ich denke, sie würde mich auch nicht-“

Ich brach den Satz ab, weil ich Fin nicht noch mehr belasten wollte. Sie wusste schon ohnehin, wie gefährlich die ganze Angelegenheit war.

Sie lachte. „Du bist wirklich ein naiver Idiot…“, schniefte sie und löste sich aus meiner Umarmung. Ihre Wangen glänzten in dem dämmrigen Licht der Nacht. Vorsichtig wischte ich ihr eine Träne vom Kinn; ich wollte sie nicht weinen sehen.

„Ich verspreche dir, dass danach alles vorbei sein wird.“, flüsterte ich. Fin lächelte. Für Sekunden schauten wir uns stumm an, dann legte sie ihre Hand an meine Wange und beugte sich zu mir runter. Ich sah, wie sich ihre Augen langsam schlossen, je näher sie kam. Ich verharrte in meiner Haltung und wartete darauf, dass ihre sanften Lippen mir wieder den Atem nahmen. Zögernd schloss auch ich die Augen. Doch diesmal sollten wir nicht einmal bis zum Kuss kommen…

Jäger und Gejagte

Als Ares die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, erwartete Persephone ihn schon mit verschränkten Armen an der gegenüberliegenden Wand lehnend. Er mied ihren durchdringenden Blick und ging einfach stumm an ihr vorbei- doch weit kam er nicht.

„Was ist mit dir los?“, fragte sie in seinem Rücken. Ares blieb stehen und schaute den Gang hinunter, in dem eine weitere Person stand.

Persephone war nicht allein- natürlich nicht, aber daran hatte sich Ares schon vor langer Zeit gewöhnt. Es machte ihm nichts mehr aus, dass Äneas ihr wie ein Schatten folgte.

„Was meinst du?“, gab er zurück. Er konnte sich denken, was nun kam.

„Seit wann gibst du so schnell auf, hm? Der Plan steht schon länger fest, es war alles geklärt, warum also kneifst du jetzt?!“, fragte sie etwas wütender. Zornig drehte Ares sich um.

„Wag es ja nicht, mich einen Feigling zu nennen.“, knurrte er und sofort spürte Ares, wie Äneas drohend einen Schritt näher kam.

„Dann nenn mir den Grund dafür.“, sagte Persephone unbeeindruckt. Ares antwortete nicht sofort, eigentlich hatte er auch keine Lust dazu, aber anders würde er hier nicht wegkommen.

„Wegen dieses Plans habe ich meinen Partner an Hades ausgeliefert und verraten. Die ganze Sache ist für mich gelaufen, ich habe keine Lust, uns da noch mehr mit rein zu ziehen, als wir schon sind.“

Sie hob eine ihrer schmalen Brauen. „Feiner Plan, mein Lieber und ziemlich unsportlich…“

Ares zuckte die Schultern. „Is’ mir egal. Ich unterstütze weder Hades, noch ihn, verstanden? Der einzige Grund, warum ich noch hier bin, ist-“ Genervt verdrehte Persephone die Augen. „Gott, seit wann hängst du so an diesem Bengel?“, fiel sie ihm ins Wort. Ares schaute sie ernst an.

„Ja, dass du das nicht verstehst, war mir klar. Für mich ist er wie ein Bruder und ich werde ihn um alles in der Welt beschützen- allein deshalb werde ich auf diese Mission mitgehen.“ Er drehte sich um und ging langsam den Korridor hinunter. Persephone stand wie angewurzelt da. Ihre ganze Kraft schien aus ihrem Körper gewichen zu sein. Die letzten Worte von Ares im Kopf widerhallend, starrte sie an ihn vorbei zu Äneas.

Ja, dass du das nicht verstehst, war mir klar…

Er wusste so erschreckend wenig über sie.

Erst der knallende Schuss, der kurz darauf durch die Luft peitschte, ließ sie aus ihrer Trance erwachen und alarmiert nach ihrem Schwert greifen. Ares stand ebenfalls bewaffnet im Gang und Äneas stürmte an ihre Seite.
 

Zuerst dachte ich, dass es nun soweit sei und diese Baracke in sich zusammenstürze. Der Knall kam unerwartet, sodass Nero und ich vor Schreck mit den Köpfen zusammenstießen. Nachdem der erste Schock überwunden war, hielt ich mir jammernd die Stirn und rutschte von Neros Schoß. Langsam glaubte ich, dass einer von uns beiden verflucht sein musste.

„Alles in Ordnung?“ Ich blickte auf, doch ich konnte ihn in der Dunkelheit kaum sehen. „Ja…“, sagte ich und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, was sich als gar nicht so einfach herausstellte. Mein Herz raste und meine Beine verweigerten strikt meine Befehle.

„Was war das?“, fragte ich unsicher und tastete nach Nero.

„Das hat sich wie ein Schuss angehört…“, murmelte er und zog mich mit zur Tür. Mein Herz setzte bei diesen Worten aus. Vorsichtig öffnete Nero die Tür einen Spalt, sodass helles Licht ins Zimmer drang, dann öffnete er sie ganz und trat in den Flur. Ich blinzelte vom grellen Licht geblendet und sah erst nach ein paar Sekunden die drei Gestalten, die nah beieinander standen. Schnell erkannte ich die bekannten Gesichter und war ein Stück erleichtert. Äneas stand neben Persephone und gestikulierte stumm mit seinen Händen. Waren das etwa Gebärdenzeichen? Sie schien diese zumindest zu verstehen, denn sie nickte eifrig. Im selben Moment kam Ares auf uns zu, die schwarze Klinge in der rechten Hand haltend. Nero begann sofort, ihn Fragen zu stellen. Ares zuckte nur die Schultern.

„Wir werden gleich herausfinden, was das war… ihr bleibt hinter mir, verstanden?“, fügte er scharf hinzu und drehte sich um.

„Ares! Warte!“, zischte Persephone, doch keiner achtete auf sie. Leise huschten wir den Gang hinunter und Nero umklammerte meine Hand wie ein Schraubstock. Ares drückte sich gegen die Wand und spähte nach unten.

Plötzlich spannte sich sein ganzer Körper an und er flüsterte etwas, das sich nach einem herben Fluch anhörte. Erfolglos versuchte ich, etwas zu erkennen. Persephone und Äneas standen neben uns und versuchten uns zurückzuziehen. Ares begann mit ihr wild, aber stumm zu diskutieren und Neros Griff wurde immer fester. Endlich erwischte ich einen Spalt zwischen der Wand und Ares’ Rücken, sodass ich bis ins Foyer hinabschauen konnte- und bereute es im nächsten Augenblick…

Das Blut des erschossenen Hotelbesitzers rann den Empfangstisch hinunter und seine starren Augen schienen mich direkt anzuschauen. Sein ganzer Kopf war rot…

Davor, etwa 2 Meter von der Theke entfernt, standen zwei Gestalten, eine davon hielt die Schusswaffe noch in den Händen.

Und beide trugen Mäntel- schwarze Mäntel…

Ich konnte nicht anders, als zu schreien und das war mein Fehler. Vielleicht hätten wir noch ein paar Sekunden länger gehabt, aber die sollten wir dank mir nicht bekommen.

Ich sah nicht mehr, wie die beiden Männer die Köpfe wandten, denn ich wurde fast im selben Moment weggerissen, doch sie mussten es einfach gehört haben. Soweit es meine weichen Knie zuließen, rannte ich den Gang wieder hinter Nero zurück in das Zimmer. Keuchend standen wir da und starrten uns an- oder besser: alle starrten mich an…

Ich wollte etwas sagen, doch plötzlich hörte ich Schritte. Schwere Schritte, die langsam auf uns zukamen.

Schnell ging Ares zum Fenster, riss die Gardine zur Seite und öffnete es ganz. Ohne zu zögern quetschte er sich durch die Öffnung und hockte nun draußen auf der Bank.

„Ok. Ich zuerst, dann Äneas und dann kommst du Nero, klar?“ Nero zögerte einen Moment und schaute zu mir herüber. Er wollte etwas sagen, doch Ares fiel ihm ins Wort. „Wehe, ich fang gleich jemand anderes auf…“ Dann war er verschwunden.

Kurz drauf warf Persephone ihrem wortkargen Begleiter ein schnelles Nicken zu und dann war auch Äneas durchs Fenster gesprungen. Nero zögerte immer noch. Die Schritte wurden immer lauter, manchmal verstummten sie, dann hörte man das knarrende Geräusch von geöffneten Türen. Wir hatten keine Zeit mehr. Schnell ging ich auf Nero zu.

„Ich spring als nächstes, versprochen.“ Kurz schielte ich nach draußen und dachte noch einmal über das nach, was ich gesagt hatte, aber nur ganz kurz. Nero strich mir besorgt über die Wange.

„Nun mach schon!“, zischte Persephone von hinten.

Ich versuchte zu lächeln. „Wir sehen uns unten.“ Hoffentlich…, fügte ich in Gedanken hinzu. Nero nickte endlich, stieg durch das Fenster und sprang. Keine Sekunde später wurde die Klinke unseres Zimmers hinuntergedrückt. Persephone konnte sich noch in eine dunkle Ecke flüchten. Ich wollte es ihr nachmachen, doch ich kam keinen Schritt weit. Kaum war die Tür geöffnet, stand ich schon in dem Lichtkegel der Lampen, die im Flur hangen.
 

Ich war vollkommen wehrlos, meine Beine schienen urplötzlich mit dem Boden verwachsen zu sein und mein Herz hatte jegliches Taktgefühl verloren. Ein Mann stand im Türrahmen, er war nicht der Größte und er schien auch nicht sehr muskulös zu sein und doch wäre ich- hätte ich es in diesem Moment gekonnt- am liebsten weggelaufen. In seiner rechten Hand erkannte ich den schmalen Lauf einer Pistole.

Für Sekunden starrte ich ihn an, dann betrat er langsam das Zimmer. Ich spürte, wie meine Beine genauso viele Schritte wie der Mann zurückgingen, als seien wir zwei Magnete, die sich von einander abstießen. Der Mann steckte die Waffe wieder zurück in seinen Mantel.

„Entschuldigen Sie die späte Störung…“ Die Stimme klang höflich- so höflich, dass es mir wieder eisig den Rücken runter lief. „Aber ich habe ein Frage. Sind Sie der einzige Gast hier? Der Besitzer dieses Hotels konnte uns darüber leider keine Auskunft geben.“

Sofort schoss mir das Bild von vorhin durch den Kopf- der erschossene Mann auf dem Tresen, das viele Blut… die Pistole, die dieser Mann unter dem Mantel trug. Ich wurde fast ohnmächtig vor Angst. Ich nickte heftig und versuchte auch eine Antwort hervorzubringen. „J- ja, ich bin die … die einzige h- hier.“, krächzte ich.

Stille. Dann sah ich, wie der Mann den Kopf schief legte. „Ach so, verstehe.“, sagte er mit zuckersüßer Stimme. „ Nun, wissen Sie, ich bin jetzt aber ein wenig verwirrt… Wenn sie alleine hier sind, dann frage ich mich, warum an der Rezeption zwei Zimmerschlüssel fehlen…“

Mein Herz setzte nun vollständig aus. In meinem Kopf rasten die Gedanken, verzweifelt auf der Suche nach einer Erklärung, doch ehe ich auch nur den Mund aufmachen konnte, schwebte schon seine Pistole genau auf meiner Augenhöhe in der Luft, sodass ich nicht mehr als einen Aufschrei hervorbrachte.

„Sag schon Miststück, wo sind sie?“, keifte der Mann plötzlich und alles Liebenswerte war aus ihm verschwunden. Ich fühlte nichts mehr, als habe meine Seele meinen Körper schon mal sicherheitshalber verlassen- und das wäre auch nicht schlecht gewesen, wäre der Raum nicht auf einmal hell erleuchtet gewesen.

Erschrocken kniff ich für einen Moment die Augen zusammen, als ich sie dann wieder öffnete, sah ich den Mann zum ersten Mal richtig, wenn auch nur für Bruchteile einer Sekunde, ehe er mir den Rücken zudrehte: Er war blass, totenblass und feuerrote Haare zierten sein junges Gesicht. Es schien makellos zu sein und ich musste zugeben, dass er wirklich schön war. Ich schätze ihn auf 25, vielleicht etwas älter. Mehr konnte ich nicht erkennen, denn der Moment, wo er mich noch hasserfüllt anstarrte, war viel zu kurz gewesen. Nun schauten wir beide zu Persephone herüber, die immer noch am Lichtschalter stand. Sie lächelte.

„Du?“ Die Stimme des Mannes klang ungläubig.

„Überrascht?“ Ihre Stimme war wieder sanft und geschmeidig. Der Mann zuckte mit den Schultern und steckte die Waffe wieder zurück in die Innentasche seines Mantels. „Ich hätte hier wen anderes erwartet…“

Persephone zog gespielt die Brauen hoch. „So?“

„Du weißt doch von der Sache mit Ares, dass der Arsch uns verraten hat.“

Persephone nickte und verzog ihre vollen Lippen zu einem Lächeln. „Dann sind wir ja aus dem gleichen Grund hier…“

Der Mann schien abgelenkt zu sein und so schlich ich weiter in Richtung Fenster, um seine Unaufmerksamkeit auszunutzen- jedoch schien er sich in diesem Moment an mich zu erinnern. Er drehte sich halb zu mir um und zeigte mit dem Daumen in meine Richtung, sodass ich wieder zur Salzsäule erstarrte.

„Und sie?“

Persephones Grinsen wurde breiter. „Sie ist mein Lockvogel für unseren Goldjungen Nero. Er hatte mal was mit ihr, sie könnte also nützlich werden.“

Der Mann betrachtete mich genauer, als schätzte er ab, ob er ihre Geschichte glauben konnte. Er zog verwundert eine Augenbraue hoch- eine ziemlich unhöfliche Geste in diesem Moment, so empfand ich es wenigstens- und drehte sich wieder weg.

„Ist dein Partner auch hier, Apollon?“, fragte Persephone mit ihrer engelsgleichen Stimme.

Der Mann nickte. „D. wartet unten im Foyer.“ Er legte den Kopf schief. „Du bist also auch hinter den beiden her? Kannst du mir dann erklären, warum du gleich zwei Zimmer reserviert hast?“ Seine Stimme wurde eine Spur misstrauischer, doch davon ließ sich Persephone nicht beirren- im Gegenteil.

Ihr Lächeln wurde so lieblich, als sei sie verliebt und mit einer Sanftheit, die mich in diesem Moment wirklich überraschte, ging sie auf ihn zu, schlang ihre Arme um Apollons Hals und drückte sich plötzlich mit ihrem ganzen Körper an seinen.

„Wer weiß? Vielleicht habe ich ja geahnt, dass du kommst…“, hauchte sie. Ich war so perplex über Persephones Verhalten, dass mir die Kinnlade einen gefühlten Meter in Richtung Boden entglitt und auch dieser Apollon schien etwas irritiert – aber keineswegs abgeneigt, denn nach kurzem Zögern wanderten seine Hände auf ihre Hüften. „Und was ist mit D.? Sollen wir den da unten einfach stehen lassen?“

Ich schien nun komplett in Vergessenheit geraten zu sein- was auf der einen Seite ja ganz gut war, aber ich hätte es sehr befürwortet, wenn Persephone ihr „Ablenkungsmanöver“ oder was das hier werden sollte, woanders durchgeführt hätte…

Sie schaute mit großen Dackelaugen zu Apollon hinauf, der immer noch ein Stück größer war, als sie selbst. „Soll ich ihn zu uns rufen?“, säuselte sie Zentimeter vor seinem Mund. Apoll schüttelte nur leicht den Kopf. Persephones Grinsen wurde breiter und dann küsste sie den Rothaarigen- oder besser: sie fraßen sich gegenseitig auf. Dass sie sich überhaupt noch die Kleider am Leib ließen, verwunderte mich stark.

Überwältigt von so viel zur Öffentlichkeit gestellter Intimität, wurde mir glatt schlecht. Ich wollte schon gar nicht mehr hinsehen, als Persephone vollkommen verändert in meine Richtung schaute. Apollon hatte sich inzwischen bis zu ihrem Hals vorgearbeitet, während Persephone ihm wild durchs Haar ging und mir gleichzeitig mit ernsten Blicken deutlich machte, dass ich etwas tun sollte. Ich verstand und hastig drehte ich mich einmal um mich selbst, auf der Suche nach irgendetwas, was einen knapp 1,75 Meter großen Mann ausschalten könnte. Endlich fand ich etwas und schaute kurz in Persephones Richtung, die nur energisch nickte. Leise ging ich auf die beiden zu, atmete kurz durch, schloss die Augen holte mit der Nachttischlampe aus. Ein dumpfer Schlag, ein Keuchen und keine Sekunde später fiel etwas polternd zu Boden. Ich hoffte nur, dass ich den Richtigen getroffen hatte.

Als ich die Augen wieder öffnete, lag der Mann am Boden, Persephone stand über ihm und zupfte sich nüchtern die Sachen wieder zurrecht. Zitternd stellte ich die Lampe weg und starrte auf den Körper. Er bewegte sich nicht, er schien nicht mal zu atmen. Mir wurde schwindelig.

„Oh Gott…“, keuchte ich und fuhr mir durch die Haare. „Ich habe ihn umgebracht!“ Persephone schüttelte nur den Kopf und stieg über den am Boden liegenden Apollon hinweg. „Glaub mir, dafür müsstest du ihn ganz wo anders treffen, um ihm wirklich wehzutun… Komm jetzt!“ Sie zog mich mit sich zum Fenster und beugte sich nach draußen.

„Was hat das solange gedauert?“, rief leise eine tiefe Bassstimme von unten herauf. Ares schien genervt zu sein. Persephone konterte ziemlich giftig und winkte mir dann. „Du zuerst.“ Ich zögerte kurz, doch dann kletterte ich aufs Fensterbrett und sprang, von der Angst getrieben, dass dieser Apollon wieder aufwachen könnte.

Keine Sekunde später wurde ich von Äneas aufgefangen. Er federte meinen Sturz so leicht ab, als wöge ich gar nichts. Ich blinzelte, um in der Dunkelheit, die uns nun wieder umgab, sein Gesicht zu finden. Er schaute ernst auf mich herab und ehe ich etwas sagen konnte, setzte er mich schon wieder ab, um Persephone auffangen zu können.

Kaum stand ich wackelig, da hörte ich schon jemanden auf mich zueilen und Neros erleichterte Stimme meinen Namen rufen. Seufzend nahm er mich in die Arme und auch ich drängte mich vollkommen entkräftet an seinen Körper. Sowohl mein Herz, als auch sein eigenes schlugen wild gegeneinander und ich hätte für immer so dastehen können, wäre Ares nicht in dem Moment vorbeigekommen, Nero am Arm gepackt und mit sich gezogen hätte. „Tut mir den Gefallen und haltet eure Hormone noch für einen Moment lang zurück, bis wir uns sicher sein können, dass wir die nächsten Minuten überleben, einverstanden?“

Nein!, keifte eine Stimme in mir und ich machte mich daran, wieder zu Nero aufzuschließen.

Persephone setze sich an die Spitze der Gruppe, dicht gefolgt von Äneas und lotste uns durch die Nacht.

Abseits des Hotels stand ein silbernes Cabrio, auf das Persephone zusteuerte. Eins musste man Olymp lassen: sie schienen nicht schlecht zu verdienen- vielleicht waren sie aber auch nur gute Autodiebe.

„Steigt ein!“, sagte Persephone und ging selbst zur Fahrertür- genauso wie Ares.

„Nix da, ich fahre.“

Persephone starrte ihn giftig an. „Damit du mein Auto auch noch zu Schrott fahren kannst?!“

Ares beugte sich zu ihr runter „Wir wollen die Typen abhängen und keine Spatzierfahrt mit ihnen machen!“

Ihre Augen wurden bedrohlich schmal. „Kritisierst du gerade meinen Fahrstiel?“

„Ich frage mich nur, ob du überhaupt weißt, wie man in den 6. Gang schaltet…“

„Zumindest weiß ich, wie `ne Fahrschule von innen aussieht!“

Ares Kiefermuskeln zuckten gefährlich, genauso wie Persephones rechte Hand.

„Leute, bitte!“, versuchte sich Nero einzumischen. Er hatte recht, dachte ich und schaute besorgt zum Hotel zurück. Persephone zog die Autoschlüssel auf einmal irgendwo her. „Meine Schlüssel, mein Auto!“, sagte sie triumphierend und stieg ein. Ares schnaufte nur abfällig und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Nero, ich und Äneas, der eindeutig nicht für dieses Cabrio geschaffen war, wenn die Abdeckung drauf war, nahmen auf der Rückbank platz- zumindest versuchten wir es….

Ich schaute kurz über die Schulter zurück zum Hotel. Nur ein Zimmer war erleuchtet- das, wo ich vor wenigen Minuten noch um mein Leben gefürchtet hatte. Ehe das Fenster aus meinem Sichtfeld glitt, sah ich noch einen Schatten in dem hellen Lichtfleck auftauchen. Schnell drehte ich mich wieder um und suchte nach Neros Hand. Ich wusste, dass es aus dieser Entfernung unmöglich war, jemanden zu erkennen und doch hatte ich das Gefühl, dass mir der Schatten gerade direkt in die Augen geschaut hat.

Aufatmen

Es dauerte nicht lange und mein Körper realisierte dank des sinkenden Adrenalinspiegels die fortgeschrittene Stunde. Ich fühlte mich elend und erneut merkte ich die etlichen Prellungen, die ich mir im Laufe unserer Flucht zugezognen hatte. Meine Augen wurden immer schwerer, bis ich mich dabei ertappte, wie ich immer wieder kurz wegnickte.

„Und was machen wir jetzt?“

Neros Stimme vermischte sich mit dem monotonen Summen des Motors. Ich versuchte, die Augen wieder zu öffnen. Zuerst sah ich nichts, nur ein paar Lichter, die in regelmäßigen Abständen vorbeisausten.

Ich saß in der Mitte der Rückbank, an Neros Schulter gelehnt und immer noch seine Hand haltend. Persephone schaute durch den Rückspiegel zu Nero.

„Wir sollten uns erst einmal zurückziehen und den morgigen Tag abwarten.“

Ares` mächtiger Oberkörper tauchte hinter der Lehne des Beifahrersitzes auf, als dieser sich zu ihr rüber lehnte.

„Spinnst du? Hades ist nun gewarnt, er wird jetzt so schnell es geht zurückkehren und ganz Olymp um das Programm postieren! Wir sollten sofort-“

„Wenn wir jetzt den Plan durchziehen, kommen wir nicht einmal in die Nähe von Judgement! Wir sind alle am Ende unserer Kräfte, das wäre reiner Selbstmord.“

Ares lachte auf. „Du vielleicht! Ich bin noch topfit!“

Keine Sekunde später schnellte Persephones rechte Faust gegen Ares` geprellten Oberarm, sodass dieser scharf die Luft einsog und versuchte, das Gesicht nicht ganz so stark zu verziehen. Persephone schaute ihn nicht einmal an. Sie nickte bloß. „Ja, du bist in Bestform…“

Es wurde wieder still im Wagen. Das gleichmäßige Summen machte mich wieder schläfrig, sodass ich mich zwang wieder gerade zu sitzen, damit ich nicht vollkommen das Bewusstsein verlor. Müde rieb ich mir über die Augen.

„Haben wir dich geweckt?“, fragte Nero besorgt neben mir. Ich schüttelte nur den Kopf.

„Wohin wollen wir uns denn jetzt zurückziehen…?“ Es fiel mir schwer, mit meiner schweren Zunge zu sprechen, doch es half gegen die Müdigkeit.

„Ich habe mal vor längerer Zeit eine Wohnung in einem Hochhaus gekauft. Niemand weiß davon, also werden wir dort für eine Weile untertauchen können.“

„Wofür brauchst du denn ne eigene Wohnung?“, brummte Ares. „Reicht deinen Bettgefährten nen einfaches Zimmer nicht mehr aus?“ Persephone warf ihm einen eisigen Blick zu.

„Damit ich meine Ruhe vor euch Spinnern habe…“, zischte sie drohend, aber Ares lachte nur. „Du und Ruhe? Du bist doch nicht zu genießen, wenn du nicht jeden Tag wen anderes zum-“ Diesmal fuhr Persephone einen gewaltigen Schlenker bei dem Versuch, Ares zum Schweigen zu prügeln.
 

Wir fuhren noch etwa eine halbe Stunde durch die Nacht, bis Persephone ihren Wagen in einer Tiefgarage parkte. Die abgestandene und nach Auspuffgasen stinkende Luft weckten für kurze Zeit meine komatösen Lebensgeister und halfen mir, den Weg zum Aufzug zu meistern.

Schweigend fuhren wir in den 7. Stock. Nach der kleinen Auseinandersetzung zwischen Ares und Persephone hatte keiner mehr ein Wort gesagt, schon allein deshalb, um sicherzugehen, dass wir lebend unser Ziel erreichten- nachdem Persephone beinahe in ein entgegenkommendes Auto gerast wäre, weil Ares seine Stimme erhoben hatte, hatte zumindest ich da so meine Bedenken gehabt…

Nach einer geschätzten Ewigkeit blieb der Aufzug sanft stehen, öffnete sich und gab die Sicht auf einen Gang mit einigen modernen Türen frei. Ohne zu zögern, betrat Persephone den Gang und steuerte eine der vielen Türen an, zog einen Schlüssel und öffnete diese. Ich schielte im Vorbeigehen schnell auf das Namensschild, welches im Türrahmen befestigt war.

Dr. Helen Carter. Dann schaute ich wieder auf Persephone, die gerade damit beschäftigt war, den Schlüssel in die eine und ihr Schwert in die andere Richtung zu pfeffern. Ihre Lederjacke fand nicht einmal den Weg zum Kleiderbügel, sondern lag mitten im Flur. Ich schüttelte den Kopf, musste aber auch leicht grinsen. Ich war immer wieder aufs Neue darüber erstaunt, wie diese Leute mit ihrer falschen Identität- Geschichte anscheinend überall durchkamen…

Neben mir im Türrahmen stand Äneas und gab einen rasselnden Laut von sich, der mich augenblicklich zu ihm aufschauen ließ.

Konnte das sein? Gut, es klang ungewöhnlich hart und trocken, aber das war doch eindeutig ein Seufzen…

Äneas … seufzte?! Und zur endgültigen Entgleisung meiner Gesichtszüge, brachte er seine unter Kontrolle und lächelte sogar! Ich blinzelte und rieb mir über die Augen. Das war die Müdigkeit, eindeutig…

Als hätte er meinen Ausdruck gesehen, schaute er nun, wo ich ihn noch einmal genauer betrachtete, wieder, als sei er auf einer Trauerfeier. Wortlos ließ er mich stehen und räumte der sichtlich angesäuerten Persephone hinterher.

Nun war ich diejenige, die seufzte. Ich brauchte Schlaf, ganz dringend.

Nero, Ares und Persephone waren inzwischen in die Küche gegangen. Äneas kam noch einmal zurück, um die Tür für mich zu schließen und mich somit ganz in die Wohnung zu schieben- natürlich ohne etwas zu sagen oder auch nur einen Gesichtsmuskel zu verziehen.

Langsam schlenderte ich ihm hinterher und nahm für einen kurzen Moment die Wohnung ins Auge. Ich konnte nicht viel in der Dunkelheit erkennen, nur dass sie bestimmt nicht billig war. Sie schien mehrere große Räume zu besitzen, in die ich teilweise im Vorbeigehen hineinschauen konnte, doch sah ich zu wenig für Einzelheiten. Auch die Küche war ziemlich groß und modern eingerichtet. Gedankenversunken ging ich zum Fenster und drückte mir dann augenblicklich die Nase an ihr platt. Ich wusste natürlich, dass wir hier, im 7. Stock, sehr hoch waren, aber diese Aussicht hatte ich nicht erwartet, denn zu meiner eigenen Schande musste ich gestehen, dass ich nicht sehr darauf geachtet hatte, wohin wir genau gefahren sind.

Unter mir erstreckte sich die wahrscheinlich größte Stadt, die ich bis zu diesem Zeitpunkt mit eigenen Augen gesehen hatte. Ich war größtenteils in meinem kleinen Vorörtchen aufgewachsen, in denen mehrstöckige Häuser eher die Ausnahme waren. Plötzlich erinnerte ich mich an meinen Vater, wie er immer von Amerikas Städten geschwärmt hatte, wie schön sie bei Nacht seien. Überall Lichter, Leuchtreklamen, die hellen Straßenlaternen, die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos. Ich sah meinen Vater vor mir sitzen, wie er mit weit ausgreifenden Handbewegungen von diesen Städten erzählte. Es gibt dort keine Dunkelheit- die Nacht ist nur die schönere Gestalt des Tages…

„Wie in Las Vegas, oder Papa?“, hauchte ich und mein warmer Atem beschlug die Fensterscheibe.

Erst die zuknallende Kühlschranktür riss mich aus meinen Gedanken. Erschrocken fuhr ich herum und starrte wohl Ares ziemlich perplex an, denn er schaute nicht weniger verwirrt zurück. Erst jetzt merkte ich, dass alle- bis auf Äneas- mich so anschauten. Stille herrschte, bis Ares sich sein eben geholtes Bier zischend öffnete und sich zu den anderen an den Tisch setzte. Sekunden flossen ins Land, ehe ich mich mit hochrotem Kopf und klopfenden Herzen ebenfalls zu ihnen gesellte. Warum musste ich ausgerechnet jetzt und nach so vielen Jahren wieder an meinen Vater denken?!

Ich hätte mir wohl noch länger darüber den müden Kopf zerbrochen, hätte Ares in diesem Moment nicht ein anderes Thema angeschlagen.

„Schön… wir sind hier- und jetzt?“ Und damit ruhte sein Blick auf Persephone. Diese seufzte und fuhr sich durchs braune Haar. „Ich habe einen Plan, aber der verlangt Zeit.“

„Die wir nicht haben“, entgegnete Ares trocken. „Ich denke, es ist dir aufgefallen, dass wir beinahe entdeckt wurden.“

„Wir wurden entdeckt…“, verbesserte sie ihn. Für einige Momente war es still, in denen die Luft um Ares sichtlich zu brodeln begann.

„Schön, dass ich das auch schon erfahre…“, antwortete er gepresst. Fast zur selben Zeit spürte ich Neros durchdringenden Blick im Nacken.

„Was ist passiert, nachdem ich hinter Ares her gesprungen bin?“, fragte er mit ernster Stimme. Zögernd machte ich den Mund auf und wollte ihm antworten, bekam aber keinen Ton raus. Ja, was war eigentlich passiert? Irgendein Typ hat mich bedroht- das war ja nichts Ungewöhnliches mehr-, Persephone hat erfolgreich mit ihm geflirtet- oder wie man das auch beschreiben mochte- und ich hab ihn letztendlich mit einer Nachttischlampe ausgeknockt… zumindest den letzten Teil konnte selbst ich nicht glauben.

„Apollon hat uns gesehen.“, sagte Persephone an meiner Stelle knapp. Das schien wenigstens Ares Erklärung genug zu sein, denn er kommentierte ihren Satz mit einem genervten Seufzen. Nero war da anderer Ansicht. „Wer?“

„Der Typ, der den Hotelbesitzer umgelegt hat.“, sagte Ares gereizt. Er schien mit der ganzen Lage- verständlicher Weise- nicht zufrieden zu sein. „Ein Kotzbrocken vor dem Herrn! Genauso wie sein verdammter Partner.“

„D?“, fragte ich. Persephone nickte daraufhin und fügte an Ares gewand zu: „Er hat ihn vor uns kurz erwähnt.“

Nero schüttelte mit dem Kopf. „Ich versteh kein Wort.“

„Die beiden sind einfach nur lästig. Sie sind Hades’ persönliche Jagdhunde, das heißt wenn es jemand wagt, Hades zu verärgern-“

„So wie wir…“, unterbrach Persephone ihn, wodurch sie sich einen giftigen Seitenblick von Ares einfing, den sie einfach ignorierte. Mit einiger Anstrengung ruhig zu bleiben, beendete er seinen angefangen Satz: „Wie auch immer, er lässt sie auf jeden Fall auf die Welt los und die Drecksarbeit machen.“

Ich schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich verstehe eine Sache nicht…“, begann ich zögernd und schaute Ares fragend an. „Ich dachte immer, dass ihr- naja- mit… Schwertern und so kämpfen würdet.“ Ich wartete kurz bis Ares auffordernd nickte.

„Und?“, fügte er hinzu, als ich immer noch nicht weiter sprach.

„Warum hatten die beiden Männer dann Schusswaffen bei sich? Sie gehören doch zu Olymp, oder?“ Nero runzelte die Stirn und nickte zustimmend. Ares und Persephone tauschten kurze Blicke aus, ehe Ares zur Erklärung ansetzte: „Dieses Gerücht, dass wir von Olymp Schwerter tragen, stammt noch aus einer Zeit, in der unsere Organisation noch hoch angesehen war. Ich will` s mal so ausdrücken: seitdem hat sich vieles verändert und wir waren mehr oder weniger dazu gezwungen, uns dem heutigen Waffenstandard zu beugen.“

„Und was für Veränderungen waren das?“, wollte Nero wissen. Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern.

„Verschiedenes- besser bewaffnete Gegner, komplizierte Aufträge, Führungswechsel, ansprechendes Design der Waffen…“

„Dennoch besitzen wir nur wenige Scharfschützen in unseren Reihen.“, unterbrach Persephone ihn. „Aber die beiden, Apollon und D, sind eine der Besten. Hades hat sie nicht umsonst hierher geschickt- er will die Angelegenheit anscheinend schnell beenden…“, fügte sie mit düsterer Stimme hinzu. Ich schluckte bei dem Gedanken an den Rothaarigen und nickte verstehend. Nero neben mir holte Luft und lenkte das Gespräch auf etwas anderes.

„Wieso heißt der eine eigentlich D? Ich dachte, ihr benennt euch alle irgendwie nach… Göttern oder so.“

Ares zuckte mit den Schultern. „Da bildet er keine Ausnahme… D steht für Dark Amor.“

Ich runzelte die Stirn. „Dark?“

„Selbst Hades war es zu paradox den Liebesgott in die Unterwelt zu stecken…“, antwortete Persephone grinsend, das aber eher gezwungen, als belustigt aussah. Langsam fragte ich mich, was dieser Hades für ein komischer Typ war…

Jemand, der anderen das Gedächtnis löschte und sie dann als Kopfgeldjäger und Auftragskiller arbeiten ließ, musste schon eine sehr schlimme und prägende Kindheit gehabt haben. Wer seine Leute aber dann auch noch nach mythologischen Figuren benannte und sich selbst als Gott der Unterwelt persönlich ausgab, gehörte meines Erachtens nach garantiert nicht auf die Straße, sondern in eine Gummizelle…

Ares schien meinen Blick aus Verwirrung und Fassungslosigkeit zu bemerken und hob nur abschließend die Schultern, ehe er ein neues Thema anfing.

„Also gut, gehen wir das Risiko ein und nehmen uns die Zeit. Was hast du denn genau vor?“, fragte er Persephone. Sie schien noch einmal alles für sich durchzugehen, denn sie antwortete nicht sofort, sondern schloss kurz die Augen.

„Unser größtes Problem werden die Sicherheitsanlagen sein.“, begann sie mit ernster Stimme. „Hades ist nicht dumm und wäre so unvorsichtig, Judgement vollkommen ohne Sicherheitsmaßnahmen zurückzulassen.“

„Dann müssen wir nur die Stromversorgung unterbrechen.“, entgegnete Ares schulterzuckend. „Das ganze Quartier läuft nur über einen Generator, das weiß sogar ich.“

„Und das Passwort?“

Ares blinzelte. „Wie?“

Persephone seufzte genervt. „Du kannst dem Quartier nicht einfach so den Saft abdrehen! Hades hat die ganze Anlage mit einem Passwort geschützt, das selbst ich nicht kenne.“

„Aber… so was kann man doch herauskriegen, oder?“, fragte ich stirnrunzelnd.

Persephone sah mich mit einer Mischung aus einem gereizten und mitfühlenden Blick an. „Natürlich gibt es Programme, die so etwas können- nur besitze ich so ein Teil im Moment nicht und es zu besorgen würde schon ein paar Tage dauern…“

„Ein paar?!“, ächzte Nero leise und Persephone zuckte nur mit den Schultern.

„Was für Möglichkeiten haben wir denn dann noch?“, hackte Ares weiter nach. Persephone stand kurz vom Tisch auf und kam mit einem kleinen Labtop wieder, den sie vorsichtig auf der Tischplatte abstellte. „Zum Glück bin ich ja nicht ganz so auf den Kopf gefallen, wie die meisten anderen von Olymp.“, sagte sie grinsend an Ares gewandt, der die unterschwellige Botschaft ihrer Aussage mit einem wütenden Augenrollen quittierte.

„Ich habe mir gedacht, das System auf die altmodische Art lahm zulegen- mit einem Virus. Ich könnte einen programmieren und ihn dann die Arbeit machen lassen. Wenn ich ihn nur böse genug mache, könnte ich sogar den Notstrom abdrehen.“

„Wie lange?“, knurrte Ares säuerlich und nippte an seinem Bier.

„Nen’ Tag dauert’ s schon…“

„Geht das nicht ein bisschen schneller?“

„Bin ich hier diejenige mit technischem Wissen oder du? Natürlich könnten wir’s auch auf deine brachiale Art versuchen, aber…“ Sie verzog nachdenklich das Gesicht, bis es sich in eine gespielte Besorgnis umänderte und sie mit der Zunge schnalzte. „… ich weiß ja nicht, ob das so gut wäre…“

„Is’ ja gut, halt die Klappe, du hast gewonnen!“, fauchte Ares wütend und ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der große Krieger saß dort auf seinem Stuhl, hatte die Arme trotzig vor der Brust verschränkt, sich von Persephone abgewandt und zog eine Schnute wie ein kleiner Schuljunge, der seinen Willen nicht bekam.

„Und… was machen wir dann morgen den ganzen Tag?“, fragte Nero, der sich ein Lächeln auch nur schwer verkneifen konnte. Persephone zuckte mit den Schultern.

„Das ist mir eigentlich völlig egal- hauptsache ihr tut es leise und stört mich nicht…“, fügte sie grinsend hinzu und blickte abwechselnd zu mir und Nero. Ich spürte, wie mir heiß wurde und auch Nero schien das Doppeldeutige verstanden zu haben, denn er räusperte sich vorsichtig und ich sah aus den Augenwinkeln, wie er kurz mit hochrotem Kopf nickte. Persephone schaute uns noch für einige Sekunden amüsiert an, doch dann trat ein Ausdruck in ihr Gesicht, den ich nicht ganz deuten konnte- noch nicht…

„Ich denke, das Beste wird nun sein, wenn ich euch alle erstmal mit Pflastern versorge und wir dann noch ein paar Stunden schlafen.“, sagte sie ernst und stand ohne ein weiteres Wort auf. Äneas tat es ihr gleich und auch Ares erhob sich nach einer Weile. Etwas verwirrt schaute ich den dreien hinterher. Auch Nero machte Anstalten, sich zu erheben, doch ich hielt ihn auf halber Strecke am Ärmel fest und zog ihn wieder runter.

„Wartet!“, rief ich und tatsächlich schauten sich alle zu mir um. „Das war’s? Ich meine: Alle gehen noch mal Zähne putzen und dann ab ins Bett?!“

Mein Blick huschte zwischen Ares und Persephone hin und her- von Äneas würde ja ich sowieso keine Antwort bekommen.

Ares zuckte mit den Schultern. „Was hast du erwartet? Großer Kriegsrat ums Lagerfeuer und jeder hält einmal Wache?“, fragte er mit spöttisch hochgezogener Augenbraue. Auch Persephone kam wieder einen Schritt zurück in den Raum. „Fin, ich versichere dir, wir sind hier vorübergehend sicher. Du-“

Zornig schüttelte ich den Kopf. „Das meine ich nicht! Ares hat Recht: wir haben keine Zeit für… für Nichtstun. Ihr habt doch einen Plan, oder? Meint ihr nicht, dass wir den auch mal erfahren dürfen?“ Ich schaute zu Nero, der jedoch nur stumm neben mir saß und mich- zu meiner eigenen Verwirrung- nur perplex anstarrte. Persephone verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir haben einen Plan und der ist sicher, das kann ich dir versprechen, aber…“ Sie brach den Satz ab und schaute zu Ares auf.

„Aber was?“, hackte ich wütend nach. Ich würde mich nicht für dumm verkaufen lassen…

„Aber du wirst ihn nicht von uns hören.“, antwortete Ares an Persephones Stelle.

Ich runzelte die Stirn. „Ach ja? Und warum nicht?“

Ich merkte selbst, wie meine Stimme an Kraft verlor, weil ich den Grund irgendwo in mir schon wusste. Persephone seufzte und schaute zwar in meine Richtung, jedoch mich nicht direkt an.

„Wir möchten dich nicht mitnehmen. Das ist zu gefährlich.“

Ich war mir sicher, dass sie Nero bei den Worten anschaute und ich konnte noch schnell genug den Kopf drehen, um zu sehen, wie sein Blick nach unten glitt und er den Kopf von mir wegdrehte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, mein Blick wechselte nur hilflos zwischen den Gesichtern, die mich alle unterschiedlich betrachteten. „N…nein, das- das geht nicht!“ Meine Augen blieben an Nero haften. Verzweifelt hoffte ich auf seine Stimme, die mich verteidigte, mir zur Seite stand, doch er blieb stumm.

Persephone trat an mich heran und zog mich mit sanfter Gewalt von meinem Sitz. Ich starrte Nero immer noch an.

„Ich schlage vor, du gehst ins Badezimmer und steigst erstmal unter die Dusche.“ Ihre Stimme hatte wieder einen sanften Ton angenommen, wie eine fürsorgliche Mutter. Vielleicht- sogar sehr wahrscheinlich- hatte sie es in diesem Moment sogar ehrlich gemeint, doch für mich klangen die Worte und ihre Stimme einfach nur heuchlerisch und ekelhaft. Wütend löste ich mich aus ihrem Griff und starrte Nero immer noch an. Ich wusste nicht, auf wen ich am meisten sauer sein sollte… warum haben sie mich soweit mitkommen lassen, wenn sie mich sowieso nur wieder abschoben?

Und Nero?

Tränen der Wut und der Verzweiflung stiegen in mir hoch. Ohne überhaupt nachzufragen, wo das Badezimmer überhaupt lag, verließ ich den Raum, darauf bedacht, nicht zu rennen oder laut los zu schreien. Nur mit Mühe unterdrückte ich die Tränen, als Äneas schweigend hinter mir stand und mich in einen dunkeln Raum lenkte, der sich, nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, als Bad herausstellte.

Pläne

Mit aufeinander gebissenen Zähnen streifte ich mir das Kleid, was ich die ganze Zeit über getragen hatte, vorsichtig von den Schultern, sehr darauf bedacht, nicht all zu oft an die etlichen, bereits verkrusteten Schrammen zu kommen- allerdings ohne großen Erfolg. Neue Tränen rannen mir über die Wangen, diesmal jedoch wegen dem körperlich hervorgerufenen Schmerz.

Stumm betrachtete ich mich im Spiegel und verfluchte auch gleich darauf meine Endscheidung, dies getan zu haben. Ich sah schrecklich aus…

Meine Schultern und Arme waren fast gänzlich bedeckt von leichten Wunden und dunklen Blutergüssen und meine Beine sahen auch nicht besser aus. Das Gesicht, in das ich schaute, konnte unmöglich mein eigenes sein- es würde eher zu einer Drogenabhängigen passen, dachte ich bitter. Schmutz und Tränen hatten meine Wangen rot gefärbt, genauso wie meine Augen, die nun von dunklen Schatten eingerahmt waren, als lägen sie tief in meinen Schädel. Irgendwann schaffte ich es, den Blick abzuwenden und stieg endlich in die Dusche. Das Wasser war heiß, doch das störte mich nicht… es ließ mich nicht mehr die vielen Verletzungen spüren und auch das spannende Gefühl auf meinem Gesicht, das durch die getrockneten Tränen entstanden war, ließ nach und nach einer Weile gab mein Körper jeden Widerstand auf und genoss einfach nur noch die intensive Wärme. Ich schloss die Augen und spürte sofort die Müdigkeit in mir wieder aufsteigen, doch das war mir egal. Wenn ich jetzt hier auf der Stelle eingeschlafen wäre, wäre mir das nur recht gewesen- ich fühlte mich zum ersten Mal, seit dieser Alptraum begonnen hatte, wieder wohl.

Als ich nach einer ganzen Weile wieder aus der Dusche stieg, sah ich meinen Rucksack mitten im Badezimmer stehen- offensichtlich hatte ich vergessen, abzuschließen. Ich versuchte nachzuvollziehen, wie er hierher gelangt war. Ich war mir sicher gewesen, dass ich ihn unterwegs verloren hatte, spätestens bei unserer überstürzten Flucht aus dem Hotel. Ich seufzte und hob lächelnd die Schultern. Ich hatte mehr Glück, als Verstand, wahrscheinlich hatte Nero die ganze Zeit über-

Ich brach den Gedanken ab. Bitter dachte ich an das Geschehende zurück.

Nero… warum hatte er gerade nichts gesagt? War ich ihm so egal? Hatte ich nicht ein Recht darauf, zu wissen, in welche Gefahren er sich stürzen wird und wie er da wieder raus kommen will? Ganz egal ob ich nun mitkomme oder nicht- obwohl ich eigentlich einen Anspruch darauf hatte, mitzukommen, nach alldem, was wir durchgestanden hatten- hatte ich doch zumindest das Recht zu erfahren, was Persephone und Ares mit ihm vorhatten…

Energisch schüttelte ich den Kopf. Das war nun das letzte, woran ich denken sollte, denn für diesen Abend hatte ich genug Tränen vergossen. Nach kurzer Suche fand ich zu meiner eigenen Verwunderung in der Tasche den viel zu großen New York- Pullover, den ich von meinen Großeltern geschenkt bekommen hatte. Ich musste über mich selbst lachen. Ich war in größter Aufregung gewesen, als ich diesen Rucksack gepackt hatte, hatte Angst vor der Zukunft gehabt und ich nahm ein dummes Souvenir meiner Familie mit. Was hatte ich noch eingepackt? Eine Hand voll Fotos aus meiner Kindheit? Da ich nichts anderes brauchbares fand, was als Nachthemd dienen könnte, streifte ich kurzerhand den Pullover über.

Leise verließ ich den Raum und trat auf den Flur, der nun mindestens 20° kälter zu sein schien- und verharrte kurz. Die Küche war dunkel, es fiel dennoch schwaches Licht herein, wahrscheinlich aus einem angrenzenden Raum. Langsam ging ich den Flur hinunter zur Küche, die tatsächlich in einen anderen Raum führte. Der Lichtkegel war nicht besonders groß, aber ab und zu begann er zu flackern, als ginge jemand vor der Lichtquelle auf und ab. Langsam näherte ich mich der Küche.

„Was ist das?“ Aus irgendeinem Grund erstarrte ich bei dem Klang von Neros Stimme und blieb wie angewurzelt in der Dunkelheit stehen. Ich stand in dem Durchgang, der zum Flur führte, sodass ich nichts sehen konnte.

„Die passenden Klamotten zu deinem Mantel.“, brummte Ares’ Stimme, dann war es still, bis sich wieder Nero zu Wort meldete. „Meint ihr nicht, dass wir damit nicht ein bisschen… auffallen?“ Das Klicken von Absätzen war zu hören.

„Glaub mir, in diesem Viertel der Hauptstadt ist das die normale Alltagskleidung“, ertönte Persephones helle Stimme.

„Hier.“, sagte Ares wieder. „Und das solltest du auch bei dir tragen.“

Kurz war es still, doch ich glaubte ein Geräusch zu hören, als würde man Metall über etwas streifen lassen. Es hörte sich auf jeden Fall so ähnlich an, als würde Ares sein Schwert ziehen. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken runter, bei dieser Erinnerung.

„…Das werde ich nicht benutzen, Ares.“, erwiderte Nero ernst.

„Das verlange ich auch nicht, dafür werde ich dich ja begleiten, damit du dir darüber keine Gedanken machen brauchst.“ Ares schien auf eine Antwort zu warten, die aber nicht kam, sodass er seufzend weitersprach: „Hör zu, schon allein der Gedanke daran, etwas bei sich zu haben, womit man sich verteidigen kann, beruhigt einen schon.“

„Außerdem wissen wir nicht hundertprozentig, was uns da genau erwartet.“, fügte Persephone hinzu. „Vielleicht brauchst du es doch.“

Niemand antwortete ihr und es wurde wieder für Sekunden still. Betrübt starrte ich einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand an, der in der Dunkelheit der Nacht lag. Sie rechneten also doch damit, dass sie angegriffen werden…

Eine Angst stieg in mir hoch, die mich erzittern ließ. Jemand murmelte etwas, das ich jedoch nicht ganz verstand, dann vernahm ich durch das laute Pochen meines aufgewühlten Herzens hindurch Persephones Stimme, die so etwas wie „Gute Nacht“ sagte und plötzlich tauchte sie in der dunklen Küche auf. Sie schien mich nicht sofort gesehen zu haben, denn sie erstarrte urplötzlich in ihrem Schritt und schaute mich für einen Moment lang erschrocken an, ehe sie auf mich zutrat. Behutsam legte sie mir ihre Hand auf meine Schulter.

„Du solltest jetzt schlafen gehen.“, flüsterte sie sanft. „Ich glaube, es ist besser für dich, wenn du das nicht länger mit anhörst…“ Ich leistete keinen Widerstand, als sie mich mit in den Flur zog.
 

Ares ging schweigend vor mir im Raum auf und ab, dann nahm er sich einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber. Ich kam mir vor, wie ein Sohn, der gleich von seinem Vater irgendein peinlich intimes Thema erklärt bekam. In meinen Händen lag immer noch der kurze Dolch, den er mir gerade gegeben hatte. Er war ebenso schwarz, wie Ares’ Schwert, nur besaß er nicht den rötlichen Schimmer, der die Klinge des Zweihänders noch unheimlicher erschienen ließ.

„Bist du dir sicher, dass du das wirklich tun willst, Nero?“

Unschlüssig schaute ich auf und lächelte gequält. „Glaubst du nicht, dass es für diese Frage nicht ein wenig spät ist?“

In Ares’ Gesicht spiegelten sich Ernst und – was mich sehr verwirrte- Sorge wider.

„Ich werde es machen!“, fügte ich ernst hinzu, als Ares nichts erwiderte.

„Für sie…“, brummte er und ich konnte nicht genau sagen, ob das eine Frage oder eine Feststellung war. Mein Gesicht verfinsterte sich.

„Ich will, dass sie friedlich weiterleben kann. Sie soll nicht weiter leiden müssen- weiter Angst haben.“

Ares schüttelte den Kopf. „Nero, verstehst du nicht?“ Er deutete hinter sich aus dem Fenster. „Wir werden nicht da einfach reingehen, ein paar Tasten drücken und wieder rausspazieren können- nicht mehr, nach alledem, was passiert ist…“

Er bemühte sich, ruhig zu sprechen, doch das gelang ihm nicht ganz. Ich schaute weg. Natürlich wusste ich das, das musste er mir nicht noch mal erklären.

„Nero…“, begann er wieder ernst. „Im schlimmsten Fall stehen wir da morgen einer Überzahl gegenüber, der wir nicht Herr werden können- Olymp mag geschwächt sein, aber es ist immer noch stark genug, um mit vier Leuten fertig zu werden. Finja hat gefragt, wie unser Plan aussehe- es gibt keinen!“, zischte er. Bitter biss ich mir auf die Lippen. „Wir werden alles daran setzen, dich zu Judgement zu bringen, damit du das Programm löschen kannst. Was danach passiert-“ Ares brach den Satz ab und beließ es bei einem Schulterzucken. „Es kann Tote geben, Nero… Wir werden das wahrscheinlich nicht alle überleben- bist du wirklich bereit dafür?“

Ich antwortete nicht sofort. Ich wusste, was ich sagen wollte- natürlich hatte ich Angst… Wieder blitzten meine Visionen von der zerstörten Stadt in meinem Kopf auf.

„Ich tue das für Fin. Ich will nur, dass sie in Frieden lebt.“, wiederholte ich monoton.

Ares ballte wütend die Fäuste. „Hör auf, den Helden zu spielen!“, zischte er, dass ich erschrocken aufblickte. „Was hat sie davon, wenn du dich für sie in Gefahr bringst? Du willst, dass sie glücklich ist? Du würdest nur das Gegenteil erreichen.“

„Was weißt du denn schon davon?“, fuhr ich ihn an. Meine Hände hatten sich um den Dolch geschlossen. „Das einzige, was ich will, ist Fin in Sicherheit zu wissen und das ist sie nicht, solange dieses Programm existiert!“

Blitzschnell packte mich Ares an den Schultern, sodass ich mich nicht mehr bewegen konnte und schaute mir noch tiefer in die Augen. „Ich weiß sehr wohl, was es bedeutet, sich für jemanden aufzuopfern, der einem was bedeutet- ich weiß das ganz genau...“

Seine Hände packten noch fester zu und in seine Augen trat ein seltsamer Glanz. Er schaute kurz weg und versuchte sich zu sammeln. „Und glaub mir, es ist für alle schwer damit fertig zu werden.“ Als Ares mich nun wieder anschaute, waren seine Augen so kalt wie immer. „Lass sie nicht in dem Glauben, dass du das wegen ihr tust. Wenn… wirklich etwas passiert, dann wird sie sich dafür die Schuld geben.“ Ich schwieg.

„Lass sie gehen, Nero…“

Ich schaute auf. „Was?“ Meine Stimme war nur ein Flüstern.

Ares ließ mich los und wich wieder von mir zurück. Er lächelte traurig.

„Nero… es ist für uns alle angenehmer, wenn wir niemanden hinterlassen, der um uns trauern würde. Lass sie gehen, noch hast du sie nicht allzu stark an dich gebunden.“

Ich schluckte hart. Als ich keine Antwort gab, stand Ares auf und schaute aus dem Fenster. „Vielleicht sollten wir auch zu Bett gehen…“ Er begab sich zur Tür und ließ mich stumm zurück. Doch ehe er das Wohnzimmer verlassen konnte, rief ich seinen Namen, sodass er wieder stehen blieb. Auch ich stand auf.

„Du sagtest, dass du genau wüsstest, was es bedeutet, sich für jemanden zu opfern…“

Ares nickte. „Ja, weil es schon einmal jemand für mich getan hat.“

Ich nickte ihm zu. „Und du?“

Diesmal schwieg er für einige Sekunden, bevor er mir antwortete. „Ich habe es vor, zu tun…“, sagte er ernst.

Ich zuckte unter seinen Worten zusammen- ich verstand die Botschaft die dahinter stand. Es fiel mir schwer zu sprechen.

„Dann widersprichst du dir aber selber…“

Ares lächelte und kam auf mich zu. „Nein, um mich wird niemand trauern, denn dafür bin ich ein viel zu großer Mistkerl.“

„Ich würde um dich trauern…“ Mit Mühe versuchte ich überzeugt und ernsthaft zu klingen, doch meine Stimme war zu brüchig und schwach geworden. Ich verstand den Sinn hinter den Worten, ich wusste was Ares vorhatte; dass er bereit war, mit seinem Leben abzuschließen, um mich zu beschützen… ich verstand ihn, denn mir wurde auf einmal klar, wie ähnlich wir uns doch eigentlich waren. Und wie wichtig er mir geworden ist.

Ares lachte, kam noch näher und tätschelte mit seiner großen Hand meinen Kopf wie ein kleines Kind. „Aber nicht sehr lange.“, sagte er und sah mich mit einem Blick an, der so voller Wärme war, wie ich noch nie in seinen Augen gesehen hatte. Jetzt, in diesem Augenblick, hatte ich nicht das Gefühl, einem gewissenlosen Mann gegenüberzustehen, sondern vielmehr jemanden, der sich um mich sorgte, dem ich blind vertrauen konnte. Als sei ich sein kleiner Bruder.

Als wäre nichts gewesen, grinste er mich keine Sekunde später aus verräterisch leuchtenden Augen an. „Schon vergessen? Ich habe deiner Kleinen einen riesigen Schrecken eingejagt und sie auf einem Stuhl gefesselt- und ich töte Menschen. Ich bin schon lange kein guter Mensch mehr, Nero.“

Ich wollte noch etwas sagen, ihm widersprechen, doch ich fand auf einmal keine Worte für das alles. Ares ging, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. Schweigend stand ich in dem Raum und in meinen Ohren echoten Ares’ Worte wie ein fesselnder Singsang.

Es ist für uns alle angenehmer, wenn wir niemanden hinterlassen, der um uns trauern würde…

Um mich wird niemand trauern…

Ich bin schon lange kein guter Mensch mehr…

Wir waren uns sehr ähnlich. Wir hatten beide jemanden, den wir mit unserem Leben beschützen wollten. Ich spürte wieder den Schmerz, den ich gerade bei seinen Worten verspürt hatte, das Gefühl von Machtlosigkeit und Verzweiflung, nichts ändern zu können.

Und immer wieder vermischte sich Fins helles Lachen mit meinen Gedanken.

Von Frau zu Frau

Ich hatte schon viele Menschen sagen hören- vor allem die älteren unter ihnen-, dass Schlaf die beste Medizin sei und man sich auf jeden Fall besser fühle, wenn man lang genug schlief. Dieser Behauptung hätte ich auch zugestimmt- vor einigen Tagen vielleicht…

Doch als ich an diesem Morgen- oder war es schon Mittag? – aufwachte und mich aufrichten wollte, fiel ich laut stöhnend wieder ins Kissen zurück. Hatte ich auf einem Brett geschlafen?! Wohl eher unter einem Lastwagen, verbesserte ich mich, nachdem ich mir sicher war, wirklich jeden Knochen in meinem Körper spüren zu können. Was hatte ich nur angestellt, dass ich so verspannt war? Vor meinem geistigen Auge war ich wieder auf einen Stuhl gefesselt, sprang aus einem fahrenden Auto und kurz darauf aus einem Fenster- das ständige Rennen und das lautlose Verstecken mal ausgeschlossen, hatte ich wohl mehr Adrenalin in der vergangenen Nacht verbraucht, als in meinem ganzen Leben noch nicht…

Es dauerte eine Weile, doch irgendwann schaffte ich es gegen den Drang, einfach liegen zu bleiben, anzukämpfen und aufzustehen.

Einen Tag frei… die Ruhe vor dem Sturm, dachte ich bitter. Doch ich hatte vor, ihn voll auszunutzen. Mein aufflammender Enthusiasmus und Tatendrang bekam allerdings schon wenige Schritte später einen gewaltigen Dämpfer, als ich lediglich Persephone in der Küche entdeckte, die mit flinken Fingern über die Tasten ihres Laptops sauste und manchmal ohne aufzuschauen einen Schluck aus der Tasse nahm, welche neben ihr auf dem Tisch stand.

Sie schien sehr konzentriert zu sein, denn sie bemerkte mich erst, als ich an ihr vorbei zur Küchenanrichte ging, um mir etwas Kaffe zu nehmen, der dort bereit stand.

„Du bist schon wach…?“, sagte sie lächelnd. Ich schaute zur Wanduhr und verzog das Gesicht. „Schon ist gut- es ist Zwei Uhr.“ Immer noch müde rieb ich mir über die Augen. „Ich hab den halben Tag verschlafen…“, brummte ich missmutig. Persephone klappte ihren Laptop zu, stand auf und ließ sich von mir die Kanne reichen, um sich nachzufüllen.

„Du hast nichts verpasst.“, entgegnete sie seufzend und lehnte sich neben mir gegen die Anrichte, die Tasse mit beiden Händen umschlossen.

„Wo sind die anderen?“, fragte ich irgendwann, da sie nicht weitersprach. Sie zuckte mit den Schultern. „Ares wollte mit Nero noch ein bisschen trainieren. Er sagte, dass er Neros Instinkten doch nicht ganz vertraue, also wolle er ein wenig nachhelfen. Äneas ist mit ihnen gegangen.“, fügte sie in dem Moment hinzu, als ich nachfragen wollte.

Toll. Meine Laune sackte noch weiter in den Keller ab.

Persephone hatte in der Zwischenzeit, während ich zu schmollen begann, da nun meine ganze spontane Tagesplanung mehr oder weniger zunichte gemacht worden war, ihren Kaffee ausgetrunken und war durch den Raum geschritten.

„Ich will ein bisschen an die frische Luft- den ganzen Tag hier drinnen zu hocken ist auch nicht das Wahre. Ein paar Straßen weiter gibt es ein paar tolle Läden- kommst du mit?“

Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Du willst jetzt shoppen gehen?“

Persephone hob die Schultern und nickte. Ich deutete auf den Laptop.

„Und was ist damit? Hast du nicht gesagt, dass du den ganzen Tag brauchst?“

Sie grinste. „Erstens bin ich keine Maschine, die ununterbrochen arbeiten kann und zweitens kann ich mich nicht erinnern gesagt zu haben, dass ich einen ganzen Tag brauche- lediglich, dass es solange dauert.“

Ich konnte nicht genau sagen, was ich in diesem Moment fühlte; vielleicht war es blankes Entsetzen über Persephones lockere Art, darüber zu sprechen oder einfach nur Wut, dass sie die kostbare Zeit so leichtsinnig verspielte, die über Leben und Tod entscheiden könnte- das Ergebnis dieses Mixes war eine erschrockene Miene, die ich nicht mehr aus meinem Gesicht bekam. Persephone kam langsam und mit ernstem Blick auf mich zu.

„Fin, glaub mir, es würde keinen großen Unterschied mehr machen, ob wir nun heute oder morgen aufbrechen- unsere Gegner sind sowieso schon da und viel besser vorbereitet, als wir. Wir wollen uns nur nicht noch mehr Nachteile aufhalsen und ihnen unausgeruht entgegentreten. Ich denke, wir haben uns alle diesen Tag verdient oder?“

Ihr Blick war so versöhnlich und warm, dass ich ihr wohl alles abgekauft hätte. Ich konnte ihm nicht lange standhalten, also starrte ich in meine Tasse, als sei dort irgendetwas Interessantes. Sie hatte Recht; draußen lockte die Sonne mit ihren warmen Strahlen die Leute auf die Straßen und ich hatte auch das ungute Gefühl, dass ich Nero in den nächsten Stunden sowieso nicht zu Gesicht bekäme- was hielt mich also in diesen vier Wänden?

Seufzend leere ich meinen Kaffee. „Also gut. Ich komme mit…“, sagte ich in einem sehr gekünstelt überzeugten Tonfall, den Persephone zu überhören schien, da sie nun über beide Ohren grinsend vor mir stand und mir wurde wieder klar, wie jung sie wirken konnte…
 

Wir gingen wirklich nicht sehr lange, bis wir die ersten interessanten Läden entdeckten und Persephone sich mit einer mir schon beinahe unheimlichen Euphorie auf die Kleidungsstücke regelrecht stürzte- sie schien das Shoppen ziemlich nötig gehabt zu haben.

Auch ich steuerte nach einer Weile, in der ich Persephone verwirrt nachschaute, eine Stange mit T-Shirts an und ging in Gedanken versunken an ihnen vorbei. Ich bemerkte gar nicht, dass Persephone plötzlich neben mir stand, bis ich beinahe in sie rein gestolpert wäre.

„Und? Was für dich gefunden?“, fragte sie strahlend, beide Hände voll mit Hosen und Oberteilen. Leicht erschrocken von ihrem plötzlichen Auftauchen blinzelte ich sie an, zuckte dann doch mit den Schultern und schaute auf die Shirts vor mir. Sie waren bunt- das war das einzige, was ich bis jetzt bemerkt hatte…

Meine Gedanken schweiften immer wieder zu Nero, ich versuchte mir auszumalen, was uns da morgen erwarten würde und ob wir -

Persephone unterbrach meine Tagträumerei, indem sie mir etwas vor die Nase hielt. Es war- was für eine Überraschung- ein längeres Shirt, das sie wohl von der Kleiderstange vor mir genommen hatte. Ich konnte nicht mehr erkennen, als den cremefarbenen leichten Stoff, da sie mir das Teil Zwei Zentimeter von mir entfernt vor die Nase hielt. Zögernd nahm ich das Oberteil in die Hand und schaute es mir in einigem Abstand genauer an. Ganz leicht in einem dunkleren Ton konnte ich ein dezentes Blumen- und Rankenmuster erkennen, dass sich an der einen Seite über das ganze Bauchteil zog. Stirnrunzelnd schaute ich zu Persephone.

„Was soll ich damit?“

Sie hob die Schultern und grinste. „Anziehen vielleicht?“ Doofe Frage, las ich in ihren leuchtenden Augen und ich versuchte erst gar nicht, Widerstand zu leisten…

Zu meiner Überraschung passte das lange Shirt perfekt und sah zudem auch gar nicht schlecht aus- wenn auch ein bisschen unschuldig und blass. Aber vielleicht sah Persephone in mir ja so eine schutzbedürftige Person…

Vorsichtig streckte ich den Kopf aus der Umkleide. Persephone war schon wieder auf „Jagd“ gegangen; wenn sie so weiter machte, hätte sie bald den ganzen Laden durchgehabt. Ich rief sie leise und sofort kam sie angesaust und betrachtete sichtlich stolz ihr Werk.

„Findest du nicht, das ist ein wenig… zu brav?“, warf ich irgendwann ein, als Persephone nach einer geschätzten Ewigkeit immer noch damit beschäftigt war, mich zurechtzuzupfen.

„Brav?“ Sie zog eine ihrer schmalen Brauen nach oben, dann schüttelte sie den Kopf. „Es ist schlicht… aber das passt zu dir- du bist halt natürlich.“ Sie lächelte und ich spürte, wie mir warm wurde. Plötzlich drückte Persephone mir ein paar Geldscheine in die Hand und schloss diese zur Faust. Verwirrt starrte ich sie an.

„Ich möchte, dass du dir das Shirt kaufst.“, antwortete sie ohne das ich etwas gesagt hatte. Meine Augen weiteten sich.

„W- was?! Aber…!“ Grinsend legte sie mir einen Zeigefinger auf die Lippen und ließ mich so verstummen.

„Keine Widersprache, ok? Es steht dir, warum solltest du es dir nicht kaufen? Ich weiß, dass du kein Geld dabei hast, sieh es also als Geschenk an, ja?“ Zögernd schaute ich auf meine Faust, in der sich das Geld befand. Ich hatte nicht genau gesehen, wie viel Persephone mir gegeben hatte, aber es waren auf jeden Fall mehrere Scheine. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, drückte sie meine Hand noch fester zu und zwinkerte mir zu. „Nun tu nicht gleich so, als wolle ich dir einen Kleinwagen schenken. Das Teil kostet kein Vermögen, Fin.“

Sie konnte sich ein helles Kichern nicht verkneifen. Noch einmal schaute ich auf meine Hand hinab, dann – wie so oft schon an diesem Tag- seufzte ich und gab nach. Wenn es sie glücklich machte, dachte ich und ein kurzer Blick in ihr Gesicht verriet mir, dass es das auf jeden Fall tun würde…
 

Es war ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Die Straßen waren überfüllt mit schlendernden Menschen, die das Wetter ausnutzten und wahrscheinlich zum letzten Mal in diesem Jahr ihre Sommerkleidung aus dem Schrank holten. Persephone, beide Hände voll mit Tüten und ich setzten uns in ein offenes Café und schauten eine Weile den vorbeilaufenden Leuten nach.

Es war kaum zu erkennen- und hätte man Persephone nicht gekannt, wäre es wohl unmöglich gewesen, es wahrzunehmen-, doch sie schien nervös zu sein. Sie war schlagartig still geworden und ihre Augen huschten suchend durch die Menge. Ihre Hände fuhren vorsichtig über die Oberfläche ihres kalten Eisbechers und ich konnte nur schwer sagen, ob sie vor Kälte oder aus Angst zitterten. Ich nippte an meinem Eiskaffe, dann wurde auch mir die Ruhe unheimlich.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich leicht besorgt. Persephone schien unter meinen Worten zusammenzuzucken und schaute mich aus blinzelnden Augen kurz an, dann zwang sie sich zu einem Lächeln und wischte sich einige Strähnen aus dem blass gewordenen Gesicht.

„Klar. Alles bestens… Ich- ich werde nur etwas unruhig, wenn ich allein unterwegs bin und nichts zu tun habe…“ Sie schaute mir nicht in die Augen. Ich runzelte die Stirn.

„Allein? Ich bin doch hier.“ Persephone starrte noch tiefer in ihren Becher und kicherte gekünstelt. „Ja… schon, das meinte ich auch nicht, es ist nur-“

„Äneas ist nicht hier…“, mutmaßte ich und Persephone schwieg- ich lag also goldrichtig. Ich hätte es dabei belassen und einfach schweigen können, doch meine Neugier gewann plötzlich die Überhand.

„Wie steht ihr eigentlich zueinander? Ist er so was wie ein Bodyguard?“ Die Statur hätte er ja dafür, fügte ich in Gedanken hinzu. Nun war Persephone diejenige, welche seufzte. Lächelnd schaute sie mich nun doch an.

„Ja, so was in der Art. Es… es gab einmal eine Zeit, wo ich auf einen angewiesen war.“, sagte sie ruhig und bestimmt, doch mir lief es eiskalt den Rücken runter. Dass Persephone mal eine große Persönlichkeit gewesen war, konnte ich mir nicht vorstellen- immerhin war sie Mitglied in einer geheimen Organisation. Die andere Möglichkeit, die ich sah, war, dass es einmal sehr gefährlich um sie herum gewesen sein musste. Persephone schien meinen geschockten Gesichtsausdruck bemerkt zu haben und fügte lächelnd hinzu: „Aber das ist lange vorbei. Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

Sie holte Luft, als wolle sie noch etwas sagen, doch sie blieb stumm vor mir sitzen. Mir wurde plötzlich klar, wie gefährlich die Umgebung von Olymp zu sein schien, wo Nero wieder hin zurückgehen würde, wo sie alle hingehen würden. Ich wollte mir nicht vorstellen- und schon gar nicht nachfragen-, wofür genau Persephone einen Bodyguard gebraucht hatte, bestimmt aber nicht, um sich vor Paparazzis zu schützen.

„Äneas und ich verstehen uns ziemlich gut, deshalb gehen wir auch jetzt noch zusammen auf Missionen.“ Ich brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, wer da sprach. Noch immer an meinen Gedanken festhaltend nickte ich.

„Darf… ich dich noch etwas fragen?“ Ich wollte so schnell das Thema wechseln, da kam mir meine neu aufflammende Neugier gerade recht. Persephone zuckte lächelnd mit den Schultern. „Frag ruhig.“ Ich überlegte mir kurz die passenden Worte.

„Kann es sein, dass Äneas …stumm ist, also-“ Innerlich fluchte ich. Das waren definitiv die Falschen…

Persephone zog verwundert die Brauen hoch, dann grinste sie breit.

„Sag mal kann es sein, dass du Äneas irgendwie interessant findest?“

Ich beeilte mich, den Kopf zu schütteln, ehe ich komplett rot anlief. „N- nein, ich- er ist nur… so komisch.“ Wieder die falsche Formulierung! , strafte ich mich in Gedanken selber und biss mir auf die Unterlippe. Persephone lachte nur.

„Da bist du nicht die Einzige. Er ist selbst mir manchmal ein Rätsel.“ Dann wurde sie wieder still und deutete auf ihren Hals.

„Hast du seine Narbe gesehen?“ Ich nickte. „Ich selbst habe es nicht richtig mitbekommen, aber er wurde damals mit einer tiefen Schnittwunde, die quer über den ganzen Hals verlief, gefunden.“, und dabei fuhr sie eine imaginäre Narbe an ihrem Hals von links oben nach rechts unten mit dem Zeigefinger nach, „Sie hatten ihre liebe Mühe, ihn wieder zusammenzuflicken, doch sie schafften es. Allerdings waren seine Stimmbänder so schwer verletzt worden, dass sie fast komplett durchtrennt waren.“ Persephones Stimme war leiser geworden und es schwang eine Traurigkeit und Schwere darin, als spreche sie über einen Verstorbenen. Ich bereute es, sie gefragt zu haben, denn anscheinend bedrückte sie dieses Ereignis aus irgendeinem Grund…

„Das ist ja schrecklich.“, hauchte ich und senkte den Blick.

Sie seufzte. „Es ist geschehen, man kann nichts daran ändern. Ich glaube, jeder möchte einmal gerne die Zeit zurückdrehen… aber das geht nicht- leider. Ich hätte bestimmt vieles anders gemacht, aber das ist halt der Preis, den man bezahlen muss, wenn man lebt: keine Geldzurückgarantie.

Aber du kannst mir glauben, dass Äneas die Situation nicht stört, im Gegenteil: er kommt bestens zurecht. Manchmal sind seine Blicke verletzender als jede Beschimpfung.“, sagte Persephone lächelnd und auch ich versuchte es mit einem freundlichen Gesichtsausdruck.

Dann plötzlich lehnte sie sich über den kleinen Tisch zu mir rüber und schaute mich aus schelmisch leuchtenden Augen an.

„Aber nun bin ich dran, ja?“ Ich wich ein Stück zurück. Warum ahnte ich plötzlich böses…?

„Also du und Nero, hm?“, fragte Persephone grinsend und ich lief sofort feuerrot an. „N…naja…“, stotterte ich. Ich musste zugeben, dass ich darüber noch nie einen Gedanken verloren hatte- ich empfand etwas für Nero, das stand außer Frage und auch er schien mich zu mögen… aber ob wir nun wirklich zusammen waren, konnte ich nicht sagen. Was war schon passiert? Der Kuss? Der beinahe Se- ? Ich brach den Gedanken ab, ehe ich vor Scham in Ohnmacht gefallen wäre. „Ich denke schon…“, sprach ich meine Schlussfolgerung aus. In meinem Kopf drehte sich alles.

„Weißt du… ich weiß immer noch nicht so genau, wie du eigentlich an den Spinner und seinen Ziehsohn gekommen bist…“, holte Persephone mich in die Wirklichkeit zurück. Ich brauchte einige Sekunden, um ihre Aussage überhaupt zu verstehen, doch dann erzählte ich knapp von meinem ersten Treffen mit Ares und Nero.

Persephone nickte, als ich mit meinem Bericht fertig war.

„Verstehe. Ja, ich kann mich noch an den Abend erinnern. Das war kurz nachdem Neros Gedächtnis gelöscht worden war. Ares war damals ziemlich durch den Wind.“

„Den Eindruck hatte ich aber nicht.“, murrte ich. Ich konnte mich noch sehr gut an den kühlen Ausdruck in seinen Augen erinnern- er hatte keinesfalls mitgenommen oder aufgelöst ausgesehen.

„Glaub mir, die Sache mit Judgement hat ihn schwer getroffen. Er hat zwei Tage lang durchgesoffen und das ist selbst für ihn nicht normal.“ Sie schwieg und auch ich antwortete nicht. In ihrem Blick war wieder etwas getreten, was ich nicht zu deuten vermochte. Sie schien über etwas – oder jemanden- nachzudenken und wieder schaute sie traurig zu Boden. Ich spürte, wie eine Vorahnung in mir keimte und mein Denken beherrschte, aber ich verstand sie nicht. Persephone schüttelte auf meine unausgesprochene Frage hin energisch den Kopf. „Aber das soll jetzt nicht unser Thema sein.“, sagte sie schließlich und ich hob verwundert die Brauen. Persephone schaute wieder zu mir rüber.

„Liebst du ihn?“

Ich verstand nicht sofort, was sie meinte, doch dann nickte ich verlegen. „Ja.“

„Tu es nicht…“

Erschrocken hob ich den Kopf. „Was?“

Persephone stocherte in ihrem Eis herum.

„Du scheinst wohl vergessen zu haben, wer er ist. Nero gehört zu Olymp und-“

„Er war ein Mitglied von eurem Irrenverein.“, unterbrach ich sie wütend und funkelte sie an. Persephone unterbrach ihre Sezierarbeit und schaute mich trocken an, dennoch bildete ich mir ein Funken Mitleid in ihrem Blick ein.

„Er mag keine Erinnerungen mehr an diese Zeit zu haben, aber dennoch ist er von vielen Dingen geprägt worden. Du hast niemals miterlebt, wie es ist, bei Olymp aufzuwachsen, Finja. Du hast keine Ahnung von den Sachen, die wir dort täglich sehen. Wir kennen keinen Frieden. Wir haben keine Freunde. Wir … lieben nicht.“ Die Worte trafen mich mit voller Wucht und doch wollte ich sie nicht wahr haben.

Verzweifelt versuchte ich meine Gefühle hinter einem gekünstelten Lachen zu verbergen. „Vielleicht, aber Nero ist anders! Ich scheine ihn besser zu kennen als du, denn ich weiß, dass er-“

„Hat er es jemals zu dir gesagt?“, konterte sie nüchtern. Ich biss mir auf die Unterlippe und schwieg. Ich versuchte mich an die Momente zu erinnern, in denen ich mir sicher war, dass er genauso gefühlt hatte wie ich, doch sie waren plötzlich aus meinem Gedächtnis verschwunden.

„Es gibt Dinge, die man nicht vergessen kann, selbst wenn man sich ansonsten an nichts erinnert.“, fuhr Persephone fort, als ich nicht antwortete.

Trotzig schaute ich sie an. „Ich weiß, dass es anders ist.“

Ich war den Tränen nahe. Etwas in meinem Kopf stimmte Persephone zu und fand immer mehr Beispiele und Belege dafür, dass Nero durch Olymp- seiner Vergangenheit- unfähig war, zu lieben. Und doch gab es diese kleine Stimme in meinem Herzen, die dagegen anschrie, an die ruhige und gemeinsame Zeit erinnerte und sich mutig gegen den aufbrausenden Sturm des Verstandes stellte.

Persephone seufzte. „Finja, hör zu: ich will dich nur davor beschützen, verletzt zu werden. Ich war sehr lange auf der Suche nach jemandem, dem ich blind vertrauen kann, dem ich mich hingeben kann, ohne Angst zu haben, verlassen oder ausgenutzt zu werden. Aber ich musste feststellen, dass das unerreichbar ist- zumindest wenn du jeden Tag nur Tod, Intrigen und Qualen entgegentrittst. Diese Erfahrungen wirst du niemals los.“

Persephone erhob sich, schob etwas Geld unter ihren Becher und sammelte ihre Sachen zusammen. „Wir sollten uns langsam auf den Weg machen.“, beendete sie unsere Unterhaltung und ging. Auch ich stand auf und folgte ihr, doch dann blieb ich stehen.

„Persephone?“

Sie schaute sich um. „Ja?“

Ich schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, dass du so fühlst, aber ich bleibe dabei: Nero ist anders und es ist mir egal, ob du uns beiden eine Chance gibst oder nicht!“, antwortete ich entschlossen und ging an ihr vorbei.

Ich war mir ganz sicher: ich liebte diesen Jungen, der mir halb nackt und bewusstlos vor die Füße geworfen wurde, der mich beinahe umbringen wollte und wegen dem ich nun auf der Flucht war vor seinen eigenen, ehemals Verbündeten. Ich erinnerte mich an mein Versprechen, dass ich ihm gegeben hatte und ich hatte vor, es zu halten, egal wie schwer es werden würde. Ich werde alles für ihn tun, alles in meiner Macht stehende- und selbst wenn es mein Leben kosten würde…

You` re not the one, but you` re the only one, who can make me feel like this

Als Persephone ihre Haustür aufschloss, drangen uns Jubelschreie und hitzige Rufe entgegen. Wir gingen ins Wohnzimmer und entdeckten dort die drei werten Herren, Flaschen in den Händen- in denen bestimmt kein Wasser war- und den Fernseher angrölend. Sie scheinen uns gar nicht zu bemerken. Persephone schüttelte nur den Kopf.

„Das ist ja mal wieder typisch für euch…“

Ares drehte sich bei diesen Worten halb auf dem Sofa um, deutete mit der Bierflasche Richtung Bildschirm und grinste.

„Wir gewinnen grade! “ Und wie zur Bestätigung ging erneut ein Singsang durch die Zuschauerreihen des Fußballstadions, in denen irgendwelche erwachsenen Männer einem Ball hinterher hechteten. Persephone zog gespielt die Brauen hoch.

„Ach wirklich?“, fragte sie und beugte sich über die Sofalehne, „Ich kann dich da gar nicht entdecken…“

Ares zog eine Schnute. „Ach halt doch den Mund, Ungläubige.“, brummte er und fauchte im nächsten Moment wieder den Fernseher an, weil irgendeiner den begehrten Ball verloren hatte. Grinsend stellte ich mich neben Nero, der ebenfalls mit auf der Couch saß und anscheinend dem Spiel innig folgte.

„Wusste gar nicht, dass du dich für so etwas interessierst…“

Zu meiner Überraschung schaute er nur flüchtig zu mir auf und lächelte kurz und halbherzig.

„Hätte ich auch nicht gedacht.“, antwortete er und sah wieder weg. Ich runzelte leicht die Stirn über sein merkwürdiges Verhalten- immerhin war das heute das erste Mal, dass wir uns sahen- doch bevor ich etwas sagen konnte, fiel plötzlich ein Tor und das ganze Stadion fing an zu jubeln. Auch Ares und Nero schrieen auf einmal laut auf- Äneas reckte lediglich die Hände in die Luft-, dann sprangen alle auf und fielen sich in die Arme.

Verwirrt schaute ich zu Persephone, doch auch sie konnte nichts anderes tun, als schief zu lächeln und hilflos die Schultern zu heben. Männer eben… schien ihr Blick zu sagen.

Ich seufzte über diesen plötzlichen Gefühlsausbruch der Männer, doch dann sah ich wieder zu Nero, der anfing, mit Ares und Äneas vor dem Bildschirm auf- und abzuschunkeln und ich musste lächeln. Ich hatte ihn noch nie so ausgelassen gesehen…
 

Der restliche Abend verlief etwas gesitteter. Persephone brütete wieder über ihrem Laptop und Ares und Äneas sahen sich irgendeinen Krimi an, dem ich dann auch beiwohnte- nur Nero war auf einmal verschwunden.

Als ich dies bemerkte, fragte ich zuerst Ares, ob er etwas wisse, doch mehr als ein Schulterzucken bekam ich partout nicht aus ihm heraus, also stand ich irgendwann vom Sofa auf und begann nach ihm zu suchen.

Alle anderen Räume waren jedoch dunkel und verlassen. Als ich dann wieder über den Flur zurück zum Wohnzimmer gehen wollte, bemerkte ich einen kühlen Windzug, der mich frösteln ließ. Er schien aus einem der Schlafzimmer zu kommen…

Leise öffnete ich die Tür zu dem Raum, den Persephone Ares und Nero als Nachtlager zugewiesen hatte. Die Tür zum Balkon schien offen zu sein, sodass sich die dunklen Vorhänge davor im Wind leicht aufbauschten und bewegten. Vorsichtig schritt ich durchs Zimmer und lugte auf den Balkon.

Draußen, nur spärlich vom Mondlicht angestrahlt, stand eine Person, die Arme auf die breite Brüstung gelegt.

„Nero…?“, fragte ich leise.

Tatsächlich drehte sich die Gestalt ruckartig um. Die Bewegung hatte etwas aggressives, dass mich erschrocken zurückstolpern ließ.

„Fin? Bist du das?“, ertönte seine Stimme ungläubig. Ich nickte unsinnigerweise, denn es war viel zu dunkel, als dass er diese Gestik gesehen haben könnte. Stattdessen ging ich einfach näher auf ihn zu. „Tut mir leid… ich wollte dich nicht erschrecken.“

Nero schüttelte den Kopf und drehte sich dann wieder weg.

„Nein, hast du nicht. Ich war nur in Gedanken…“

Stille.

Ich wollte ihn nicht näher danach fragen, also stand ich nur da und genoss die Aussicht- dass es bitterkalt war, versuchte ich zu ignorieren. Doch so sehr ich auch versuchte, nicht daran zu denken, ging mir sein Verhalten nicht aus dem Kopf. Warum hatte ich nur das Gefühl, dass er heute irgendwie abweisend war...?

Wahrscheinlich die Aufregung, redete ich mir schließlich ein und trat hinter ihn. Er schien sich von mir nicht gestört zu fühlen, doch genauso wenig schien er mich wahrzunehmen, denn er lehnte sich immer noch leicht über die Brüstung und schaute in den Nachthimmel.

„Morgen also…“, sagte ich.

Nero nickte. „Dann wird alles vorbei sein…“

Meine Worte runterschluckend biss ich mir auf die Unterlippe. Wie konnten sie sich da alle so sicher sein? Es fiel mir immer noch schwer, ihren Optimismus zu verstehen.

Ich seufzte, trat vollends hinter Nero und umschlang seinen Oberkörper. Irgendwie verspürte ich in diesem Moment das Verlangen nach seiner Wärme, nach seinem Geruch, einfach nach seiner Nähe. Ein ungutes Gefühl beschlich mich und ich hatte plötzlich Angst um ihn.

„Jetzt konnten wir den Tag doch nicht zusammen verbringen.“, maulte ich in seinen Rücken hinein. Er lachte, sodass sein ganzer Körper zu beben begann.

„Naja… genau genommen, ist der Tag erst in ein paar Stunden vorbei.“, antwortete er und drehte sich endlich zu mir um und nahm mich auch in die Arme. Ich schlang meine Arme noch fester um seinen Rücken und legte meinen Kopf an seine Brust.

Leise hörte ich sein Herz schlagen. Nach einer kurzen Atempause, sprach ich das aus, was ich ihm schon den ganzen Tag sagen wollte, das, was mir auf der Seele lag und an dem ich keine Sekunde lang gezweifelt hatte.

„Versprichst du mir etwas, Nero…?“ Seine Bewegung, mir durchs Haar zu fahren, stoppte. Ich wartete nicht auf eine Antwort, ich störte mich nicht an seiner Reaktion, sondern sprach einfach weiter.

„Ich möchte immer mit dir zusammen bleiben. Wenn das morgen vorbei ist, können wir ein neues Leben beginnen- nur wir beide. Wir könnten in meinem Haus leben oder wir ziehen woanders hin- das ist mir völlig egal… Ich will mit dir alt werden, vielleicht… auch irgendwann Kinder haben, wenn du willst…“ Die Worte sprudelten nur so aus meinem Mund und mir war es egal, dass ich bei dem Gedanken an Kinder rot wurde, mir war alles egal, ich wollte sie nur endlich loswerden…

Ich schaute zu Nero auf.

„Hauptsache ich kann bei dir bleiben. Versprichst du mir das?“

Es fiel mir schwer, Neros Blick zu deuten, er schien mich gar nicht anzusehen- zumindest hatte ich für einen kurzen Moment das Gefühl, in seinen Augen nichts zu entdecken, als seien sie lediglich dunkle Spiegel, in denen ich mich verzerrt sah. Doch im nächsten Moment schaute er mich ernst an und drückte mir einen Kuss auf meine Haare.

„Ich verspreche dir, dass du glücklich sein wirst, Finja. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendein Leid widerfährt. Dein Leben lang…“, hauchte er und zog mich an sich.

Ich versuchte über seine Worte nachzudenken, was er genau damit gemeint hatte, doch seine Nähe machte es mir unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, sodass ich alle Barrieren aufgab und mich einfach fallen ließ, mit der Sicherheit, dass er da war und mich auffing.

Wie lange wir dort so standen, konnte ich nicht mehr sagen. Es kam mir so vor, als hätte ich Jahrelang seinem Herzschlag gelauscht.

„Du solltest langsam schlafen gehen, meinst du nicht?“ Seine Stimme schien von überall auf einmal zu kommen. Benommen vor Kälte schüttelte ich den Kopf. Wenn ich jetzt schlafen gehen würde, würde das heißen, ihn loslassen zu müssen- ein grausamer Gedanke…

„Ich bin nicht müde und ich will mich jetzt nicht bewegen…“, murmelte ich in sein Shirt hinein. Nero lachte plötzlich.

„Na wenn das so ist…“ Und im nächsten Moment packte er mich an Schultern und Kniebeugen und hob mich in die Höhe, sodass ich erschrocken aufschrie. Verwirrt starrte ich in Neros grinsendes Gesicht. „… muss ich dich wohl ins Bett bringen.“, vollendete er seinen Satz.

Mir wurde so heiß, dass alle Kälte aus meinem Körper wich und mein Herz zu rasen begann. Nero drückte mich näher an sich und ging los- jedoch nicht sehr weit, sondern nur in das Zimmer hinein, dann lud er mich vorsichtig auf seinem Bett ab.

„Das… ist nicht mein Bett.“, meinte ich etwas herausfordernd, um von meinem rasenden Puls abzulenken. Nero stand vor mir und stützte seine Hände im Kreuz ab.

„Sorry, weiter schaff ich’s nicht.“, ächzte er, streckte sich und grinste breit. „Du bist einfach zu schwer.“

Pikiert rutschte meine Braue in die Höhe. „Wie bitte?!“

Und bevor er reagieren konnte, hatte ich Nero schon an seinem Gürtel gepackt und zog ihn runter aufs Bett, drehte ihn auf den Rücken und setzte mich auf ihn. Mit den Händen drückte ich seine Arme runter. Er fing an zu lachen.

„Wenn du mich fragst, färbt Ares’ Verhalten langsam auf dich ab!“, erwiderte ich nun ebenfalls grinsend, „Und im Übrigen möchte ich dich daran erinnern, dass ich diejenige war, die dich durch den Regen nach Hause getragen hat- und du bist auch nicht gerade leicht…“ Neros Lachen verstummte langsam und auch mir wurde auf einmal klar, in was für einer Lage wir uns gerade befanden. Unbewusst hatte ich mich wieder zu ihm heruntergebeugt und war nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt- wieder…

Ich spürte die Hitze, die von Neros Gesicht aufzusteigen schien, aber vielleicht war es auch einfach nur meine eigene…

„Bleib bei mir.“, hauchte ich noch einmal, dann konnte ich ihm nicht mehr widerstehen.

Ich gab seine Arme wieder frei, die mich zugleich sanft umschlangen, während ich mit meinen Händen anfing, über seinen Oberkörper zu streichen, jeden einzelnen Muskel unter seinem Hemd ertastend, immer höher, bis ich seinen Hals erreichte und dann sein Gesicht. Vorsichtig strich ich ihm die schwarzen Haare aus der Stirn und ich merkte gar nicht, wie ich immer fordernder wurde, ihn immer stärker versuchte zu fühlen, bis mir seine Lippen nicht mehr reichten und anfing, sein ganzes Gesicht mit Küssen zu bedecken- bis Nero plötzlich schmerzhaft die Luft einsog und seine starken Hände meine Schultern von sich wegdrückten.

Erst jetzt merkte ich, wie lange ich schon nicht mehr Luft geholt hatte. Schwer atmend saß ich auf seinen Oberschenkeln, während Nero versuchte, sich aufzurichten. Durch die Dunkelheit hindurch sah ich, wie er sich vorsichtig über seine Nase rieb.

Erschrocken zog ich die Brauen hoch. „Tut mir Leid… ich wusste nicht, dass sie dir immer noch wehtut…“

Nero lächelte verkniffen. „Fin, das ist gerade mal einen Tag her…“

Nun klappte mir die Kinnlade völlig auf den Fußboden. „Was? Das ist erst gestern passiert?!“ Nero zuckte nur mit den Schultern. Seufzend strich ich mir die Haare nach hinten und schüttelte den Kopf. „Ein Tag…“, murmelte ich, „Ich glaub’ s nicht… Innerhalb eines Tages ist so viel passiert.“

„Es ist vergangen… wir können nichts daran ändern.“, sagte Nero irgendwann und ich stimmte ihm in Gedanken zu. Wie hieß es doch so schön? Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus- und ich mochte sie sehr süß…

„Tut` s denn noch sehr weh?“, fragte ich und Nero verzog das Gesicht.

„Man hat mir einen Fausthieb verpasst- das dauert seine Zeit, bis das verheilt.“

Ich grinste. „Na dann werd ich halt etwas mehr aufpassen.“

„Fin, ich-“ Weiter ließ ich ihn nicht kommen. Doch diesmal ließ er mich auch nicht solange gewähren. Wieder drückte er mich an den Schultern weg.

„Fin, bitte!“

Verständnislos schaute ich ihn an, doch mein Blick traf nur auf seine leuchtenden Augen, die mich kraftlos und auch etwas traurig ansahen.

„Ich bin müde, Finja… mir tut alles weh und…“ er brach seinen Satz ab und schloss müde die Augen.

Zuerst war ich frustriert, dann sauer, doch irgendwann versuchte ich ihn zu verstehen. Ich rang mich zu einem Lächeln durch. „Schon gut…“, antwortete ich matt und verspätet. „Es war ein anstrengender Tag für dich.“

Sanft schloss Nero mich in seine Arme.

„Tut mir Leid…“, flüsterte er kaum hörbar. Ich schüttelte den Kopf an seiner Schulter. „Hauptsache du bist bei mir. Alles andere ist mir egal.“ Seine Umarmung verlor bei den Worten an Kraft. Besorgt strich ich ihm über die Wange, doch ehe ich etwas sagen konnte, hob Nero seinen Kopf und nickte in Richtung Kopfkissen. „Willst du heute hier schlafen?“

Ich nickte glücklich und meine ängstigenden Gedanken über sein merkwürdiges Verhalten waren vergessen.

Die ganze Nacht über lag ich in Neros Armen an seinen Körper geschmiegt und genoss seine Wärme. Es war ein schönes Gefühl, das ich niemals mehr hergeben wollte.

„Morgen ist alles vorbei…“, hauchte ich irgendwann, mehr zu mir selbst, als zu Nero und kuschelte mich noch näher an ihn.

Morgen… dann sollte uns nichts mehr trennen. Meine anfängliche Angst um ihn war verschwunden, ich spürte auf einmal eine Gewissheit, dass wir das überstehen würden und dann lag ein ganzes Leben vor mir, das ich mit ihm verbringen würde- was war dagegen schon ein Tag, den ich noch warten musste?
 

Vorsichtig erhob sich Ares aus der Wanne, fischte nach einem Handtuch und legte es sich um die Hüften. Das, was er nun im Spiegel erblickte, hatte zwar immer noch nicht allzu viel Ähnlichkeit mit dem alten Ares, aber zumindest sah er nach dem Bad und einer ordentlichen Rasur wieder wie ein zivilisierter Mensch aus- abgesehen natürlich von der tiefblauen Schulter und den etlichen Kratzern, die sich über seinen Oberkörper hinweg verteilten.

Sein Mantel hatte zwar verhindern können, dass er sich gefährlichere Wunden zugezogen hat, aber seinen freien Fall aus dem Auto hatte das Kleidungsstück nicht abbremsen können. Vorsichtig strich Ares über seinen linken Oberarm, den ebenfalls ein einziger großer Bluterguss zierte und verzog das Gesicht. Dass er den Arm überhaupt noch ansatzweise heben konnte, war erstaunlich. Die halbe Flasche Jodlösung, die dieses Monster von Frau ihm freundlicherweise direkt auf seine Wunden gekippt hatte, verbesserte seine Lage auch nicht. Es würde morgen anstrengend werden, damit zu kämpfen. Verbissen ließ Ares seine Schulter kreisen, streckte die Arme und spannte die Muskeln an.

Was soll’s… jammern konnte er später, morgen musste er in Form sein- egal wie und egal, was er dafür in Kauf nehmen musste- sei es nun Schmerzen oder irgendwelche anderen menschlichen Laster.

Seine Haare trocken reibend verließ er das Bad und schlenderte in die Küche. Persephone, die an dem großen Tisch saß und ihren Laptop vor sich hatte, schaute kurz auf, widmete sich aber sofort wieder ihrem Programm. Äneas stand wie immer in ihrer Nähe; diesmal gab er anscheinend vor, die Aussicht auf die Stadt zu genießen. Wüsste es Ares nicht besser, würde er Äneas als hartnäckigen Stalker bezeichnen.

„Was ist?“, fragte Kore ohne aufzusehen, „Willst du sicher gehen, dass ich auf jeden Fall nur auf meinen Laptop starre und arbeite oder warum stehst du halbnackt vor mir?“

Ares erkannte ein gehässiges Grinsen auf ihren Zügen, dass er sich einredete, nicht gesehen zu haben. Gelassen ging er an ihr vorbei und bediente sich man Kühlschrank.

„Nero und Finja sind in meinem Schlafzimmer verschwunden und seitdem nicht mehr rausgekommen- ich wollte nicht stören…“

Persephone zog erstaunt die Brauen hoch. „Seit wann kümmert dich denn die Privatsphäre anderer Leute?“ Ihr unterdrücktes Lachen war deutlich zu hören. Ares schüttelte den Kopf. „Ich bin immer wieder erstaunt, wie du so ein schlechtes Bild von mir bekommen konntest.“

„Danke, dieses Kompliment gebe ich gerne zurück.“, erwiderte sie prompt. Ares ließ diesen Kommentar unbeantwortet, denn er hatte in diesem Moment gefunden, was er gesucht hat und ging nun mit der Salatschüssel in der Hand zurück zum Tisch. Dieses Grünzeug war zwar nicht das, was er erhofft hatte, vorzufinden, aber immerhin stopfte es seinen Magen- besser als gar nichts…

„Bist du etwa immer noch nicht fertig?“, murrte er statt einer Antwort. Augenblicklich unterbrach Kore ihre Arbeit und schaute auf.

„Versuch nicht über etwas zu urteilen, von dem du keine Ahnung hast, mein Lieber.“, sagte sie bissig und grinste dann böse. „Wenn ich mich richtig entsinne, war es ja deine Schuld, warum das Feuer im Regierungsgebäude ausgebrochen ist, oder?“

Ares holte Luft, um zum Konter anzusetzen, klappte den Mund aber dann doch wieder stumm zu. Das war wahrscheinlich der einzige Punkt, in dem er sich geschlagen geben musste- zumindest ihr gegenüber.

„Du bist die Pest in Person…“, knurrte er und stocherte in dem Salat herum.

„Ja, ich glaube, das hast du schon mal erwähnt.“, sagte sie hell lachend und schaute wieder auf ihren Laptop. Auch Ares musste insgeheim lächeln. Diese Frau war die Hölle- und doch konnte er sich erstaunlicherweise sein Leben auch nicht mehr ohne sie vorstellen.

„Ich kann nicht glauben, dass morgen alles vorbei ist. Fast zwei Jahre hat das jetzt gedauert.“, sagte Ares fast beiläufig und stellte die Schüssel auf den Tisch. Persephones Finger unterbrachen erneut ihre Arbeit.

„Es wird nicht vorbei sein. Wir werden nur das meiste geschafft haben. Es wird alles besser werden.“

„Du hältst also immer noch zu ihm, hm?“

Persephone nickte. „Ich verdanke ihm viel- genauso wie du…“, fügte sie nach einer kurzen Kunstpause hinzu und schaute ihm von unten hinauf in die Augen.

Ares’ Blick verfinsterte sich. „Ich habe dir gesagt, warum ich noch hier bin.“

„Tja, so hat jeder seine Gründe.“, seufzte sie und zuckte mit den Schultern. Sie konzentrierte sich wieder auf die Tasten vor ihr, allerdings nicht lange, denn nach kurzer Zeit schaute sie wieder auf und zog die Stirn kraus.

„Willst du dir nicht mal langsam wieder was anziehen?“

Ares schaute an sich herab, dann grinste er. „Lenk ich dich etwa ab?“

Zuerst schien sie über seine Vermutung erschrocken zu sein, Ares glaubte sogar zu sehen, wie Persephones Teint leicht ins rosa überging, doch sie fing sich schnell wieder und zog spöttisch eine Braue hoch. „Was? Diese geschundene Hühnerbrust? Damit erweckst du bei mir allerhöchstens Mitleid.“

Ares war leicht pikiert über die Antwort… aber nur kurz.

„Das hat sich vor kurzem noch anders angehört.“, grinste er.

Persephone lachte. „Kurz? Das ist Jahre her, dass wir-“

„Zwei.“, fiel er ihr ins Wort und hob die entsprechende Anzahl an Finger. Sie hörte auf zu lachen und schüttelte verwundert den Kopf.

„Gott, muss ich damals verzweifelt gewesen sein…“, murmelte sie mehr zu sich selbst, allerdings noch laut genug, damit es Ares mitbekam. Dieser beugte sich über den Tisch zu ihr und funkelte sie provokant an.

„Wohl eher experimentierfreudig… wenn ich mich richtig erinnere, hattest du damals mit jedem etwas- nicht, dass sich seitdem etwas geändert hätte-“

Persephone klappte geräuschvoll den Laptop zu und beugte sich Ares entgegen.

„Ok, worauf willst du hinaus?“, fauchte sie angriffslustig. Ares grinste. Er verstand es perfekt, sie in Rage zu bringen- in diesem Punkt hatte nun mal er die Nase vorn.

„Du hast es bei mir am längsten ausgehalten.“, feixte er.

„Und jetzt bildest du dir was drauf ein, hm?“

Ares hob nur unschuldig die Schultern. „Zumindest schien ich etwas Besonderes für dich zu sein.“

Persephone lachte fassungslos auf. „Du scheinst echt von dir überzeugt zu sein oder? Und im Übrigen: Unser- ich nenn es mal- Verhältnis fand auf einer mehrwöchigem Mission statt, auf der ich keinesfalls freiwillig war; soviel zu dem Thema, dass ich aus freien Stücken am längsten etwas mit dir gehabt hatte…“

„Niemand hat dich gezwungen, etwas mit mir anzufangen, Kore.“, erwiderte Ares gelassen und zuckte mit den Schultern. „Du hättest auch diesen Yakuza- Typen nehmen können-“

„Du kennst meine Antwort auf diese Aussage ganz genau.“, knurrte sein Gegenüber und sah ihn mit einem vernichtenden Blick an.

Doch Ares störte sich nicht daran- er hatte sie genau da, wo er sie haben wollte. „Aha, also hast du dich bewusst für mich entschieden?“

„Ich war betrunken!“

„Drei Wochen lang…“, gab Ares nüchtern zurück und verschränkte fragend die Arme. Nun war er sich sicher, dass Persephone rot um die Nase war und dass sich die ungewohnte Farbe zusehends in ihrem Gesicht ausbreitete. Für Sekunden starrten sie sich an- sie, die vergeblich nach einer Verteidigung suchte und er, der triumphierend von einem Ohr zum anderen grinste- dann endlich ließ Persephone die angehaltene Luft aus ihrer Lunge entweichen und hob die Hände.

„Schön, von mir aus…“, gab sie sich geschlagen und seufzte. „Aber das ist kein Grund gleich abzuheben, klar?“, fügte sie nach einem Blick auf Ares` Siegergrimasse hinzu. „Jeder macht mal Fehler.“

„Ich hoffe doch, dass ich ein guter Fehler war…“

„Wohl eher nicht, denn dann würde ich mich ja wohl besser an unser Stelldichein erinnern.“, entgegnete sie spitz und triumphierte innerlich, als sich sein Grinsen nun langsam in seinem Gesicht abbaute- doch statt eines beleidigten Ares, tauchte plötzlich wieder dieser Blick auf, gegen den sie schon vor zwei Jahren nur wenig entgegenzusetzen gehabt hatte.

„Nun, ich könnte deinem Gedächtnis ja ein wenig auf die Sprünge helfen…“, vibrierte seine tiefe Stimme in ihren Ohren. Ein warmes Prickeln lief ihre Wirbelsäule hoch und entlud sich in ihren Nackenhaaren. Ihren rasenden Herzschlag runterkämpfend starrte sie Ares an und presste die Lippen aufeinander. Ares dagegen war die Gelassenheit in Person, stützte den schief gelegten Kopf auf seiner zur Faust geballten Hand ab und schaute Persephone sichtlich amüsiert dabei zu, wie ihre Fassung in Sekundentakt mehr bröckelte, wobei sein Blick in einer Endlosschleife Ich hab gewonnen und Mach dir doch nichts vor, Süße… zu sagen schien. Wie er dieses Kunststück fertig brachte, auf eine so subtile Art verführerisch zu sein, hatte sie nie verstanden, denn wenn Ares eines nicht war, dann ein Charmebolzen, dem die Frauen in Scharen hinterher lechzen würden und doch taten sie es- war sie nicht gerade auf dem besten Weg dorthin, zu dem perfekten Beweis zu mutieren?

Persephone schluckte die aufkommenden Worte ihres Herzen hinunter und formierte ihren kläglichen Rest ihres Verstandes. „Tu mir den Gefallen und setz diese komischen Drogen ab; dein Geschwafel kann ja niemand aushalten.“, konterte sie halbherzig und versuchte ihren Blick auf etwas anderes zu lenken- vergeblich.

„Zwei zu Null für mich, würde ich mal sagen…“, raunte Ares und grinste wieder. Ihr Kopf fuhr fassungslos herum. „Wie bitte?“

Ares hob nur die Schultern. „Ach komm schon, Kore, belüg dich doch nicht selbst.“, antwortete er, hob seine Linke und hielt Daumen und Zeigefinger einen Spalt breit aus einander. „Du stehst so kurz davor, über mich her zufallen- genau wie damals…“, fügte er grinsend zu. Persephones Gesichtszüge entgleisten und ihr ganzer Körper nahm einen intensiven Rotstich an.

„Du-“ Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken. Ares zog nur provokant die Brauen in Richtung Haaransatz und schwieg.

Dieses stumme Gefecht rührte gefühlte Stunden- in normaler Zeitrechnung war es gerade mal eine halbe Minute- dann stand Persephone abrupt auf, stützte ihre Arme auf dem Tisch ab und beugte sich zu Ares rüber. „Hoffentlich erstickst du irgendwann an deiner riesigen Arroganz!“, zischte die bedrohlich und richtete einen Zeigefinger auf ihn. Ares schaute kurz an sich herunter, machte eine ausladende Handbewegung und lachte. „Hab ich nicht auch allen Grund dazu, arrogant zu sein?“

Schnaubend richtete sie sich wieder auf und stapfte ohne ein weiteres Wort durch die Küche zu dem benachbarten Zimmer, in dem Fin und sie letzte Nacht geschlafen hatten. Die Hand schon am Türrahmen, blieb sie plötzlich stehen und drehte sich zu ihm um.

„Dass das klar ist: Das hier hat nicht die geringste Bedeutung für mich, also komm ja nicht auf die Idee, dir hierauf was einzubilden!“, rief sie wütend, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in dem Zimmer. Ares hob nur die Schultern. „Die üblichen Rahmenbedingungen, versteh schon…“ Kurz schaute er auf den zugeklappten Laptop und fragte sich, wie weit sie wohl mit diesem komischen Programm war, doch ließ er den Gedanken schnell wieder fallen- war ja nicht sein Problem…

Er seufzte und drehte sich zu Äneas um, der die ganze Zeit über am Fenster gestanden hat und Persephone nun blinzelnd hinterher schaute.

„Hat die eigentlich immer solche Stimmungsschwankungen? Wie hältst du das nur tagtäglich aus? “, fragte Ares ihren Partner mit hochgezogener Braue. „Das ist nicht normal, Alter, glaub mir...“

„Wird` s bald?“, keifte es plötzlich aus dem Zimmer, dass sich die beiden Männer für eine Sekunde verwundert umdrehten und sich dann wieder stumm anschauten. Ares verzog das Gesicht und ließ seinen Finger auf Höhe seiner Schläfe vielsagend kreisen. Dann stahl sich wieder ein Grinsen auf seine Züge, winkte Äneas zum Abschied und verschwand dann auch in dem Zimmer.

Ja, diese Frau war seine persönliche Hölle- aber was machte das schon? Der Olymp, den er kannte, hatte auch mehr was von der Unterwelt, als von einem Götterberg in luftigen Gefilden…
 

Kopfschüttelnd schaute Äneas ihm hinterher. Er hatte sich ja an Persephones zahlreiche Liebhaber gewöhnt und doch war er über einige immer noch sehr erstaunt. Zumindest konnte er sich bei diesem hier sicher sein, dass ihr nichts geschah. Ares war keineswegs harmlos- zumindest was das Kämpfen betrifft; über gewisse andere Lebenslagen konnte sich Äneas glücklicherweise keine Meinung bilden- aber Ares und Persephone hatten schon sehr viel miteinander erlebt und durchgemacht und waren sogar Freunde geworden, auch wenn sie das nie so offen zugeben würden. Sollten die beiden also anstellen, was sie wollten, ihm sollte es egal sein- auch seiner Partnerin sollten die paar Minuten Privatsphäre gegönnt sein.

Äneas reichte es zu wissen, dass er ihr vollstes Vertrauen hatte und das hieß schon etwas bei ihr. Sie war nie eine Person gewesen, die sich jemandem leicht anvertraute; dafür war viel zu viel in der Vergangenheit passiert- die ständigen Affären und wechselnde Partner, ihre spezielle Beziehung zu Hades… Manche sahen darin ein freizügiges, unmoralisches Leben, doch er wusste, was wirklich in ihr vorging.

Er hatte sie nie als Frau gesehen, die man begehren oder besitzen wollte, für ihn war sie immer das kleine Mädchen, das schon immer da gewesen war und das er beschützen wollte- wie eine kleine Schwester. Sie hatte einmal etwas zu ihm gesagt, das er bis heute nicht vergessen konnte: „Du bist wie ein Bruder zu mir und dafür danke ich dir.“ Der Satz hatte ihn nicht geschockt oder entsetzt, aber er hatte damit auch gar nicht gerechnet. Trotzdem fühlte er so etwas wie Stolz in sich.

Gedankenversunken öffnete Äneas den Laptop und grinste. Eines dieser etlichen Kombinationsrätsel, die Persephone immer zum Zeitvertreib spielte, war auf dem Bildschirm aufgetaucht und fragte ihn, ob er weiterspielen wollte. Er hätte am liebsten laut aufgelacht- das war typisch für sie…

Kurzerhand setzte sich Äneas an den Tisch und bestätigte die Anfrage.
 

Müde schloss ich die Augen, dennoch konnte ich nicht einschlafen. Hatte ich überhaupt geschlafen? Vermutlich nicht, denn ich konnte mich noch an jede vergangene Minute erinnern, die auf dem digitalen Wecker angezeigt worden war. Ununterbrochen schaute ich auf die Rotleuchtenden Zahlen und fuhr dabei Fin monoton durchs Haar. Etwas anderes hatte ich die letzten Stunden über nicht gemacht.

5:58 …

Jede Sekunde mit Fin war kostbar für mich, ich wollte keine mit unnützem Schlaf verschwenden. Es war still im Zimmer, allein ihre regelmäßigen Atemzüge und das leise Rascheln einzelner Strähnen ihrer weichen Haare durchbrachen die drückende Ruhe. Seit Stunden atmete ich mit ihr- ein… aus…ein…aus… Und mit jeder Sekunde, mit jedem Atemzug, kam der Abschied näher.

5:59 …

Wie viel Zeit mir noch blieb, wusste ich nicht, aber es würde zu wenig sein. Ich wollte sie am liebsten wecken, sie umarmen, sie an mich drücken und mich einfach fallen lassen. Ich fürchtete die kommenden Stunden, ich hatte einfach nur Angst- weniger um mein Leben, sondern mehr um ihres. Plötzlich schlangen sich im Schlaf Fins Arme noch mehr um meinen Oberkörper, dann lag sie wieder ruhig da, als sei sie tot. Allein das leichte heben und senken ihres Brustkorbes nahm mir diese Angst.

6:00 zeigten die Ziffern auf dem Wecker und beinahe im selben Moment öffnete sich die Zimmertür fast geräuschlos und ein einzelner schmaler Lichtstrahl erhellte das Zimmer. Ich ließ mich nicht beirren, schaute nicht einmal auf, sondern streichelte weiter über Fins Haare.

„Es geht los.“, sagte Ares’ dunkle Bassstimme. Langsam drehte ich dann doch den Kopf.

„Du nervst…“

Meine Stimme war ungewöhnlich rau und emotionslos. Ares zuckte nur mit den Schultern. „Is’ Teil meiner Jobbeschreibung, also gewöhn’ dich dran.“

Dann ging er wieder. Zum ersten Mal schaute ich nicht auf die leuchtenden Ziffern, denn es war nun egal- ich hatte sowieso keine Zeit mehr…

So vorsichtig wie möglich löste ich mich aus Fins Umarmung, rutschte vom Bett und zog mich an. Die Küche war der einzige Raum, der erhellt war. Als ich sie betrat, zog sich Persephone gerade ihre schwarzen Stiefel an. Sie trug nun nicht mehr ihren knappen Rock und die aufreißende Bluse, sondern hatte einen engen schwarzen Lederanzug angezogen, der mich sehr an ein Motorrad- Outfit erinnerte. Ares und Äneas trugen die übliche Kleidung von Olymp- genauso wie ich. Alle Blicke waren auf mich gerichtet, als ich in den Lichtkegel der Küchenlampe trat.

„Bist du bereit, Kleiner?“, fragte Persephone. Ihre Frage war mehr rhetorisch, als ernst gemeint, denn ihr Tonfall ließ kein nein zu. Ich nickte dennoch.

Ares hielt mir das kurze Messer entgegen, das ich vor zwei Tagen von ihm geschenkt bekommen hatte. Widerwillig nahm ich es entgegen. Alles in mir sträubte sich gegen das Stück Metall, ich wusste, warum ich es trug, wusste, dass es im Grunde ein schlimmes Vorzeichen war und ich das kalte Metall die ganze Zeit über unter meinem Mantel spüren würde. Doch mir war auch bewusst, dass es notwendig war. Ich musste wieder ich werden- mein altes Ich…

Von Leere, Verzweiflung und Hoffnung

Das erste Mal seit Tagen schlief ich tief und lange und als ich am nächsten Tag aufwachte, fühlte ich mich erholt und wohl.

Doch etwas fehlte…

Die Augen noch geschlossen, tastete ich über das Bettlaken, in der Hoffnung, auf einen angenehm warmen und durchtrainierten Körper zu treffen- vergebens.

Stirnrunzelnd öffnete ich dann doch die Augen und sah mich um. Ich lag alleine in dem Bett, die Rollladen waren oben, sodass helles Sonnenlicht in den Raum fiel und die Tür war nur angelehnt. Ein Blick auf den digitalen Wecker ließ mich dann schnell in die Höhe fahren und aufstehen. Es war schon 10 Uhr durch… wahrscheinlich waren Nero und die anderen schon seit Stunden wach und planten alles genau durch. Mit eiligen Schritten ging ich zur Küche…

… und fand niemanden vor.

Vielleicht waren sie ja im Wohnzimmer…? Als ich dann auch hier niemanden antraf, begann mein Herz schmerzhaft schneller zu schlagen. Das konnte doch nicht sein- nein! Sie waren hier… irgendwo.

„Nero?!“

Nichts, keine Antwort. Ich rief noch einmal lauter, doch das Ergebnis war dasselbe. Ein Gedanke breitete sich in meinem Denken aus, den ich nicht wahrhaben wollte. Nero hätte mich hier nicht einfach zurückgelassen…

„Es war doch abgesprochen…“, murmelte ich unsicher und ging zurück in die Küche. Erst jetzt bemerkte ich die Kleidung, die auf dem Tisch lag- Neros Kleidung, die ich ihm damals besorgt hatte. Daneben lagen zwei Briefumschläge, einer davon mit meinem Namen beschrieben. Verwirrt nahm ich diesen und öffnete ihn. Ich habe damals zum ersten Mal Neros Handschrift gesehen. Die Buchstaben waren sehr kantig und mit wenigen Rundungen oder Bögen geschrieben worden, sodass ich das Gefühl bekam, dass sie nur ungern aufs Papier gebannt wurden. Der Text war an niemanden adressiert worden…
 

Ich möchte, dass du weißt, warum du heute Morgen alleine aufgewacht bist und es ist mir wichtig, dass du auch verstehst, dass ich alles, was heute passieren wird nur aus einem Grund tue. Wenn du das hier ließt, werden wir wohl schon lange unterwegs sein.

Mein Herz schlug schneller. Warum hatte er das nur geschrieben? Ich verstand doch alles, warum war er also ohne mich gegangen?

Ich habe lange nachgedacht- über diese ganze Situation, über Judgement und über uns. Du bist nur wegen mir hier, all die Sachen, die dir in den letzten Tagen widerfahren sind, waren meine Schuld- ich weiß, dass es damit wohl nicht getan ist, aber bitte glaube mir, dass mir das alles unheimlich Leid tut.

Entschuldigung angenommen, Idiot…, dachte ich schmunzelnd. Dennoch bereute ich nicht, mitgekommen zu sein.

Wenn ich es schaffe, Judgement zu zerstören, dann habe ich vielen Menschen geholfen, vielleicht sogar der ganzen Welt.( Der letzte Teil war fast bis zur Unleserlichkeit durchgestrichen) Aber das ist mir egal- wichtig ist mir, dass du in Sicherheit bist… Aber noch vielmehr will ich, dass du glücklich wirst.

Aber das bin ich doch…

Ich weiß, wie wichtig das für dich ist… für jeden Menschen.

Ich habe darüber nachgedacht, wie ich das schaffe…

Meine Hände begannen zu zittern. Was sollte das alles?

Ich möchte, dass du wieder lachen kannst.

Du bringst mich immer zum Lachen…

Du sollst ein normales Leben führen können.

Egal wie chaotisch es sein sollte, ich will es mit dir führen!

Du sollst keine Angst haben…

Die habe ich nicht, solang du bei mir bist!!

Ich möchte dich in Sicherheit wissen.

Und das kannst du nicht sein, wenn ich in deiner Nähe bin.

Meine Augen weiteten sich. Das konnte nicht sein…

Am besten wird es sein, wenn du dich gar nicht mehr an die Zeit erinnerst, in der ich in dein Leben getreten bin und alles durcheinander brachte.

Nichts soll dich an mich erinnern. Die Sachen, die ich von dir bekommen habe, hast du wahrscheinlich schon entdeckt und in dem Umschlag liegt das Geld, das ich dir schulde- es müsste genau stimmen.

Und bitte warte nicht auf uns in der Wohnung- Persephone wird diese Wohnung eh aufgeben. Mehr kann ich nicht tun, aber vielleicht ist irgendwann soviel Zeit vergangen, dass du alles vergessen hast. Du wirst glücklich werden und das ist mir wichtig.

Bitte bleibe so, wie du bist, denn du bist ein wunderbarer Mensch…
 

Ich liebe dich.
 

Es fiel mir immer schwerer das Blatt in den Händen zu halten. Ich starrte auf die Zeilen und dachte… gar nichts. Ich fühlte eine Leere in mir, eine Angst, als läge er tot vor mir. Ich bemerkte kaum, dass der Zettel durch meine Finger glitt, dass er beinahe lautlos zu Boden schwebte. Die Leere breitete sich aus und trotzdem hatte ich das Gefühl, als würde der Raum um mich immer kleiner werden. Ich bekam keine Luft mehr, fing plötzlich an zu keuchen und rannte, ohne darüber nachzudenken, zum Fenster und öffnete dieses weit. Ich lehnte mich raus, stützte meine Hände auf der kalten Fensterbank ab und atmete die eisige Luft ein. Ich schnappte regelrecht nach Luft, bis meine Lungen anfingen zu schmerzen. Die Leere verschwand, doch dafür wurde die Angst größer- ich hatte keine Angst vor der Höhe, in der ich mich befand oder vor den winzigen Autos, die unter mir herfuhren. Es war mehr die Angst etwas verloren zu haben und die Gewissheit zu verspüren, es nie wieder zu finden. Meine Finger umklammerten die Fensterbank krampfhaft.

Du wirst glücklich werden und das ist mir wichtig.

Tränen vernebelten meine Sicht, sodass ich sie einfach schloss und anfing zu schreien.

Nein, ich würde niemals glücklich werden. Das, was mich glücklich gemacht hätte, was ich zum Leben brauchte, war verschwunden.

Ich schrie, so laut ich konnte, Sekundenlang, Minuten, vielleicht auch sogar Stunden Ich wusste es nicht. Ich fühlte den kalten Wind, der mir mein Haar zerzauste und so heftig blies, als wolle er mir die Luft entreißen und mich so zum Schweigen bringen.

Irgendwann verlor ich den Kampf, meine Augen waren trocken und meiner Kehle entrang kein Ton mehr. Hilflos sank ich zu Boden und starrte in den Raum. Still und leblos breitete er sich vor mir aus und plötzlich wurde ich mir meiner Situation wieder bewusst. Ich war in einer fremden Wohnung irgendwo in einer Großstadt und hatte gerade alles verloren, was mir wichtig war. Aber…

Ich konnte wieder klar denken und erinnerte mich an ein Versprechen, dass ich mir, dass ich ihm gegeben hatte. Etwas flammte in mir auf. Das Versprechen, ihm zu helfen, egal was komme, bei ihm zu sein und ihm zu einem neuen Leben zu verhelfen…

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Nein, es konnte doch nicht einfach so vorbei sein. Ich hatte die Möglichkeit gehabt, am Anfang auszusteigen, doch ich hatte es nicht getan, weil ich-

Hat er es jemals zu dir gesagt?, hallte mir Persephones Frage durch den Kopf. Die Hoffnung schien wieder zu erlischen, doch dann fiel mein Blick auf den Zettel am Boden. Zögernd nahm ich ihn in die Hand, flog über die Zeilen- und grinste.

Ja, antwortete ich Persephone in Gedanken, er hat es mir gesagt!

Ich las den letzten Satz fast zehnmal durch, immer wieder und jedes Mal flackerte das Licht in meinem Herzen stärker auf.

Nein, ich würde nicht aufgeben, niemals!

Doch meine Hoffnung bekam schnell wieder einen Dämpfer. Wo war er denn jetzt? Weg, nicht hier- diese Erkenntnis brachte mir recht wenig…

Energisch stand ich auf und lief in dem Zimmer auf und ab. Sie hatten nie erwähnt, wo genau sich Judgement befand… bei Hades, toll und wo war er? Ich war mir sicher, dass Olymp so etwas wie ein Hauptquartier besaß, doch darüber wusste ich noch weniger.

Ein Gedanke schoss beinahe schmerzhaft durch meinen Kopf. Hatte Persephone nicht vor kurzem etwas darüber erzählt, als ich heimlich gelauscht hatte? Etwas über die Hauptstadt?! Natürlich! Keuchend blieb ich stehen und fasste mir an den Kopf. Olymp musste seinen Sitz in der Hauptstadt haben! In einem Viertel, wo es nicht ungewöhnlich war, wie ein Matrix- Fanatiker rumzulaufen… und so etwas gab es meistens nur in größeren Städten. Hätte ich noch mehr Stimme gehabt, hätte ich wahrscheinlich wieder angefangen zu schreien- diesmal allerdings aus Erleichterung. Schnell lief ich in mein Zimmer und zog das erstbeste an, was ich in die Finger bekam- die Wahl fiel somit auf das lange T-Shirt, das ich am Vortag von Persephone geschenkt bekommen hatte, dazu noch meine Jeans und die Stiefel. Ich schnappte mir das Geld, das auf dem Tisch in dem Umschlag gelegen hatte und verließ eilig die Wohnung.

Ein Blick auf eine der unzähligen Uhren in der Stadt verriet mir, dass wir schon fast 12 Uhr hatten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ares und Persephone vorhatten, am helllichten Tag in ein Gebäude einzubrechen, ich hatte also noch ein wenig Zeit. Eilig suchte ich die Straßen und Wege nach einem Taxi ab. Natürlich war keins da- wie immer, wenn man eines mal brauchte.

Irgendwann tauchte dann doch eines auf und erleichtert hielt ich dem heranfahrenden Auto den Daumen entgegen.

Vergebens… Es wurde nicht einmal langsamer.

Fassungslos schaute ich dem Taxi hinterher, dann machte sich Wut in mir breit.

„Mistkerl!!!“, schrie ich und warf ihm eine rüde Handbewegung nach, dass mich einige Passanten schräg anschauten. Meine Wut herunterkämpfend fuhr ich mir durchs Haar und sah mich weiter um. Irgendwie musste ich doch hier weg kommen…

Die Hauptstadt lag einige Kilometer von hier entfernt, was sollte ich also anderes-

Etwas weiter die Straße hinunter stand ein großer LKW mit dem Kennzeichen der Hauptstadt, in den gerade ein Mann einstieg.

… Sollte ich vielleicht trampen? Eine Möglichkeit wäre es, aber es wäre riskant. Viel Gutes hatte ich nun nicht über diese Art des Reisens gehört, aber hatte ich denn eine Wahl? Und vor allem: konnte mich denn eigentlich noch irgendetwas schocken? Im Gegensatz zu den Dingen, die ich erlebt hatte, war trampen ja wohl das kleinste Übel…

Ich hatte keine Zeit mehr, über die Folgen meiner Tat, mit fremden Männern Verhandlungen zu führen, nachzudenken- hatte ich das nicht auch schon erlebt?! – denn der Lkw setzte sich in diesem Moment in Bewegung. Hastig lief ich auf den Wagen zu und winkte heftig mit den Armen, doch die Reaktion blieb auch hier aus. Neue Wut stieg in mir auf. Nicht noch einmal!

Ich sprang auf die Straße, blieb stehen und breitete die Arme aus. Augenblicklich bremste der Lkw- Fahrer mit quietschenden Reifen ab und nur einen knappen Meter vor mir kam der Koloss zum Stillstand. Erschrocken blieben Fußgänger stehen, manche riefen mir sogar etwas zu. Obwohl meine Beine zitterten, beeilte ich mich zur Beifahrerseite des Führerhauses zu gehen, aus dem schon der Mann mit weit aufgerissenen Augen auf mich hinabstarrte.

„Bist du verrückt?!“, schrie der Fahrer entsetzt. Unbeirrt riss ich die Tür auf und kletterte halb in die Kabine. „Fahren Sie in die Hauptstadt??“

Der Mann blinzelte ungläubig und nickte. „Ja, da wollte ich hin, aber-“, er schien sich zu besinnen und schüttelte energisch den Kopf. „Was soll der Mist?! Wenn du lebensmüde bist, such’ dir einen anderen Wagen, vor den du dich schmeißen kannst!“

Ich machte eine wegwischende Handbewegung. „Das will ich doch gar nicht! Ich muss in die Hauptstadt!“

Er starrte mich erst fragend an, dann verstand er meine Worte und schüttelte wieder den Kopf. „Auf keinen Fall! Ich nehm’ dich nicht mit!“

„Bitte, ich muss dahin!“, flehte ich. „Ich bezahl auch! Ich habe Geld.“ Der Mann schwieg und schien noch mit sich zu ringen und erst als die Autos hinter ihm anfingen zu hupen, verdrehte er genervt die Augen. „Schön! Steig ein!“, murrte er.

Ich begann zu strahlen. „Danke!“, rief ich glücklich und setzte mich auf den großen Beifahrersitz.
 

Die meiste Zeit der Fahrt saß ich stillschweigend da und schaute in der Gegend herum. Ich hatte keine Lust weiter über mein Anliegen zu reden, geschweige denn meinem Fahrer die Wahrheit zu sagen- er hätte mir eh nicht geglaubt. Zum Glück fragte er auch nicht, sodass die Reise wortkarg verlief.

Der Laster hielt nach einigen Stunden Autobahn in einem noblen Viertel.

„Weiter kann ich dich nicht mehr mitnehmen.“, sagte der Mann. „Die Leute warten schon ungeduldig auf ihre Möbel.“

Ich schüttelte den Kopf. „Sie haben mir sehr geholfen- danke vielmals.“

Ich suchte in meiner Tasche nach dem Geld, was er mir hinterlassen hatte, aber der Mann legte plötzlich die Hand auf den Beutel und lächelte. „Lass’ nur. Die Fahrt ging aufs Haus.“

Ich schaute ihn lange an, wollte noch etwas sagen, doch dann war er schon ausgestiegen und ging seiner Arbeit als Möbellieferant nach.
 

Der Hauptbahnhof war zum Glück nicht weit weg von der Stelle, wo der Laster angehalten hatte. Kurz schaute ich auf den Fahrplan der Züge und nach langem hin und her fand ich einen, der mein Ziel ungefähr ansteuern würde. Wenig später saß ich in einem Zug, auf dem Weg ins wohl ungemütlichste Viertel der ganzen prächtigen Hauptstadt, die nicht ansatzweise mit meinem ruhigen Heimatdorf zu vergleichen war…

Die Station, bei der ich aussteigen musste, war die letzte auf der Route, sodass der Zug immer leerer wurde, bis sich nur noch ein paar Leute, die sehr gut in die Umgebung passten, in ihm aufhielten. Eine junge Frau mit auffallend roten Haaren saß mir gegenüber, die mich immer wieder misstrauisch anstarrte. Ich versuchte ihre Blicke zu ignorieren und stattdessen an meinen Schuhspitzen irgendetwas Interessantes zu finden. Eine mechanische Frauenstimme sagte die Endstelle an und mir wurde auf einmal mulmiger in der Magengegend. Ich wusste nicht was mich erwarten würde, aber es würde bestimmt nichts schönes sein. Ich spannte meinen Körper an um das aufkommende Zittern zu unterdrücken.

„Mach keinen Scheiß, Kleine…“

Ich schreckte aus meinen Gedanken auf und starrte die Frau an, die mir gegenübersaß. Sie war sehr freizügig angezogen: Ein T-Shirt mit tiefen Ausschnitt, ein Rock, den ich wahrscheinlich als Gürtel benutzt hätte und schwarze Lackstiefel, die fast bis zur Mitte der Oberschenkel reichten.

„Egal was, es kann nicht so schlimm sein, dass du dein Leben so wegschmeißt.“, vollendete sie ihren angefangenen Satz und in ihrem stark geschminkten Gesicht las ich Mitleid.

Ich brauchte einige Sekunden, um ihre Worte zu begreifen, doch dann schüttelte ich heftig den Kopf. „Oh nein, Sie verstehen das falsch, ich-“

Die Frau stand plötzlich ruckartig auf, sodass ich verstummte.

„Dann hast du dort auch nichts zu suchen.“, sagte sie nun im veränderten Tonfall. „Da draußen herrschen andere Sitten und Regeln. Kehr um.“

Der Zug hatte in der Zwischenzeit angehalten. Die Frau warf mir noch einen warnenden Blick zu, dann machte sie kehrt und stieg aus. Mit klopfenden Herzen saß ich da und starrte zu Boden. Sie hatte Recht… ich gehörte da nicht hin, ich könnte mich nicht einmal richtig wehren, wenn-

Ich brach den Gedanken ab. Nein! Es war meine einzige Chance! Ich konnte nicht umkehren- nicht jetzt! Schnell stand ich auf und sprang noch rechtzeitig aus dem Zug, ehe sich seine Türen wieder schlossen.

„Warten Sie!“, rief ich atemlos und rannte ihr hinterher. Verwundert drehte sich die Frau um und schaute mich wütend an. „Du bist dumm! Hau endlich ab!“, fauchte sie und wollte weitergehen, doch ich erwischte sie noch am Arm.

„Das kann ich nicht…“, antwortete ich keuchend. Stirnrunzelnd starrte sie auf mich herab und schwieg. Einige Leute, die um uns herumstanden, schauten mich misstrauisch an, einige riefen mir etwas zu, was mich peinlich erröten ließ. Alles in mir sträubte sich, länger hier zu bleiben.

„Ich suche jemanden.“, sagte ich, als die Frau immer noch nicht reagierte. Ihr Blick wurde wieder weicher und sie fuhr sich mit der freien Hand durch die gestylten Haare.

„Mädchen, tu dir den Gefallen und such’ dir nen anderen Job.“, seufzte sie verzweifelt. „Glaub’ mir, so toll ist das nicht, das hast du nicht nötig!“ Wieder schüttelte ich energisch den Kopf. „Verdammt noch mal, deswegen bin ich nicht hier!“, rief ich wütend.

„Weswegen dann?!“

Ich zögerte. Was ist, wenn sie mit Hades in Verbindung stand? Wenn ich ihr dann von Nero und den anderen erzählte, könnte ich sie in Gefahr bringen…

„… Ich suche das Hauptquartier von Olymp.“, flüsterte ich. Die Brauen der Frau schossen augenblicklich in die Höhe. „Olymp? Was hast du mit diesen Spinnern zu tun?“

„Das kann ich nicht sagen… Wissen Sie was oder nicht?“

Die Frau schwieg kurz, dann zuckte sie mit den Schultern. „Ich nicht, aber ich kenne jemanden, der über Olymp bescheid weiß.“

Meine Augen weiteten sich und mein Herz begann schneller zu schlagen. „Könnten Sie mich zu ihm bringen?“

Sie nickte, aber gleichzeitig verfinsterte sich ihr Blick wieder. „Ja, könnte ich.“

„Bitte…“, flehte ich und schaute ihr tief in die Augen. Sie hatte wunderschön tiefgrüne Augen, die in ihrem sonst sehr unnatürlich geschminkten Gesicht hell und klar leuchteten. Sie schaute noch einen Moment misstrauisch, doch dann fiel jeder Zweifel aus ihren Zügen und ein Seufzen entrang ihrer Kehle. „Schön, komm mit. Aber ich garantiere für nichts.“

Ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen, hätte sie sich nicht sofort auf dem hohen Absatz umgedreht und wäre gegangen.

„Danke!“, rief ich stattdessen und folgte ihr. Kopfschüttelnd ging sie die Straße hinunter. „Kleine Mädchen wie du sollten sich nicht mit solchen Vereinen wie Olymp einlassen. Die sind eine der Schlimmsten.“

„Ja, das habe ich auch schon mitbekommen.“, lachte ich bitter auf, doch die Frau ließ meinen Satz unkommentiert.

„Wie heißt du eigentlich?“

„Fin- eigentlich Finja, aber alle nennen mich Fin. Und Sie?“

„Nenn’ mich Rose.“, sagte sie lächelnd. „Und lass das Gesiezte… So alt bin ich auch wieder nicht.“ Ich musste schmunzeln und nickte.

Wir gingen etwa fünf Minuten einige Straßen entlang. Zu meiner Verwunderung wurden wir so gut wie gar nicht von irgendwelchen Männern angemacht oder belästigt. Rose sah nicht unschuldig aus, aber auch nicht unglaublich stark, sodass ich damit gerechnet hatte, dass sie von den Männern hier angesprochen wird- man schaute uns zwar hinterher, aber kein einziges Mal wurden wir aufgehalten und darüber war ich ganz froh. Ich fühlte mich immer noch unwohl, meine anfänglichen Zweifel und Ängste waren jedoch beinahe vergessen.

Irgendwann bogen wir in eine breite Straße ein und obwohl es gerade mal zu dämmern begann, leuchtete es überall von den Reklametafeln bunt und zuckend auf; einige warben für die alltäglichen Dinge des Lebens wie Getränke, Zigaretten oder Hautcremes, die meisten aber priesen ihre leicht bekleideten Damen an.

Rose steuerte eins der größeren Hochhäuser an, die sich hier sehr weit erstreckten, drängte sich an den unten wartenden Männern vorbei und ging schnellen Schrittes durch den weiten Raum des Gebäudes. Ich blieb zögernd stehen und begutachtete die Türsteher- oder auch anders herum…

Mit hochgezogener Augenbraue und verschränkten Armen standen sie da und ich fühlte mich unangenehm an Ares und Äneas erinnert. Rose war in der Zwischenzeit, nachdem sie anscheinend mein Zurückbleiben bemerkt hatte, zum Eingang zurückgekehrt.

„Die Kleine gehört zu mir.“, meinte sie bloß und zog mich am Arm herein.

„Wenn du so zaghaft durchs Leben gehst, überlebst du hier nicht lange.“, raunte Rose mir dann zu, als wir etwas Abstand zu den Männern hatten.

Als wenn ich das wollte, dachte ich. Wenn es nach mir gehen würde, würde ich jetzt zuhause sitzen, mir das Vorabendprogramm im Fernseher anschauen und Kaffe trinken- oder meine Wäsche waschen… oder putzen… oder sonst irgendetwas ungefährliches machen.

Da hatte ich den Beweis: Liebe machte nicht nur blind, sondern auch verdammt dumm- ich war wohl das beste Beispiel dafür…

Während ich meinem geregelten Leben nachtrauerte, hatte mich Rose zum Fahrstuhl am anderen Ende des Raumes gezerrt. Es schien sich bei diesem „Raum“ um ein Foyer zu handeln, allerdings sah ich keinen anderen Menschen- selbst die Rezeption war nicht besetzt.

Erinnerungen stiegen in mir hoch, die ich doch schnell genug verscheucht bekam, ehe ich in dem roten Teppich riesige Blutlachen zu sehen begann.

Der Fahrstuhl brachte uns in das 8. Stockwerk, das Rose erneut mit eiligen Schritten durchschritt. Türen reihten sich zu unserer linken Seite aneinander, während ich durch die riesige Fensterseite zur rechten die stetig untergehende Sonne beobachten konnte.

„Noch kann ich dich zurückbringen, Fin.“, riss mich Roses Stimme aus meinen Gedanken. Ich schüttelte ernst den Kopf. „Das brauchst du nicht.“

Wieder seufzte sie. „Gut. Dann komm mit. Aber ich sag’s dir gleich: ich weiß, dass er etwas über Olymp weiß- ob er es dir verrät, is’ ne andere Kiste.“

Ich nickte. Wir waren am Ende des Ganges angelangt und standen nun vor einer zweiflügligen Tür aus dunklem wertvoll aussehendem Holz. Rose zupfte ihre Sachen noch einmal zurecht, klopfte dann laut und drückte auf einem knappen „Herein“ beide Flügel gleichzeitig auf und trat in das dahinter liegende Zimmer.

Der erste Gott

Am Ende stand ich vorm Anfang und wusste es nicht- noch nicht…

Aber was ich zu diesem Zeitpunkt schon ahnte war, dass die unheimlich und zugleich majestätische Aura, die dieser Mann ausstrahlte, nicht ein zufälliges Gefühl von mir war, sondern absichtlich von ihm beschwört wurde, um den gewünschten Eindruck bei mir zu hinterlassen…

Mein Blick fiel, nachdem ich den Raum hinter Rose betreten hatte, augenblicklich auf den Mann, der sich in diesem Moment aus seinem Sessel erhob und sich zu uns umdrehte. Ich schätze ihn auf Mitte 50, sein Gesicht zierten vereinzelt Falten und sein schwarzes Haar hatte sich an einigen Stellen schon grau gefärbt. Er war nicht auffällig angezogen- ich fand seine Kombination aus Hemd, Pullunder und Stoffhose sogar sehr bieder- und doch wollte ich nicht weiter auf ihn zugehen. Seine dunklen Augen ruhten stumm auf mir und ich hatte auf einmal unheimlich viel Respekt vor diesem Mann. Ich vergaß kurz zu atmen.

Rose dagegen eilte sofort auf ihn zu, nahm seine Hand und küsste ihn grinsend auf die Wange, als begrüße sie ihren Vater. Der Mann lächelte ebenfalls und strich ihr sanft übers Haar.

„Ich habe nicht so früh mit dir gerechnet, Rosalie.“, sagte er und bei seiner Stimme lief es mir prickelnd den Rücken runter. Sie war das sanfteste, was ich je gehört hatte. Ich erinnerte mich an die Hörspiele, die ich als kleines Kind immer gehört hatte, wenn ich nicht einschlafen konnte- an die beruhigende Stimme des Erzählers, die mich alle Sorgen und Ängste vergessen ließ. Sie passte zu dem Aussehen des Mannes, jedoch nicht zu seinen Augen, die so erhaben und machtvoll über das Geschehen vor ihnen wachten, dass man das Verlangen hatte, vor ihm auf die Knie zu sinken. Wieder traf mich dieser Blick.

„Wen hast du da mitgebracht?“

Rose stand nun neben ihm und deutete auf mich. „Das ist Finja.“ Dann beugte sie sich zu ihm herüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ich konnte erkennen, wie sie das Wort Olymp deutlich mit den Lippen formte. Der Blick des Mannes wurde neugieriger, aber keinesfalls weniger dominant. Schließlich nickte er.

„Würdest du uns allein lassen?“, fragte er, die Augen immer noch auf mir ruhend. Rose gab keine Antwort, sie ging stattdessen sofort in Richtung Ausgang und blieb kurz davor stehen. „Soll ich später noch einmal kommen?“

Der Mann lächelte wieder. „Bleibe bitte in der Nähe.“ Sie nickte, dann verließ sie das Zimmer und schloss die große Tür hinter sich.

Stille.

Bedrückende Stille.

„Finja, richtig?“

Fast erschrocken nickte ich. Der Mann machte eine Handbewegung zu dem Schreibtisch, der in der einen Ecke der großen Suite stand. „Setz dich, bitte.“

Zögernd kam ich seiner Aufforderung nach und nahm auf dem Besucherstuhl platz, während er hinter den Schreibtisch trat und sich in den großen Drehsessel setzte.

„Du willst etwas über Olymp wissen…“, stellte er fest und machte eine Pause. „Warum?“

Er hatte es geschafft, trotz der Sanftheit in seiner Stimme ernst zu klingen- todernst, als verhöre er jemanden.

„Ich möchte wissen, wo Olymp seinen Sitz hat.“, sagte ich zögernd.

„Das war nicht meine Frage…“, erwiderte er bestimmt.

Ich schluckte. „… Woher weiß ich, dass ich ihnen vertrauen kann?“

In seinen Augen blitze es auf und er verengte diese. „Ich sehe, du hast verstanden, dass man vorsichtig sein muss. Aber auf der anderen Seite ist es äußerst mutig von dir, hierher zu kommen, obwohl du dir nicht sicher sein kannst, ob ich vertrauenswürdig bin oder? Seien wir ehrlich, es wäre ein leichtes für mich, dich hier und jetzt umzubringen, wenn ich wollte.“

Ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken herunter lief. „Dieses Risiko muss ich wohl eingehen…“, antwortete ich nervös. Mein Gegenüber lächelte nur und ließ meine Aussage unbeantwortet. „Du weißt etwas über Olymp, habe ich Recht?“, fragte er stattdessen.

Mein Mund war staubtrocken. „Ich habe nie behauptet, nichts darüber zu wissen…“, konterte ich zaghaft.

Der Mann lächelte. „Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass dir einige Namen der folgenden Personen bekannt vorkommen:“ Wieder schwieg er. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Wer war dieser Mann?

„Hades…“ Ich sagte nichts.

Der Mann zählte weiter auf.

„Ares… Persephone… Äneas…“ Sein Blick wurde durchdringender. Ich versuchte, immer noch keine Reaktion zu zeigen.

„…Nero…“ Ich konnte nicht anders- mein ganzer Körper erzitterte unter diesem Namen.

„Wer sind Sie?“, krächzte ich leise, unfähig zu atmen oder richtig zu sprechen.

„Oh, verzeih mir, dass ich mich nicht vorgestellt habe… Mein Name ist Zeus.“

Ich antwortete nicht sofort, denn ich hatte für einen Moment vergessen, dass ich sprechen konnte. Mein Herz zog sich unangenehm zusammen und verweigerte seinen Dienst.

Langsam sog ich die Luft ein. „Sie… Sie gehören zu ihnen…“

Zeus lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nun… ich würde mich noch als Mitglied von Olymp sehen- offiziell bin ich … ausgestiegen.“

Diese Erkenntnis beruhigte mich nicht im Geringsten. Zeus fuhr fort, als er bemerkte, dass ich ihm nicht antworten würde.

„Du gehörst zu Nero, habe ich Recht? Persephone hat mir von dir erzählt.“

„Also arbeiten Sie immer noch mit Olymp zusammen?“

Zeus’ Blick wurde wieder dunkler. „Nein, wie gesagt: ich gehöre nicht mehr zu Hades´ Anhängern- im Grunde war ich schon immer mein eigener Herr gewesen…“

Verwirrt legte ich die Stirn in Falten. „Ich verstehe nicht…“

„Was hat man dir über Judgement erzählt?“, wich er meiner Frage aus. Nun verstand ich gar nichts mehr. Warum spielte dieses Programm immer wieder eine Rolle?

„… Es ist ein Programm des Militärs für eine Waffe oder ähnliches- auf jeden Fall ist sie gefährlich.“

Zeus’ Mundwinkel zuckten verräterisch. „Hat dir das Persephone erzählt?“

Ich stutzte und legte die Stirn in Falten. Was hatte dieser Mann mit Persephone zu tun? Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er mit seiner Erklärung fort. „Diese Art der Schilderung sieht ihr ähnlich… Die Definition ist ja auch eine der Originellsten. Und Ares? Er hat euch wahrscheinlich das Programm etwas schwammiger erklärt-“ und dann schüttelte er lächelnd den Kopf. „Die Technik gehört wirklich nicht zu seinen Talenten.“

Mein Herz schlug immer schneller. Woher wusste er das alles? Ich war immer der Annahme gewesen, dass die ganzen Geschehnisse in den letzten Tagen- ja, die ganze Angelegenheit rund um Nero und mir- geheim gehalten wurden. Er schien zu Persephone Kontakt zu haben; aber er war doch kein Mitglied mehr bei Olymp, oder? Und was war mit Ares? Konnte es sein…?

Ich behielt meine Überlegungen für mich- vorerst…

„Und Sie?“, nahm ich das angeführte Thema wieder auf. „Was glauben Sie, was Judgement ist?“

In Zeus’ Augen begann es erneut hell aufzuleuchten. „Es gibt viele Gerüchte über dieses Programm. Viele Menschen, der größte Teil vermutlich, geben sich mit der simplen Erklärung zufrieden, dass es gefährlich sei, weil sie nähere Erläuterungen eh nicht verstehen könnten. Die wenigen, meist Wissenschaftler, die etwas mit dem verwendeten Vokabular etwas anfangen können, spekulieren über die wildesten Ausführungen von futuristischen Waffen, die einen ganzen Planeten auslöschen könnten.“ Er zuckte mit den Schultern und hob die Handflächen nach oben. „Aber was ist davon wahr? Ich will dir erklären, wie Judgement an die Öffentlichkeit geriet.“

Zeus machte eine lange Pause, in der er seine Ellenbogen auf den edlen Tisch abstützte und seinen Kopf auf die gefalteten Handflächen legte.

„Judgement ist das Werk eines Wissenschaftlers. Ein Genie, das sein ganzes Leben an diesem Projekt gesessen hat. Er war vorsichtig und entwickelte, nachdem das Programm fertig war, einen Zugangscode, von dem er sicher war, dass er nicht geknackt werden könnte. Er gab das Programm in die Hände der Regierung, die schon sehr viel über seine Arbeit gehört hatte. Doch es stellte sich heraus, dass der Code unvollständig war. Und dann starb der Wissenschaftler und nahm das letzte Geheimnis des Programms mit ins Grab.Manche behaupten, dass er seinen Tod nur vorgetäuscht hat und immer noch am Leben sei… aber das sind alles bloß Spekulationen von verzweifelten Befürwortern Judgements, die die bittere Realität nicht wahrhaben wollen.“

Seine tiefe Stimme hallte noch lange in meinen Ohren nach. Ich wagte es nicht zu atmen, in mir schlug mein Herz wie ein wildes Tier, das gefangen wurde und ich zitterte am ganzen Körper.

„Soll das bedeuten, dass selbst die Regierung nicht weiß, was Judgement in Wirklichkeit ist?!“, keuchte ich atemlos und hielt mich verkrampft an den Stuhllehnen fest. Das Funkeln in Zeus` Augen bekam einen Glanz, der mir Angst machte. Es erinnerte mich an den Wahnsinn und die Besessenheit, die ich auch einmal in Persephones Augen gesehen hatte.

„Ist es nicht faszinierend zu sehen, wie leicht der menschliche Geist an etwas glaubt, wie viele Menschen an dieselbe Sache glauben, wenn man ihnen etwas nur oft genug vorbetet und zeigt, dass andere derselben Meinung sind?“, raunte er und grinste dabei so breit, dass er seine weißen Zähne entblößte. „Sie glauben einem Gerücht und sehen dort drin die Wahrheit, mit der die meisten leben können und nutzen diese zu ihrem Vorteil.“ Nun lachte er doch kurz auf. „Judgement ist wohl nichts weiter als ein Beispiel für die sprichwörtliche Mücke, aus der die Menschheit einen Elefanten machte.“

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Ich versteh d-“

Ich stockte. Erschrocken über die grausame Erkenntnis, riss ich die Augen auf. Seine letzten Worte ergaben einen grausamen Sinn.

„Das Programm- Judgement… es ist also nichts weiter als… als ein Fake?“

Zeus schob beleidigt die Unterlippe vor. „Das ist ein hartes Urteil, liebste Finja.“

Meinem Herzen fiel es immer schwerer zu entscheiden, ob es pumpen sollte, als hinge sein Leben davon ab oder einfach aufzugeben und sich tot zu stellen- im Moment entschied es sich für ein verzweifeltes Aufbäumen. „Aber was ist es dann?“, rief ich verzweifelt.

„Im gewissen Sinne das, was alle erwarten- eine Waffe. Allerdings ist sie nicht dazu geeignet, Menschen zu töten… zumindest nicht körperlich.“

Ich schwieg. Nicht aus Empörung oder Sprachlosigkeit, sondern weil ich befürchtete, Zeus einfach nur anzuschreien, wenn ich den Mund in diesem Moment geöffnet hätte. Dieser Mann verstand es in Rätseln zu sprechen, dass man den Verstand und seine Nerven langsam zu verlieren glaubt. Mein Gegenüber grinste.

„Ach komm schon- streng dich ein wenig an. Du kennst die Antwort schon längst. Ich bin mir sicher, dass Ares dir und Nero von ihr erzählt hat, wenn auch vielleicht unter einem anderen Namen.“

Er schaute mich erwatungsvoll mit seinen funkelnden Augen an. Ich starrte in seine tiefschwarzen Pupillen und verlor mich fast in ihnen. Was sollte das alles hier? Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er nur mit mir spielte. Neugierig und herausfordernd fixierten mich seine dunklen Augen, wie eine Katze, die eine Maus in die Enge getrieben hatte und darauf wartete, ihr wieder hinterher zujagen. Zögernd schaute ich zu Boden. Ich versuchte mich zu konzentrieren, mich an alles zu erinnern, was Ares zu uns gesagt hatte. Nervös strich ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und rieb mir über meine Schläfe. Gott, nun bekam ich auch noch Kopfschmerzen…

Wie ein Blitz traf es mich, fuhr mir tief in die Knochen und ließ mich ruckartig hochschrecken. Meine Augen suchten fieberhaft Zeus’ Stirn und Schläfen ab. Nichts. Das konnte nicht wahr sein…

Meine Lippen formten den ungewohnten und doch mit Furcht belegten Namen.

„Memoria…“

Zeus’ Blick blieb unverändert.

„Memoria.“, wiederholte er, was wohl soviel wie ja bedeutete.

„Aber warum will Hades sein eigenes-“ Ich unterbrach mich selbst. Das machte keinen Sinn. Hades war hinter dem Programm her, was ja im Grunde sein eigenes war? Aber vielleicht wusste er ja gar nicht…

Erneut blieb mir das Wort im Hals stecken.

„Sie…?“, keuchte ich atemlos und starrte Zeus noch fassungsloser an. Dieser erwachte aus seiner starren Position, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen.

„Diese Geschichte von vorhin, der Wissenschaftler… das waren Sie?“

„Richtig.“

„Aber-“, ich schüttelte den Kopf. „Wer sind Sie?“

Natürlich antwortete er nicht sofort. Langsam öffnete er wieder seine Augen und schaute nun so ernst, dass ich mich gleich aufrechter hinsetzte. Ich sah nicht einmal mehr eine Spur von seiner freundlichen und warmen Art darin.

„Ich bin derjenige, der Olymp zusammen mit Hades gegründet hat; ich bin derjenige, der Memoria entwickelt hat … und ich werde derjenige sein, der Olymp stürzen wird.“

Die Realität

Ich könnte heute nicht mehr sagen, wie lange ich Zeus angestarrt habe- was vielleicht auch daran lag, dass ich in dem Moment damit beschäftigt war, nicht den Verstand zu verlieren.

„Sie sind verrückt…“, hauchte ich irgendwann fassungslos. Mein Gegenüber verzog keine Miene.

„So würde ich das nicht nennen. Es ist eher eine natürliche Reaktion.“

Ich brachte tatsächlich das Kunststück fertig, zu lachen. „Ach ja? Auf was?“

Ich wartete vergeblich auf eine Antwort. Zeus stand schweigend auf und schlenderte zu einer kleinen Kommode, auf der einige Flaschen standen- vermutlich Alkohol. Er schenkte sich ein und blieb, mit dem Rücken zu mir, an dem Schrank stehen. Meine Verzweiflung, die aus meiner Ratlosigkeit resultierte, verwandelte sich langsam in Wut um.

„Warum das alles? Warum wollen Sie das zerstören, was Sie selbst mit erschaffen haben? Und was hat das gottverdammte Programm damit zu tun?!“

„Olymp ist nicht mehr das, was ich damals aufgebaut habe. Hades ist derjenige, der Olymp vernichten wird, ich rette lediglich das, was noch zu retten ist. Und was das Programm angeht…“, sagte er und drehte sich um. „… Judgement- oder Memoria- ist der Schlüssel zu allem.“ Er schwieg kurz, doch dann fuhr er lächelnd fort: „Dein Blick schreit förmlich nach einer Erklärung. Und ich werde sie dir geben…“ Ich erwiderte nichts, die Frage nach dem warum sparte ich mir.

„Es ist jetzt schon zwei Jahre her, dass Hades mich aus Olymp verbannte. Vermutlich dachte er, dass er mich dadurch los sei, allerdings hatte ich immer noch Verbündete…“

Er machte eine Pause, als erwarte er einen Kommentar von mir. Ich zögerte, doch dann ergänzte ich: „…Persephone… und auch Ares.“ Zeus nickte.

„Hades hatte schon in der Zeit, als ich noch an seiner Seite gestanden habe, angefangen, das Ruder an sich zu reißen. Ares war schon immer gegen Hades gewesen und Persephone verdankte mir einiges, also hatte ich auch ihre Unterstützung sicher. Sie versorgten mich in meinem Exil mit Informationen und ich begann, meinen Plan in die Tat umzusetzen.“

„Mit Judgement…“

„Genau. Ich wusste, dass Hades an einem geheimen Programm interessiert sein würde, besonders wenn es der Regierung gehörte. Ich brauchte also nur noch zu warten.“ Er verzog das Gesicht. „Allerdings lief nicht alles wie geplant- ich denke, du weißt, wovon ich rede. Die Sache mit Nero war aber nur eine kleine Komplikation. Dass Nero gleich sein Gedächtnis verlieren sollte, hatte ich nicht geahnt und zwang mich dazu, einige Umwege zu gehen…“

Ich wurde innerlich immer unruhiger. Die Art, wie Zeus über Nero sprach, war erschreckend kühl und gleichgültig. Ich hatte das Gefühl, dass er mehr über einen Bauer beim Schach sprach, als über einen lebendigen Menschen.

„Doch dank dir“, fuhr er fort, „hat sich die Situation ja wieder zum besseren gekehrt. Ich danke dir, dass du dich um ihn gekümmert hast. Nero wird das Programm rechtzeitig löschen und Hades wird machtlos sein.“

„Und wie soll er das anstellen? Sie haben gesagt, der Code sei unvollständig.“

Wieder grinste Zeus und er fuhr sich durch die grau werdenden Haare. „Ich habe Persephone von dem restlichen Teil des Codes erzählt, sie wird also alles regeln. Nero und Judgement stehen in enger Beziehung zueinander. Neros Existenz war schon immer der wahre Schlüssel zu Judgement gewesen- dass er den Code gelesen hat, kam mir eigentlich ganz recht. Ich hatte zu Anfang vorgehabt, das ganz ohne Neros Hilfe zu lösen… Persephone sollte für mich den gestohlenen Code sicherstellen, sobald Hades in dessen Besitz gewesen wäre. Danach hätte er sich natürlich auch das Programm selbst geholt und dann wäre alles schnell vorbei gewesen. Das Programm wäre gelöscht worden und Hades hätte mittellos dagestanden- aber so?“ Er lachte. „Hades wird am Boden sein, nachdem Nero alles erledigt hat. Der große Herrscher wird mit Pauken und Trompeten untergehen. Geschlagen von einem Jungen- seinem kleinen Diener.“

„Wie können Sie da so sicher sein?“, rief ich aufgebracht. „Hades wird alles aufbringen, was ihm geblieben ist, nur um Nero aufzuhalten. Und Nero? Sie sind nur zu viert!“ Schon allein dieser Gedanke ließ mich erzittern. Zeus schienen meine Bedenken kalt zu lassen. Zum ersten Mal nippte er an seinem Glas. „Ich versichere dir, dass er in den besten Händen ist. Ares ist stark, genauso wie Äneas. Und auch Persephone solltest du-“

„Sie sind verrückt!“, fiel ich ihm mit einer wütenden Handbewegung ins Wort. „Ich weiß nicht, wie viele Mitglieder Olymp hat, aber es werden mehr als Vier sein. Es ist egal, wie stark Ares und die anderen sind, es wird nicht reichen! Sie schicken sie in den Tod.“ Tränen stiegen mir in die Augen. „Und wofür das alles? Aus Rache? Weil Sie gekränkt wurden, benutzen Sie die Vier als Kanonenfutter? Ihr Plan wird nicht aufgehen, er kann es einfach nicht! Sie sind kein Stück besser als Hades!“

Ich zuckte krampfhaft zusammen, als in dem Moment Zeus’ freie Hand polternd auf der Tischplatte aufschlug.

Wage es nicht, meinen Intellekt mit dem von Hades gleichzusetzen!!“, donnerte Zeus’ Stimme durchs Zimmer. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Meine Tränen liefen immer noch.

„Er wäre gar nichts ohne mich!“, polterte Zeus weiter. „Als ich ihn damals als Mitgefangenen kennen lernte, war er nichts weiter, als ein Feigling. Hätte ich mich nicht ihm angenommen, hätte er in der harten Hierarchie des Gefängnisses nicht einen Tag überlebt. Ohne mein Wissen würde er heute noch an billigen Computern rumschrauben! Ich habe ihn zu dem gemacht, was er heute ist und mit mir wäre er auch heute nicht in der Situation, in der er sich jetzt befindet. Man ist alleine nicht in der Lage, eine so große Macht, wie Olymp sie einmal war, zu halten, das habe ich immer eingesehen. Ich hatte verstanden, dass ich auf Hades angewiesen war, genauso wie er auf mich. Aber dieser undankbare Stümper wollte mehr und hat sich mit meiner Verbannung sein eigenes Grab geschaufelt!“

Er atmete schwer während er sprach, doch dann schien er sich wieder gefasst zu haben, denn kaum eine Sekunde später entspannte sich sein hassverzerrtes Gesicht.

„Ich habe mir geschworen ihn dafür büßen zu lassen und das habe ich durch Judgement erreicht. Er klammert sich so sehr an dieses Programm, dass er durch dessen Verlust zu Fall gebracht wird. Ich werde ihm alles nehmen- alles, wofür wir so hart gekämpft haben und was er so verkommen hat lassen.“

„… Weiß Nero davon? Für wen er das alles tut und warum?“ Ich versuchte vergeblich mein Zittern unter Kontrolle zu bringen. Ich war zu aufgebracht und wütend, um ruhig zu bleiben und darüber nachzudenken, was ich genau sagte. Ich verspürte nur noch Hass für diesen Mann, der mir gegenüber saß.

„Nein, das Risiko konnte ich nicht eingehen.“, antwortete Zeus nüchtern. „Nero war Hades’ Goldjunge gewesen und er hat den Jungen immer gut behandelt. Ich konnte mir nicht sicher sein, dass Nero durch die enge Freundschaft zu Ares auch mir treu ergeben sein würde. Hades hat mich damals als Verräter hingestellt und Nero keinen Anlass gegeben, an diesem Bild von mir etwas zu hinterfragen.“

Ich schluckte hart. „Das heißt, Nero ist nichts weiter als ein Mittel zum Zweck…“

Zeus zuckte mit den Schultern. „Das ist etwas sehr hart ausgedrückt- aber ja.“

Ruckartig stand ich auf. „Sagen Sie mir, wo Olymps Hauptsitz ist.“

„Wieso sollte ich?“

„Sie haben Nero die ganze Zeit nur benutzt- Sie haben alle wie Spielfiguren behandelt!“ Erneut liefen mir die Tränen. Nero hatte mich verlassen, um für diesen Mann seine Rache zu vollstrecken und er selbst wusste davon nichts. Er war bereit für eine Sache zu sterben, die so sinnlos und unnütz war- für einen Streit zwischen zwei Männern, für die ein Menschenleben keinen Wert hatte. „Ich werde nicht zulassen, dass sich meine Freunde für Sie opfern!“, vollendete ich meinen Satz.

„Das sehe ich anders.“, knurrte Zeus und drückte einen Knopf an seinem Tisch. Ein paar Sekunden später wurden die zwei Türflügel aufgerissen und zwei Schwarzgekleidete Männer traten ein. Ehe ich etwas tun konnte, hatten sie mich schon an den Armen gepackt, sodass ich mich nicht mehr bewegen konnte.

„Ich werde genauso wenig zulassen, dass eine dahergelaufene Göre wie du meinen Plan so kurz vorm Ziel noch vereitelt.“, sagte er gelassen und winkte auch Rose hinein, die etwas verdattert in der Tür stand. „Rose, sei so lieb und kümmere dich um Finja. Sie wird für heute Nacht unser Gast sein.“

„Nein!“, schrie ich aufgebracht und wandte mich in dem Griff der beiden Männer wie ein Fisch an der Angel. Wütend funkelte ich Zeus an. „Ich bleibe ganz bestimmt nicht hier! Du hast mir versprochen zu sagen, wo Olymp ist!“

„Ich habe dir gar nichts versprochen. Du bist hierher gekommen, um Informationen über Olymp zu erhalten. Die hast du bekommen und da du mir ja gerade gesagt hast, dass du mir in meine Pläne pfuschen willst, kannst du von Glück reden, dass ich dich am Leben lasse.“

Wütend stemmte ich mich gegen den Griff der Männer.

„Ich war bereit, Ihnen zu vertrauen!“, schrie ich ihn an. Zeus zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe dich nie dazu gezwungen, mir zu vertrauen…“ Sein Blick wurde wieder weich und seine Stimme war so sanft wie zu Anfang. „Ich bin kein Unmensch, Finja. Ich mag es nur nicht, wenn man mich hintergeht. Es wird alles gut werden- das verspreche ich dir…“

Meine Wut stieg immer weiter. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, gab Zeus den Männern ein Zeichen, worauf sich die beiden mit mir in Bewegung setzten. Erneut versuchte ich mich zu befreien.

„Nein! Lasst mich los!“, schrie ich und tat alles daran, meiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Ich trat wie wild in der Luft herum, riss meine Arme nach links und rechts und biss nach meinen Bewachern- vergebens. Ungehindert marschierten sie weiter in Richtung Ausgang. Zeus saß immer noch hinter dem riesigen Tisch und schaute mir stumm bei meinen Gebärden zu. Seine Hände hatte er vor seinem Gesicht zusammengelegt, sodass ich seinen Mund nicht mehr sah. Dennoch glaubte ich ihn triumphierend grinsen zu sehen.

Immer wieder schrie ich hasserfüllt seinen Namen, wiederholte meine Forderung, mir das Versteck zu verraten, doch es war zwecklos. Ich weinte- aber diesmal vor Wut.

Hinter uns ging Rose in einigem Abstand, vermutlich um keinen meiner Tritte abzubekommen. Sie schaute kein einziges Mal auf.

Langsam schloss sie die beiden Flügel der Türe.

„ZEUS!“ Ein letztes Mal sammelte ich meine Kräfte und versuchte mich zu befreien.

Dann schlugen die Türen fast lautlos zusammen.
 

„Hier.“, durchbrach ihre sanfte Stimme die Stille, die schon gefühlte Stunden anhielt. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich die dampfende Tasse, die sie mir entgegenhielt. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, sie näher zu betrachten, geschweige denn Rose auf irgendeine Art klarzumachen, dass ich weder durstig noch hungrig war. Im Moment war mir so gut wie alles egal.

Durch die großzügige Fensterfront des Zimmers, in dem wir saßen und von dem ich wusste, dass es abgeschlossen war, drangen die wärmenden Sonnenstrahlen der Abendsonne herein, die sich quälend langsam über den Horizont schleppte. So wie ich Ares und Persephone einschätzte, werden sie wahrscheinlich die Nacht abwarten, bevor sie Olymp stürmten- ich konnte mir also sicher sein, dass er, zumindest im Moment, in Sicherheit war… Wirklich beruhigend war der Gedanke dennoch nicht.

Nero wurde von allen nur benutzt. Alle wurden von ihm benutzt…

Rose seufzte, stellte den Kaffe weg und setzte sich neben mich. „Hey, jetzt mach dir keinen Kopf. Zeus hat Recht- du könntest eh nichts tun. Es ist viel zu gefährlich für dich. Und du kannst Ares vertrauen. Ich kenn’ ihn.“, sie lächelte und legte mir einen Arm auf meine Schulter. „Er würde niemals zulassen, dass Nero-“ Sie stockte, vermutlich weil sie bemerkte, dass mir egal war, was sie sagte. Dieses ganze Gerede von Sicherheit… von Vertrauen- es kam mir so falsch vor, als sei das alles nur gesagt, um Zeus’ Aktion zurechtfertigen.

Ich starrte immer noch aus dem Fenster und sah der Sonne dabei zu, wie sie unterging. Wieder seufzte Rose neben mir. „Du scheinst ihn echt zu mögen, hm?“

„…Ich liebe ihn.“, hauchte ich, zu mehr war ich nicht in der Lage.

Stille.

Auf einmal fing Rose leicht an zu lächeln, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Plötzlich zog sie mich am Arm. „Ja, das sieht man.“, antwortete sie verspätet. „Komm.“

Sie zog mich in die Höhe und verdattert starrte ich sie an. „W- wie?“

„Ich muss mal… kommst du mit?“, sagte sie etwas lauter als nötig und zwinkerte. Ich blinzelte erst verwirrt, doch dann sah ich das Blitzen in ihren Augen und dann verstand ich. „J- ja. Ich muss auch aufs Klo.“, erwiderte ich genauso deutlich und folgte ihr zur Tür. Sobald Rose an diese geklopft hatte, wurde die Tür geöffnet und schon baute sich auch die gewohnte Mauer von Oberkörper vor uns auf uns schaute uns misstrauisch an. „Wo soll’s hingehen?“, brummte der Mann.

„Dahin, wo du ganz sicher nicht mit hingehst!“, konterte Rose sofort und wollte sich an ihm vorbeischieben, als der Mann auf einmal den Arm ausstreckte und sich damit gegen den Türrahmen lehnte- direkt auf Augenhöhe von Rose.

„Hey, werd’ nicht patzig, klar?“

Rose schob grimmig die Unterlippe nach vorne. „Soll ich mir etwa in die Hose machen? Lass uns vorbei!“

„Ihr habt auf dem Zimmer ebenfalls eine Toilette.“

„Die ist verstopft.“

Der Mann lachte. „Dann mach sie sauber.“ Sein Partner gluckste ebenfalls. Nun baute sich Rose vor dem ohnehin viel größeren Mann auf.

„Seh’ ich wie `ne Putze aus? Mach’s doch selber- dir würde so `ne rosa Schürze bestimmt stehen.“ Sie schielte zu dem anderen Mann und grinste. „Würde deinem Partner hier bestimmt auch gefallen…“

Der Angesprochene hörte sofort auf zu lachen und schaute sie pikiert an. Ich hielt die Luft an. Der Mann vor ihr funkelte sie ebenfalls an und beugte sich zu ihr runter. „Jetzt hör mal zu, Miststück. Nur weil du unseren Boss flachlegst, heißt das noch lange nicht, dass du dir alles leisten kannst.“

Roses Grinsen wurde breiter. „Eifersüchtig? Tja- du hattest deine Chance, Ed.“

Der Mann stockte, starrte sie kurz verdattert an und schielte zu dem anderen Mann, der ihn genauso erschrocken betrachtete. Rose zog nur erwartungsvoll die Brauen hoch.

„Dürften wir jetzt zur Toilette gehen?“, fragte sie höflich. Ed knirschte mit den Zähnen und senkte den Arm, sodass wir vorbeikonnten. Kaum waren wir auf dem Gang, brach hinter uns eine hitzige Diskussion aus, von der ich aber nicht mehr alles verstand.

„Ich kann dir alles erklären…“, rief Ed aufgebracht, dann waren wir zu weit entfernt und die beiden Stimmen der Männer wurden zu einem einheitlichen Brummen. Ich runzelte die Stirn und schaute Rose im Gehen von der Seite an. Diese lächelte zufrieden.

„Rose, was…?“, fragte ich etwas verwirrt. Sie hob nur unschuldig die Schultern.

„Er wollte mal etwas von Zeus, aber der hat dankend abgelehnt… und so wie’s aussah, hatte er es seinem Freund noch nicht erzählt.“

Ich schaute über meine Schulter zurück in den Gang. „Ist… ist das dein Ernst? Die beiden sind schwul?“ Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass diese beiden Schränke in einer gemeinsamen Beziehung leben sollten, aber das würde ihr Verhalten erklären. Rose lachte neben mir. „Die Situation damals war zum tot schreien und sein enttäuschtes Gesicht war goldwert.“ Damit schien das Gespräch für sie beendet zu sein- ich für meinen Teil wollte auch nicht weiter nachfragen. Nach Roses schmunzelndem Gesicht zu urteilen, schien die Geschichte zumindest einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.

Wir hatten inzwischen den Fahrstuhl erreicht und Rose drückte den Knopf für den 2. Stock. Die Kabinentüren schlossen sich und Rose drehte sich zu mir. In ihrem Gesicht las ich jetzt nur noch Ernst. „Okay, hör mir zu. Im zweiten Stock gibt’s nen Klo an der Seite des Hotels. Da ist eine Notleiter, die du hinunterklettern kannst.“

Ich nickte energisch. „Okay.“

Wenig später hatten wir die Toiletten erreicht, aber Rose blieb davor stehen.

„Ich hoffe, du schaffst das. Es ist ein ganzes Stück bis Olymp, aber ich bin mir sicher du wirst es finden!“, lächelte sie und in ihrem Blick las ich Freude, aber auch Sorge. Ich drückte ihre Hände.

„Danke, Rose. Aber…“, ich stockte und sah zu Boden. Sie schaute mich erwartungsvoll an. „Aber warum hilfst du mir? Du hintergehst damit Zeus.“, beendete ich meinen Satz. Rose seufzte tief. „Weil ich nun mal ne Schwäche für tragische Liebesgeschichten habe. Du liebst Nero, das sieht ein Blinder. Du willst bei ihm sein und das sollst du auch.“ Dann zwinkerte sie. „Damit wird zwar Zeus’ Plan etwas durcheinander gebracht, aber er wird’s verkraften- überlass das ruhig mir." Ihr Blick wurde eine Spur härter. „Aber du musst mir eins versprechen, Fin… du darfst nichts unternehmen, das Zeus` Vorhaben verhindern könnte. Das ist meine Bedingung, ansonsten kann ich es nicht verantworten, dich gehen zu lassen.“

Ich sah verzweifelt zu ihr hoch und schüttelte den Kopf. „Weißt du, was du da von mir verlangst?“

Rose lachte freudlos. „Unmögliches.“, antwortete sie verständnisvoll und umfasste meine Schultern. „Aber du musst es mir dennoch versprechen. Du darfst niemanden- nicht Ares, nicht Persephone und vor allem nicht Nero- von Judgements Geheimnis erzählen. Diese Intrige geht schon zu lange, sie muss endlich ein Ende finden…“ Rose machte eine Pause, holte tief Luft und sah mir flehend in die Augen. „Wenn das Programm heute gelöscht wird, dann ist es vorbei- alles wäre vorbei. Hades wäre gestürzt, Zeus hätte seine Rache und alle wären frei. Aber wenn jemand die Wahrheit erfährt, stünden wir wieder am Anfang- verstehst du? Es würde alles nur noch schlimmer werden…“ Rose seufzte. „Ich kann nicht von dir verlangen oder erwarten, dass du Zeus` Beweggründe gutheißt, aber sein Plan ist das einzige, was dieser Geschichte jetzt noch zu einem guten Ende verhelfen kann. Steh an Neros Seite, bleib bei ihm, aber versprich mir, dass du nichts davon weiter trägst, was Zeus dir heute anvertraut hat.“

Schweigend sah ich zu Boden. Ihre Bitte war in meinen Augen immer noch ein Ding der Unmöglichkeit. Es entzog sich vollkommen meinem Verständnis, wie sie allen Ernstes Zeus so sehr unterstützen konnte- sie schien vieles, wenn nicht sogar alles, über Olymp zu wissen und dennoch verurteilte sie Zeus` Racheplan nicht, verteidigte ihn sogar...

Ich schaute auf und verlor mich in ihren flehenden grünen Augen. Ob sie Zeus liebte? Wollte sie mir deshalb helfen, weil sie mich verstand, weil sie ebenfalls alles für jemand anderen tun würde und tat? Sie war bereit, auf mein Wort zu vertrauen- wäre es dann nicht auch fair, auf ihres genauso zu vertrauen…?

Ich schloss kurz die Augen und dachte einen Moment lang nach, dann sah ich wieder auf und nickte. „Ich verspreche es dir.“, sagte ich und Rose begann zu lächeln.

„Danke- und jetzt geh!“

Rose öffnete die Tür und schob mich rein, dann schloss sie diese wieder. Etwas verdattert stand ich in dem kleinen Vorraum, der zu den einzelnen Toiletten führte. Vor Kopf war ein Fenster, gerade groß genug, einer zierlich schmalen Person die Flucht zu ermöglichen. Noch einmal drehte ich mich zur Tür um und lehnte mich dagegen.

„Rose, warte! Wo liegt Olymp genau? Wo muss ich hin?“

„Geh auf die große Hauptstraße und halte nach der Sonne Ausschau!“, kam es gedämpft durch das Holz zurück. „Geh jetzt!“

Sinnloser Weise nickte ich kurz.

„Danke, vielen Dank.“, sagte ich noch einmal, doch ich wartete vergebens auf eine Antwort. Es dauerte einige Sekunden, doch dann drehte ich mich um und ging zu dem kleinen Fenster. Mein Herz begann wieder schneller zu schlagen. Vorsichtig zog ich das Fenster auf und sofort blies mir ein kräftiger Wind durchs Gesicht und ließ meine Haare wild umherfliegen. Zögernd lugte ich hinaus und entdeckte zuerst gar nichts. Stirnrunzelnd schaute ich nach links und wollte meinen Augen nicht trauen. Ich hatte die Leiter, von der Rose gesprochen hatte, gefunden- obwohl ich dieses Gestell niemals als Leiter bezeichnet hätte. Die rostige Notleiter neben mir hatte ihre besten Jahre schon lange hinter sich gehabt…

Unsicher schaute ich zur Tür zurück. „Rose? Bist du dir sicher, dass das Ding mich aushält?!“

Wieder keine Antwort. Ich biss mir auf die Lippen. Wahrscheinlich beobachtete sie gerade den Gang oder stand gar nicht mehr neben der Tür. Ich war also auf mich allein gestellt.

Wehleidig fiel mein Blick auf die Leiter und mein Pulsschlag beschleunigte noch einmal. Es half nichts, ich musste da runter. Mit zitternden Händen stieg ich aufs Fensterbrett, hangelte nach den eisernen Stangen der Leiter und versuchte nicht nach unten zu schauen. Obwohl ich wusste, dass ich mich im zweiten Stock befand, spielte mir mein Kopf vor, an einer Klippe zu hocken, die mehrere Hundert Meter hoch war. Ich nahm allen Mut zusammen und schwang mich zur Leiter, die unter meinem Gewicht gefährlich laut zu ächzen begann, dass ich es nicht mehr wagte mich zu bewegen. Der aufkommende Wind lies die Leiter zudem auch noch zittern und leicht hin- und herschwanken.

Ich will hier weg, dachte ich wimmernd und schloss die Augen. Erst der kurze Ruck, der einen Moment später durch die Eisenstäbe fuhr, ließ mich erschrocken aufblicken.

Nein!

Unter meinem zusätzlichen Gewicht hatten sich die Halterungen aus dem bröckeligen Putz gelöst und ich konnte dabei zusehen, wie sie immer weiter rausrutschten.

Mir blieb nicht einmal mehr die Zeit, wieder nach der Fensterbank zu greifen, denn nur einen Augenblick später gaben die Schrauben endgültig nach, es gab einen erneuten Ruck und ich stürzte samt Leiter in die Tiefe.
 

Irgendwann kam ich benommen zu mir. Über mir rieselte immer noch der staubige Putz herunter; ich konnte also nicht lange bewusstlos gewesen sein…

Blinzelnd rappelte ich mich hoch und rieb mir mein schmerzendes Steißbein. Ich hatte Glück gehabt. Irgendwie hatte ich es geschafft, mir nichts zu brechen- ich war immerhin aus drei Metern Höhe in einen Berg von Müllsäcken und Pappkartons gefallen…

Kurze Zeit später war das Zittern aus meinen Beinen verschwunden, sodass ich gefahrlos aufstehen konnte. Ein weiterer Schutzengel hatte dafür gesorgt, dass die Leiter etwas weiter links von mir aufgekommen war. Vorsichtig ging ich aus der Gasse hinaus auf die Straße und schaute mich um. Die Leute schienen mich nicht zu beachten, was mir aber auch ganz recht war…

Ich drehte mich einmal um mich selbst und versuchte, die Orientierung wiederzuerlangen. Ich musste mich beeilen! Zeus würde bald bemerkt haben, dass ich verschwunden war und außerdem war es dunkel geworden, also müssten auch Ares und Nero bald mit ihrer Mission anfangen- wenn sie es nicht schon längst getan haben. Ich versuchte mich zu erinnern, was Rose genau gesagt hatte. Halte nach der Sonne Ausschau!

Alarmiert schaute ich in den Himmel. Verdammt! Die Sonne war schon lange untergegangen. Was sollte ich jetzt machen?! Verzweifelt fuhr ich mir durchs Haar und schaute gedankenversunken die Straße hinunter und verfluchte meine mangelnden Kenntnisse über Geografie, meinen fehlenden Orientierungssinn- und stockte.

Weit entfernt, am anderen Ende der Straße, ragte ein riesiges Gebäude in den Himmel. Groß und mächtig stand es da und an seiner Hauswand leuchtete eine hellgelbe Sonne auf, dessen Strahlen in regelmäßigen Abständen aufblinkten und ein Muster ergaben.

Halte nach der Sonne Ausschau!

Hatte Rose etwa das damit gemeint? Das schien mir zu einfach –und vor allem zu auffällig– für ein Geheimversteck zu sein…

Aber welche anderen Hinweise und Möglichkeiten hatte ich denn noch? Ich fasste neuen Mut, wenn auch zögerlich. Ich musste es versuchen.

Ich lief los, immer das Gebäude mit der Sonne im Auge behaltend.

Gegen alle Regeln

Etwas unsicher schaute ich die Hauswand hinauf.

„Ist das euer Ernst? Ich meine-“

„Das ist unser Hauptquartier, ja.“, fiel mir Ares brummend ins Wort. Er schien langsam genervt von meiner Fragerei zu sein, die ich allerdings berechtigt fand. Wieder betrachtete ich die riesige Leuchtreklame, eine neongelbe, lachende Sonne, dessen Strahlen in allen erdenklichen Farben aufleuchteten. Ich wusste nicht, was mich mehr stutzig machte- dieses grinsende Ding an der Forderfront des 8-stöckigen Gebäudes oder die Tatsache, dass ich vor einem Parkhaus stand…

Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Ist das nicht etwas… auffallend mit der Sonne und vor allem- wie kann denn ein Parkhaus ein Geheimversteck sein?“

„Versteck dich dort, wo` s keiner erwartet.“, antwortete Persephone, die ebenfalls gerade die Kneipe hinter mir verließ. Den ganzen Nachmittag hatten wir dort gesessen und uns Baupläne angesehen. Nach diesen Plänen zu urteilen wäre ich wohl niemals darauf gekommen, dass es sich dabei um ein Parkhaus handelte, das dazu auch noch direkt vor meiner Nase stand.

„Das Gebäude hat ein weitläufiges Kellersystem, dort befinden sich die meisten wichtigen Räume. Und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Judgement.“, ergänzte sie. Ich nickte nur. Wir waren unserem Ziel also sehr nahe gekommen. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter bei der Vorstellung, dass sich an so einem öffentlichen Ort wie einem Parkhaus sich eine so gefährliche Waffe befand…

„Nero, wo bleibst du?“ Ares` Stimme holte mich ruckartig aus meinen Gedanken zurück.

Ich musste mich konzentrieren! In ein paar Stunden sollte es vorbei sein und bis dahin musste ich wachsam sein. Schnell holte ich zu Ares auf, der gerade mit Persephone in ein Gespräch vertieft war.
 

Fast unmerklich zog Ares ihr an der Jacke.

„Wann hast du vor, ihm von dem zusätzlichen Code zu erzählen?“, raunte er und sah sich um.

Persephone zuckte mit den schmalen Schultern. „Vorerst noch nicht.“

Ares biss wütend die Kiefer aufeinander. „Ach so und wann glaubst du, ist der richtige Zeitpunkt? Wenn er alles eingetippt hat?“

„Vermutlich dann, ja.“

Verblüfft blieb Ares stehen. „Das meinst du nicht ernst…“

Augenverdrehend verlangsamte auch Persephone ihre Schritte. „Ares, beruhig dich. Ich bleibe mit ihm in Verbindung, ich werde es ihm rechtzeitig-“

„Warum macht der Arsch da so ein Geheimnis raus?“, fiel er ihr gedämpft, jedoch bestimmt ins Wort. „Selbst ich kenne diesen verdammten Zusatzcode nicht! Warum so umständlich? Bin ich ihm nicht mehr vertrauenswürdig genug?“

Auch Persephone schien ihre Wut merklich herunterkämpfen zu müssen. Doch dann fasste sie sich und seufzte. „Weil du Fragen stellen würdest.“ Ares starrte sie verdutzt an.

„Du könntest es nie so fraglos hinnehmen wie ich.“, fügte sie hinzu und ging wortlos weiter. Ares schaute ihr stirnrunzelnd und auch leicht geschockt hinterher. Er hatte schon immer geahnt, dass Zeus Geheimnisse vor ihm hatte, die auch mit Judgement in Verbindung zu stehen schienen. Spätestens als dieser ominöse Zusatzcode aufgetaucht war, vermutete Ares einen Zusammenhang. Aber leider war es nun zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Kopfschüttelnd schaute er seiner Verschwörungspartnerin hinterher. Natürlich hatte Zeus ihr alles erzählt, denn wie sie schon sagte- sie stellte nichts von dem in Frage, was er ihr sagte. Sie vertraute diesem Mann blind und das machte Ares zugleich wütend und traurig. Sie lebte für diesen Mann, lebte für seine Rache…

Hinter sich hörte er eilige Schritte und auf einmal stand Nero neben ihm.

„Alles klar?“, fragte der Junge und schaute besorgt hinter Persephone her. Ares zwang sich zu einem Lächeln und klopfte ihm auf die Schulter.

„Alles klar.“, antwortete er. „Und du? Bereit?“

Natürlich war die Frage überflüssig, aber dennoch nickte Nero entschlossen. Nun musste Ares wirklich grinsen. Für einen Moment- einen kurzen Augenblick nur- entdeckte er in den Augen des Jungen ein altbekanntes Funkeln, das ihn an früher erinnerte, an seinen Nero. Den erwachsenen und dennoch kindlich schüchternen Nero, der alles auf eine gewisse Art leicht und spielend sah, seine Moralapostel, die ihm jeden Kopfgeldauftrag zu vermiesen wusste, den alten Freund, ohne den er sich vor Kummer sinnlos betrank, der für ihn wie ein kleiner Bruder war.

„Gut.“, brummte Ares und schlug nun etwas kräftiger auf Neros Rücken, sodass dieser ins Taumeln kam. „Vergiss nicht, was ich dir beigebracht habe- immer auf die Kehle zielen.“, lachte er und ging weiter die Straße hinunter.

„Ich werde niemanden töten!“, erwiderte Nero giftig. Ares` Grinsen wurde breiter. Zumindest hatte die Moralapostel der Gehirnwäsche standgehalten. Schade eigentlich, dachte er und musste noch einmal lachen, die hatte er am wenigsten vermisst.
 

Wie zu erwarten, befand sich das Hauptquartier von Olymp in einem Rotlichtviertel. Als es noch hell gewesen war, war mir das kaum aufgefallen, jetzt jedoch, wo es schon länger dunkel war, begann das Nachtleben zu erwachen. Überall standen Frauen herum und uns kamen Männer entgegen, die nur darauf aus zu sein schienen, jemanden umzulegen. Ich war froh darüber, Ares und Äneas an meiner Seite zu wissen und war doppelt so glücklich, dass Fin das alles hier nicht zu sehen bekam. Bei dem Gedanken an sie zog sich mein Magen krampfhaft zusammen. Ich hatte die Worte ernst gemeint, die ich ihr in dem Brief hinterlassen hatte. Es sei besser so, hatte Ares zu mir gesagt und das sah ich inzwischen auch ein. Dennoch gab es immer noch einen Teil in mir, der sich an Fin klammerte und sie nicht losließ. Doch er wurde immer schwächer und unbedeutender und mit jeder Minute, mit jedem „Du hast dich richtig entschieden“, konnte ich mich weiter von ihr loslösen und die Tatsache, dass ich sie nie wieder sehen würde, dass sie glücklich sein würde, half mir über den Schmerz. Doch ich würde sie wohl nie vergessen können…

Die Kneipe, in der wir den halben Tag gesessen hatten, befand sich nur wenige hundert Meter von Olymp entfernt. Links daneben, ungefähr fünfzig Meter entfernt, standen mehrere größere Kabinen mit einer großzügigen Fensterfront, die meisten davon waren jedoch von runtergelassenen Rollladen verdeckt. Die Kabinen, dessen Rollladen hochgezogen waren, gaben den Blick auf tanzende, fast nackte Frauen frei, vor dessen Fenstern sich einige Gestalten tummelten. Schnell schaute ich wieder weg.

Vor den Schranken des Parkhauses blieb Ares, der vorneweg gegangen war, stehen.

„Wir sind da.“, brummte er und fasste seitlich unter seinen schwarzen Mantel, dorthin, wo ich den Griff seines Zweihänders vermutete. Auch Persephone streckte sich und Äneas stellte sich näher an ihre Seite. Ich dagegen fühlte nichts- keine Angst, keine Anspannung, gar nichts. Nur mein Herz fing schneller an zu schlagen, als ich es den anderen nachtat und nach dem Messer griff, das Ares mir gegeben hatte.

„Dann kann` s ja losgehen.“, erwiderte ich mit ernster Stimme, dass Ares sich kurz und verblüfft umdrehte, aber dann wieder nach vorne schaute. Für einen kurzen Moment bildete ich mir ein Grinsen auf seinem Gesicht ein. Als Antwort nickte er nur, dasselbe taten dann auch die beiden anderen.

Dann setzte sich Ares in Bewegung, tauchte unter der Schranke ab und verschwand kurz darauf in der Dunkelheit. Das schnarrende Geräusch seines Schwertes ertönte, das er aus der Scheide zog, dann, nach ein paar Minuten, folgten wir ihm…
 

Ich hatte mich ja schon an die vielen Überraschungen und erstaunenden Umstände gewöhnt, die zwangsläufig mit Ares` Erscheinen zusammenhangen, aber darauf war ich wirklich nicht vorbereitet- wir alle nicht…

Das Parkdeck lag still vor uns in der Dunkelheit. Ein paar Notlampen leuchteten grünlich, sodass man die leere Halle gut überblicken konnte. Man hätte also alles sehen können…

Aber da war nichts- gar nichts.

Auch Ares schien damit nicht gerechnet zu haben, denn nach einigen skeptischen Blicken, ließ er sein erhobenes Schwert wieder sinken. Persephone zuckte mit den Schultern.

„Scheint so, als sei das Empfangskomitee nicht eingetroffen.“

„Oder es ist noch nicht da…“, ergänzte ich und ließ ebenfalls den Griff des Dolches los. Ares neben mir fluchte. „Und ich habe mich so auf die Begrüßung gefreut.“, maulte er beleidigt und ging ein paar Schritte mehr in den Raum. Nach Kores Blick zu urteilen, schien sie sich ihren Teil zu seinem Kommentar zu denken und folgte ihm.

Plötzlich fingen einige Lampen an zu flackern und das sowieso schon spärliche Licht nahm rapide ab, sodass wir nur noch ein paar Meter weit gucken konnten. Stirnrunzelnd schaute Kore zur Decke. „Ich dachte, du hättest die Sicherungen wieder rein gemacht…“, sagte sie an Ares gewandt. Dieser zuckte nur mit den Schultern. „Hab ich auch.“

Sie verzog das Gesicht. „Soviel zum Notstrom.“ Dann seufzte sie leise. „Dieses Parkhaus ist wohl doch schon älter, als ich dachte.“

Ich stutzte. „Heißt das, dass das komplette Parkhaus ohne Strom ist?“

Persephone schüttelte den Kopf. „Nein, so leicht wird das Problem nicht zu lösen sein. Die Kellerräume haben einen eigenen Stromkreis. Nur die Lampen hier haben den Geist aufgegeben.“

„Egal. Die Treppen werden wir noch finden.“, erwiderte Ares.

Gerade als er wieder losgehen wollte, hörten wir Schritte hinter uns. Alarmiert schauten wir alle zurück. Nichts war zu sehen. Die leisen Schritte schienen vom Ausgang zu kommen. Kurz schauten wir uns alle an, dann gab Ares ein Zeichen und wir zogen uns von den noch funktionierenden Lampen weg in die Schatten der anderen und warteten.

Ares, der neben mir stand, spannte jeden Muskel an und hob erneut sein Schwert. Ich hielt den Atem an und lauschte den nahenden Schritten. Sie waren verdammt leise und vorsichtig gesetzt, als gehörten sie jemandem, der sich irgendwo anschlich. Sie wurden immer lauter und bald konnte ich sie auch lokalisieren- die Person konnte nur wenige Schritte von dem Lichtkegel, in dem wir gerade noch gestanden hatten, entfernt sein…

Dann, urplötzlich, hechtete Ares nach vorne, hob in dem Moment, wo die Umrisse der Person im Licht erschienen sein Schwert weiter an und riss keinen Augenblick später die rotschwarze Klinge nach unten. Fast in derselben Sekunde erkannte ich die Person, die erschrocken stehen geblieben war und mit weit aufgerissenen Augen Ares anstarrte und mein Herz krampfte sich auf die Größe einer Walnuss zusammen.

„NEIN!!!“, schrie ich, zu mehr war ich nicht in der Lage. Auch Ares schien sie noch rechtzeitig erkannt zu haben, schrie selber erschrocken auf und schaffte es noch, die Bahn der Schwertklinge so weit abzuändern, dass sie knapp neben Fin auf den Betonboden aufschlug. Auch Persephone stieß einen spitzen Schrei aus und Fin hatte vor Schreck die Arme über den Kopf zusammengeschlagen und sich geduckt.

Sekunden lang passierte nichts.

Alle standen erstarrt da, das einzige, was zu hören war, waren unsere keuchenden Atem und das leise Echo des Schlages der Klinge. Ares war der erste, der sich wieder gefasst hatte.

„Scheiße!“, fluchte er laut und steckte das Schwert wieder weg. „Du Wahnsinnige! Bist du lebensmüde?!“ Ares wetterte seine Schimpf- Triade weiter, während Fin sich entkräftet zu Boden fallen lies und sich eine Hand auf den Brustkorb legte, der sich bebend hob und senkte.

„T- tut mir Leid…“, wimmerte sie, während ich auf sie zu rannte.

„Fin!“

Erschrocken schaute sie auf, suchte mit den Augen nach mir und stand stürmisch auf, als sie mich entdeckte. Meinen Namen hauchend fiel sie mir um den Hals. Ich drückte sie fest an mich und vergrub meine Hände in ihr zerzaustes Haar.

„Ich bin so glücklich, dich zu sehen, Nero.“, schluchzte sie und schaute mich mit Tränen in den Augen an. Ich holte Luft, doch ich stockte in der Bewegung und starrte sie nur an. Wie gerne hätte ich ihr geantwortet, dass ich sie nie hätte loslassen wollen, aber etwas in meinem Kopf schrie mir die Worte ins Ohr, die ich mir schon die ganze Zeit vorgebetet hatte.

Es war richtig so! Denk daran!

Mein Blick bekam etwas Vorwurfsvolles.

„Fin was… was tust du hier? Und wie hast du uns gefunden?“

Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Das spielt jetzt keine Rolle -“

„Und ob!“, wütete Ares wieder los. „Damit ich weiß, an wem ich meine Wut auslassen kann!“ Auch Persephone war inzwischen in den Lichtpegel getreten und schaute genauso verwundert, wie ich mich fühlte. Innerlich seufzte ich. Warum machte Fin es uns nur so schwer, einander zu vergessen?

„Warum?“, fragte ich sie bitter. „Warum bist du gekommen? Ich hab doch gesagt, dass-“

Ich hielt inne, als ich in dem Moment ihr Gesicht sah. Es hätte wohl nicht viel gefehlt und sie hätte mich, nach ihrem Blick zu urteilen, geohrfeigt.

„Glaubst du wirklich, ich würde mich damit zufrieden geben? Glaubst du wirklich, du könntest mich mit einem Brief so leicht loswerden?“ Tränen sammelten sich in ihren Augen und rannen ihre Wangen runter. Bitter schüttelte sie den Kopf. „Du bist in mein Leben getreten und hast daraus einen Trümmerhaufen gemacht. Du…ihr-“ und damit schaute sie zu Ares, Persephone und Äneas. „Ihr habt mein Leben so sehr verändert. Ihr seid meine Freunde! Ich… ich liebe dich, Nero! Da braucht es schon etwas mehr, als einen Brief, um euch vergessen zu können. Selbst wenn ihr mich an Memoria anschließt und ich das Gedächtnis verlieren würde, ich könnte euch nicht vergessen! Ich will euch nicht vergessen! Du sagtest, dass ich glücklich werden solle- aber wie kann ich das, wenn du nicht da bist? Ich habe vielleicht kein Fotografisches Gedächtnis, aber mein Herz würde sich immer noch an etwas erinnern, etwas spüren, das mal da war.“ Sie trat einige Schritte von mir weg und schaute mich fast hilflos an. „Glaub ja nicht, dass du der einzige bist, der manche Dinge nicht vergessen kann…“

Ich starrte sie an. Lange…

Erst Ares` Schnaufen, das eine neue Wutwelle ankündigte, riss mich aus meinen Gedanken.

„Gott, ich bin nur von Irren umgeben…“, brummte Ares tief und schüttelte den Kopf. Persephone stellte sich daraufhin neben ihn und legte ihm eine zierliche Hand auf die Schulter. „Halt einfach die Klappe, Ares.“, erwiderte sie lächelnd, was ihr eine hochgezogene Augenbraue des Angesprochenen einbrachte.

Fin schaute mich immer noch direkt an, sodass es mir von Sekunde zu Sekunde schwerer fiel, ihr zu antworten. Diese tiefen, klaren Augen, die es so wundervoll verstanden, mich zu hypnotisieren- hatte ich wirklich vorgehabt, sie nie wieder zu sehen?
 

Sanft umschlossen mich seine Arme und drückten mich an ihn. Ich vergaß zu atmen…

Warum sagte er nichts? Ich erwiderte zögernd seine Umarmung und legte meine Stirn an seine Brust.

„Verzeih mir…“, flüsterte er so leise, als wolle er sicher gehen, dass nur ich diese Worte vernahm. Innerlich zog sich alles zusammen und meine Hände schlossen sich noch fester um das Stück Leder, das sie zu fassen bekommen hatten. Seine Antwort war zweideutig- verdammt zweideutig- und doch war ich mir sicher, dass ich sie richtig verstand.

„Verlass mich nie wieder!“, schluchzte ich, die Tränen unterdrückend. Ich spürte wie er den Kopf in meinem Haar hin- und herbewegte.

„Niemals…“, sagte er und jetzt fiel alles von mir ab. Alle Sorge, alle Wut, ich vergaß sogar für einen Moment, wo wir waren und was Nero noch bevorstand. Für mich zählte nur er und die unerklärliche Gewissheit, dass sein Versprechen einhalten würde- für immer.

Ungehalten rollten dicke Tränen über mein Gesicht und durchnässten sein schwarzes Hemd.

„Ich störe ja nur wirklich ungern eure Zweisamkeit, aber ich fürchte, eure gemeinsame Zukunft muss noch warten“, brummte es von irgendwoher genervt und zumindest Nero schien darauf zu reagieren- ich versuchte dagegen das Gegenteil und vergrub demonstrativ meinen Kopf noch tiefer in sein Hemd. Wie gerne hätte ich so für Stunden dagestanden und einfach seine Nähe gesucht, seine Wärme gespürt und seinem beruhigenden Herzschlag gelauscht, hätte sich besagtes Objekt meiner Begierde nicht gerade jetzt von mir entfernt und mich- in meinen Augen- geradezu brutal auf eine unzumutbare Distanz gebracht.

Leicht pikiert schaute ich ihn an, doch er schien es nicht nötig zu haben, mich anzusehen- die rechte Seite des Raumes war anscheinend viel interessanter. Ares schob sich in mein Blickfeld und Nero nickte ihm zu.

„Du hast recht…“, sagte er ernst und machte Anstalten, mich loszulassen- was nicht ganz klappte, da meine Hände immer noch an seinem Mantel klebten.

„Was haben wir denn jetzt vor?“

Ares zog mit gespielter Überraschung die Augenbrauen hoch.

Wir?“, wiederholter er betont und beugte sich zu mir runter. „Wenn du mit wir uns Vier meinst, “ und dabei zeigte er einmal in die Runde, die hinter und neben ihm stand, „wir haben hier noch was zu erledigen.“

Beleidigt schob ich die Unterlippe vor. Hatte ich diesen Typen wirklich mal gemocht?

„Dann helfe ich euch da-“

„Nein.“, kam es dreistimmig zurück.

Perplex starrte ich abwechselnd in die Gesichter von Ares, Persephone und Nero; selbst Äneas schüttelte mit ernster Miene den Kopf.

„Warum nicht?!“

Schnaubend drehte sich Ares auf dem Ansatz um und fuhr sich durch das kurze Haar. „Herrje, warum sind Frauen immer so kompliziert?“, schimpfte er und begann gereizt umherzuwandern. Nun kam auch Persephone auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Fin, ich dachte, wir hätten das schon besprochen-“

„Wir haben gar nichts besprochen!“, fauchte ich zurück, „Schon vergessen? Ihr habt mich einfach allein zurückgelassen!“

Sie seufzte. „Ja, weil wir gedacht haben, dass es das Beste für alle wär`.“

„Tja, so kann man sich täuschen.“, sagte ich trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Fin, versteh doch bitte… das hier ist zu gefährlich für dich.“, mischte sich Nero ein und versuchte mir ebenfalls eine Hand auf die Schulter zu legen- jedoch blieb es bei dem Versuch…

„Ach und für dich nicht?“

Prompt wurde die Hand wieder zurückgezogen. Warum glaubten eigentlich alle, dass ich nicht auf mich aufpassen könnte?

„Gut, ich kann nicht kämpfen, aber ich kann trotzdem helfen!“

„Und wie?“, kam es sanft von Kore.

„Ich kann Schmiere stehen…“

Urplötzlich beendete Ares seinen von dumpfem Brummen und derben Flüchen begleiteten Rundgang und trat mit einem Ausdruck auf mich zu, als wolle er mir den Hals umdrehen.

„Das einzige, was du kannst, ist im Weg stehen! Und ich habe absolut keine Lust, auch noch auf dich aufzupassen, ist das jetzt bei dir angekommen?!“, grollte er so laut, dass es in dem leeren Parkhaus unheimlich widerhallte.

Noch bevor ich Luft holen konnte, hatte er mich am Arm gepackt und zog mich zum Ausgang. Dass ich mich dabei wild wehrte und gebärdete, schien ihn nicht zu interessieren, sodass ich mal wieder Zeuge seiner übermenschlichen Kraft wurde. Hilflos liefen die anderen hinter uns her, sodass ich genug Zeit hatte, Nero wütend anzufunkeln, der keinerlei Anstalten machte, mir zu helfen- mir, seiner Freundin, der er theoretisch gesagt hatte, dass er sie liebte. Wie ich diese Männerfreundschaft doch hasste….

Draußen angekommen, stellte Ares mich unsanft auf einem Fleck Asphalt ab und hielt mich mit seinen beiden Pranken fest.

„Bleib… hier!“, presste er hervor, sichtlich um Beherrschung kämpfend und schaute mir tief und wütend in die Augen. Ich konnte mich zwar nicht bewegen, jedoch funktionierte mein Mudwerk dafür umso besser.

„Ich bin kein Hund!“, protestierte ich lautstark, sodass uns vorbeigehende Leute von der Seite her stirnrunzelnd anstarrten- natürlich würde mir hier keiner helfen; nicht hier in dieser Gegend…

„Tja, schade auch- `nen Köter würde zumindest keine Widerworte geben.“, konterte Ares immer noch wütend und schaute sich um, dann zog er mich weiter zu einer dieser komischen Container, die mich stark an ein transportables Klo erinnerten.

„Was hast du vor, Ares?“

Hoffnungsvoll drehte ich den Kopf- endlich meldete sich Nero zu Wort!

„Dafür sorgen, dass dein Schatz am Leben bleibt.“, antwortete Ares und klopfte an die Tür, die seitlich an den drei Meter hohen Kasten angebracht worden war. Nach wiederholtem energischeren Klopfen, öffnete sich die Tür und eine- sagen wir…- etwas bekleidete Frau mit auffallendem Make- up und stark blondierten Haaren kam zum Vorschein. Trotz ihrer hohen Absätze musste sie an Ares hoch schauen. Sauer verzog sie das Gesicht.

„Ey, wenn du was sehen willst, musste vorne Geld einschmeißen, Schwachkopf!“, motzte sie, verstummte aber wieder ganz schnell, als Ares ihr ein paar Scheine unter die gepuderte Nase hielt. „Dürfen wir uns den Kasten für `ne Stunde ausleihen?“

Etwas verdutzt schielte sie auf das Geld, doch dann fing sie sich wieder und legte provokant den Kopf schief. „Ich verdien das Doppelte in einer Stunde…“

Erneut griff Ares unter seinen Mantel. Die Augen der Frau blitzten voller Erwartung hell auf, doch er zog nur einen weiteren mageren Geldschein hervor.

„Du bist eine schlechte Lügnerin…“, sagte er mit zuckersüßer Stimme, dennoch ließ er eine große Portion Wut mit durchhören. Die Frau hatte wohl die unterschwellige Warnung verstanden, denn im nächsten Moment schnaufte sie lautstark und schnappte sich das angebotene Geld.

„Eine Stunde!“, fauchte sie, griff nach ihrem Mantel und stolzierte an dem Mieter ihrer vier Wände vorbei in die nächste Kneipe.

Kaum war sie außer Sichtweite, wurde ich in diese Metallhölle auf Rädern hinein geschoben.

„Und hier bleibst du, wenn dir etwas an deinem Leben liegt.“, sprach Ares nun seine letzte Warnung aus- was natürlich nicht bedeutete, dass ich mich damit zufrieden gab…

„`Nen Teufel werd` ich tun!“

„Halt endlich deine Klappe oder ich werd` dafür sorgen, dass du sie hältst!“

Noch bevor ich etwas sagen konnte, wurde die Tür zugeschlagen und ich hörte, wie etwas davor geschoben wurde. Wutentbrannt schmiss ich mich gegen das Metall und hämmerte mit den Fäusten dagegen, doch sie bewegte sich kein Stück.

„Wenn ich hier raus bin, bring ich dich um, Ares!“, brüllte ich aus voller Kehle, worauf ich nur ein freudloses Lachen vernahm. Verzweifelt ließ ich von der Türe ab und kämpfte stattdessen erneut gegen die verdammten Tränen.
 

Es brach mir das Herz, sie so schreien zu hören. So etwas hatte sie nun wirklich nicht verdient…

„Ares, ist das wirklich notwendig- ich mein-“, fügte ich schnell hinzu, nachdem der Angesprochene sich mit einem alles tötenden Blick umgedreht hatte, „Können wir uns nicht ein besseres Versteck für sie suchen?“

Ungläubig schaute er mich an, zuckte dann gespielt mit den Schultern und suchte mit hochgezogenen Brauen Persephones Blick. „Ich weiß nich` - Kore, haben wir noch Zeit, `ne Sicherheitszelle für die Kleine zu organisieren?“

Die Angesprochene antwortete nicht sofort, schüttelte dann doch nach einigen Sekunden den Kopf. „Ich fürchte nicht.“, antwortete sie ernster und mitfühlender als Ares und schlang die Arme um ihren Oberkörper.

„Da hörste` s.“, knurrte er und wandte sich von Fins „Versteck“ ab.

Verzweifelt biss ich mir auf die Unterlippe. Er hatte recht- die Zeit lief uns davon und Fin durfte einfach nicht dabei sein…

In der Zwischenzeit war es wieder still hinter der dicken Metalltür geworden, sodass ich vorsichtig an diese herantrat.

Kurz zögerte ich, dann holte ich tief Luft.

„Fin…“

„Nero?“, kam es hoffnungsvoll von der anderen Seite. „Nero, bitte! Lass mich hier nicht zurück!“

„Das tu ich nicht… aber… es ist hier sicherer für dich, bitte versteh das.“

Stille. Innerlich lachte ich bitter. Wie konnte ich von ihr nur verlangen, dass sie das hier alles verstand oder hinnahm?

„Ich werde dich hier abholen… sobald dieser ganze Mist vorbei ist. Wir werden hier zusammen weggehen! Das verspreche ich dir.“

„…okay.“, antwortete Fin kaum hörbar. Weinte sie etwa?

Eine schmale Hand legte sich auf meine Schulter und zwang mich zum Umdrehen. Mit verständnisvollem Blick nickte Persephone in Richtung Olymp. Ich nickte zögernd.

Noch einmal schaute ich zurück, dann folgte ich ihr und schloss zu Ares und Äneas auf.

„Tu mir den Gefallen und verlieb dich das nächste mal in `nen Bernhardiner…“, brummte Ares neben mir und beschleunigte seine Schritte.

Wiedersehen macht Freude

Nach der anfänglichen- und für mich vollkommen verständlichen- Wut, machte sich langsam die Verzweiflung in mir breit, dicht gefolgt von einer Hoffnungslosigkeit, die in Trauer überging, erneut von Wut abgelöst wurde und schlussendlich in dem gefährlichsten Zustand endete, den man in meiner Situation einnehmen konnte: leicht reizbare Langeweile mit einem Hauch Ungeduld…

Und da ja ein Hinweis auf Langeweile nun das sinnlose Rumsitzen und Nichts- tun war, beschäftigte ich mich damit, jeden Menschen zu verfluchen, der an meiner jetzigen Lage Schuld war- ich wünschte also in einer Endlosschleife Ares und Zeus die Beulenpest an den Hals.

Diese Ablenkung hielt für genau 10 Minuten, danach fielen mir keine Krankheiten mit tödlichem Ausgang mehr ein und ich saß wieder und immer noch dumm herum. Gelangweilt saß ich auf dem kleinen Hocker, stützte meine Ellenbogen auf meinen Oberschenkeln ab, hielt meinen Kopf in den Handflächen, blies mir Haarstränen aus dem Gesicht und studierte das heruntergelassene Rollo einen knappen Meter vor mir.

Vielleicht sollte ich Ares bei passender Gelegenheit mal hier reinstecken…

Ich war so vertieft in meine Rachepläne, dass ich schrecklich erschrak, als in diesem Moment das Rollo ratternd aufging.

Verwirrt blinzelte ich. Sollten sie etwa schon wieder da sein? Voller Erwartung und mit einem glücklichem Lächeln stand ich auf und ging näher an die Scheibe- wo mir im nächsten Augenblick ein ebenso breites Lächeln entgegen geworfen wurde, das in dem hässlichsten Gesicht platziert war, das ich bis zu diesem Zeitpunkt je gesehen hatte. Sofort gefror meine Miene, verzog sich kurz zu einer angewiderten Grimasse, bevor die Enttäuschung eintrat und meine Mundwinkel augenblicklich drei Stockwerke tiefer zog.

Der schlaksige junge Mann, der sichtbar unter Akne gelitten hat und immer noch litt, glotzte zu mir hoch, als habe er gerade das ersehnte Weihnachtsgeschenk geöffnet. Sein Blick entglitt allmählich ins lüsterne über und auf einmal war ich froh darüber, hier drinnen zu sein.

Missmutig, wie ich nun schon ganze 10 Minuten und 50 Sekunden war- die 10 Sekunden unnötige Euphorie mal abgezogen- ließ ich mich wieder auf den Stuhl zurückfallen und schmollte ungeachtet dessen, was vor mir stand, weiter- nur leider sah das, was vor mir stand, das etwas anders.

„Ey, was soll das?“, hörte ich ihn gedämpft durch die Scheibe meckern.

„Bin nicht im Dienst.“, brummte ich zurück und stütze wieder die Arme auf. Warum sollte ich die Zeit damit verschwenden, diesem Deppen zu erklären, warum ich wirklich hier saß? Er würde mir eh nicht glauben, genauso wenig, wie ich mir selber glauben würde...

„Das kann doch nicht dein Ernst sein?!“

„Doch, mein voller.“, antwortete ich etwas gereizter als vorher und deutete nach rechts. „Versuch` s nebenan…“

Völlig perplex starrte mich der Mann einige Sekunden an, dann trat auch in sein Gesicht eine Spur von Wut. „Hallo?! Ich hab `nen Zwanziger bei dir rein geworfen, jetzt will ich auch was sehn!“

Bei den Worten begann meine rechte Augenbraue gefährlich an zu zucken. Soweit hatte mich selbst Ares nicht gebracht. Ruckartig stand ich auf und ballte meine reche Hand zur Faust.

„Bist du taub und blind? Ich sagte, es gibt hier nichts zu sehen und jetzt verpiss dich oder ich werfe gleich was bei dir rein!“, schrie ich ihn an und deutete noch einmal wütend nach rechts. Endlich zeigte der Typ die passende Reaktion und ging einige Schritte rückwärts, drehte sich dann vollends um und verschwand- jedoch nicht ohne mir einen giftigen Blick zuzuwerfen und etwas zu murmeln, was ich allerdings nicht mehr verstand.

Schnaubend setzte ich mich wieder hin und schaute dem Rollo dabei zu, wie es langsam wieder automatisch runterfuhr.

Wie ich solche Leute hasste…

Prompt wurde meiner Verwünschungsliste ein weiteres Mitglied hinzugeführt und da durch diesen Zwischenfall die „Zustands- Spirale“ wieder von neuem gestartet wurde, begann ich also wieder damit, von oben genannter Liste gebrauch zu machen- doch diesmal kam ich nicht allzu weit…

Mein Monolog wurde nach kurzer Zeit erneut von dem knatternden Geräusch der Rollladen unterbrochen, was nicht dazu beitrug, meine Laune anzuheben.

Zähneknirschend erhob ich mich und diesmal würde ich der Person keine Zeit geben, auch nur ein Widerwort zu geben, sondern ihn von Anfang an deutlich machen, dass er hier ganz sicher nichts zu sehen bekam.

Das mit dem „deutlich machen“ sollte sich jedoch als problematisch herausstellen:

Statt in eine weitere pickelige Fratze zu schauen, tauchten zwei in Schwarz gekleidete Gestalten auf, beide die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Das konnten nicht Ares und Nero sein und selbst für Äneas war keine der Personen breit und groß genug. Erstarrt verharrte ich in der halb angriffslustigen Position, die ich eingenommen hatte und starrte die beiden an. Der Linke schob seine Kapuze zurück und gab den Blick auf ein Gesicht frei, das mir gänzlich unbekannt war, jedoch hätte ich auch ohne den schwarzen Mantel diesen etwa 40- jährigen Mann Olymp zugeordnet- er hatte denselben kalten Schimmer in seinen ausdruckslosen braunen Augen, wie Ares und Äneas…

Sein pechschwarzes Haar bewegte sich in dem aufkommenden Wind und wehte ihm ins Gesicht, was ihn jedoch nicht davon abhielt, mich zu fixieren, sodass ich das Gefühl bekam, ihm niemals entkommen zu können.

„Ist sie das…?“, hörte ich ihn sagen und ich erwachte aus meiner Starre. Vorsichtig ging ich einen Schritt rückwärts. Wer war dieser Mann? Wem war er treu? War er ein weiterer Verräter, der Zeus diente und der mich jetzt zurückbringen sollte?

Der Wind wurde stärker und zupfte nun auch an der Kapuze des Zweiten, sodass ich erst ein breites Grinsen erspähte, dann zwei aufblitzende Augen und zum Schluss sein Gesicht im Ganzen, das eingerahmt von feuerrot gefärbten Haaren war.

Keuchend riss ich die Augen auf und presste mich an die Wand in meinem Rücken. Das konnte nicht wahr sein…

Apollons Grinsen wurde noch breiter. „Ja, so ein Gör würde mir immer im Gedächtnis bleiben…“, antwortete er und fuhr sich mit dem Lauf der Pistole, die er in seiner Rechten hielt über den Hinterkopf. „So sieht man sich wieder…“

Ich wartete keine Sekunde länger, riss mich vollkommen aus meinem Schockzustand und schmiss mich erneut gegen die Tür, in der Hoffnung, dass das Adrenalin, das mein wild pochendes Herz nun durch meinen Körper jagte, ausreichen würde, um mich zu befreien- vergebens. Die Tür rührte sich immer noch nicht.

Wütend schrie ich auf und einmal mehr wünschte ich mir mehr Kraft zu haben.

Aus den Augenwinkeln sah ich plötzlich Apollons Lauf aufblitzen und keinen Lidschlag später durchschnitten knallende Pistolenschüsse die Nachtluft. Die Glasfront meines Gefängnisses zerbarst ohrenbetäubend wenige Zentimeter neben mir und Kugeln bohrten sich in die Rückwand, an der ich noch vor Sekunden gelehnt hatte.

Reflexartig kauerte ich mich mit einem Aufschrei auf den Boden und schlug die Arme über meinem Kopf zusammen. Ich spürte die Glassplitter auf mich nieder regnen und einige schnitten mir die nackten Arme auf.

Bevor ich wieder richtig Luft holen konnte, wurde die Metalltür von außen aufgerissen, zwei kräftige Hände packten mich an den Oberarmen und zerrten mich ins Freie. Kaum war ich dort, umklammerte mich eine der beiden Hände an meinem rechten Handgelenk, der andere Arm schlang sich um meinen Hals und zog mich nach oben, sodass ich nun auf Zehenspitzen stehen musste, um nicht zu ersticken. Würgend krallte ich meine freie Hand in D` s Oberarm, als lächerlichen Versuch, mich aus dieser Schlinge zu befreien.

Die Waffe in seiner Hand drehend, kam Apollon langsam auf mich zugeschlendert, sichtliche Freude daran habend, seine Beute leiden zu sehen.

„Man begegnet sich immer zweimal im Leben, daran solltest du denken, bevor du jemanden niederschlägst, Kleine.“, säuselte er zuckersüß, wiegte die Pistole wie einen ausgestreckten Zeigefinger tadelnd hin und her und kam dabei immer näher, bis er direkt vor mir stand.

„Das war ziemlich ungezogen von dir.“

Ohne Vorwarnung holte er aus und im nächsten Augenblick schlug der Pistolenlauf gegen meinen rechten Wangenknochen, sodass ich erstickt aufschrie und mir kurz schwarz vor Augen wurde. Pulsierend breitete sich der Schmerz aus und trieb mir die Tränen in die Augen. Alles um mich herum begann zu verschwimmen und meine Beine knickten kraftlos ein.

„Glaub mir, damit sind wir noch lange nicht quitt, Miststück!“, zischte Apollon und wieder war alle Wärme, sei sie auch nur gespielt gewesen, aus seiner Stimme verschwunden.

„Das reicht jetzt, Apollon.“, brummte der Mann, den ich schlussfolgernd als D bezeichnet hatte. „Wir sollten sie zu Hades bringen. Er wird bald eintreffen, wir müssen uns also beeilen.“

Verbittert kniff ich die Augen zusammen, um wieder klar sehen zu können, was bei einer schmerzenden Gesichtshälfte gar nicht so einfach war.

Verdammt! Ich war tatsächlich Hades` Hetzhunden in die Hände gefallen und nun brachten sie mich auch noch zu ihm…

Verdammt, verdammt, verdammt!

Der Schraubstock um meinen Hals löste sich, dafür legte sich dieser erneut um meinen Oberarm und im nächsten Moment wurde ich hinter D hergezogen. Mir fehlte nun endgültig die Kraft, mich zu wehren, also musste ich benommen folgen. Apollon blieb erst stehen, setzte sich dann auch in Bewegung und ging neben mir her, die Pistole immer noch in der mir zugewandten, rechten Hand haltend.

„Wir sind noch nicht fertig, Schlampe…“, raunte er, den Blick nach vorn gerichtet.

Ich zog es vor, zu schweigen und so beendete D Apollons Selbstgespräch vorzeitig, indem er mich unsanft zu sich heranzog und seinen Gang beschleunigte. Seitdem war ich damit beschäftigt gewesen, darauf zu achten nicht zu stolpern oder ganz hinzufallen. Traurig senkte ich die Augen und neue Tränen rannen mir über die schmerzenden Wangen.

Ares hatte recht gehabt- ich war nur eine Last und jetzt sollte ich den Preis dafür bezahlen.

Es war aus…

Ich nahm kaum noch etwas wahr, lediglich meinen schmerzenden Körper, sonst war da nichts. Inzwischen hatten wir das Parkdeck im Erdgeschoss mit der kaputten Notbeleuchtung durchschritten und standen nun vor einer Treppe, die nach oben führte. Auf einmal drang helles Licht aus einer der oberen Etagen.

D blieb kurz stehen und zog ebenfalls einen Kleinkaliber unter seinem Mantel hervor.

Dann stiegen wir die Treppe hinauf.

Die Gattin und ihr Diener

Mit gezogenem Schwert schaute Ares um die Ecke, gab mir dann ein Zeichen, dass ich ihm folgen sollte und lief bis zur nächsten Kreuzung.

Das riesige Kellersystem, das sich unter dem Parkdeck befand, glich einem Labyrinth aus weiß getünchten, nackten Betonwänden, an dessen Decke in regelmäßigen Abständen kalt leuchtende Neonröhren hangen, die im Moment jedoch nur flackernd Licht spendeten oder ganz kaputt waren.

Immer mal wieder liefen wir an geschlossenen Türen vorbei, die in demselben Weiß gestrichen worden waren, wie die Wände. Und obwohl ich schon längst vergessen hatte, wo wir genau waren, schien Ares sich perfekt auszukennen. Zielstrebig bog er an jeder Kreuzung ab und sah sich die etlichen Türen nicht näher an.

„Wir sollten den Innenarchitekten hierfür verklagen- da ist ja jedes Krankenhaus gemütlicher…“, murmelte ich hinter Ares, als dieser wieder stehen geblieben war, um erneut um die Ecke zu spähen.

„Dieser Ort sollte niemals gemütlich wirken.“ Seit langem sah er mich wieder an. Sein Gesicht war ungewöhnlich ausdruckslos und eingefallen. „Das war das erste, was jemand erblickte, wenn man in Olymp aufgenommen worden war.“

Seine Worte sickerten wie zäher Teer durch meine Gedanken und mir wurde erst langsam bewusst, was seine Aussage bedeutete.

„Das heißt, dass diese Maschine- dass Memoria hier auch irgendwo ist?“ Mir wurde anders bei dem Gedanken und sofort kamen mir wieder meine bruchstückhaften Erinnerungen in den Sinn, von Ares, wie er vor mir stand, meine Schmerzen… Memoria.

Und plötzlich erinnerte ich mich auch daran, wie ich durch diese Gänge gezogen wurde, wie eine dieser Türen geöffnet wurde…

Ares schien meine Gedanken zu erraten und machte eine weitläufige Handbewegung.

„Niemand verbindet mit diesem Ort gute Erinnerungen, Nero. Hier lag das Zentrum von Olymp, alles wurde von hier aus geregelt. Diese ganzen verschlossenen Räume- zu guten Zeiten waren viele davon Krankenräume für alle Neuzugänge und Verletzte. Wir hatten Ärzte, die für uns arbeiteten, Techniker, für die Instandhaltung etlicher Gerätschaften, Trainingsräume, Schlafräume… das hier war eine kleine Stadt, bestens ausgestattet für ein Leben hier unten.“ Er machte eine kleine Pause und sah wieder den Gang runter, dann schüttelte er den Kopf. „Trotzdem- dieser Ort, das wussten die meisten, war der Ort, den du als erstes sahst und wenn du Pech hattest und nicht auf der Straße umkamst, der Ort, den du als letztes sehen würdest. Diese Gänge sollten Respekt einflößen und die Macht von Olymp unterstreichen und selbst in diesem heruntergekommenen Zustand verfehlen sie ihre Wirkung nicht.“

Ich schwieg, sah ihn nur an und schauderte. Ich verstand, was er meinte, mir ging es nicht anders und dennoch war ich überrascht über den Unterton, der in Ares Stimme mitgeschwungen hatte. Er wusste, wovon er gesprochen hatte und die Angst in seiner Stimme war nicht zu überhören gewesen.

Ich trat an seine Seite und stieß ihm leicht den Ellenbogen in die Seite.

„Lass es uns hinter uns bringen und diesen Ort wieder schnell verlassen.“

Es schien seine Wirkung nicht zu verfehlen, denn kurz darauf grinste Ares wieder und streckte sich. „Wehe, du beeilst dich gleich nicht.“, brummte er und setzte sich wieder in Bewegung. „Wir sind gleich da, frag mal bei Kore nach, wie die Stimmung so bei ihr is`.“
 

Persephone fluchte leise vor sich hin. Dass die Kabel auch so weit hinten in diesem verdammten Kasten liegen müssen…

Äneas stand neben ihr und leuchtete ihr mit der Taschenlampe spärlich Licht, was aber keineswegs an der Funzel selbst lag, sondern eher daran, dass Persephone schon zur Hälfte in diesem Stromkasten lag und dieser Schacht nicht gerade der breiteste war.

Doch irgendwann hatte sie es geschafft, das richtige Kabel anzuzapfen, ließ sich schnaubend im Schneidersitz auf den Boden fallen und legte das Funkgerät neben sich. Sie hoffte nur, dass die Verbindung zwischen ihrem und Ares` Gerät standhielt- immerhin lagen zwischen der fünften Etage und dem Keller schon ein paar Betonmauern…

Mit flinken Fingern installierte sie den Virus, der die Stromversorgung unterbrechen würde. Das Netzwerk schluckte ihr Programm, jetzt hieß es warten…

Dann endlich, nach zwei Minuten, begann der Generator würgend die Arbeit niederzulegen und Sekunden später war es dunkel um Persephone. Zufrieden nickte sie und grinste Äneas zu, der es bei einem aufgerichteten Daumen beließ.

Plötzlich meldete sich piepsend ihr Funkgerät. „Wie sieht` s aus bei euch? Hat alles geklappt?“, ertönte verzerrt Neros Stimme aus dem Gerät.

„Alles bestens. Der Notstrom dürfte jetzt auch ausgeschaltet sein. Seid ihr schon da?“

„Ja, gerade eben, wir stehen vor der Tür, aber…“

Sie hörte ein krachendes Geräusch, dann Ares tiefes Gelächter. Persephone verzog das Gesicht. Dass dieser Mann auch immer mit dem Kopf durch die Wand musste!

„Ähm… wir sind jetzt drin.“, meldete sich Nero wieder zu Wort.

„Ja, das habe ich gehört.“, antwortete sie ironisch. „Und? Was-“

Sie unterbrach sich, als in diesem Moment wieder flackernd das Licht anging.

„Kore, was soll der Scheiß?!“, hörte sie Ares durch das Funkgerät meckern- anscheinend war auch dort unten das Licht wieder angesprungen. Von irgendwoher hörte sie das leise Summen eines Generators.

Alarmiert tippte sie auf ihrem Laptop herum, sah dann wieder in den Stromkasten und atmete dann etwas erleichtert auf.

„Kein Grund zur Panik. Es scheint einen zweiten Notstromkreis zu geben, der über einen anderen Generator läuft. Die Sicherheitsanlage ist aber immer noch ausgeschaltet.“

„…Hoffen wir es.“, antwortete Nero ihr.

„Also, was ist jetzt? Habt ihr Judgement gefunden?“, fragte sie aufgeregt.

„Ja, ich mein, hier steht ein Computer…“

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie hatten es tatsächlich geschafft, nach so vielen Jahren. Sie spürte Tränen aufsteigen. Endlich waren sie am Ziel.

„Es muss jetzt einfach klappen…“, murmelte sie kaum hörbar.

Für einige Minuten kam gar nichts mehr, dann meldete sich Nero wieder. „Ich hab es. Das hier muss Judgement sein!“

Persephone hätte vor Glück aufschreien können. Jetzt liefen die verdammten Tränen doch.

„Gut. Sehr gut.“, antwortete sie und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel weg. Jetzt musste sie nur noch eine Sache erledigen…

„Nero, hör mir jetzt genau zu! Du darfst auf keinen Fall den Code bestätigen, wenn du ihn komplett eingetippt hast, verstehst du! Der Code ist nicht vollständig!“
 

„Nero, hör mir jetzt genau zu! Du darfst auf keinen Fall-“

Danach kam nichts mehr außer Rauschen. Stirnrunzelnd starrte ich das schwarze Funkgerät an. „Persephone?“

Vorsichtig klopfte ich gegen das Plastikgehäuse, dann etwas stärker. Nichts tat sich. Hilflos schaute ich zu Ares hoch.

„Die Verbindung scheint unterbrochen zu sein…“

Fluchend nahm Ares das Gerät selber in die Hand und schlug etwas unsanfter als ich mit dem Ding gegen die Tischkante, aber auch das zeigte keine Wirkung.

„Na toll…“, knurrte er und schaute zur Decke. Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn.

„Vielleicht solltest du nachschauen, ob etwas passiert ist.“

Ares schüttelte nur den Kopf. „Auf keinen Fall! Ich lass dich hier nicht alleine.“

„Ares, ich hock hier direkt vor Judgement- ich denke nicht, dass ich mich jetzt noch verlaufen oder mir sonst was passieren kann.“, seufzte ich. „Ich glaube, Persephone braucht dich jetzt dringender und vor allem wollte sie mir doch gerade etwas sagen. Es schien wichtig zu sein.“

Ares schwieg kurz, musterte mich einsichtig, dann wandte er sich in Richtung der Türe, die nur noch in einer Angel im Rahmen hang. Kurz bevor er rausging, wandte er sich noch einmal um. „Nero, das was Kore dir sagen wollte, hatte mit dem Code zu tun. Der Code ist unvollständig und Kore ist einer der wenigen Personen, die den Zusatz kennt. Also, egal was du tust- bestätige den Code nicht! Warte, bis ich wieder da bin.“

Ich nickte- wenn auch etwas widerwillig. Wie kam Persephone an so ein Geheimnis? Doch im Moment war das nebensächlich. Ares warf mir noch einen zögernden Blick zu, dann drehte er sich doch zum Gehen.

„Ares!“

Er blieb stehen. „Was?“

„Pass auf dich auf.“

„Immer doch.“, brummte er, dann war er verschwunden.
 

Entsetzt schaute Persephone auf das rauschende Funkgerät. Warum antwortete niemand?

„Nero, hast du mich verstanden? Nero?!“

Nervös biss sie sich auf die Unterlippe, legte das defekte Gerät weg und fuhr sich durch die Haare. Wie viel hatte er nun mitbekommen? Was sollte sie jetzt machen? Kurz ließ sie ihren Blick über ihren Laptop streifen, in dem mehrere Fenster geöffnet waren, die alle angaben, dass die örtliche Stromversorgung zusammengebrochen war, zog dann kurzerhand die Kabel und Stecker und klappte den Laptop dann zu. Es war wohl das Beste, sich zu beeilen und Nero und Ares zu folgen. Sie hoffte nur, dass Ares Nero davon abhielt, selbstständig das Programm zu löschen…

Lächelnd erhob sie sich und nickte Äneas zu, der nur wenige Meter hinter ihr stand.

„Wir sind hier fertig- lass uns zu den anderen gehen.“, sagte sie sanft. Gerade wollte sie sich bücken, um den Laptop aufzuheben, als sie plötzlich Schritte vernahm. Schwere, dumpfe Schritte, von mehreren Leuten!

Schnell drehte sie sich zur Tür um und sah in zwei bekannte Gesichter. Nein, verbesserte sie sich zu ihrem Entsetzen, es waren Drei

„Sieh mal einer an. Was für ein Zufall.“

„Persephone, lauf weg!!“

„Fin…?“, keuchte sie schockiert. Das Mädchen wand sich wild in D` s Griff und fluchte und schrie. Persephone erwachte nur schwer aus ihrer Starre, Äneas` Reflexe waren da schneller- keine Sekunde nach dem Erscheinen der Bluthunde, stand er neben ihr und versuchte sie hinter seinen Rücken zu ziehen.

„Fin!“ Endlich war sie wieder bei vollem Bewusstsein. „Lasst sie los!“, fuhr sie die beiden an und zog ihr Schwert. Apollon entsicherte daraufhin seine Waffe und zielte.

„Verschwinde Persephone! Hades- er wird bald hier sein! Du musst Nero helfen, ich bitte dich!“, schrie Fin mit Leibeskräften und stemmte sich gegen ihren Bewacher.

Als wäre ein Blitz durch ihren Körper gefahren, stand Persephone da und starrte sie an. Hades… immer wieder echote hämmernd der Name in ihrem Kopf. Hades. Er war hier.

Hades

D verstärkte seinen Griff so stark, dass Finja schmerzvoll wimmerte und zog sie näher an sich heran. „Dich hat niemand gefragt.“, erwiderte er zähneknirschend und richtete seinen Blick wieder auf Persephone und Äneas.

Für Sekunden war es still, allein Finjas Schluchzen war leise zu hören, dann ergriff D wieder das Wort.

„Hier.“, sagte er zu Apollon und stieß Fin unsanft in seine Richtung. „Nimm sie.“

Immer noch die entsicherte Waffe in der einen, griff Apollon sie etwas umständlich mit der anderen Hand und blinzelte seinen Partner kurz verwirrt an.

„Hades wird bald hier sein und dann will ich das hier geklärt haben.“, fuhr D weiter fort und deutete hinter sich in den Gang. „Bring die Kleine zu ihm- lebend, hörst du?“, fügte er zischend hinzu und schaute seinen Partner auf eine Weise an, die jegliches Widerwort im Keim erstickte. Als Apollon zögernd Anstalten machte, mit Fin zu gehen, ging Persephone einige Schritte auf die Drei zu, gefolgt von ihrem Schatten Äneas und richtete ihr Schwert auf Apollon.

„Ich sagte: lass sie los…“

Allein die beiden Schusswaffen, die nun sowohl auf sie selbst, als auch auf Fin gerichtet waren, ließ sie in ihrer Bewegung stoppen.

„Du warst die ganze Zeit im Nachteil.“, sagte D ruhig, dann nickte er in Apollons Richtung. „Geh jetzt!“

Erschrocken schaute Persephone zu Fin, die nun unter Tränen versuchte, sich zu befreien, doch auch Apollon ließ nicht locker- im Gegenteil. Wütend biss er die Zähne aufeinander.

„Und was machst du?“

„Ich kümmere mich um die beiden. Es wird nicht lange dauern.“

„Kommt nicht in Frage!“, rief Apollon und deutete mit dem Lauf seiner Waffe nun auf Persephone. „Wenn einer das Recht hat, sie fertig zu machen, dann-“

Ich sagte, du sollst jetzt gehen!“ D` s donnernde Stimme hallte durch den leeren Raum. Wieder herrschte Stille, in der Apollon seinen Partner angriffslustig anfunkelte, doch dann gab er sich widerwillig geschlagen und räumte mit Fin im Schlepptau das Feld. Ein letztes Mal rief Fin Persephones Namen, dann war sie verschwunden.

Verzweifelt biss sich Persephone auf die Unterlippe. Verdammt. Was hatte sie nur getan? Alles schien schief zu laufen. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, einfach aufzugeben, doch dann fing sie sich wieder. Nein, das wichtigste war nun, Finja zu retten, ehe es zu spät war.

„Geh mir aus dem Weg.“, zischte sie und richtete erneut das Schwert auf D.

Der zurückgebliebene Wolf lachte nur auf und trat weiter in den Raum. Äneas neben ihr spannte jeden Muskel an, jederzeit bereit, auf ihn loszugehen.

„Glaubst du wirklich, dass ich dich so einfach davon kommen lasse? Du hast schon lange deine gerechte Strafe verdient, seit dem Zeitpunkt, an dem du Hades das erste Mal betrogen und verraten hast.“

„Wenigstens bin ich kein willenloser Sklave.“

„Nein.“, lachte D trocken und schüttelte den Kopf. „Nein, das bist du nicht- nicht mehr.“

Wütend verengte Persephone die Augen und schluckte ihre Antwort bitter hinunter. Es hatte keinen Zweck mit ihm zu diskutieren.

„Jetzt bist du nur noch ein elendes Miststück, das sich ihrer dreckigen Lust hingibt.“, raunte ihr Gegenüber hasserfüllt, hob seine Waffe an und zielte auf Persephone. „Es wird Zeit, dass du für deine Sünden büßt.“

Keine Sekunde später sprang Äneas auf D zu und stieß seinen Arm zur Seite, sodass sich die abgefeuerte Kugel in die Wand neben Persephone bohrte. Augenblicklich ließ D die Waffe fallen, konterte Äneas` Schlag mit einem gezielten Fausthieb und verwickelte den Hünen in einen Zweikampf.

Persephone zögerte kurz, riss sich dann doch von dem Spektakel los und versuchte zur Tür zu gelangen. Weit konnten Apollon und Fin noch nicht gekommen sein…

Doch dann war schon alles vorbei.

D entschied den Kampf urplötzlich für sich; er hatte es geschafft, Äneas auf Abstand zu bringen und nutzte diesen Freiraum, um Persephone den Weg zu versperren und sie zu packen. Keinen Augenblick später wurde sie mit Wucht gegen die Wand gepresst, dass ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde. D zog eine weitere Beretta unter seinem Mantel hervor und drückte sie gegen ihre Schläfe. Mit dem freien Unterarm lehnte er sich gegen ihren Hals, sodass sie würgend nach Luft rang.

„Was jetzt, Persephone?“, zischte er wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht und sah ihr mit sichtlicher Verzückung dabei zu, wie sie vergebens an seinem Arm zerrte, um sich zu befreien.

„Du wirst hier nicht lebend rauskommen, das schwör ich dir.“, fuhr er fort und jeglicher Ansatz von Vergnügen in seiner Mimik verhärtete sich zusehend und mutierte zu einer verzerrten Grimasse. Aus tränenden Augen schaute Persephone kurz an ihrem Peiniger vorbei zu Äneas, der wie aus Stein dastand und jeden Muskel anspannte, bereit, D mit bloßen Händen zu erwürgen, würde er nur einen Moment unaufmerksam genug sein, sein Opfer- Äneas` Schützling- aus den Augen zu lassen.

Der Druck auf ihren Hals nahm zu und Persephone schloss gequält die Augen. Lange hielt sie das nicht mehr aus… aber was konnte sie denn nur tun?

D` s Stimme drang, einem Echo gleich, durch ihre Gedanken.

„Du hättest Hades niemals verraten dürfen. Seit du ihn hintergangen hast, bist du nichts mehr für ihn wert. Sein Vertrauen war das Einzige, was dich geschützt hat und das hast du verspielt.“ D lachte kurz und hart auf und schüttelte den Kopf. „Ich habe sowieso nie verstanden, wie er dein falsches Spiel solange ertragen konnte, dass er deine Affären solange dulden konnte… Du gehörtest ihm, Persephone, niemandem sonst und das wusstest du!“

„Du weißt gar nichts…“, krächzte sie leise. Sah sie auf einmal so verschwommen wegen den Tränen oder zeigte der Sauerstoffmangel endlich seine Wirkung? D kam noch näher.

„Ach ja? Dann klär mich mal auf! Wie lange zettelst du diesen Putsch schon an? Seit wann planen du und Ares das hier alles? Der Dreckskerl steckt doch auch mit drin, sonst hätte er Nero wohl nicht wieder zurückgeholt. Wer ist der Drahtzieher?“ Die letzte Frage hatte er beinahe geknurrt.

Persephone biss verbittert die Zähne aufeinander. Wie zur Aufforderung, schoss D plötzlich in die Luft, sodass Persephone erstickt aufschrie und D den nun warmen Waffenlauf erneut gegen ihre Schläfe drückte und wieder entsicherte. „Ich warte…“

„…Ich.“, presste sie verspätet hervor, doch sie hatte zu lange gezögert. Wütend zog D die dunklen Brauen zusammen.

„Verarsch mich nicht! Du wärst dazu nicht in der Lage, du warst immer nur ein Werkzeug und würdest niemals auf eigene Faust handeln… Sag schon, wer ist es? Ares? Oder ein anderer deiner unzähligen Freier? Wer ist so überragend im Bett, dass du für ihn dein Leben opferst? Dass du dich für ihn gegen Hades stellst?“

Sie schwieg, schaute ihn nur mit Tränen in den Augen an und presste die Lippen aufeinander.

„Sag es!“, schrie D noch einmal, doch auch diesmal blieb die Antwort aus. Für Sekunden war es still, dann legte sich ein gefährliches Lächeln auf D` s Lippen.

„Oder vielleicht sollte ich Äneas mal zu dem Thema befragen.“

Persephones Augen weiteten sich und erschrocken starrte sie zuerst Äneas an, der sichtlich die Fäuste ballte und dann wieder zu D. Sie wusste, was er damit bezweckte und sie ahnte nichts Gutes. Ihr Herz schlug schmerzhaft schneller.

„Was sagst du dazu, Äneas? Wen darf ich dafür verantwortlich machen, dass unsere Schlampe hier untreu wurde?“, rief er ihm im bedrohlichen Plauderton zu und deutete mit dem Kinn auf die Waffe an ihrer Schläfe. „Du solltest dich mit der Antwort beeilen, mir schläft langsam der Arm ein.“

Äneas sah man das unwohle Gefühl an. Alarmiert und überfordert sah er immer wieder zwischen D und Persephone hin und her, rührte sich jedoch keinen Zentimeter. Was sollte er auch tun? Sich zu bewegen wäre in dieser Situation das Dümmste gewesen…

„Ich verliere langsam die Geduld…“, sagte D drohend. Persephone versuchte sich weiterhin Luft zu machen und zerrte an D` s Arm.

„Hör auf damit!“, zischte sie erbost. Durch das aufkommende Adrenalin waren wieder ihre Lebensgeister geweckt. Doch D ließ sich nicht beirren.

„Ich dachte, dir würde die Kleine hier was bedeuten, aber ich habe mich anscheinend geirrt…“

Hilflos stand Äneas dort, presste die Lippen aufeinander und schwieg.

„D, ich bitte dich, lass den Scheiß…“ Persephone wurde immer flehender und neue Tränen rannen ihr die Wange herunter.

„Antworte mir, Äneas!“, brüllte er und Persephone schrie fast im selben Moment zurück:

„Du weißt ganz genau, dass er dir nicht antworten kann!“

Für eine Sekunde war es totenstill und D blickte auf die verzweifelte Persephone blinzelnd herab, als verstünde er ihre Worte nicht. Dann schlich sich wieder ein Lächeln in seine Mundwinkel, seine Augen blieben jedoch von dieser Mimik gänzlich unberührt.

„Na… wenn das so ist…“

D` s Stimme war noch nicht ganz verstummt, als die Kugel der Beretta donnernd die Luft durchschnitt und sich gezielt in Äneas` Lunge bohrte.

D war dafür bekannt gewesen, innerhalb weniger Sekunden töten zu können. Das hier hatte nicht einmal eine gedauert.

„… dann habe ich auch keine Verwendung mehr für ihn.“, vollendete er seinen Satz ruhig.

Mit geweiteten Augen sah Persephone, wie Äneas, ihr ewiger Begleiter, langsam auf die Knie sank, ohne jegliche Emotion auf seine Brust herabschaute, aus der dunkelrotes Blut quoll und dann zu ihr aufsah. Äneas hatte nicht oft sein Innerstes offenbart, geschweige denn Gefühle gezeigt, doch nun las sie eindeutig Angst in seinen Augen, die jedoch keineswegs ihm selbst galt. Sie kannte ihn, sie kannte diesen Ausdruck, dieses selbstlose Gefühl, weswegen sie ihm so sehr vertraute und es gleichzeitig oft verflucht hatte. Selbst in dem Augenblick seines Todes, fürchtete er sich mehr um sie, als um sich selbst, dachte sie verbittert.

Der Blick hielt nur kurz stand, dann erlosch die flammende Angst in seinen Augen und er fiel leblos zu Boden.

In diesem Moment erwachte Persephone aus ihrem Tranceähnlichem Zustand- zu spät, wie so oft. Das einzige, was sie nun nur noch tun konnte, war schreien. Schreien und naiv hoffen, dass das Äneas` Lebensgeister ereichte.

Dumm. Sie war so dumm. Dumm und Nutzlos.

Verdammte Tränen vernebelten ihre Sicht, ihre verdammte Stimme brach nach kurzer Zeit aus Mangel an Luft ab und ihr nutzloser, schwacher Körper gehorchte ihr nicht mehr. Sie wollte atmen, doch sie holte keine Luft. Sie wollte sich befreien, doch ihre Arme hatten alle Kraft verloren. Sie wollte die Augen schließen, doch sie wollten sich nicht von Äneas` Körper trennen, aus dem weiterhin Blut rann.

Sie fühlte sich wie ein Geist, ein Wesen ohne Körper, gefangen in diesem einen Moment.

D hatte sich unbeeindruckt wieder zu ihr umgewandt und die Waffe nun an ihr Kinn gelegt.

„Wo waren wir? Ach ja:“ Warum hatten ausgerechnet ihre Ohren ihren Dienst nicht quittiert?

„Du wolltest mir etwas sagen…“

Mechanisch drehte Persephone den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Sie hatte die Worte gehört, doch ihren Sinn nicht verstanden.

Er war wegen ihr tot, hallte es durch ihren leeren Verstand, in dem es einst vor Gedanken nur so gewimmelt hatte. Wegen ihr…

Sie sah D nicht- sie starrte ihm ins Gesicht, aber sie sah ihn nicht. Sie versuchte Luft zu holen, was ihr nur schwer gelang und auf einmal umschloss sie eine wohltuende Dunkelheit. Sie erinnerte sich wage daran gehört zu haben, dass Menschen atmen mussten, um zu überleben. Wenn sie das also nicht tat, dann-

„Du willst unbedingt sterben oder?“

Wollte sie das? Warum eigentlich nicht? Äneas war wegen ihr gestorben, weil sie Zeus nicht verraten wollte. Wie dumm. War das jetzt noch wichtig gewesen?

Es war vorbei. Alles. Sie hatte erfolgreich versagt und ihren Freund getötet. War es da nicht nur gerecht, dass man sie aus dem Spiel des Lebens nahm? Foul. Platzverweis…

Die rote Karte vernahm sie in Form des klickenden Geräuschs, als D die Waffe entsicherte. Er würde sie wohl schneller erlösen, als die Folgen der ausbleibenden Luft.

Und der Tod kam. Urplötzlich und unglaublich laut.

D löste den Griff um Persephones Hals und lies sie kraftlos zu Boden sinken. Er selbst stolperte ein paar Schritte rückwärts und ließ die Waffe, die er in der Hand hielt, ebenfalls scheppernd fallen. Er hustete und aus seinen Mundwinkeln rann plötzlich Blut. Seine Beine knickten ein und mit einem ungläubigen Blick fiel er mit dem Gesicht auf die kalten Steine.

Auf einmal erinnerten sich Persephones Lungen wieder an ihre Aufgabe und holten schmerzhaft Luft. Vier, Fünf Atemzüge saß sie nur da, versuchte gegen die Bewusstlosigkeit anzukämpfen und starrte auf D, dessen Rücken sich rot färbte.

Dann fiel ihr Blick auf Äneas- und ihr Herz setzte erneut aus.

Kraftlos ließ Äneas die Waffe, die er D ganz zu Anfang aus der Hand geschlagen hatte, sinken, rang nach Atem und schaute sie immer noch besorgt an.

Er lebte. Er lebte tatsächlich…

So schnell sie konnte, krabbelte sie zu ihm hin und half ihm, sich auf den Rücken zu drehen, nur um ihrer aufkommenden Euphorie und wiederkehrenden Lebenskraft einen erneuten Schlag zu versetzen. Unter Tränen sah sie ihm in die glasigen Augen, sah die Schweißperlen auf seiner Stirn und das Blut, das bei jedem quälendem Heben der Brust aus seiner Wunde trat.

Er lebte nicht. Er starb auch nicht mehr- sein Herz hatte sich nur noch nicht damit abgefunden, dass es verloren hatte.

Vorsichtig nahm sie seine rechte Hand in ihre eigenen und drückte einen Kuss auf dessen rauen Handrücken. Seine Finger fuhren zittrig über ihre Wange, wischten ein paar Tränen weg, strichen durch ihr Haar. Persephones Finger schlossen sich fester um seine Pranke.

„Danke…“, ihre Stimme war so schwach, dass sie sich nicht sicher war, ob er es gehört hatte.

Er lächelte, sein Blick hellte ein letztes Mal auf, dann schlossen sich seine Lider endgültig.

Sein Herz hatte aufgegeben.

Der zweite Gott

Ares` ausgreifende Schritte nahmen gleich drei Stufen auf einmal.

Fünfter Stock, hallte es durch seine Gedanken, fünfter Stock, warum musste dieser verdammte Stromkasten so weit oben liegen?!

Seit er die Schüsse gehört hatte, schlug sein Herz noch schneller und härter, sodass er befürchtete, dass es ihm spätestens im vierten Stock aus der Brust sprang.

Er hatte also Recht gehabt- sie war in Gefahr…

Wie konnte er auch nur damals der Idee dieser Wahnsinnigen zustimmen, dass sie sich aufteilten?

Vor sich hinfluchend kam Ares nach einer Ewigkeit im richtigen Stockwerk an, hastete durch die leeren Gänge- und wäre beinahe an ihr vorbeigelaufen.

Stolpernd bremste er ab, lief das Stück zurück und blieb erstarrt im Türrahmen stehen.

Kore kniete auf dem Boden, den Kopf gesenkt, vor ihr lag Äneas, blutüberströmt.

Ares brauchte einige Sekunden, um die Situation zu verstehen und fluchte innerlich.

Lass ihn noch am leben sein, flehte er irgendeine höhere Instanz im Himmel an und trat auf die beiden zu. Aus den Augenwinkeln sah er noch eine weitere Person am Boden liegen- wenn er sich nicht täuschte war das dort D…

„Kore, was ist hier passiert?“

Sie reagierte nicht. Ihr Blick ruhte weiterhin auf ihrem Partner, dem sie apathisch über den Handrücken fuhr. Ares kniete sich vor ihr hin. Jetzt, aus der Nähe betrachtet, war er sich sicher, dass Äneas nicht mehr lebte. Innerlich verkrampfte sich alles in ihm und er schloss die Augen, um sich kurz der Trauer hinzugeben. Tief einatmend öffnete er sie nach ein paar Momenten wieder und umschloss Kores linke Schulter mit seiner Hand.

„Kore!“, sagte er etwas schärfer und tatsächlich hob sie den Kopf. Mit verweinten Augen starrte sie ihn an, als wisse sie nicht, wer vor ihr stand. Nur langsam schien sie sich wieder zu erinnern und lies Äneas` Hand los, um nach Ares` ausgestrecktem Arm zu greifen.

„Was machst du hier?“, flüsterte sie kraftlos. „Du solltest bei Nero sein.“

Ares schüttelte den Kopf. „Der kommt schon klar.“, erwiderte er, ergriff nun auch ihre andere Schulter und zog sie mit sich in die Höhe. „Wichtiger ist, was hier passiert ist.“ Er nickte zu D` s Leiche, die in der anderen Ecke des Raumes lag. „Dieser Köter ist nie alleine unterwegs- wo ist sein Partner, weißt du das?“

Kore nickte erst schwach, dann sog sie auf einmal schnell die Luft ein und blickte ihn erschrocken an. „Fin!“, hauchte sie. „Er hat Fin mitgenommen. Apollon will sie zu Hades bringen…“

Ares` Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Hades ist hier?“

Wieder nickte sie. Er seufzte. Das war gar nicht gut …

Kurz überlegte er, dann zog er sein Handy aus der Hosentasche und drückte es Kore in die Hand. „Höre mir jetzt gut zu! Ich will, dass du das Gebäude verlässt und Zeus anrufst. Erzähl ihm, was los ist und bitte um Verstärkung.“

Sie antwortete ihm nicht, schaute nur an ihm vorbei auf Äneas` Leiche. Ares folgte ihrem Blick und schüttelte sie kurz und hart an den Schultern.

„Du kannst nichts mehr für ihn tun, Kore! Ich bitte dich, rette dich selber und tu, was ich dir gesagt habe!“ In seiner Stimmer schwang eine ungewohnte Hilflosigkeit mit, die ihn fast selbst überraschte. Gott, soweit hatte sie ihn schon gebracht!

Kore sah ihn immer noch nicht an. „Das hat doch alles keinen Sinn mehr…“, flüsterte sie.

Ehe sie weiter sprechen konnte, nahm Ares ihr Gesicht in beide Hände und drückte einen Kuss auf ihre salzig schmeckenden Lippen. Warum er das getan hatte, wusste er später selbst nicht mehr und wenn man ihn drauf angesprochen hätte, wäre man wohl um einen Kopf kürzer gewesen.

Der Kuss war nicht lange oder intensiv, dennoch hatte er ausgereicht, Persephones ganzen Körper zu elektrisieren. Blinzelnd schaute sie zu ihm hoch.

„Wir sind soweit gekommen, Kore, wir können nicht mehr zurück. Nein-“, verbesserte er sich kopfschüttelnd. „Nein, ich kann nicht zurück. Du hast alles gegeben und deinen Teil des Planes erfüllt. Aber ich habe noch etwas zu erledigen. Ich werde das hier durchziehen und ich werde dafür sorgen, dass dieser Albtraum bald zu Ende ist. Judgement wird gelöscht werden!“

Er unterbrach sich kurz und verzog das Gesicht zu einem Lächeln. „Aber zuerst sollte ich mich um Fin kümmern, hm? Wenn Nero rausfindet, dass seinem Schatz etwas zugestoßen ist, muss ich mich mehr vor ihm fürchten, als vor Hades oder der Regierung.“

Neue Tränen quollen aus ihren dunkeln Augen und benetzten Ares` raue Hände, die ihr Gesicht immer noch umschlossen.

„Sei vorsichtig…“, erwiderte sie leise und erstickt.

„Mach ich.“, sagte Ares und küsste sanft ihre Stirn. „Bitte geh jetzt und bring dich in Sicherheit. Warte auf mich draußen, ich komme sofort zu dir, wenn ich hier fertig bin.“ Er zögerte einige Sekunden, dann fügte er leise hinzu: „Lass mich nicht zurück kommen und eine weitere Leiche hier vorfinden. Tu` mir das nicht an.“

Kore schüttelte schluchzend den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, dann drehte sich Ares um und verließ den Raum.
 

Schweigend sah Persephone ihm nach. Sie fühlte sich komisch. In ihr tobte ein Sturm aus Gefühlen und Gedanken, den sie nicht zu ordnen wusste. Sie fühlte sich in dem einem Moment, in dem sie an Ares dachte, ungewöhnlich geborgen und erleichtert und im nächsten Moment stürzte sie in ihre melancholische Depression zurück, sodass alle Glücksgefühle und Hoffnungsschimmer weggespült wurden.

Persephone kniete sich wieder vor Äneas nieder und sofort flossen die Tränen. Es war lächerlich. Ares hatte Recht gehabt- sie konnte nichts mehr für ihn tun, außer auf ihr eigenes Leben aufzupassen, damit er nicht umsonst gestorben war. Sie strich ihm über seine kalt gewordene Wange und wischte einige verklebte Strähnen von der Stirn. Sie würde zurückkommen und Äneas holen. Egal was komme.

Ein röchelndes Lachen ertönte in ihrem Rücken, sodass sie erschrocken herumfuhr.

Quälend langsam drehte sich D auf den Rücken und lachte leise weiter. Eine tiefe und unbeschreiblich animalische Wut stieg in Persephone auf.

„Ich glaub es nicht.“, hauchte D schwach und kaum hörbar, dennoch war der Hass in seiner Stimme deutlich zu vernehmen. „Die Hure weint um ihren toten Freier und lässt sich von dem nächsten trösten…“

Persephone schaute ihn einige Sekunden lang stumm an, dann stand sie auf und sah sich in dem leeren Raum um. Irgendwo musste es doch liegen…

Unbeirrt sprach D weiter. „Weißt du, ich habe ja gewusst, dass du was mit diesem Verräter Ares hattest- aber Äneas? Das überrascht mich wirklich. Ich ahnte schon, dass du nicht sehr wählerisch bist, aber dieser Krüppel war nicht die beste Wahl, wenn du mich fragst.“

Persephone hatte gefunden, was sie gesucht hatte. Langsam ging sie zurück an die Stelle, wo der Stromkasten hang und hob ihr Schwert auf.

„Und dann weinst du auch noch so bitterlich um ihn.“, fuhr er im gekünstelten Mitleidston fort. „Muss ja nen Gott im Bett gewesen sein.“

Sie ging auf D zu und setzte sich rittlings auf ihn. Nun brach sie ihr Schweigen und lächelte auf ihn herab.

„Nein, D, ich muss dich enttäuschen.“, antwortete sie und setzte die Schwertspitze auf D` s Brust und drückte sie einige Zentimeter ins Fleisch rein, sodass er stöhnend das Gesicht verzog. „Aber ich will dir den Grund nennen.“, fuhr sie zischend fort und drückte die Klinge noch tiefer. Allmählich gelang die Wut an die Oberfläche. „Im Gegensatz zu euch Marionetten weiß ich, wer ich bin… wer ich war, bevor man mich zu diesem Leben hier verdammte.“

Wieder dieses hässliche Lachen. „Ich schlottere vor Angst. Was nützt es dir? Damit belastest du dich nur selber und es wird nichts an dem Hier und Jetzt ändern. Du bist und bleibst ein Drecksstück.“, spie D krächzend aus und spuckte ihr ins Gesicht. Blutverschmiert bleckte er die Zähne. Persephone hob langsam das Schwert über ihren Kopf.

„Hör mir zu, denn du wirst es nur einmal hören:“, sagte sie ruhig und spannte sich an. „Mein Name ist Izumi Kato und Äneas war mein Bruder, Toshihiro Kato.“

Keine Sekunde später schnellte ihr Schwert auf D herab, dessen Mund sich gerade geöffnet hatte, um Luft zu holen. Das dreckige Lachen brach in dem Moment ab, als die eisblaue Klinge seine Lunge durchstach.

Das letzte was D, treuster Diener von Hades und sein bester Scharfschütze, sah, waren zwei vom Hass glühende Pupillen, eingerahmt in einem Meer von Blut und versiegten Tränen.
 

Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Seit Stunden, so kam es mir vor, stolperte ich blind durch die endlosen Gänge der unterirdischen Hölle. Ging ich nicht schnell genug, folgte ein schmerzender Ruck an meinem Arm, immer wieder flackerte Licht durch den Schleier von Tränen, doch die meiste Zeit hielt ich meine Augen geschlossen und hoffte, dass es bald vorbei sein würde.

Plötzlich blieb Apollon vor einer Tür stehen und stieß diese auf. Der Raum dahinter war stockfinster. Ein erneuter Ruck beförderte mich hinein und kraftlos fiel ich zu Boden. Schluchzend blieb ich liegen und rang nach Atem. Apollon blieb im Türrahmen stehen und schaltete das Licht einer flackernden Deckenlampe an, welche kalt und abweisend den Raum erleuchtete. Ein altes und rostiges Bett stand in der einen Ecke, in einer anderen erkannte ich ein vergilbtes Waschbecken neben einem Schrank aus Metall, der ebenfalls etliche Rostflecken vorwies. Alles hier erinnerte mich an eine typische Gefängniszelle, wie man sie in Filmen immer sah.

Langsam stemmte ich mich in die Höhe, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und suchte mit den Augen nach Apollon. Zu meinem eigenen Entsetzen, stand er direkt hinter mir und schaute mich lächelnd an. Erschrocken wich vor ihm zurück, doch er trat sofort wieder auf mich zu.

„Du solltest mich doch zu Hades bringen oder?“, brachte ich hervor und ging weiter zurück. Mein Herz hämmerte so laut, dass es fast meinen keuchenden Atem übertönte. Apollon zuckte gelangweilt mit den Schultern.

„Der wird hier irgendwann schon vorbeikommen. Aber bis dahin-“, fügte er hinzu, griff nach meinem Handgelenk und zog mich an ihn heran. „- können wir uns ja ein wenig unterhalten, hm? Vielleicht beginnen wir damit, dass du dich bei mir entschuldigst. Dein Schlag von neulich hat nämlich sehr wehgetan.“

Und wie zur Demonstration drückte er mein Handgelenk so stark, dass ich aufschreiend zusammensank und an seinem Arm zog, doch der schraubstockänliche Griff löste sich keinen Millimeter. Stattdessen packte er mich mit der anderen Hand an der Schulter und zog mich wieder in die Höhe.

„Weißt du, eigentlich müsste ich dich für diese Frechheit umbringen, aber leider habe ich eine Schwäche für schlagfertige Frauen.“ Er strich mir meine Haare hinters Ohr und ich erzitterte unter seiner Berührung. Mein Herz schlug noch schneller.

„Du hast doch gehört, was dir dein Partner befohlen hat- mir soll nichts passieren!“, sagte ich schnell und hoffte, dass das Apollon abhalten würde, allerdings erzielte ich nur das Gegenteil. Urplötzlich verhärtete sich sein Gesicht, das Lächeln verschwand und mit einer ungeheuren Kraft stieß er mich von sich und ließ eine schallende Ohrfeige folgen. Ich biss mir auf die Zunge, schmeckte Blut und hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Einen Augenblick später hatte er mich wieder gepackt und zog mich von den Füßen.

D befiehlt mir gar nichts! Mir ist scheißegal, was der Idiot zu sagen hat!“, schrie er, dann verstummte Apollon kurz und fügte grinsend hinzu: „Außerdem hat er nicht gesagt, dass dir nichts passieren soll, sondern lediglich, dass du lebend bei Hades ankommen sollst- und ich kann dir versichern: du wirst leben- oder so was in der Art…“

Mein Herz setzte aus, als Apollons Hand plötzlich unter mein Shirt fuhr, anfing meine Taille und meinen Bauch zu ertasten und schnell höher wanderte. Ich hatte kein Gefühl mehr in den Beinen, spürte die Kraft aus ihnen entweichen und erzitterte unter jeder Berührung seiner neugierigen Finger.

„Bitte…“ Meine Stimme war nicht ansatzweise so kräftig oder überzeugend, wie ich es mir erhofft hatte. Zumindest schien sie Apollon kurz aufzuhalten. Seine Hand stoppte für einen Moment und er zauberte wieder sein süßes Jungenlächeln auf seine Lippen.

„Du brauchst keine Angst zu haben, denn du hast Glück, dass ich dich hübsch finde.“, säuselte er und begann mit mir rückwärts zu gehen, bis ich eine kalte Betonwand im Rücken spürte. Ich konnte nicht atmen.

„Du bist viel zu niedlich für diesen Nero…“, seufzte er und drückte sich näher an mich. Seine Hand, die zuvor mein Handgelenk umschlossen hatte, fuhr mir nun vorsichtig über die Wange und wischte meine Tränen weg. Mitleidig schüttelte er den Kopf.

„Selbst traurig siehst du schön aus. Aber weißt du, was dich noch schöner aussehen ließe? Ein Lächeln…“, fügte er grinsend hinzu und zog mir mit den Fingern meinen linken Mundwinkel hoch. „Würdest du mir diesen Gefallen tun? Würdest du einmal für mich lächeln?“

In diesem Moment überwand ich meinen Schock. Ruckartig drehte ich den Kopf weg und funkelte ihn an. „Eher würde ich sterben!“, zischte ich lebensmüde. Sofort verfinsterte sich Apollons Gesichtsausdruck wieder und er legte seine Hand locker um meinen Hals- die Botschaft war allerdings sehr deutlich.

„Du solltest vorsichtig mit dem sein, was du sagst- ich könnte es wörtlich nehmen.“, erwiderte er ruhig und betrachtete dabei seine Hand an meinem Hals, dann fixierten seine Augen wieder mich. „Komm schon- nur einmal. Ein Lächeln, eins, dass du diesem Hurensohn schenken würdest…“

Verbittert presste ich die Lippen aufeinander. Ich saß fest. Apollon hatte mich mit seinem Körper eingekeilt und nichts war in meiner Reichweite, womit ich mich hätte wehren können. Für seinen Geschmack schien ich zu lange zu zögern, denn auf einmal verfinsterte sich sein Gesicht erneut, seine Hand um meinen Hals packte plötzlich fester zu und mit der anderen holte er aus. Erschrocken kniff ich die Augen zusammen.

„Schau in den Spiegel, vielleicht bleckt der ja für dich die Beißerchen… “, brummte jemand hinter Apollon auf einmal.

Die Stimme kam so plötzlich, dass Apollon inne hielt und sich ungläubig umdrehte- um gleich darauf Ares` Faust im Gesicht zu haben, dessen Schlag Apollon bewusstlos zu Boden schleuderte.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich den Hünen an, der sich erst vergewisserte, dass sein Schlag tatsächlich die gewünschte Wirkung gezeigt hatte und dann auf mich zukam, um mir aufzuhelfen.

„Alles ok?“, fragte er und hielt mich zur Sicherheit noch an den Schultern fest, wofür ich ihm sehr dankbar war. Meine Beine waren Wackelpudding und mein Herz kurz vorm kollabieren.

Ich nickte, Sprechen traute ich mir nicht zu.

„Gut.“, sagte mein Gegenüber und sah mir tiefer in die Augen. „Verschwinde jetzt von hier.“

„Was ist mit Nero?“, fragte ich heiser. „Wo ist er? Geht es-“

Mit einer herrischen Handbewegung schnitt mir Ares das Wort ab. „Nero ist in Ordnung, aber das hat dich jetzt nicht zu interessieren.“ Wütend wollte ich protestieren, doch wieder kam er mir zuvor. „Es ist hier zu gefährlich, verstehst du? Du tust ihm damit keinen Gefallen, wenn du jetzt nach ihm suchen würdest. Draußen wartet Kore, geh zu ihr!“

Diesmal war ich schneller. „Kommt nicht in Frage! Er ist alleine und Hades ist hier irgendwo. Ich werde nicht ohne ihn gehen!“

Ich merkte, wie Ares immer ungeduldiger und wütender wurde, doch auch ich kam nun in Fahrt.

„Ich habe keine Zeit für deine Frauen-Power-Parolen! Du wirst jetzt deinen Hintern hier rausbefördern und das tun, was du am besten kannst: draußen warten und dich verstecken…“

Ich lachte trocken und deutete in Richtung Tür. „Ja, das hat ja bestens geklappt mit dem Verstecken!“, rief ich bissig zurück.

Ares wollte gerade kontern, als ich in den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm.

„Pass auf!“, schrie ich entsetzt. Keine Sekunde später packte mich Ares wieder an den Schultern, warf mich in eine andere Ecke, um darauf aus seiner Drehbewegung heraus seine zu Fäusten geballten Hände vor das Gesicht zu heben und damit Apollons Schlag abzufangen. Stolpernd kam ich zum Stehen und schaute dem Kampf mit wild schlagendem Herzen zu. Ich hatte Ares schon einmal kämpfen gesehen- damals, als mein Wohnzimmer dabei draufgegangen war- doch das war nichts im Vergleich zu dem, was sich mir jetzt bot…

Seine Bewegungen waren nun viel schneller und präziser gezielt, als gegen Nero. Mir wurde auf einmal bewusst, dass Ares das Geplänkel von vor ein paar Tagen nicht besonders ernst genommen zu haben schien- und obwohl ich schon damals geglaubt habe, dass dieser Mann in Gefahrensituationen gnadenlos töten würde, hatte ich nun das Gefühl einem anderen Ares gegenüber zu stehen; einem stärkeren, rücksichtslosen Killer…

Als Ares Apollons Fäuste zu packen bekam, drehte er sich zähneknirschend zu mir um und rief mir entgegen: „Geh jetzt!“

Ich zögerte und sah ihn besorgt an. „Aber… Nero-“

„GEH!“, donnerte er noch einmal.

Zu mehr reichte es nicht. Apollon hatte sich wieder befreit und griff sofort, von einem wütenden Schrei begleitet, an. Das eine Wort hatte jedoch ausgereicht, meinen Körper zum erzittern zu bringen, sodass ich zusammenzuckte. Vorsichtig nickte ich, dann drehte ich mich auf dem Absatz um und lief aus dem Raum.

Ich fand mich auf einem langen Gang wieder, der links und rechts von mir unendlich lang weiter zu gehen schien. Ich meinte mich zu erinnern, dass Apollon und ich von links gekommen waren. Kurz holte ich Luft, dann lief ich los.

Der Gang machte irgendwann einen Knick, dann stand ich vor einer Kreuzung. Jeder Gang glich dem anderen und überall waren Türen in dem kalten Gemäuer zu erkennen. Frustriert schlug ich den Rechten ein, nur um mich nach kurzer Zeit wieder vor einer Kreuzung wieder zu finden. Ich hätte schreien können…

Ich bog um die linke Ecke- und blieb wie angewurzelt stehen.

In drei Meter Entfernung war ein Mann aufgetaucht, eingehüllt in einen schwarzen Mantel mit weißem Haar und den kältesten Augen, die ich je gesehen hatte.

Er brauchte sich nicht vorzustellen, seine ganze Erscheinung war so autoritär und beängstigend, dass nur ein Name würdig genug war, von ihm getragen zu werden.

Ich stand dem Gott der Unterwelt gegenüber…

Eckstein, Eckstein

Ich konnte nicht atmen. Mein Herz raste in meiner Brust, verlangte nach Sauerstoff, doch das interessierte meine Lungen nicht.

In Hades` Gesicht entdeckte ich keinen Funken von Überraschung oder Erstaunen; seine Augen sahen mich mit einer gefährlich wirkenden Neugier an und um seinen Mund entstanden Lachfältchen.

„Wen haben wir denn hier? Hast du dich verlaufen?“ Hades hatte jegliche Emotion aus seiner Stimme verbannt, sodass sie mich an einen Roboter erinnerte.

Ich stolperte ein paar Schritte rückwärts und holte stockend und leise Luft, Angst, von ihm gehört zu werden. Sein Grinsen verschwand wieder.

„Du gehörst zu Nero, habe ich Recht? Wie unklug von ihm, dich allein zu lassen. Man weiß nie, wer einem so über den Weg läuft…“

Lauf! , rief eine Stimme in meinem Kopf, die mich stark an Nero erinnerte. Egal, was er vorhat, warte nicht ab, bis er es tut!

Ich gehorchte- jedoch zu spät. Schnell, viel schneller als D oder Apollon, zog Hades eine Waffe unter seinem Mantel hervor und zielte. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte den Gang hinab.

Doch der erwartete Schuss kam nicht- noch nicht…

Meine Schritte hallten an den weißen Wänden wider, darunter vermischt waren seine eigenen dumpf und monoton zu hören. Er verfolgte mich, doch der Schuss blieb immer noch aus und die Anspannung zerriss mich. Der Gang schien nicht zu enden, hinter mir zielte er mit einer Waffe auf mich und ich konnte nichts anderes tun, als zu laufen.

Hades spielte mit mir, das wurde mir schmerzhaft bewusst…

Endlich tauchte ein weiterer Gang rechts von mir auf- und beinahe im selben Moment hörte ich das leise Klicken, das entstand, wenn eine Waffe entsichert wurde und für das ich so sensibel geworden bin. Alles zog sich in mir zusammen. Lauf weg!

Mit einem Satz sprang ich nach rechts in den Abzweig und keine Sekunde später folgte der Schuss, der nur wenige Zentimeter hinter mir ein weintraubengroßes Loch im Beton der Wand hinterließ.

Ich stoppte nicht, ich sah mich nicht um, ich rannte weiter, angetrieben von Neros Stimme in meinem Kopf. Hades` stoische Schritte waren immer noch zu hören und Panik stieg in mir hoch. Ziellos rannte ich um die Ecken, nicht darüber nachdenkend, ob ich jemals irgendwo den Ausgang finden würde.

Türen waren wieder neben mir in dem halbdunklen Gang, durch den ich nun lief, aufgetaucht und es flammte ein Gedanke in mir auf.

Das ist wahnsinnig, zischte Neros Stimme, doch welche andere Möglichkeit hätte ich denn sonst gehabt? Ich zog die Luft mittlerweile nur noch keuchend ein, sodass Hades mich über Kilometer hinweg gehört hätte und mein ganzer Körper tat weh. Ich war am Ende.

Eine Chance, raunte Nero, du hast eine Chance, um dich zu entscheiden, für mehr wird die Zeit nicht reichen…

Ich nickte, blieb stehen und riss an der Klinke der Tür, die mir am nächsten stand.

Sie ging auf.

Ich stürzte hinein und schloss von innen so leise wie möglich ab. Der Raum war dunkel, nur durch ein kleines Fenster in der Tür fiel spärlich Licht hinein. Von draußen hallten Hades` Schritte an mein Ohr und ich trat erschrocken von der Tür weg und stellte mich neben sie, sodass man mich von draußen nicht sehen konnte.

Bitte, flehte ich, bitte lass ihn nichts gesehen oder gehört haben…

Das Echo wurde lauter und ich hielt den Atem an, sah zur Decke in der Dunkelheit und versuchte nicht zu zittern.

Bitte…

Stunden- so kam es mir vor- vergingen, bis seine Schritte leiser wurden.

Alle Anspannung fiel von mir ab und ich wagte es, wieder Luft zu holen. Erleichtert fuhr ich mir durchs Haar, lehnte mich erschöpft gegen die Wand-

und plötzlich war es Taghell.

Ich hatte den Schalter in meinem Rücken nicht bemerkt und jetzt war es zu spät. Mit aufgerissenen Augen starrte ich die gegenüberliegende Wand an und hörte meinen Puls so schnell schlagen, als wolle er einen neuen Rekord aufstellen.

Nein!

Es war beinahe unmöglich, dass Hades das Licht, das durch das kleine Fenster in den fast dunklen Korridor fiel, nicht gesehen hat.

Und keine Sekunde darauf donnerte ein Schlag auf der anderen Seite gegen die Tür, sodass sie leicht zitterte. Erschrocken stolperte ich ein paar Schritte rückwärts. Noch ein paar dieser Stöße und die Tür würde nachgeben…

Verzweifelt sah ich mich in dem Raum um und sofort wurde mir klar, dass ich in der Falle saß. Der Raum hatte – natürlich- keine Fenster, mir gegenüber erkannte ich lediglich eine veralterte Version eines Schaltpultes und dahinter eine verdunkelte Glasfront. Daneben stand eine Tür wenige Zentimeter offen- es war zwar offensichtlich… aber vielleicht fand ich hinter dieser Tür eine Möglichkeit-

Ein erneuter Tritt gegen die Metalltür in meinem Rücken ließ mich erstickt zusammenzucken.

Du hast keine Zeit mehr groß zu überlegen, rief mein gehetzter Instinkt und trieb mich durch den Raum, der, wie alles hier, durch das kalte Neonlicht krank und abweisend wirkte.

Ich lief zu der hohen, in weiß gestrichenen Tür, auf der das gelbe Symbol für Starkstrom beinahe unangenehm hervorstach und die Eintönigkeit des Raumes störte, umfasste die Klinke und zog sie auf.

Dieses Zimmer erinnerte mich an einen Behandlungsraum beim Zahnarzt: an den Seiten standen Schränke aus Aluminium mit eingebautem Waschbecken, an der Wand hangen zwei weiße Kittel und eine große Lampe stand neben dem Behandlungsstuhl- der jedoch keiner war…

Zuerst dachte ich, dass es sich um einen elektrischen Stuhl handelte- vielleicht war es auch einer mal gewesen, vielleicht funktionierte er auch auf dieselbe Weise. Nur hier- in dieser Welt- benutzte man ihn in erster Linie nicht zum Töten, sondern zum Vergessen- aber wo lag da bei Olymp schon der Unterschied?

Und je länger ich Memoria anstarrte- die linke Hand immer noch am Türgriff- desto deutlicher wurde mein Bild, das ich dabei empfand. Ich konnte Nero erkennen wie er auf dem Stuhl saß, Hände und Füße mit Schlaufen festgebunden, ein Lederband um den Kopf gewickelt, an dessen Seiten auf Höhe der Schläfen die Kontakte für die Kabel angebracht wurden, die sich schmerzhaft durch die Haut bohrten.

Ich sah seinen zuckenden Körper und hörte die gequälten Schreie, hervorgerufen durch den Strom, der durch seinen Körper getrieben wurde …

Tränen rannen meine Wange hinab und gleichzeitig verspürte ich tiefen Hass- Hass auf Hades, Hass auf Zeus, Hass auf alle, die jemals auf die Idee gekommen waren, einen Menschen auf so eine perverse Art zu quälen.

Hades` letzten vergeblichen Versuch, die Tür mit der Schulter einzureißen, bekam ich nur am Rande mit- die Pistolenschüsse, die darauf folgten, waren umso deutlicher. Erschrocken schaute ich zurück, dann lief ich mit großem Widerwillen in das „Behandlungszimmer“.

Mein Problem war damit allerdings immer noch nicht gelöst: ich musste hier rauskommen- und zwar lebend! Aber wie? Ich saß in einer Sackgasse und konnte mich nicht einmal wehren…

Die Schränke, hallte plötzlich Neros Stimme wieder durch meinen Verstand, vielleicht findest du dort etwas.

Hastig folgte ich seiner- oder meiner? – Aufforderung und riss nach einander die Schubladen auf. Doch meine Hoffnungen wurden nach nur wenigen Sekunden wieder zerschlagen.

In den Schubladen befanden sich nichts anderes als Tuben mit Gel, Holzstäbchen und kleine Flaschen- und Spritzen… dutzende von verpackten Spritzen.

Ich hätte aufschreien können, das einzige, was mich daran hinderte, war das Geräusch einer aufspringenden Tür, die gegen ihre rückseitige Wand gepfeffert wurde. Alarmiert schaute ich mich um, doch Hades war- noch nicht- zu sehen.

Nun mach schon! , rief mir Nero zu und panisch griff ich nach einer der Spritzen.

Besser als gar nichts…

Schnell sah ich mich um und sprang dann einen Augenblick, bevor Hades das Zimmer betrat, hinter Memoria. Kauernd hockte ich hinter der Lehne und lauschte den schweren Schritten.

„Scheinst auf Versteckspielchen zu stehen, was, Mädchen?“, brummte Hades und ich hörte, wie er seine Waffe neu entsicherte. Sein Schatten tauchte auf einmal links von mir auf dem gekachelten Fußboden auf. „Nun, dumm für dich, dass ich solche Spiele schon als Kind gehasst habe.“

Sein Schatten wurde größer und seine Schritte immer lauter. Panisch umklammerte ich die jämmerliche Spritze. Ich war mir sicher, dass er mich sah- er hätte blind sein müssen, um mich nicht zu sehen… zu hoffen, dass er mich nicht finden würde, war also lächerlich.

Ich spannte jeden Muskel in meinem Körper an. Ich musste schnell sein, um eine Chance gegen ihn zu haben. Noch zwei, vielleicht drei Schritte, dann würde er neben mir stehen.

„Komm schon, du kleine Göre, ich verliere langsam die Geduld!“, donnerte seine Stimme durch den Raum und im selben Moment trat sein Bein in mein Blickfeld.

Jetzt! Jetzt oder du bist tot!

Alle Kraft zusammennehmend, sprang ich in die Höhe und holte mit der Spritze aus. Ich hätte sie nie durch seine Kleidung, geschweige denn durch seinen Mantel stechen können, was also blieb mir dann noch …?

Meine Gedanken rasten und einem Instinkt folgend zielte ich auf Hades` Gesicht. Der Überraschungsmoment war geglückt, sodass Hades mich einen Bruchteil einer Sekunde lang entsetzt anstarrte, jedoch fing er sich unglaublich schnell und versuchte einen Augenblick, bevor die Spritze seine Wange durchstochen hätte, seinen Kopf nach hinten zu reißen. Er wich ihr tatsächlich aus, doch statt sein Gesicht traf ich eine andere empfindliche Stelle: Mit voller Wucht bohrte sich das dünne Metall in Hades` Halsbeuge oberhalb des Schlüsselbeins.

Der Mann schrie auf und tastete mit der freien Hand nach der Spritze, doch das bekam ich alles kaum mit.

Ich rannte an ihm vorbei, die Treppen hoch und schlug die Tür hinter mir zu. Gedämpft hörte ich Hades schreien, jedoch bezweifelte ich, dass die Spritze so starke Schmerzen verursachte. Ich konnte deutlich die Wut in seiner Stimme hören.

Keuchend rannte ich durch die etlichen Flure, bog hier und da ab und hoffte, dem Mann endlich entkommen zu sein. Ich drehte mich nicht um, um nachzusehen- die Angst, sein vom Hass verzerrtes Gesicht zu erblicken, war zu groß.

Ich wusste nicht wie, aber irgendwann entdeckte ich eine Treppe, die nach oben führte. Hätte ich genügend Luft in diesem Moment besessen, hätte ich vor Erleichterung aufgeatmet. Ich blieb kurz stehen und schnappte nach Luft. Gleich würde es vorbei sein, gleich-

Der Knall schien von überall gleichzeitig her zu kommen, dann spürte ich einen Luftzug an meiner linken Wange und beinahe im selben Augenblick klaffte ein Einschussloch in der Wand vor mir.

Erschrocken drehte ich mich um und riss die Augen auf.

Hades` Gesicht war vor Wut entstellt, eine Ader pochte an seiner unverbrannten Schläfe und ein winziges Rinnsal Blut bahnte sich einen Weg sein Schlüsselbein hinunter, bis es dann unter seinem schwarzen Hemd verschwand. Seine hellen Augen glühten vor Hass und allein diese Augen hätten schon ausgereicht, jemanden zu töten.

Ich verschwendete keinen weiteren Augenblick, riss mich vom Anblick dieser Maske des Todes los und lief die Treppen hoch. Ein weiterer Schuss folgte, der jedoch viel schlechter gezielt war, als der davor.

„Bleib stehen, Miststück!“, keifte Hades von unten und seine Stimme trieb mich zu einem höheren Tempo an. Ich musste den Ausgang erreichen, musste raus aus dieser Hölle, vielleicht hatte ich dann eine gewisse Überlebenschance…

Meine Schritte echoten lauter und mehrstimmiger, als ich den oberen Treppenabsatz erreicht hatte und wieder in dem Halbdunkel des Parkdecks stand. Lauf weiter! Weiter!

Und das tat ich. Der Ausgang war auf den ersten Blick schwer zu sehen, aber ich konnte den Schein der Laternen und Leuchtreklamen, die von außen hineinschienen, erahnen. Nur noch ein paar Meter …!

Ein peitschender Knall, dann war alles vorbei.

Ich spürte nicht, wie sich die Kugel durch mein Bein bohrte, ich fühlte nicht einmal Schmerzen- wahrscheinlich war mein Köper so voll gepumpt mit Adrenalin, dass er so etwas banales, wie einen Schuss gar nicht mehr wahrnahm.

Erst als mein Bein unter meinem Gewicht nachgab und ich auf den Boden aufschlug, durchlief mich ein stechender Schmerz, als rammte mir jemand einen heißen Eisenstab durch die Glieder. Ich schrie auf und umfasste meinen rechten Oberschenkel, von dem der Schmerz ausging. Warmes Blut tränkte meine Jeans und klebte an meinen Händen. Ich versuchte aufzustehen, doch ich schaffte es nicht einmal, mein rechtes Bein unter meinen Körper zu ziehen. Verbittert biss ich die Zähne aufeinander und unterdrückte ein Wimmern.

„So wie` s aussieht und sich anhört, habe ich getroffen.“ Seine Schritte hallten durch das Parkdeck und vermischten sich mit meinem und seinen keuchenden Atem. Meine Instinkte meldeten sich plötzlich wieder und ich versuchte, weiter zum Ausgang zu kriechen. Stöhnend zog ich meinen Körper über den rauen Boden, ohne dabei mein verletztes Bein zu belasten, doch ich kam nicht sehr weit. Nach wenigen Metern hatte Hades mich eingeholt und platzierte dunkel lachend einen Fuß zwischen meine Schulterblätter und drückte mich so zu Boden.

„Hast du tatsächlich gedacht, dass du mir entkommen könntest?“, fragte er. „Ich lasse meine Beute niemals laufen und was ich anfange, das bringe ich auch zu Ende- merk dir das für die Zukunft!“ Der Druck auf meinen Rücken nahm zu und ich bekam immer weniger Luft. Keuchend rang ich nach Atem und wieder liefen salzige Tränen über meine Wangen. Ich fühlte, wie mein rechtes Bein langsam taub wurde.

Hades schwieg und auch ich presste die Lippen aufeinander, kämpfte gegen die Ohnmacht an, bis er sein Bein wieder anhob, nur um mich mit demselben in den Magen zu treten. Ich würgte und rollte mich auf die Seite.

„Steh auf.“, befahl Hades und seine Stimme schien von überall her zukommen.

Blut und der Geschmack von Magensaft stauten sich in meinem Mund an, sodass ich nicht sofort antworten konnte. Hades trat noch einmal zu und wiederholte seine Worte stoisch.

Ich sah Sterne und mein Magen rebellierte immer stärker.

„Ich kann nicht“, würgte ich verzweifelt hervor.

Ich hörte, wie er seine Waffe neu lud und mein Herz setzte aus. „Ob du` s kannst oder nicht, entscheide ich, verstanden? Steh auf!“, entgegnete Hades und richtete den Lauf der Pistole auf mich. Ich konnte in dem Moment keinen klaren Gedanken mehr fassen. Mein Körper brannte vor Schmerzen und in meinen Kopf schrieen tausend Stimmen durcheinander, flehten um Hilfe, beteten, dass Hades mich gehen ließe.

Doch wer sollte mich denn schon hören?

Und wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mann nur scherzte?

Etwas flüsterte in mir, ich solle aufgeben. Doch hatte ich nicht auch viel zu große Angst vorm Sterben? Im Nachhinein war genau diese Angst das, was mich rettete.

Steh auf! , schrie sie in mir. Du willst nicht sterben, also steh auf!

Mit aufeinander gebissenen Zähnen richtete ich mich auf und versuchte auf die Beine zu kommen. Hades schaute mir dabei grinsend zu und erfreute sich sichtlich an meinen Tränen und Schmerzen.

„Na also, geht doch!“, sagte er zufrieden und deutete mit dem Lauf zu den Treppen zurück. „Und jetzt schauen wir mal, was unser Nero so treibt. Er wird sich bestimmt freuen, dich zu sehen.“

Ich vernahm seine Worte, doch weder schockierten sie mich, noch verspürte ich den Drang, etwas dagegen zu sagen- es hätte eh nichts gebracht.

Stumm folgte ich Hades` Befehl und humpelte zur Treppe. Hades ging hinter mir her und bei jedem Schritt, bei jeder Bewegung, fühlte sich mein Bein an, als würde Hades jedes Mal hunderte Kugeln auf mich feuern. Ich ertrug es, weinte nur still vor mich hin.

Vielleicht, so raunte eine kleine Stimme in meinem gequälten Verstand, wenn ich nur langsam genug ginge, hätte Nero noch genug Zeit, diesem ganzen Horror ein Ende zu setzen und Judgement rechtzeitig zu löschen. Vielleicht hätte er noch Zeit zu fliehen und Hades zu entkommen. Dieser Gedanke beruhigte mich. Vielleicht konnte ich ja doch noch helfen…

Entscheidungen

PASSWORT_
 

Schon gefühlte Stunden starrte ich auf den Bildschirm des Computers, auf dem vor einem schlichten blauen Hintergrund ein einziger Ordner abgebildet war und der nun durch das Feld zur Passworteingabe verdeckt wurde, das erschienen war, sobald man die Datei öffnen wollte.

Es war ungewöhnlich leer in meinem Kopf. Ich hatte gehofft, dass mir in dem Moment, in dem ich Judgement vor mir hätte, der Code wieder einfiele, der sich in meinem Gedächtnis irgendwo befand- oder zumindest befinden sollte…

Verzweifelt fuhr ich mir durch die Haare. Passwort…

Ich wiederholte dieses Wort hunderte Mal in Gedanken, sprach es laut aus, betonte es sogar unterschiedlich, doch nichts geschah.

Das konnte doch nicht wahr sein! Ares und Persephone konnten doch nicht so falsch mit der Annahme gelegen haben, dass ich mich an diesen verdammten Zahlensalat erinnerte. Selbst Hades war sich sicher gewesen, dass ich ihn kannte und der war sogar bereit gewesen, mich dafür zu töten oder weiß Gott was mit mir anzustellen…

Frustriert legte ich den Kopf auf die metallene Tischplatte und schloss die Augen. So durfte das doch nicht enden! Ich war hier nicht hergekommen, nur um festzustellen, dass alle eine Lüge gelebt haben. Ich stellte mir vor, wie ich vor Hades stand, mit den Schultern zuckte und so etwas dämliches wie „April, April!“ rief. Ich hätte wahrscheinlich nicht einmal mehr genug Zeit zu grinsen gehabt, so schnell würde ich meinen Kopf unterm Arm tragen…

Und was ist, wenn ich irgendetwas eintippte?

Ich erinnerte mich daran, dass Ares damals gesagt hatte, dass der Code keinem logischen Muster folgte, also kein Wort oder Satz war; nur eine sinnlose Buchstaben- und Zeichenfolge…

Ich richtete mich wieder auf und schielte aus den Augenwinkeln heraus auf die Tastatur. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, die richtigen Tasten zu treffen? 1 zu einer Million? Mindestens. Aber was blieb mir denn anderes übrig?

Je länger ich auf die Tastatur starrte, fiel mir plötzlich auf, dass ich eine Taste, einen Buchstaben, beinahe hypnotisierend anschaute.

Und es fühlte sich richtig an…

Ich dachte nicht: das ist der richtige Buchstabe. Nein, ich wusste es einfach. Für einen Moment zögerte ich noch, doch dann drückte ich die Taste mit dem „H“. Es machte Klick und dann leuchtete das H in dem Eingabefeld des Monitors. Ich schaute kurz auf, dann senkte ich wieder den Blick und drückte das „@“- Zeichen. Ich dachte nicht darüber nach, ich tat es einfach.

Ich drückte immer schneller die Tasten und mit einem Mal konnte es mir nicht schnell genug gehen, die Zeichen auszuwählen, wie ein Durstiger in der Wüste, der endlich eine Oase gefunden hatte und sich gierig das Wasser in den Rachen schüttete. Ich fühlte mich berauscht und begann wie ein Irrer zu grinsen. Es war richtig- alles war richtig, ich wusste es ganz genau!

Dann plötzlich hörten meine Finger auf, über die Tasten zu fliegen und der Zauber war vorbei. Ich zitterte und wollte die weißen Buchstaben nicht mehr berühren.

Unsicher schaute ich auf.

Das Zahlenwirrwarr, was sich nun über die ganze Breite des Bildschirms erstreckte, sah im ersten Augenblick wie eine einzige graue Masse aus. Erst beim näheren Betrachten erkannte ich die unzähligen Zeichen und Buchstaben, die sich ununterbrochen aneinanderreihten. Die einzigen sinnvollen Worte standen am Ende der Reihe: THE END?_

Ich blinzelte die letzte Zeile an und hätte beinahe losgelacht. War das alles nur ein genialer Zufall oder waren die Erfinder tatsächlich so sarkastisch gewesen?

Der Code ist unvollständig, hatte Ares gesagt. Toll, und wo war nun Ares, wenn man ihn brauchte? Nachdenklich schaute ich zu dem defekten Funkgerät und seufzte. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als zu warten, bis der werte Herr wieder auftauchte.

Die Frage, warum dieser dämliche Code unvollständig war und warum ausgerechnet Persephone den Zusatz kannte, versuchte ich mir erst gar nicht zu stellen. Mir war egal, wie genau die Sache um Judgement, Olymp, der Regierung und all den anderen stand, die hier mit drinsteckten, ich wollte hier einfach nur noch weg und mein Leben mit Fin leben…

Vermutlich war die Erklärung eh ganz einfach und simpel- wahrscheinlich hatte die Regierung den Code einfach aufgeteilt und einen Teil wo anders aufbewahrt- so hätte ich es zumindest gemacht….

Ungeduldig trommelte ich mit den Fingern auf der Tischplatte und gerade überlegte ich, ob ich Ares vielleicht suchen gehen sollte, als plötzlich eine Person in der Tür auftauchte.

Ich konnte sie nicht sofort zuordnen, doch auf den zweiten Blick hin erkannte ich Fin, die mich mit geweiteten Augen anstarrte.

Erschrocken zuckte ich zusammen. „Fin, was-“

„Komm nicht näher!“, schrie sie und klammerte sich an den Türrahmen. Sie zog ihr rechtes Bein auffällig hinter sich her und ihre Jeans war am Oberschenkel dunkelrot verfärbt. Mein Herz schlug schneller und als sie auf einmal drohte, zusammenzusacken, wäre ich aufgesprungen und zu ihr geeilt, hätte nicht plötzlich der Lauf einer Waffe neben ihrer Schläfe aufgeblitzt und mich erstarren lassen.

„Steh gefälligst auf.“, knurrte eine fremde Stimme und ein Mann in einem schwarzen Mantel tauchte auf einmal in dem Türrahmen auf. Mit schmerzverzogenen Gesicht rappelte sich Fin wieder auf und sah mich an. Angst und Schmerz schimmerten in ihren tränenden Augen, dass sich mein Herz vor Wut und Sorge zusammenzog.

Der Mann drehte sich zu mir um und brachte ein fratzenähnliches Lächeln zustande, die Waffe immer noch auf Fin gerichtet.

„Lang nicht mehr gesehen, Nero…“

Ich antwortete nicht, umklammerte nur die Lehnen des Stuhles. Ich kannte sein Gesicht nicht, nicht einmal in meinen Erinnerungsstücken tauchte dieser Mann auf- und dieses schmale, kantige Gesicht mit den hellgrünen Augen hätte ich bestimmt nicht vergessen können. Aber ich erinnerte mich an seine Stimme.

Dieses Kratzen und die leicht hohe Tonlage seiner Stimme, die nicht ganz zu seiner Statur passen wollte. Genau dieser Funken Bariton hatte seinen Worten früher einmal bestimmt etwas Schüchternes verliehen, doch mit der Zeit hatte er es geschafft, dieses Manko auszumerzen, sodass nun ein Hauch Arroganz in seiner Stimme mitschwang.

Wieder tauchten die Bilder von damals auf, als Ares mich auf Memoria gesetzt hatte, meine Schläfen kribbelten unangenehm, nur diesmal echote genau diese Stimme durch meinen Kopf: „Erhöht die Stromstärke…

Dutzende Emotionen ließen meinen Körper erzittern- Hass, Wut, Angst, Verzweiflung und Sorge um Fin machten es mir unmöglich, Hades zu antworten, doch dieser schien auch keine erwartet zu haben, denn er fuhr unbekümmert fort: „Wie ich sehe, haben alle Maßnahmen versagt, die dich daran hindern sollten, den Code einzutippen.“ Er seufzte. „Schade, dann muss ich wohl zu dem letzten Mittel greifen, das mir freundlicherweise in die Hände gespielt wurde:“ Ohne zu zögern zog er Fin grob an seine Seite, presste die Pistole gegen ihren Kopf und sein Lächeln war augenblicklich verschwunden. „Steh auf und komm her oder du kannst das Hirn des Mädchens hier vom Boden auflecken.“

Selbst bei diesen Worten entrang Fin nicht das kleinste Wimmern, als sei sie taub oder tot. Lediglich ihre Augen schlossen sich, als wartete sie auf ihr Ende und ihre Lippen, die sie aufeinander presste, sodass sie nur einen farblosen dünnen Strich in ihrem blass fiebrigen Gesicht ergaben, deuteten auf ihre Angst hin.

Ich rührte mich nicht, saß nur stumm da und erinnerte meine Lungen ans atmen. Ich ertrug es nicht, Fin in dieser Verfassung zu sehen, an der im Grunde nur ich Schuld war. Dummkopf! , wollte ich schreien, warum bist du hier hergekommen? Warum hast du nicht auf mich gewartet? Aber selbst diese Worte hätten Fin vermutlich jetzt das Leben gekostet. Hades` Blick wurde von Sekunde zu Sekunde ungeduldiger.

„Bist du taub? Du sollst herkommen!“, keifte er und verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er Fin die Pistole noch mehr ins Gesicht hielt.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich der Bildschirm des PCs verdunkelte und das Wappen des Landes als Bildschirmschoner auftauchte. Ungewollt drehte ich den Kopf ein wenig in Richtung des Bildschirms. Hades machte einen hastigen Schritt nach vorne und zog Fin mit sich. „Finger weg von der Tastatur!“, schrie er hysterisch. „Rühr keinen Finger oder ich knall deine Schlampe hier ab!“

Ich schloss die Augen und versuchte mich darauf zu konzentrieren, nicht laut zu schreien oder einfach auf Hades loszugehen und ihn niederzuschlagen. Egal, was ich getan hätte, es hätte dazu geführt, dass Fin keine Sekunde später tot auf dem Boden gelegen hätte. Ich spürte, wie ich die Nerven verlor. Ich musste irgendetwas tun, damit er Finja losließ, alles andere war im Moment für mich nebensächlich, selbst Judgement!

„Mach schon, heb die Hände über den Kopf und komm endlich her!“ Hades` Stimme überschlug sich fast und bei seinen Worten fiel mir plötzlich etwas auf:

Für Hades war Judgement das wichtigste…

Und Hades konnte von seinem Standpunkt aus nicht den Bildschirm des PCs einsehen.

Er wusste also nicht, wie weit ich gerade mit dem Programm war-

Er wusste vermutlich auch nichts von dem Zusatzcode, wenn es stimmte, dass Persephone die einzige war, die ihn kannte.

Hades wusste gar nichts! Er hatte einfach nur Angst, dass er zu spät gekommen ist und ich-

Mein Herz setzte aus. War das die Lösung? Wenn ja, dann hatte das Schicksal einen abscheulichen, rabenschwarzen Humor…

Aber hatte ich irgendeine andere Möglichkeit? Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass seine Finger, die sich um den Abzug der Waffe gelegt hatten, leicht zitterten. Eine falsche Bewegung, selbst wenn ich seinem Befehl wirklich folgen würde und die Hände langsam hob, würde das vermutlich ausreichen, damit Hades abdrückte. Ich durfte Fin nicht weiter in Gefahr bringen- ich musste ihn ablenken…

Fieberhaft überlegte ich noch einen Moment, dann stand meine Entscheidung fest. Langsam drehte ich meinen Kopf und schaute Hades grinsend ins blasse Gesicht.
 

„Du willst sie töten? Bitte, dann tu` s doch.“

Mein Herz zog sich beim Klang von Neros Worten schmerzhaft zusammen und ich öffnete erschrocken die Augen. Auch durch Hades` Körper ging ein leichter Ruck und das nervöse Zittern seiner Hände hörte kurz auf.

„Glaubst du, ich bluffe?“, knurrte Hades.

Nero zuckte mit den Schultern und sein Grinsen breitete sich zunehmend über sein Gesicht aus. „Mir ist das Mädchen dort egal. Ich kenn sie nicht einmal richtig.“, entgegnete er gelangweilt und platzierte wie zufällig eine Hand neben der Tastatur. Ungläubig weitete ich die Augen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte- ob ich überhaupt etwas sagen sollte. Vermutlich hätte ich Nero etwas Brüskes an den Kopf geworfen- zu einer anderen Zeit, in einer anderen Dimension, wenn mir niemand gedroht hätte, ein Stück Metall in den Schädel zu jagen. So blieb mir nichts anderes übrig, als ihn entsetzt anzustarren und zu hoffen, dass er seine Worte nicht ernst meinte.

Hades wurde immer unruhiger. „Verarsch mich nicht, Junge…“

Neros Augen verengten sich. „Tu ich nicht.“, antwortete er ernst. „Von mir aus erschieß sie. Und selbst wenn ich sie kennen würde, würde dir das nichts mehr nützen, denn ich muss nur noch eine Taste drücken und Judgement ist gelöscht. Das heißt, während du noch damit beschäftigt bist, den Abzug zu betätigen, ist das Programm für dich schon längst wertlos.“

Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Hades` Gesichtszüge entgleisten. Nero zog spöttisch die Brauen in Richtung Haaransatz. „Ohh.“, machte er mitleidig und legte die Stirn gekünstelt in Falten, „Habe ich deinen tollen Plan etwa zunichte gemacht?“

„Das wagst du nicht…“, drohte der Gott und seine Hände begannen wieder zu zittern, dass mein Herz vor Angst schneller schlug. Neros Zeigefinger seiner linken Hand legte sich über eine Taste.

„Willst du es austesten?“, fragte Nero herausfordernd. Sekunden sagte niemand etwas und die ganze Welt schien den Atem anzuhalten.

Dann plötzlich zuckte Neros Finger, als wollte er die Taste drücken und da verlor Hades die Beherrschung.

Aufschreiend warf er mich zu Boden und rannte auf Nero zu, die Waffe auf ihn gerichtet. Ein Schuss löste sich, verfehlte allerdings sein Ziel. Etwas blitzte in Nero rechter Hand auf, er kam auf die Beine und einen Augenblick später lagen beide auf dem Boden. Hades begrub Nero halb unter sich und umklammerte abwehrend Neros Rechte, die Hades das schwarze Messer nur wenige Zentimeter entfernt vor die Kehle hielt. Ein gezielter Tritt ließ Hades würgen, sodass Nero etwas Freiraum gewann, um dann mit dem freigewordenen Messer nachzulegen und seinem Gegner in die bewaffnete Hand zu schneiden. Laut scheppernd fiel die Pistole zu Boden.

Ich wagte nicht zu atmen. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund schaute ich dem Kampf zu und bewegte mich keinen Millimeter. Mein Herz überschlug sich fast.

Hassverzerrt starrte Hades die verletzte Hand an, dann ging er wieder auf Nero los, diesmal mit den Fäusten. Hades war viel älter- vielleicht sogar so alt wie Zeus-, allerdings machte er keinen gebrechlichen Eindruck, sodass Nero schon nach kurzer Zeit Probleme hatte, seinen Angriffen auszuweichen oder sie zu parieren. Wie ein Berserker schlug der Mann auf ihn ein und irgendwann packte er Neros rechtes Handgelenk und verdrehte es ihm so ruckartig und stark, dass Nero aufschrie und ich erschrocken die Augen zusammenkniff. Das Messer fiel Nero aus der Hand, die nun in einem ungesunden Winkel vom Unterarm abstand. Mit Tränen in den Augen umklammerte Nero sein Handgelenk und achtete einen Moment lang nicht mehr auf Hades, was dieser sofort für sich nutzte und seinem Gegenüber mit einem Fausthieb gegen den Wangenknochen zu Boden schlug.

Entsetzt schrie ich Neros Namen und zwang mich auf die Beine. Er lag am Boden und rührte sich nicht. Mein Herz blieb wieder stehen und Tränen vernebelten meine Sicht. Hades stand schwer atmend da und schaute auf Nero hinab. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

„Dreckiger Bastard.“, fluchte Hades wütend und holte mit dem Bein aus. Ich schrie, dass er aufhören sollte, zumindest dachte ich, dass ich das rief, denn Denken war das letzte, wozu ich imstande war. Doch bevor Hades` Bein Nero erreichte, erwachte dieser urplötzlich unter ihm, holte selbst mit dem Bein aus und fegte Hades von den Füßen- dann ging alles rasendschnell.

Nero packte das Messer, das nur eine knappe Armlänge neben ihm gelegen hatte und hielt es vor seinen Körper. Eine schreckliche Fügung des Schicksals oder irgendeine andere höhere Instanz- vermutlich aber nur die simplen Gesetze der Physik- ließen den gestrauchelten Hades genau so fallen, dass sich die kurze Klinge in seine rechte Brust bohrte, er gequält und kurz aufschrie und mit weit aufgerissenen, schreckensstarren Augen ins Leere starrte.

Ich kniff die Augen zusammen und schaute weg.

Sekundenlang passierte nichts. Ich hörte Hades` röchelnde Atemzüge, die langsam erstarben und wagte dann nach einer gefühlten Ewigkeit wieder hinzusehen. Der Körper des Älteren lag erschlafft auf Neros, der nun versuchte, diesen zur Seite zu rollen. Nach mehreren Anläufen gelang es ihm dann schließlich, er kam keuchend auf die Knie und umklammerte wieder sein Handgelenk, das dick und bläulich angeschwollen war. Ich war mir sicher, dass es gebrochen war…

„Nero…?“, flüsterte ich heiser.

Er schaute auf und lächelte mir zu. „Alles in Ordnung bei dir?“ Ich nickte und unterdrückte nur mit Mühe ein Schluchzen. „Bleib dort sitzen und warte einen Augenblick.“, sagte Nero matt und stellte sich vorsichtig hin.

Ängstlich runzelte ich die Stirn. „Was hast du vor?“

„Das beenden, wofür wir hierher gekommen sind.“, antwortete Nero und ging auf den Computer zu. Ich wollte gerade bissig etwas erwidern, wie er nun jetzt, nachdem wir dem sicheren Tod von der Schippe gesprungen waren, an dieses dämliche Programm denken konnte, als sich Hades in seinem Rücken bewegte. Ich war wie zu Stein erstarrt, brachte keinen Ton raus und sah Hades nur dabei zu, wie er sich nach seiner Waffe streckte, die in greifbarer Nähe neben ihm lag.

Nero bekam von alledem nichts mit und erklärte weiter: „Ares müsste jeden Augenblick-“

Endlich reagierte ich. „Nero, hinter dir!!“, sprudelte es aus mir heraus, doch es war schon zu spät.

Die Schüsse folgten augenblicklich und übertönten meine eigenen Schreie. Hilflos sah ich mit an, wie die Kugeln sich von hinten in Neros Schultern und Rumpf bohrten, einige traten vorne wieder heraus, begleitet von nebelhaften Schwaden dunkelroten Blutes. Sein Gesicht verzog sich schmerzhaft, doch er blieb nicht stehen, drehte sich nicht einmal um, sondern starrte weiterhin auf den PC, von dem er nur noch einen knappen Meter entfernt war. Je näher er kam, desto schneller kamen die Schüsse.

Ein Schuss. Noch ein Schuss…

Nicht alle trafen, viele streiften lediglich seinen Arm oder sein Bein, doch wenn Hades traf, dann mit tödlicher Sicherheit.

Schuss…Schuss…

Ich hatte aufgehört zu zählen. Blut rann aus Neros Mundwinkeln und über die Hand, die den anderen Unterarm umklammert hielt, lief es ebenfalls hinab.

Aufhören!“, flehte ich hysterisch und löste mich von dem Türrahmen, an dem ich mich die ganze Zeit über abgestützt hatte und humpelte in den Raum auf Hades zu. „Bitte!

Eine Hand packte mich plötzlich, zog mich zu sich heran, sodass ich herumwirbelte und presste mich gegen etwas warmes, feuchtes.

Alles um mich herum war es plötzlich dunkel, dann hörte ich wieder Schüsse.

Andere Schüsse…

Drei-, Vier-, Fünfmal hintereinander fielen sie, dann war es totenstill, sodass man das Echo der Explosionen in den leeren Gängen und Räumen widerhallen hörte.

Ich hatte die Augen geschlossen und aufgehört zu atmen. Der Druck gegen meinen Rücken, der mich gegen die Person gepresst hatte, ließ nach und ich konnte jemanden schwer atmen hören. Zögernd sog auch ich die Luft wieder ein und starrte auf meine Hände. Das warme, feuchte Blut, das aus der Wunde der Person getreten war, klebte nun in meinem Gesicht und an meinen Handflächen, die ich aus Reflex schützend gegen den Leib des anderen gepresst hatte. Nur langsam brachte ich es fertig, dem Mann ins Gesicht zu schauen.

„Ares…“ Mehr brachte ich nicht über die blutigen Lippen, starrte ihn nur mit geweiteten Augen an. Der Angesprochene schaute auf mich herab und ein weicher, beinahe liebevoller Ausdruck trat in sein verschwitztes Gesicht.

„Schon gut, es ist alles in Ordnung. Es ist vorbei…“, murmelte er und ließ die Waffe sinken, die er in der rechten Hand hielt. Plötzlich kniff er die Augen schmerzverzerrt zusammen, sog scharf die Luft ein und trat ein paar Schritte rückwärts, um sich an der nahen Wand abzustützen. Seine freie Hand schloss sich um die Wunde, die sich über seinen ganzen Oberkörper zu erstrecken schien.

Alarmiert humpelte ich auf ihn zu.

„Ares-“, rief ich besorgt, doch er schüttelte nur den Kopf und sah mir tief in die Augen.

„Ich fühl mich super, okay?“, presste er hervor und brachte das Kunststück fertig, zu grinsen. „Du solltest lieber mal nach Nero schauen.“

Bei Neros Namen krampfte sich mein Herz zusammen und die Luft schnell einziehend drehte ich mich um.

Nero war auf dem Stuhl, der vor dem Tisch mit dem Computer stand, zusammengebrochen und schaute angestrengt auf, als ich auf ihn zulief, ungeachtet der stechenden Schmerzen in meinem Bein. Die Tränen unterdrückend kniete ich mich vor ihm hin und ergriff seine blutige Hand. Hätte er etwas Helleres als Schwarz getragen, so wäre er nun wahrscheinlich in einem dunkeln Rot gekleidet gewesen, so nur glänzte seine Kleidung verräterisch.

„Geht es dir gut?“, krächzte er und frisches Blut quoll beim Sprechen aus seinem Mund.

„Du Idiot, denk doch mal an dich, statt immer an andere…“, schluchzte ich und versuchte tadelnd auszusehen, was mir allerdings nicht sehr überzeugend gelang.

„Tut mir Leid.“, flüsterte Nero und sein Blick wurde glasig. Ehe ich etwas sagen konnte, drehte er mühsam den Kopf in Richtung Bildschirm, auf dem ein Wappen auf schwarzem Grund zu erkennen war. Eine kleine Bewegung mit der Maus und der Bildschirmschoner war verschwunden und gab die Sicht auf ein Fenster frei, das über und über mit Zahlen bedeckt war- der Code zu Memoria. Ich schluckte.

„Wir müssen… das Programm… löschen.“, keuchte Nero neben mir. Von irgendwoher ertönte Ares` tiefe Stimme. „Der Code ist nicht vollständig. Ohne den Zusatz können wir es nicht löschen… und Kore ist die einzige, die den restlichen Teil kennt.“ Er machte eine kurze Pause um Luft zu holen. „Aber sie wird hier nicht herkommen, ich habe sie weggeschickt. Scheiße…“, fluchte Ares gequält und verstummte wieder.

Nero verzog das Gesicht, ob vor Schmerzen oder Ärger mochte ich nicht sagen. „Dann… war alles umsonst…“ Der Glanz in seinen Augen begann zu flackern.

Verzweifelt presste ich die Lippen aufeinander. Ares hatte Unrecht; Persephone war nicht die einzige gewesen, die den geheimen Code kannte…

Angestrengt versuchte ich mich an mein Gespräch mit Zeus zu erinnern. Hatte er mir gegenüber nicht irgendetwas erwähnt?

Neros Existenz war schon immer der wahre Schlüssel zu Judgement gewesen, hallten Zeus` Worte durch meine Gedanken. Der wahre Schlüssel… Neros Existenz…

Die Luft anhaltend schaute ich zu Nero auf und meine Augen weiteten sich.

„Neros ID…“, flüsterte ich entsetzt, dann, nach einer kurzen Pause, in der ich meine Worte noch einmal überdachte, wiederholte ich meine Vermutung etwas lauter und überzeugter. Nero starrte mich fiebrig an und die Verwirrung stand ihm zusehends mehr ins verschwitzte Gesicht geschrieben. Er konnte kaum noch die Augen aufhalten, immer wieder sog er rasselnd die Luft ein und ließ sie nur widerwillig und gequält wieder aus seiner Lunge. Ich musste mich beeilen…

„Nero, sag mir bitte deine ID- Nummer!“, rief ich verzweifelt. Vielleicht hielt ihn das ja wach, dachte ich gehetzt und umschloss noch stärker seine kalten Finger.

„Was hat-“

„Das erkläre ich dir später.“, fiel ich ihm ins Wort und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. „Verdammt, wie war das noch gleich? 9…?“

„953…“, fuhr Nero weiter fort und ich beeilte mich, die Zahlen einzutippen. Uns würde nicht mehr viel Zeit bleiben…

„76…4…82…1…0“, vollendete er. Ich gab die Ziffern ein und starrte auf das Wirrwarr. Hoffentlich lag ich mit meiner Vermutung richtig. Ich fuhr mit der Maus über den Bestätigen- Button und zögerte. Was ist, wenn ich mich vertippt hatte? Was ist, wenn ich mich vertan hatte? Neros Hand legte sich auf einmal über meine. Ich schaute kurz auf, dann bestätigten wir die Code- Anfrage gemeinsam. Es dauerte einen Augenblick, doch dann erschien ein kleines Fenster über dem Ordner: Code akzeptiert, Zugang auf die Datei <Judgement> gewährt.

Ich atmete hörbar aus, doch mein Herz raste immer noch.

„Du musst den ganzen Ordner löschen…“, hauchte Nero kraftlos. Ich nickte. Zum Glück verstand auch ich ein wenig was von Computern, sodass ich nach kurzer Zeit den Befehl, zum Löschen gefunden hatte.

Wollen Sie diese Datei wirklich löschen?, fragte mich das Programm und ich drückte ohne zu überlegen den Ja- Button. Sofort erschien ein Ladebalken, der anzeigte, wie weit der Vorgang war.

Erleichtert drehte ich mich zu Nero um. „Nero, wir haben es-“

Meine Stimme brach ab, als Nero bewusstlos vom Stuhl zu kippen drohte.

„Nero?!“, rief ich besorgt und fing ihn auf. Seine Haut hatte alle Farbe verloren, sodass das Blut einen grotesken Kontrast bildete und noch stärker auffiel. Mein Herz setzte aus, als ich sah, dass er nur noch schwer und flach atmete. Verzweifelt rief ich seinen Namen, rüttelte an seiner Schulter, schlug ihn leicht gegen die weißen Wangen.

„Nero, wach bitte auf…“, hauchte ich und meine ganze Kehle schien sich immer weiter zuzuschnüren, doch er reagierte nicht. Hilflos drehte ich den Kopf. „Ares! Nero ist ohnmächtig, was soll ich tun?!“

Doch der Mann war an der Wand heruntergerutscht und lag in sich zusammengesackt am Boden. Vergeblich wartete ich auf eine Antwort…

Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, starrte ich Ares an, dann drehte ich mich wieder zu Nero um, der in meinen Armen lag und ungewöhnlich leicht zu sein schien. Alles um mich herum war still und dunkel, nur meine eigenen schluchzenden Atemzüge durchbrachen die Leere. Um Hades, der nur wenige Meter von mir entfernt lag, hatte sich eine Blutlache gebildet, die in dem Neonlicht dunkelrot glänzte, als schwimme er in flüssigem Metall.

Panik stieg in mir hoch und als ich dann merkte, dass Nero kaum noch atmete, schaltete mein Denken vollkommen ab und ich schrie nur noch seinen Namen, schrie und weinte.

Zwischen meinen Schreien hörte ich von mal zu mal fremde Schritte, Schüsse, manchmal auch unverständliche Rufe, doch das alles war mir egal. Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr zu schreien und so weinte ich nur noch. Wie eine Mutter hockte ich mit Nero auf dem kalten Betonboden und wiegte ihn in meinen Armen, immer wieder seinen Namen murmelnd und ließ salzige Tränen sein totengleiches Gesicht benetzen. Ich fühlte mich einfach nur leer, kam mir selbst wie eine Tote vor, die sich aus irgendeinem absurden Grund noch bewegte.

Als auf einmal Leute in dem kleinen Raum auftauchten, schaute ich nicht einmal auf.

„Sie sind hier drüben, Zeus!“, rief jemand und kurz darauf spürte ich ein Paar Hände, die sich sanft auf meine Schultern legten. „Alles wird gut…“, flüsterte Zeus und zog mich mit sanfter Gewalt von Nero weg.
 

Nach einer gefühlten Ewigkeit, nachdem Ares sie hier zurückgelassen hatte, hat Persephone es doch geschafft, Zeus anzurufen und ihm knapp zu erzählen, was passiert war und dass sie nun seine Hilfe benötigten.

„Ich komme sofort.“, hatte Zeus geantwortet und dann aufgelegt. Mit Sorgenfalten auf der Stirn hatte Persephone das Handy angestarrt, aus dem das typische Piepsen drang, wenn die Verbindung unterbrochen war. Das Gespräch hatte nicht einmal eine Minute gedauert und Zeus war während dieser Unterhaltung nicht einmal auf zehn mickrige Worte gekommen, die er mit ihr gewechselt hatte. So war es immer gewesen, wenn sie ihn oder umgekehrt, er sie, anrief; immer so kurz und so schnell wie möglich und nur das Nötigste…

Sie seufzte, klappte das Handy zu und zog die Beine an den Körper. Ihr Blick fiel auf den gepfählten D, von dem sie sich allerdings schnell wieder losriss, weil ihr ganzer Leib plötzlich zu zittern begann. Sie musste hier raus, sonst würde sie noch durchdrehen.

Auf einmal hörte sie gedämpfte Schüsse und erschrocken blickte sie auf. Sorge machte sich in ihr breit und ließ ihr Herz schneller schlagen. Ares besaß keine Schusswaffe, das konnte also nur bedeuten, dass Apollon noch am Leben war- oder Hades war hier irgendwo im Hauptquartier. Dieser Gedanke ließ den Schweiß in ihrem Gesicht ausbrechen und ihre Hände begannen wie Espenlaub zu zittern.

Wieder fielen Schüsse und diese schienen viel lauter zu sein, als die davor. Sie kniff die Augen zusammen und legte ihre Hände an die Ohren. Er durfte sie nicht finden, bitte nicht…

Für eine Minute war es wieder still und Persephone wagte es, die Hände runter zunehmen und lauschte in die Dunkelheit, die sie umgab. Sie musste hier unbedingt raus….

Mit klopfendem Herzen stand sie auf und verließ den Raum, allerdings nicht ohne sich noch einmal umzusehen. Sie hatte Äneas, ihren Bruder, nicht vergessen.

„Ich komme wieder. Versprochen…“, flüsterte sie, dann verschwand sie in das schmale Treppenhaus.

Unten angekommen verweilte sie kurz im Erdgeschoss auf Höhe der Treppe, die in das Labyrinth hinabführte, in das Herz von Olymp. Ares, Nero und vermutlich auch Finja waren dort unten. Auf einmal lief ihr eine Erkenntnis eiskalt den Rücken runter: Sie hatte Ares nicht den Zusatzcode verraten! Fluchend trat sie in Richtung Treppenabsatz, stockte jedoch in der Bewegung, als sie eine Person am rechten Rand ihres Gesichtsfeldes ausmachte.

Alarmiert wirbelte sie herum. Der Mann war genauso erschrocken stehen geblieben und starrte sie an. „Persephone, bist du das?“

Sie erkannte die Stimme nicht sofort, erst als der Junge näher auf sie zutrat, identifizierte sie ihn als Perseus. Der Junge war noch nicht lange bei Olymp, stellte sich aber äußerst geschickt mit dem Schwert an. Sie antwortete nicht und ungläubig schüttelte Perseus mit dem Kopf.

„Dann ist es also wahr, was D und Apollon behaupteten? Du hintergehst uns?“

„Versuch nicht, über Dinge zu urteilen, von denen du keine Ahnung hast.“, antwortete sie beherrscht. „Halte dich hier einfach raus und verschwinde, solange du noch kannst.“

Sie drehte sich schon zum Gehen um, als sie das schnarrende Geräusch des Schwertzeihens hinter sich hörte. „Was hat dir Hades überhaupt getan, dass du ihn verrätst, hm?“, fragte Perseus und seine Stimme triefte vor Verachtung. Persephone blieb stehen und schaute ihn mit einer Mischung aus Hass und Mitleid an. „Du weißt weniger, als ich dachte. Ich sage es zum letzten Mal: hau ab!“

Perseus nahm sein Schwert in beide Hände. „Erst, wenn ich dich aufgehalten habe.“, knurrte der Junge und stürmte auf sie zu. Reflexartig griff Persephone an ihre linke Seite, um ihr Schwert zu ziehen, doch fasste sie diesmal ins Leere. Entsetzt starrte sie auf den leeren Gürtel, bis ihr klar wurde, dass sie ihr Schwert oben vergessen hatte. Doch Zeit zum Bereuen oder Überlegen hatte sie nicht.

Perseus fegte mit seinem Schwert durch die Luft und Persephone blieb nichts anderes übrig, als auszuweichen. Mit einem Sprung nach rechts manövrierte sie sich aus Perseus` Reichweite und versuchte mit Tritten und Schlägen zu kontern, die der Junge jedoch spielend abwehrte.

Als sie sich dann etwas Luft verschafft hatte und auf Abstand gehen wollte, setzte ihr Gegner mit einem Tritt in ihre Magengrube nach und riss sie so von den Beinen. Würgend blieb sie liegen und Perseus trat langsam auf sie zu.

„Du hattest von Anfang an keine Chance gegen mich.“, sagte er und hob sein Schwert. „Denn soviel weiß ich: du bist von allen Mitgliedern die schwächste.“

Perseus holte aus, doch bevor er seine Klinge auf sie niederfahren lassen konnte, ging ein Ruck durch seinen Körper und kurz darauf sackte er bewusstlos vor ihr in sich zusammen. Schwer atmend hockte Persephone da und schaute ungläubig zu der Person hoch, die sie mit einem gezielten Handkantenschlag gerettet hatte. Lächelnd streckte diese ihr eine Hand entgegen, um ihr hoch zu helfen. „Zeus.“, hauchte Persephone ehrfürchtig und ergriff die dargebotene Rechte.

„Du solltest hier nicht allein herumlaufen.“, entgegnete der alte Mann leicht tadelnd. „Wo ist Äneas?“ Persephone senkte traurig den Blick und schüttelte den Kopf. Zum Glück verstand Zeus sie; er seufzte und nahm sie in die Arme. Ein Schauer durchlief Persephone und sie fühlte sich, trotz ihrer gegenwärtigen Lage, ungewöhnlich geborgen und sicher.

„Wir werden uns später um ihn kümmern.“, versprach er und hielt sie wieder auf Abstand. „Du solltest jetzt lieber nach draußen gehen. Dort ist es sicherer für dich.“

Sie nickte und Zeus schaute über seine Schulter, winkte kurz und keine Sekunde später standen zwei Männer neben ihm. „Gebt auf sie Acht, verstanden?“, sagte er zu den beiden, woraufhin diese vernehmlich „Jawohl“ antworteten und sich links und rechts an ihre Seite stellten. Persephone versuchte zu lächeln. „Vielen Dank. Passen Sie bitte auf sich auf, Zeus.“

Zeus lächelte und strich Persephone über die Haare. „Das werde ich. Du hast einen guten Job gemacht. Ich bin stolz auf dich, Persephone.“ Sie senkte verlegen den Kopf und spürte, wie ihr heiß wurde. Dann trat Zeus an ihr vorbei und stieg mit seinen Anhängern die Treppen hinunter.
 

Der Gehweg vor dem Parkhaus hatte sich inzwischen so gefüllt, dass viele der Schaulustigen auf die Straße ausweichen mussten. Doch auch ohne die Menschenmasse, die sich nun auf dem Asphalt drängelte, wäre ein Durchkommen mit dem Auto schlichtweg aussichtslos gewesen:

Immer wieder hielten Wagen direkt auf der Straße vor dem Eingang des Parkhauses, aus denen teils schwarz gekleidete Gestalten, teils Männer mit Bodybuilder- ähnlicher Statur ausstiegen und in dem Parkhaus verschwanden. Einmal, als ein paar Leute von Olymp und Zeus gleichzeitig ihr Ziel erreichten, gab es sogar eine Prügelei auf dem Weg zwischen all den Passanten- was die Leute, wie so oft, jedoch nicht zum fernbleiben motivierte. Immer mehr Menschen kamen, einige, die mit keinen der beiden Gemeinschaften zu tun hatten, mischten sich dennoch ein und gingen ebenfalls in das Parkhaus, aus dem in unregelmäßigen Abständen Schüsse und Schreie zu hören waren.

Die beiden Männer hatten sie zu einem Auto eskortiert, das auf der anderen Straßenseite parkte, sichere 100 Meter weg von dem Geschehen. Die Scheiben waren schwarz getönt und man hatte ihr ungefähr fünf Mal versichert, dass die Fenster aus Panzerglas bestünden. Trotzdem spürte Persephone ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Besorgt schaute sie vom Rücksitz aus durch das dunkle Glas zu dem Parkhaus hinüber.

Eine Frau stand abseits der Menge und hielt sich mit der rechten Hand ein Handy ans eine Ohr, die linke Hand drückte sie aufs andere. Sie schien etwas in den Hörer zu rufen und schaute sich immer wieder über die Schulter um, zurück zu dem Gebäude, in dem ein Krieg zu toben schien. Ihr Gesichtsausdruck wurde von Sekunde zu Sekunde ängstlicher und sie sprach immer schneller in ihr Handy. Persephone blies die angehaltene Luft aus und schüttelte den Kopf. Die Frau schien nicht von hier zu sein, mutmaßte Persephone, oder sie konnte vor lauter Angst und der riesigen Portion Sensationsgier, die in ihren Augen funkelte, keinen klaren Gedanken mehr fassen.

„Als wenn die Polizei diesmal kommen würde…“, murmelte sie. Einer der Männer nickte beipflichtend, der andere stieß ein kurzes hartes Lachen aus.

Jeder, der sich in dieser Gegend etwas öfter aufhielt, wusste, dass die Polizei einen großen Bogen um diesen Bezirk machte. Nicht einmal Streife wurde hier gefahren- und wenn sich hier doch mal ein Polizeiwagen hin verirrte, dann nur, weil seine Fahrer außer Dienst waren und ihren Feierabend mit fragwürdiger Begleitung genießen wollten.

Es war nicht das erste Mal, dass hier ein Streit zwischen Banden oder Vereinen in einem Straßenkampf endete, aber egal wie viele Verletzte oder gar Tote es gab oder wie groß der Sachschaden drohte zu werden, die Polizei war nie zur Stelle gewesen. Spätestens, wenn man am Telefon die Straße nannte, wusste man, dass man auf den ‚Freund und Helfer’ verzichten musste. Hier waren die etlichen Banden und Drogenzirkel die Gesetzeshüter. Jeder noch so kleine Drogendealer oder Kleinkrimineller stand unter den Fittichen eines höheren Tieres und Bosses und genau an denen lag es, ihr ‚Revier’ sauber von Kämpfen zu halten- es sei denn, sie selbst haben sie angezettelt…

„Die Bullen tauchen frühestens morgen früh auf und dann nur, um nen Krankenwagen zu rufen, der die Leichen aufsammelt und die restliche Sauerei aufwischt…“, brummte einer der beiden Männer verspätet. Persephone schwieg, senkte nur die müden Augen und sah der Frau dabei zu, wie sie das Handy wegsteckte und sich verzweifelt auf die Unterlippe biss.

Von irgendwoher waren auf einmal leise mehrstimmige Sirenen zu vernehmen. Verwundert hob Persephone den Kopf. „Krankenwagen?“, flüsterte sie und sah sich um. „Welche Zentrale ist so verrückt und schickt jetzt Sanitäter?“

„Vermutlich ist das Zeus` Verdienst…“, brummte der Mann, der auf den Fahrersitz saß. Der Andere nickte daraufhin. „Stimmt, Zeus hat so etwas angedeutet, dass er Kontakte zu einem der anliegenden Krankenhäuser habe.“

Ein Lächeln breitete sich auf Persephones Gesicht aus. Zeus hatte wirklich an alles gedacht…

Nun würde alles gut werden, da war sie sich sicher.

Doch kaum waren die vier Wagen angekommen, ertönte plötzlich eine gewaltige Explosion, und Augenblicke später stieg schwarzer Rauch aus dem Parkhaus, der die Menschenmasse auseinander stob. Überall schrieen Leute auf und auch Persephone und ihre Begleiter sogen erschrocken die Luft ein. Alarmiert blickte Persephone zu dem Gebäude und ihr Herz blieb schmerzhaft stehen.

„Was war das?“, fragte der der Mann auf dem Beifahrersitz.

Der Andere zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich hat jemand ne Bombe oder so- hey! Warte, bleib hier!“, rief er erschrocken und versuchte, Persephone noch am Arm zu erwischen, doch da hatte sie schon die Tür des Wagens aufgerissen und rannte über die Straße.

Immer mehr Leute kamen aus dem dichten Qualm am Eingang des Parkhauses und wurden sofort von Sanitätern empfangen, die zurückgeblieben und nicht mit ins Gebäude gegangen waren. Manche hatten Verbrennungen, einige klaffende Schuss- und Stichwunden und viele waren so schwer verletzt, dass sie nur wenige Schritte über den Gehweg stolperten und dann einfach zusammenklappten.

Persephone stand zwischen den Verletzten und schaute sich schwer atmend um. Sie erkannte niemanden, sah nur Blut und Schmerz. Die Sanitäter hatten alle Hände voll zu tun und einige Passanten gingen ihnen hilfsbereit zur Hand. Verzweifelt ließ sie ihren Blick umherirren, nicht sicher, ob sie ein bekanntes Gesicht wirklich entdecken wollte. Eine Hand packte sie plötzlich grob an der Schulter und drehte sie um ihre eigene Achse. Augenblicklich starrten sie zwei vor Wut funkelnde Augen an.

„Spinnst du?“, knurrte der etwas breitere von den beiden Männern. „Willst du, dass Zeus uns einen Kopf kürzer macht?“

Der Schmächtigere tauchte hinter dem anderen auf und schaute ihn besorgt an. „Beruhige dich, Will, ihr ist ja nichts passiert…“, versuchte er es im versöhnlichen Ton, doch sein Partner fuhr nur hastig herum und schüttelte den Kopf.

„Ich habe es aber statt, mich ständig zu beruhigen, Edward!“, fauchte Will und ließ Persephone fast beiläufig los. Ed verschränkte augenrollend die Arme und verlagerte sein Gewicht auf ein Bein, was etwas sehr feminines hatte. „Jetzt fang nicht schon wieder davon an, okay? Ich habe doch gesagt, dass-“

Weiter hörte Persephone nicht zu, sondern drängelte sich wieder durch die Masse aus Verletzten und Helfern. Dann plötzlich stand sie nur wenige Meter von dem Eingang entfernt, aus dem noch immer vereinzelt Menschen kamen.

Zwei Männer, die vermutlich zu Zeus gehörten, hatten einen Dritten in ihre Mitte genommen und beeilten sich, den Rauch hinter sich zu lassen. Wieder zog sich Persephones Herz zusammen und diesmal konnte sie einen Aufschrei kaum unterdrücken. Der sonst so große und kräftige Mann stützte sich auf die beiden anderen, die ihn flankierten und machte den erbärmlichsten Eindruck, in den Persephone ihn je gesehen hatte.

„Ares!“, schrie sie und rannte auf ihn zu. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren und seine Lippen wurden zusehend bläulicher. Müde schaute er auf und versuchte zu lächeln.

Sie stand vor ihm, starrte ihn nur an und schwieg. Er bedeutete den beiden Männern, sie beide allein zu lassen, was sie auch bedingungslos taten, sodass er nun gekrümmt und etwas wackelig dastand. Sein linker Arm legte sich sofort um seinen Oberkörper, wodurch ein Teil der riesigen Wunde verdeckt wurde. Persephone betrachtete sie kurz und ihr Hals zog sich augenblicklich zusammen. Zögernd hob sie wieder den Blick und schaute in Ares` glanzlose Augen.

„Du hast mich warten lassen…“ Etwas anderes brachte sie nicht über die Lippen. Wieder rannen diese dummen Tränen über ihre Wangen. Ares lächelte nur.

„Wieso? Ich bin doch jetzt hie-“

Weiter ließ sie ihn nicht kommen. Ohne Vorwarnung fuhr Persephones flache Hand auf seine linke Wange klatschend nieder und färbte diese rot. Ares schaute sie verdutzt an.

„Idiot!“, keifte Persephone aufgebracht. „Ich habe dir gesagt, dass du vorsichtig sein sollst und nun stehst du halbtot vor mir! Was war daran so schwer zu verstehen?! Du hältst dich nie an Abmachungen, ich habe deine ewigen Alleingänge langsam satt! Du bist so ein verdammter Narr!“, schrie sie erstickt und holte schluchzend Luft. Über Ares` Gesicht hatte sich wieder sein typisches Grinsen gelegt.

„Tja, Kore, das ist der Vorteil, wenn man ein Narr ist- man braucht nicht perfekt zu sein…“, hauchte er leise und streckte den Arm aus, um sie am Handgelenk zu ergreifen, doch Persephone hatte wieder ausgeholt und schlug mit der Faust gegen seine Brust- nicht fest, denn dazu fehlte ihr die Kraft.

„Hör auf, so ein Klugscheißer zu sein!“, rief sie und wehrte seine Hand ab. Ihre Faust fuhr ein paar mal auf ihn nieder, doch Ares ließ sich davon nicht beirren, sondern zog sie kurzerhand an sich. Weinend gab sie ihren Widerstand auf und Ares fuhr ihr tröstend übers Haar.

„Tu mir bitte einen Gefallen.“, flüsterte er irgendwann. Die Tränen wegwischend, schaute Persephone fragend zu ihm hoch. „Du musst jetzt bei Finja bleiben. Sie braucht dich…“, fügte er hinzu, woraufhin Persephone energisch den Kopf schüttelte.

„Nein, ich bleib bei dir!“, erwiderte sie. Ares` Blick wurde plötzlich ungewöhnlich hart.

„Kore, ich meine es ernst.“, raunte er. Auf einmal kam Persephone ein erschreckender Gedanke. Mit geweiteten Augen starrte sie ihn an.

„Was ist dort unten passiert, Ares?“, hauchte sie kraftlos, doch Ares schloss nur müde die Augen und schüttelte den Kopf. Persephone verstand sofort und sog entsetzt die Luft ein. Augenblicklich löste sie sich von dem Mann und schaute wieder zum Eingang des Gebäudes.

„Geh.“, sagte Ares in ihrem Rücken. „Ich komme schon klar.“

Besorgt drehte Persephone sich um. Ares konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten und sah so aus, als würde er im nächsten Moment das Bewusstsein verlieren. Nervös biss sie sich auf die Lippen und trat noch einmal auf ihn zu. „Ich komme nach.“, sagte sie, dann fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu: „Wehe du stirbst mir hier weg!“

Daraufhin lachte er schwach. „Und dir die Chance nehmen, mich persönlich ins Jenseits zu schicken? Würd` mir im Traum nicht einfallen…“, antwortete er und grinste frech. Persephone lag schon ein bissiger Kommentar auf den Lippen, verkniff sich diesen allerdings und schaute sich stattdessen nach einem freien Sanitäter um, den sie zu sich winkte. Sie wollte nun keinen Streit vom Zaun brechen, dafür würde später noch genug Zeit sein- hoffentlich. Noch einmal sah sie sich zu Ares um, der nun von dem Sanitäter versorgt wurde, dann drehte sie sich zu dem Eingang- und blieb wie angewurzelt stehen.

Zwei Männer rannten an ihr vorbei zu den Krankenwagen. Sie hielten eine Trage in ihren Händen, auf der ein Junge festgeschnallt war, den Persephone nicht sofort erkannte, da er von Blut und Wunden schrecklich entstellt war. Erst auf den zweiten Blick sah sie, dass es sich um Nero handelte. Sie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund und ihr Herz begann unregelmäßig schneller zu schlagen.

Vor Angst zitternd schaute sie Nero nach, bis sie in ihren Augenwinkeln eine Bewegung ausmachte. Zeus kam auf sie zu, eine blasse Finja in den Armen tragend.

„Mein Gott…“, entfuhr es ihr entsetzt. Sofort lief Persephone auf die beiden zu. Zeus hatte Persephone in der Masse entdeckt, war stehen geblieben und stellte Fin vorsichtig auf die Füße. Er schien unverletzt zu sein, seine Kleidung war lediglich etwas rußgeschwärzt. Fin dagegen sah wie ein Geist aus.

Apathisch schaute das Mädchen zu Boden und selbst als Persephone sie erreicht und weinend in die Arme geschlossen hatte, reagierte sie nicht.

„Es wird alles wieder gut werden, Fin, hörst du?“, murmelte Persephone ruhig, innerlich jedoch um Fassung kämpfend und wiegte sie tröstend hin und her. „Die Ärzte werden ihn schon wieder hinkriegen, da bin ich mir sicher.“ Hoffentlich, dachte Persephone bitter und sah sich zu dem Krankenwagen um, zu den man Nero gebracht hatte und der nun mit heulenden Sirenen wegfuhr. Natürlich sollte man Angehörigen und Freunden in solchen Situationen Mut zusprechen, aber selbst ein Kind hätte hier die Lüge hinter ihren Worten erkennen können, hätte es nur einmal zu Nero geschaut.

Fin antwortete nicht. Sie stand schlaff da und ließ sich alles gefallen, als hielte Persephone keinen Menschen, sondern eine Puppe in den Armen. Verzweifelt presste Persephone die Lippen auf einander. Was war dort unten nur passiert? Warum war sie nicht mitgegangen? Warum, verdammt?!

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und ließ sie aufschauen. Zeus` warmer Blick deutete ihr, Fin loszulassen. Zögernd ging sie dieser stummen Aufforderung nach. Zeus kniete sich kurzerhand vor dem Mädchen nieder und schaute ihr in die gesenkten, ausdruckslosen Augen. Ihr Gesicht war blutverschmiert- Persephone wollte nicht darüber nachdenken, wessen Blut es war.

„Finja“, sagte Zeus sanft. „Ich bin bereit, dir einen Gefallen zu tun. Memoria müsste auch nach so vielen Jahren noch funktionieren. Wenn du willst, kann ich dir helfen, das alles hier zu vergessen… Du würdest dich an nichts mehr erinnern- nicht an mich, nicht an die letzten Tage… nicht an Nero.“ Bei den letzten Worten leuchtete etwas in Fins Augen auf, als bemerke sie erst jetzt, dass jemand mit ihr sprach. Persephone trat erschrocken auf den Mann zu. „Zeu-“

Das bloße Heben seiner Hand, ließ sie verstummen. Er schaute nicht auf, sondern legte nur vorsichtig seine Linke auf Fins Oberarm.

„Ein Wort, Finja.“, sagte Zeus beschwörend. „Du musst es nur sagen.“
 


 

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*reinwusel*

*umschau*

*räusper* eigentlich habe ich mir vorgenommen, keinen kommentar in meiner geschichte selbst zu schreiben, weil die kapitel ja eigentlich für sich selbst sprechen sollten, aber ich kann einfach nicht meine klappe halten uu" *selbst hau*

an alle, die bis hierher durchgehalten haben: danke!

vielen lieben dank, dass ihr Cod3s gelesen habt und es hoffentlich noch die restlichen kapitel tun werdet ^^ ich freu mich tierisch, dass sich jemand für meine verrückten ideen interessiert und ich krieg regelmäßig einen krampf vom dauergrinsen, wenn ich eure kommentare lese oder sehe, dass jemand Cod3s in seiner favo-liste hat :)

wie ihr vermutlich nach diesen letzten zeilen ahnt, nähert sich Cod3s dem ende... aber wie wird das wohl aussehen? was glaubt ihr, wie wird sich Fin entscheiden? was passiert mit olymp und seinen mitgliedern?

ich hab noch ein, vllt auch zwei überraschungen, allerdings ist die eine noch in arbeit und ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich nicht weiß, wie lang ich dafür noch brauche. Cod3s selbst habe ich schon länger vollständig vor mir liegen, nur dieses eine verdammte... *undeutlich herummecker*... noch ausstehende kapitel ist noch nicht ganz fertig ^^"

ich zwing mich aber zur eile, versprochen :)

also, noch einmal danke für eurer durchhaltevermögen und ich hoffe, dass ihr beim lesen genauso viel freude hattet, wie ich beim schreiben, rumgrübeln, verbessern und frust schieben :P

lg, Myori

Epilog: Restart

Es war Anfang März und seit einigen Tagen war die Sonne wieder stark genug, die Gehwege und Blumenbeete in den Vorgärten von ihrer Schneedecke zu befreien. Wenn man leise genug war, konnte man dem Eis dabei zuhören, wie es von den dicken Zapfen an den Dachschindeln und Rohren heruntertropfte und platschend auf den tauenden Boden fiel. Überall sangen Vögel, die die zurückkehrende Wärme genossen und den Frühling begrüßten.

Der Mann verweilte kurz und ließ den Blick über die unter ihm liegende Stadt schweifen, die rechte Hand immer noch auf der geöffneten Autotür ruhend. Er schloss die Augen und hörte den Konzerten der Vögel zu, was eigentlich ganz und gar nicht seinem Charakter entsprach, aber so selten, wie er aus der lauten Stadt kam und solch friedliche Geräusche dementsprechend wenig zu hören bekam, drückte er mal beide Augen zu und gönnte sich diesen Luxus für seine Ohren.

Wind kam auf und fröstelnd langte er nach seiner Jacke, die auf der Rückbank seines Wagens lag. Dabei blieb sein Blick an der zierlichen Frau kleben, die auf dem Beifahrersitz saß, zwei bunte Blumensträuße auf dem Schoß und in Gedanken versunken nach vorne durch die Fensterscheibe schauend. Er verharrte in der Bewegung, nach seiner Jacke zu greifen und sah sie stumm an. Als erwache sie aus einem Traum, blinzelte sie auf einmal und lenkte ihren Blick in seine Richtung. Er runzelte die Stirn.

„Willst du nicht aussteigen? Wir sind da.“, erwiderte er ihren fragenden Blick, unsicher was er genau sagen sollte- was, wie die meisten wussten, ebenfalls untypisch für ihn war…

Die Frau schüttelte den Kopf und lächelte. „Geh schon mal vor. Ich brauche noch ein paar Minuten für mich.“

Der Mann schaute sie schweigend an, dann zuckte er mit den Schultern, griff endlich nach der Jacke und richtete sich auf. Leise ließ er die Autotür zufallen und ging den kleinen Kiesweg entlang, der von dem Parkplatz zu dem alten Friedhof führte. Der Kies knirschte leise unter seinen Lederschuhen und vermischte sich mit der harmonischen Ruhe, wie sie nur ein Ruheort der Toten erzeugen konnte.

Der Wind wehte unter sein Jackett, ein Kleidungsstück, was er für gewöhnlich nicht zu tragen pflegte und zupfte an seinem Hemd, das er sich akkurat in die Hose gesteckt hatte- und das auch nur, weil sie ihn den ganzen Morgen über mit hochgezogener Augenbraue begutachtet und sich jeden weiteren Kommentar zu seinem „legeren“ Stil geklemmt hatte, die auch gar nicht nötig gewesen wären. Manchmal, so dachte er in solchen Momenten, kam es ihm vor, als sei sie die Erfinderin der tötenden Blicke gewesen…

Der Stoff seines Hemdes strich über die frische Narbe auf seiner Brust und er widerstand nur schwer dem Drang, sich zu kratzen. Um seine Hände anderweitig zu beschäftigen, griff er in seine Hosentasche und holte eine Schachtel Zigaretten zum Vorschein. Er zündete sich eine an und blies den bläulichen Qualm durch den Mund wieder aus. Er war kein Kettenraucher, der Tag und Nacht den Drang verspürte, eine nach der anderen zu rauchen, allerdings würde er sich auch nicht als Gelegenheitsraucher betrachten- irgendwas dazwischen würde schon auf ihn zutreffen und solange er in kein Extrem verfiel, das selbst seinem Umfeld negativ auffallen würde, würde er auch nicht weiter darüber nachdenken. An irgendetwas müsse man ja sterben, sagte er sich immer.

Obwohl es schon fast zwei Monate her war, als er das letzte Mal hier war, ging er zielstrebig an den kleinen Gräbern vorbei, die zum Teil noch unter Schnee bedeckt lagen, bog hier ab, stieg dort ein paar Treppen hoch, bis er vor einem Grab mit einem niedrigen Grabstein stehen blieb.

Es war schlicht dekoriert, beinahe so, als wolle es nicht auffallen oder vorgeben, einfach nur eine freie Stelle in Mitten all der anderen Gräber zu sein. Der Schnee, der die spärlichen und nun verwelkten Kränze bedeckte, die vor zwei Monaten noch frisch hingelegt worden waren, tat sein Übriges und komplettierte den Eindruck des Unscheinbaren. Zumindest war der Schnee soweit vom Grabstein weg geschmolzen, dass man den eingravierten Namen wieder lesen konnte.

Ihm kam der ungewohnte Name immer noch schwer über die Lippen. Er hatte die Person nie so genannt und jetzt, wo sie tot war, nahm er ihren Namen sowieso kaum noch in den Mund.

Er wollte nicht zu viele Gedanken an diesen Mann verschwenden und da sein Name in seiner näheren Umgebung eh immer längere Diskussionen oder Gefühlsausbrüche jeglicher Art hervorrief, schürte dieser Name auf dem Grabstein bei ihm weniger Trauer, als mehr Wut und Verachtung. Zu seiner Beerdigung war er auch nur des Anstandes wegen gegangen.

Er betrachtete das Grab und zog ein letztes Mal an der Zigarette, ließ sie fallen und trat sie mit dem Absatz aus.

„Dreckskerl…“, fluchte er leise und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Dass er für einen Mann gekämpft hatte, der nur sein eigenes Ziel vor Augen gehabt hatte, störte ihn weniger; vielmehr die Tatsache, dass er, wenige Monate, nachdem er ihm zu seinem Ziel verholfen hatte, die Dreistigkeit besessen hat, einfach zu sterben, bereitete ihm Magenschmerzen. Aber hatte er nicht Zeit seines Lebens nach seinen eigenen Regeln gespielt und seine Untergebenen nach ihnen spielen lassen? War es da noch verwunderlich, dass er auch noch die Ironie des Schicksals für sich ausnutzte, um seine Spielfiguren- in seinen Augen- angemessen zu entlassen?

Der geräuschvolle Kies, der eine herannahende Person ankündigte, unterbrach seine angefangene lautlose Schimpfhymne und lies ihn aufschauen. Er sah seine Partnerin den Weg heruntergehen, den Kopf leicht gesenkt und nur noch einen Blumenstrauß in den Armen haltend. Sie setzte ihre Füße, die in niedrigeren Pumps steckten, ungewohnt vorsichtig und langsam. Ihr Dunkelblaues Kleid, das sie sich vor ein paar Wochen anlässlich dieses Ausflugs gekauft hatte, wehte leicht in dem stetigen Frühlingswind und umspielte ihre wohlgeformte Silhouette. Bevor sie ihn erreichte, wischte sie sich wie beiläufig über die geschminkten Augen und lächelte.

„Alles in Ordnung?“, fragte er und sie beeilte sich, schnell zu nicken.

„Ja, alles bestens. Ich habe die Stelle, wo sie ihn beigesetzt haben, nur nicht wiedergefunden. Das war ein wenig frustrierend.“, fügte sie, um ein authentisches Lachen bemüht, hinzu. Er zuckte mit den Schultern und seufzte. „Es ist ein anonymes Grab, Helen. Es ist der Sinn und Zweck eines solchen, nicht gefunden zu werden.“, sagte er im sanftesten Tonfall, den er hinbekam.

Sie nickte. „Ich weiß.“, erwiderte sie ruhig und senkte den Blick. „Er hätte nur etwas Besseres verdient. Ein echtes Grab- mit seinem Namen.“

„Du weißt, dass das nicht geht. Für eure Familie ist er schon lange tot- ihr beide seid es! Wenn sie durch einen Zufall ein zweites Grab mit seinem Namen finden, erzeugt das nur Verwirrung.“

Helen schwieg und er fasste das als stille Zustimmung auf. Ohne ein Wort zu sagen, legte sie im nächsten Moment den Blumenstrauß, den sie getragen hatte, auf das Grab vor ihnen ab und legte ihre Hände zum Gebet zusammen. Er ließ sie gewähren und unterdrückte nur mit Mühe ein Augenrollen. Nach ein paar Sekunden senkte sie ihre Hände wieder und schlang sie stattdessen um ihren Körper, den Blick immer noch auf die Lettern auf dem Stein gerichtet.

„Schon komisch, seinen echten Namen zu lesen.“, murmelte sie. „Es kommt mir vor, als liege hier jemand fremdes und nicht Zeus…“ Als er ihr nicht antwortete, fuhr sie traurig fort: „Wir hatten endlich unser Ziel erreicht und dann? Ich verstehe immer noch nicht, warum er so plötzlich gestorben ist. So alt war er doch gar-“

„Zeus starb an einem Herzinfarkt, du selbst hast den Bericht gelesen. Und im Übrigen war es nicht unser Ziel, sondern nur sein verdammtes Ziel gewesen.“, fiel er ihr brüsk ins Wort, woraufhin sie ihn wieder mit ihrem berühmten Todesblick anschaute.

„Kannst du nicht zumindest jetzt, wo er tot ist, aufhören, schlecht von ihm zu reden, John?“, antwortete sie wütend. John seufzte innerlich. Genau wegen solchen und ähnlichen Reaktionen auf seine Äußerungen zum Thema verstorbener Gottheiten, vermied er es, Zeus` Namen- sei` s nun seinen bürgerlichen oder unsterblichen- auch nur in den Mund zu nehmen.

Trotzig vergrub John seine kalten Hände noch tiefer in den Taschen und zog die Schultern hoch.

„Warum sollte ich ausgerechnet jetzt damit anfangen, ihn in den Himmel zu loben? Er hört` s doch eh nicht oder glaubst du, ich muss jetzt Angst haben, dass er mir nun von da oben Blitze herunter schleudert, wenn ich schlecht über ihn rede?“ John schüttelte mit dem Kopf. „Wenn du mich fragst, hat der Alte das hier gar nicht verdient. Er sollte genau wie Hades irgendwo vergraben sein, wo niemand weiß, dass er dort liegt.“

Jeder hat ein anständiges Grab verdient, Ares…“, gab Helen zurück und John zuckte unter dem schroffen Tonfall leicht zusammen. Dass sie seinen alten Namen verwendet hatte, zeigte ihm deutlich, dass er sich auf gefährlichem Terrain bewegte und mit einem Bein schon über dem Abgrund tastete. Er schwieg kurz, dann schob er beleidigt die Unterlippe vor und schaute in die Ferne.

„Und dass du so viele Gedanken an ihn verschwendest, hat er auch nicht verdient…“, murmelte er leise, mehr zu sich selbst, als zu ihr. Helens aufkommender Zorn verpuffte aus ihren hart gewordenen Gesichtszügen und verschmitzt lächelnd schaute sie ihn an.

„Sag bloß, du bist eifersüchtig.“, stichelte sie.

John blinzelte verdutzt und errötete, sodass Helen anfing zu lachen. Ja, das war auch so eine Eigenart, die er erst seit neustem aufwies und die ebenfalls untypisch für ihn war- und er wurde den Verdacht nicht los, dass dieses Frauenzimmer daran schuld war. Er hatte schon immer gewusst, dass sie ihn irgendwann ins Grab bringen würde… hier, auf dem Friedhof, war er ja schon mal!

Als fiele ihm plötzlich etwas ein, schaute er auf seine Armbanduhr. „Wann geht ihr Flug eigentlich noch einmal?“, fragte er aus dem Nichts. Helen hörte auf zu lachen und schaute ebenfalls nachdenklich auf ihre eigene Uhr.

„In drei Stunden. Wenn wir sie noch erwischen wollen, sollten wir uns beeilen.“, antwortete sie und wandte sich zum Gehen. Ohne noch einmal zurückzuschauen, folgte John ihr.

„Fin hat vor, dort drüben ihren Vater zu besuchen, oder?“, fragte er nach ein paar Metern und Helen nickte zustimmend. „Meinst du, das ist eine gute Idee?“, fuhr er fort und hob die Schultern. „Wenn ich das damals richtig verstanden hab, ist ihr Verhältnis zu ihm- naja… schwierig.“

„Ich finde es gut, dass sie diesen Schritt wagt.“, erwiderte Helen und schaute ihn an. „Sie haben sich so viele Jahre nicht gesehen, ich denke, da wird es langsam mal Zeit.“ Sie machte eine Pause und schaute wieder zu Boden. „Jeder sollte eine Familie haben, auf die er sich verlassen kann…“, fügte sie leise hinzu. John zog verwundert eine Augenbraue hoch, verkniff sich allerdings jeglichen Kommentar und so gingen sie schweigend zurück zum Parkplatz, auf dem sein Wagen stand. Besorgt schaute Helen beim Einsteigen auf ihre Uhr.

„Glaubst du, wir schaffen es in einer Stunde da zu sein?“

John zuckte mit den Schultern und grinste breit. „Das schaffen wir locker- wenn ich fahre…“

„Wenn du fährst, schaffen wir es locker, von der Polizei angehalten zu werden.“, konterte Helen spitz.

„Süße, darf ich dich an deine eigenen Worte von damals erinnern? Meine Schlüssel, mein Auto?“, antwortete John vielsagend und klimperte mit dem Schlüsselbund, den er in der Rechten hielt. Helen schüttelte nur den Kopf und stieg ein. „Ich hab dich gewarnt, klar?“, sagte sie und deutete mit dem Finger auf ihn. John salutierte gespielt, setzte sich auf den Fahrersitz und startete den Motor.
 

Der Stadtverkehr war, wie zu erwarten, um diese Uhrzeit zähflüssig und stockend. An fast jeder Kreuzung standen sie beinahe Minutenlang und warteten, bis die Ampel wieder auf grün umsprang, sodass wieder vier bis fünf Autos weiterfahren konnten. Für Johns Geschmack gab es viel zu viele Ampeln und die meisten waren seiner Meinung nach eh überflüssig. Sie waren noch nicht zu spät dran, aber diese ewige Warterei sägte unaufhaltbar an seinem Geduldsfaden. Um Beherrschung kämpfend, trommelte er mit den Fingern auf das schwarze Lenkrad und schaute zu dem dämlichen roten Licht direkt vor ihm. Wäre der verdammte Nissan vor ihm nur ein paar Km/h schneller um die Kurve gekrochen, würde er jetzt hier nicht mehr stehen! Gereizt stieß er die Luft aus seinen Lungen aus.

Helen neben ihm schwieg. Seit sie losgefahren waren, hatte sie kein Wort gesagt. Schielte er mal kurz zu ihr rüber, nestelte sie mit den Fingern an dem Stoff ihres Kleides oder schaute aus dem Fenster. Dieses nachdenkliche, niedergeschlagene Verhalten entsprach eigentlich gar nicht ihrem Charakter- für gewöhnlich kritisierte sie seinen Fahrstil am laufenden Band oder redete einfach nur mit ihm über irgendeinen Nonsens, dass er immer froh war, wenn sie an ihrem Ziel angekommen waren. So still wie heute hatte er sie bis jetzt selten erlebt. Allerdings schrieb John das der Tatsache zu, dass sie gerade ihren toten Bruder besucht hatte. Vielleicht sollte er das nächste Mal einfach mitgehen, sagte er sich.

„John?“, sagte sie plötzlich und er schaute sie fragend an. „Ich muss dir etwas sagen…“

Er zog die Stirn kraus, schaute aber wieder auf die Ampel, die gerade auf gelb umsprang. Endlich! Er drückte die Kupplung und schaltete in den ersten Gang.

„Schieß los.“, erwiderte er und machte sich bereit, loszufahren.

Helen sagte nicht viel. Sie sagte die Worte schnell- und genauso schnell ließ John die Kupplung kommen, mit dem Ergebnis, dass der Wagen lautstark abwürgte. Er vergaß zu atmen, starrte sie nur an und war sich nicht sicher, was er fühlen oder sagen sollte.

Helens Wangen waren leicht rosa geworden und sie schaute ihn immer noch nicht an, sondern deutete lächelnd auf die Ampel. „Es ist grün…“

Und wie zur Bestätigung, hupten auf einmal mehrere Autos ungeduldig hinter ihnen. Als erwache John aus einem Traum, schaute er zu dem grünen Licht, schaute dann wieder sie an und startete endlich den Motor. Als sie ein paar Meter gefahren sind, schluckte John und suchte nach den passenden Worten. Mit klopfenden Herzen holte er Luft. „Und… und du-“

„Ich bin mir sicher…“, fiel sie ihm sanft ins Wort. Wieder schluckte er.

„Oh.“, brachte er krächzend vor und nickte perplex. „…Okay.“

Jetzt war er sich sicher: er würde nicht an Lungenkrebs oder in einem Autounfall sterben- nein, sein persönlicher Sensenmann saß direkt neben ihm.
 

Die Anzeigetafel sortierte sich neu und endlich wurde auch ihr Flug angezeigt. Fin schluckte den riesigen Kloß in ihrem Hals herunter und umfasste den Tragegriff ihres Handgepäcks noch stärker.

Bald würde sie im Flugzeug nach Amerika sitzen und in weniger als 48 Stunden würde sie ihrem Vater gegenüberstehen. Nach so vielen Jahren! Wie er wohl reagieren würde? Wollte er sie überhaupt wieder sehen? Wollte sie ihn eigentlich wieder sehen?

Eine Hand umschloss ihre und sie drehte sich von der Anzeigetafel weg und ein Teil ihrer Zweifel verflog beim Anblick seiner dunkeln Augen. Neros Anwesenheit hatte sie schon immer beruhigt, aber in letzter Zeit konnte sie es kaum noch unterdrücken, zu lächeln, wenn sie ihn ansah. Sein rechter Unterarm war immer noch eingegipst und unter seinem hellen Shirt musste er weiterhin den dicken Verband tragen, aber sonst sah er fast wieder normal aus und nicht, als wäre er vor einem Maschinengewehr hergelaufen.

Die letzten Monate waren schrecklich für Fin gewesen. Lange war unklar, ob Nero seine Verletzungen überleben würde; man hatte ihn für Wochen in ein künstliches Koma gelegt und ihn so oft operiert, dass Fin aufgehört hatte, mitzuzählen. Doch jetzt ging es ihm wieder besser und die Ärzte hatten ihm erlaubt, zu fliegen.

Nero schaute an ihr vorbei zu der Anzeigetafel und grinste.

„Bald geht es los.“, sagte er und Fin nickte nervös. Er runzelte kurz die Stirn, dann verstand er und zog sie lachend an sich. „Wovor hast du Angst, Fin?“, fragte er sanft und strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht. „Er ist dein Vater. Er wird dich schon nicht zurückweisen, egal was in der Vergangenheit zwischen euch vorgefallen ist. Und außerdem…“, fügte er hinzu. „Möchte ich deinen Vater auch gerne kennen lernen- immerhin bin ich doch jetzt offiziell dein Freund.“

Bei den Worten löste sich Fin aus seiner Umarmung und schaute ihn schief an. „Du willst dich ihm echt vorstellen? Sag bloß, du willst ihn auch noch fragen, ob du mit mir ausgehen darfst?“, lachte sie. Nero zog nur die Schultern hoch.

„So gehört sich das doch, oder?“

„Na, ich weiß ja nicht, in welchem Jahrhundert du lebst, aber in meinem musst du so was nicht mehr machen.“

„Hast du Angst, dass ich einen falschen Eindruck bei ihm hinterlassen könnte?“, mutmaßte Nero und grinste. „Glaubst du, ich bin in seinen Augen ein schlechter Umgang für dich?“

Fin zog eine Augenbraue hoch und hob die Schultern.

„Es lässt sich nicht leugnen, dass ich dank dir ein paar Bekanntschaften geschlossen habe, auf die ich gut und gerne verzichtet hätte.“, erwiderte sie vielsagend und schüttelte bei dem Gedanken an gewisse Personen den Kopf. „Aber ich bereue keine einzige Entscheidung, die ich in den letzten Monaten gefällt habe.“, schloss sie und küsste ihn kurz. „Allerdings solltest du dennoch zuallererst diesen Spezialisten aufsuchen, den der Arzt empfohlen hat und dich untersuchen lassen.“

Fin schaute besorgt auf sein eingegipstes Handgelenk. Der Bruch war äußerst kompliziert gewesen und hatte viele Sehnen und Bänder in Mitleidenschaft gezogen. Das Gelenk war zwar längs verheilt, doch man hatte es bei all den anderen Eingriffen vernachlässigt, sodass die Fraktur nun erneut gebrochen und neu gerichtet werden müsste. Der Orthopäde, den ihr Arzt schon vorsorglich kontaktiert hatte, war als Geheimtipp verschrieben und im Endeffekt war dieser Arzt auch der eigentliche Grund für ihre Reise nach Amerika.

Eine Frau sagte durch den Lautsprecher ihren Flug an und bat die Passagiere, sich zum Terminal zu begeben. In Fin zog sich alles zusammen. Nervös tastete sie nach Neros Hand. Dieser nahm kurzerhand ihr Gesicht in beide Hände und schaute ihr tief in die Augen, dass sie vergaß zu atmen. „Mach dich nicht verrückt, okay?“, murmelte er sanft und lächelte. „Ich bin bei dir, egal was passiert.“

„Für immer?“

„Solange du es mit mir aushältst. Du bist die wichtigste Person in meinem Leben.“, erwiderte er und küsste sie auf die Stirn. Fin schielte kurz zur Seite, gab ihm einen flüchtigen Kuss und grinste dann. „Die wichtigste? Das solltest du aber nicht deinen Ziehvater hören lassen.“, feixte sie.

Nero runzelte die Stirn. „Wen?“, fragte er verwirrt.

„Gott, könnt ihr nicht mal fünf Minuten die Finger von einander lassen?“, ertönte die gewohnt tiefe Stimme. Nero schaute auf und die ‚wichtigste Person in seinem Leben’ war für den Moment vergessen- soviel zu dem Thema, dachte sich Fin seufzend und schüttelte den Kopf. Gegen diese Männerfreundschaft würde sie wohl nie gewinnen können.

Strahlend lief Nero auf John zu und umarmte ihn stürmisch, als hätten sie sich für Jahre nicht mehr gesehen- in der normalen Zeitrechnung waren es gerade mal drei Wochen gewesen.

Hinter John tauchte Helen auf und ging breit grinsend auf Fin zu. Das Mädchen verstand nach ein paar Sekunden und umarmte die Frau ebenfalls.

„Tut uns leid, dass wir erst jetzt auftauchen, aber der Verkehr war die Hölle.“, sagte John irgendwann, als der Freudentaumel abgeklungen war. Fin schaute erleichtert zu dem Mann, der selbst Nero um fast einen Kopf überragte. Auch er war nach dem Vorfall damals schwer verletzt gewesen und hatte lange Zeit im Krankenhaus gelegen. Persephone war beinahe täglich da gewesen und hatte sooft an seinem Bett gesessen, wie es die Umstände zugelassen hatten. Sie hatte nach langem Hin und Her die Rolle von Zeus` rechter Hand übernommen und ihm dabei geholfen, das, was noch von Olymp übrig gewesen war, zu ordnen und die zersprengten Mitglieder zu organisieren. Doch kurz, nachdem sie das schlimmste Übel überstanden hatten, war Zeus überraschend gestorben und das ganze Projekt kam zum Erliegen. Persephones letzte Amtshandlung, die sie noch als Mitglied von Olymp tat, waren die neuen Identitäten für sich selbst und die anderen Überlebenden. Auch Nero hatte eine neue Identität erhalten, aber es fiel Fin immer noch schwer, sich daran zu gewöhnen. Für sie würde er immer Nero bleiben...

Durch die Lautsprecher kam die letzte Ansage für den Flug nach New York und Fin und Nero rafften ihr Handgepäck zusammen. Fin umarmte Helen, die in den letzten Monaten so unglaublich wichtig für sie geworden war. „Machs gut.“, sagte Fin glücklich.

„Ich wünsch euch viel Glück da drüben.“, erwiderte Helen und küsste das Mädchen auf die Wange. Dann ging Fin auf John zu und stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie seinen Hals umfassen konnte.

„Tut nichts, was ich nicht auch tun würde…“, brummte er im väterlichen Tonfall. Sie lachte hell auf. „Dann haben wir alle Freiheiten der Welt?“, feixte sie.

Als John sie losließ, bedeutete sie ihm, sich zu ihr runter zu beugen, was er dann auch etwas verwundert tat. Lächelnd hielt sie ihre Hand an sein Ohr und flüsterte: „Wehe, du passt nicht gut auf die beiden auf…“

Überrumpelt starrte John sie an, doch ehe er etwas sagen konnte, hatte Fin sich von ihm entfernt, griff nach Neros unverletzter Hand und zog ihn in Richtung Terminal. Die beiden drehten sich noch einmal um und winkten John und Helen.

„Was hast du gerade zu John gesagt?“, fragte Nero verwundert, doch Fin zog nur die Schultern hoch. „Das soll er dir mal lieber selber sagen…“, sagte sie und grinste ihn an. Nero schaute nur verdutzt zurück.
 

Als die beiden die Schalter hinter sich gelassen hatten und John sie nicht mehr sehen konnte, drehte er sich mit verschränkten Armen zu Helen um. „Sag mal, kann es sein, dass Fin von der ganzen Sache schon wusste?“, fragte er leicht pikiert.

Helen lächelte unschuldig. „Jede Frau hat eine beste Freundin, die so etwas immer zuerst erfährt.“ Sie drehte sich von dem Terminal weg und ging in Richtung Ausgang.

„Ach, echt?“, fragte John und folgte seiner Freundin. „Und wie lang genau wusste sie das jetzt schon?“

Helen schnaufte. „Hör zu, ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte.“

„Was ist denn daran bitte schwer zu formulieren?“, erwiderte er aufgebracht und stellte sich Helen in den Weg. Diese verschränkte die Arme und sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Mach doch mal nen Vorschlag…“

John blinzelte verdutzt. „… Weiß nicht…“, brummte er und zuckte mit den Schultern. „Irgendwie halt…“ Helens zweite Braue wanderte ebenfalls in Richtung Haaransatz.

„Na, das ist mal `ne schlüssige Formulierung.“, entgegnete sie staunend, ging an John vorbei und ließ ihn beleidigt an Ort und Stelle stehen. Nach ein paar überrumpelten Sekunden setzte er sich dann wieder in Bewegung und holte zu ihr auf.

„Ich meine ja nur…“, fing er an und ging mit weit ausgreifenden Handbewegungen neben Helen her. „Ich hätte das nur gerne etwas früher erfahren- immerhin bin ich doch der Vater… oder?“, fügte er zögernd und etwas leiser hinzu, allerdings war es noch so laut, dass Helen es mitbekam. Abrupt blieb sie stehen, fuhr auf dem Absatz um und starrte ihn fassungslos an. Schnell biss sich John auf die Unterlippe und verwünschte zum ersten Mal in seinem Leben sein loses Mundwerk. Dass auf diesen Blick keine Ohrfeige folgte, grenzte schon glatt an ein Wunder…

„Tut mir Leid, das war beschissen von mir.“

Äußerst beschissen.“, zischte Helen wütend und betroffen schaute John zu Boden. Für Sekunden sagte niemand etwas, dann fuhr sich Helen seufzend durchs Haar.

„Ich habe die ganze Zeit hin und herüberlegt, was ich machen soll.“, erklärte sie beherrscht, sodass John es wagte, wieder aufzusehen. „Ich hatte Angst davor, dass du sagen würdest, dass du das Kind nicht haben willst oder-“ Sie brach den Satz ab, schlang ihre Arme um ihren Oberkörper und sah, die Lippen aufeinander gepresst, zur Seite. John schaute sie für einen Moment lang unschlüssig an, dann griff er nach ihrer Hand, sodass sie wieder zu ihm aufsah. Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln.

„Ich bin weder ein Befürworter der Abtreibung, noch würde ich dich wegen so etwas, das wir uns beide zuzuschreiben haben, verlassen. Es gehören immer noch zwei dazu. Und…naja, “ Er lächelte schüchtern. „Ich habe mich schon immer gefragt, wie wohl ein Kind von mir aussehen würde- immerhin weiß ich ja nicht mal, wie ich selbst als Kind ausgesehen hab…“, fügte er lachend hinzu und verzog bei dem Gedanken nachdenklich das Gesicht. Auch in Helens Gesicht stahl sich ein Lächeln. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.

„Es ist nur…“, fuhr er weiter fort und holte tief Luft, sodass sie besorgt den Kopf schief legte und die Stirn runzelte. „…ich befürchte, dass ich als Vater komplett versagen werde. Ich meine- was könnte ich dem Kleinen bieten? Was kann ich denn schon, was er in seinem späteren Leben mal bräuchte? Kämpfen? Ihm zeigen, wie man mit einem Schwert umgeht?“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. Helens Blick klärte sich und lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Glaubst du, dass ich eine so viel bessere Mutter sein werde?“

„Naja, müssten bei dir nicht diesbezüglich irgendwelche Instinkte vorhanden sein?“, fragte er vorsichtig.

„Danke.“, entgegnete Helen daraufhin trocken und sah ihn vielsagend an, sodass John nur abwehrend die Schultern hob. „Nein, im Ernst.“, fügte sie nach ein paar Sekunden seufzend hinzu. „Denk nicht so schlecht von dir. Du bist willensstark, man kann dir vertrauen und du würdest nie einen Menschen, der dir etwas bedeutet, im Stich lassen und es tut mir Leid, dass ich zu Anfang etwas anderes von dir gedacht habe. Das alles sind wunderbare Eigenschaften, John.“, sagte sie sanft, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Aber die Erziehung überlässt du bitte mir, ja?“, hauchte sie abschließend und grinste. John blinzelte und nun zog er die Stirn kraus.

„Ach ja und warum? Nero hab ich ja wohl auch groß gekriegt.“

„Groß ja, aber nicht so, wie du es vorgehabt hast...“ Und auf einen verwirrten Blick von John hin, fügte sie schulterzuckend hinzu: „Du wolltest aus ihm einen Killer machen und jeder weiß ja, was im Endeffekt daraus geworden ist. Tut mir leid, Liebling, aber du scheinst prädestiniert dafür zu sein, die Leute ins Gegenteil zu kehren…“

Beleidigt schob John die Unterlippe vor. Diese Frau machte ihn noch wahnsinnig. „Aus Fehlern lernt man ja für gewöhnlich.“, brummte er. „Bei dem Kleinen werd ich mich schon besser anstellen.“

„Warum redest du eigentlich die ganze Zeit davon, dass es ein Junge wird?“, fragte Helen und verschränkte die Arme. John lachte und zeigte mit dem Daumen auf sich selbst.

„Weil es mein Kind ist, ganz einfach…“

„Ach ja, ich vergaß.“, nickte Helen und schaute ihn spöttisch an. „Ihr Männer könnt das ja so einstellen, dass ihr nur Y- Chromosome produziert. Wir können richtig von Glück reden, dass euch manchmal Systemfehler unterlaufen und so Frauen entstehen- was würden wir nur ohne euch machen…?“, sinnierte sie und ihr Grinsen wuchs zusehends- genauso wie Johns Schmollen.

„Du trampelst gerade auf meiner Männlichkeit herum, ich hoffe, dass ist dir bewusst…“, maulte er und drehte sich zum Gehen um. Kichernd schloss Helen zu ihm auf und hakte sich bei ihm unter. „Ja und es macht unglaublich viel Spaß.“

„Du bist die Pest…“

„Ich hab dich auch lieb.“

Bonus: Erinnerungen eines Engels

Der Schnee lag schon seit mehreren Tagen, sodass er auf den Wegen entweder längst weggeräumt oder festgetreten war. Das frisch ausgehobene Loch stach zwischen den anderen Gräbern hervor, auf denen sich der Pulverschnee noch vollkommen unberührt wie eine weiße Bettdecke ausbreitete. Seit wenigen Minuten schneite es wieder große Schneeflocken. Einige Angehörige, die still um das noch leere Grab herumstanden, spannten wortlos ihre schwarzen Schirme auf und rückten näher zusammen. Niemand wollte jetzt in der Kälte alleine sein.

Oliver Lynn, der etwas abseits der Gruppe stand, zog sich seinen Schal fester um den Hals und half seiner Tochter dabei, die er an ihrer kleinen Hand hielt, die Kapuze ihrer Jacke aufzusetzen. Das kleine Mädchen schaute wie gebannt zu dem Loch hinüber und schwieg. Es hatte ihm viel abverlangt, ihr beizubringen, dass ihre Mutter nicht mehr von der Arbeit zurückkommen und nun friedlich und für immer unter der Erde schlafen würde…

Oliver kämpfte mit den Tränen. Das einzige, was ihm von Sonoko geblieben war, waren die wenigen Zeilen auf der Rückseite eines Einkaufzettels, den er am Vortag geschrieben hatte. Dort stand drauf, dass sie heute, an ihrem Todestag, länger im Büro bleiben müsse und dass er nicht auf sie mit dem Essen warten solle. Ich liebe dich, hatte darunter gestanden.

Von irgendwoher hörte man auf einmal ein leises Glockenspiel und alle Anwesenden drehten sich von dem ausgehobenen Loch weg in Richtung der Musik. Ein kleiner Trauerzug kam den Weg entlang auf die wartenden Gäste zu, vorneweg der Priester, dahinter gingen mit gesenkten Köpfen Sonokos Verwandte, gefolgt von einer kleinen Gruppe Mönche, die mit Glocken den Zug leise und andächtig begleiteten. Die Gäste bildeten eine Gasse, ließen sie passieren und senkten ebenfalls das Haupt, wenn der Zug an ihnen vorbeischritt. Sonokos Mutter, Mivako Hidashi, trug als Oberhaupt der ehrwürdigen Familie Sonokos Urne, welche in einem goldenen Seidentuch eingewickelt war. Neben ihr ging ihr zweiter Mann, Sonokos Stiefvater, und hielt ihr den mächtigen Schirm, der sie und die Urne vor den Schneeflocken schütze. Mivakos eisiger Blick traf Oliver, als sie an ihm vorbeiging und er wich diesem schüchtern aus. Seine Tochter würdigte die Frau mit keinem Blick und das traf ihn noch schlimmer. Um die Nerven nicht ganz zu verlieren, umfasste er die Hand der Kleinen noch stärker. Diese schaute ihn nur mit großen Augen an.

Die Rede des Priesters zog sich hin wie flüssiger Teer und die Beisetzung selbst dauerte eine halbe Ewigkeit. Es schneite noch stärker, als alle Gäste der Beerdigung einzeln an das noch offene Grab traten und sich mit einer Rose zum letzten Mal von der Toten verabschiedeten, so, wie es sich die Verstorbene, die von der westlichen Welt immer fasziniert gewesen war, einst gewünscht hatte. Als letztes ruhten alle Blicke auf Sonokos Tochter, der kleinen Finja, die bei ihrem Vater Oliver stand und ebenfalls eine dunkelrote Rose in den Händen hielt. Aufmunternd schob sie ihr Vater sanft auf den Weg und mit vorsichtigen Schritten ging sie auf die Stelle zu, wo fast dreißig Rosen aufgehäuft lagen. Ihr Vater blieb dort stehen, wo er war.

„Das arme Kind…“, raunte jemand und überall hörte das Mädchen ähnliches Getuschel. Der Blick ihrer Großmutter, die sie nur selten bisher gesehen hatte, war wie immer hart und unfreundlich, doch sie ließ das Kind gewähren und schaute schweigend dabei zu, wie dieser Bastard, der ihrer geliebten Tochter so ähnlich sah, die Rose zu den anderen fallen ließ und schleunigst zu seinem Erzeuger zurücklief.
 

Tage später war die traurige Stimmung zurückgedrängt worden und hatte Hektik platz gemacht- zumindest in Olivers Haus…

Er stand schon Minuten lang vor dem Spiegel und zupfte an seiner Krawatte herum, die einfach nicht richtig sitzen wollte. Irgendwann schaffte er es, dass sie wenigstens annähernd gut aussah und machte sich auf die Suche nach seinen Schuhen.

„Fin- Schatz, wie weit bist du?“, rief er, während er die neuen Schnürsenkel durch die Ösen seiner Schuhe fädelte. Tapsige Schritte waren zu hören und nur Sekunden später schaute die Achtjährige ins Zimmer- völlig zerzaust und in den dreckigen Sachen des Vortages. Oliver wusste nicht, ob er wütend sein oder heulen sollte- er entschied sich für ein gequältes Lächeln.

„Wie siehst du denn aus? Du solltest dich doch umziehen…“ Trotzig verschränkte Fin die Arme und schüttelte ihre ungezähmte Mähne.

„Ich will da nicht hin!“, maulte sie.

Oliver seufzte. „Glaub mir, ich will den alten Hausdrachen auch nicht besuchen, aber es muss sein. Und es ist wichtig, dass sie nicht denkt, dass du ein Wildfang bist, der sich gerne im Dreck wälzt.“, sagte er und strich ihr über die verdreckte Nase. Finja rümpfte diese nur mürrisch. „Und warum ist das so wichtig?“

Oliver legte ihr die Hände auf die Schultern und schaute sie ernst an. „Ich will, dass sie dich mag, Finja. Sie ist deine Großmutter und sehr… mächtig, verstehst du?“ Fins große Augen zeigten natürlich kein Verständnis- wie auch, sie war einfach noch zu jung. Er lächelte aufmunternd.

„Hör zu, ich möchte einfach nur, das sie dich nicht wie mich hasst, okay? Sie hat nämlich keinen Grund dazu- noch nicht!“, sagte er mit erhobenem Zeigefinger. „Also geh dich jetzt im Badezimmer waschen und zieh dir anschließend das Kleid an, das ich dir gekauft habe, ja?“

Fin verdrehte die Augen. „Na gut…“

„Versprichst du mir, dass du dich benimmst?“

Fin schnaufte. „Ja, ich verspreche dir, dass ich mich benehme und ganz lieb zu Oma- … zu obaa- sama sein werde.“, verbesserte sie sich gedehnt, als ihr Vater mahnend die Brauen hob.

„Danke.“, sagte Oliver erleichtert und gab der Kleinen einen Kuss auf die Stirn.
 

Das Anwesen der Hidashi- Familie war gigantisch. Das ganze Grundstück war von einer hohen Mauer umgeben und es gab nur einen einzigen Eingang- ein schmiedeeisernes Tor, das kunstvoll verziert war. Finja starrte mit offenem Mund und je näher sie dem Haupthaus kamen, desto größer wurden ihre glänzenden Augen. „Wie in Hollywood, stimmt’ s Papa?“, hauchte sie irgendwann und schaute zu ihrem Vater hoch.

Oliver lächelte. „Ja, so ähnlich- allerdings leben in Hollywood nur junge hübsche Leute in solchen Häusern.“ Finja kicherte und ließ sich von ihrem Vater weiter über den Gehweg ziehen.
 

Oliver atmete noch einmal tief durch, ehe er die Klingel drückte und nervös von einem Bein aufs andere trat. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, die er vor der Tür zubrachte, bis sich diese endlich öffnete und ein mürrisch blickender, alter Mann den Kopf rausstreckte.

„Sie sind zu spät.“, begrüßte der Butler die Gäste und zog die Schiebetür ganz auf. Verunsichert schaute Oliver auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn. „I- ich dachte, wir sollten so gegen 14 Uhr kommen… es ist fünf Minuten nach und-“

„Genau- und wenn sie noch länger in der Eingangshalle stehen bleiben, werden weitere fünf Minuten ins Land ziehen. Und Hidashi- sama hasst Unpünktlichkeit.“ Und damit drehte sich der Butler um und ging. Oliver fühlte sich erdolcht; wie immer, wenn Mivakos Name mit dem Verb hassen in einem Satz verwendet wurde. Schnell half er Finja in die viel zu großen Hauspantoffeln und eilte dem Butler hinterher.

Der Speisesaal war prunkvoll angerichtet worden und alle saßen schon an der reichgedeckten Tafel, als Vater und Tochter eintraten. Mivako, die am Kopf des Tisches saß, entdeckte die beiden zuerst und hob verärgert eine ihrer feinen grauen Augenbrauen.

„Dann können wir ja endlich mit dem Essen beginnen, jetzt, wo auch unsere letzten… Gäste eingetroffen sind.“, sagte sie spitz und langte nach ihren Essstäbchen. Der Rest der Gesellschaft drehte sich kurz um und betrachtete Oliver und Fin, die sich sofort näher an seine Seite stellte. Oliver versuchte das aufsteigende Schamgefühl zu unterdrücken, verbeugte sich rasch, wie es sich hier gehörte und ging zu den einzigen freien Plätzen. Nun begannen auch alle anderen zu essen und Schweigen breitete sich aus.

Finja saß einige Sekunden lang etwas unbeholfen vor ihrem Teller, ehe sie unauffällig Oliver am Ärmel zupfte. Ihr Vater erkannte sofort das Problem und rief leise nach dem Butler, der die ganze Zeit um den Esstisch herumschlich. Etwas verwundert über Olivers Bitte, brachte er neues Essbesteck und gab es dem Mädchen. Gerade steckte sich Fin einen großen Löffel Reis in den Mund, als Mivako am anderen Tischende geräuschvoll ihre Stäbchen niederlegte und alle prompt aufhörten zu essen. Böses ahnend, schaute auch Oliver vorsichtig von seinem Teller auf und blickte der Hausherrin in die Augen. Sie musste sich sichtlich beherrschen.

„Was macht dieses Kind da?“ Fin, den Löffel noch immer im Mund, guckte zuerst ihre Großmuter und dann ihren Vater fragend an. „Hat sie etwa nicht gelernt, mit Stäbchen zu essen?!“

Oliver zuckte unter der barschen Stimme zusammen. „N- nun ja… also- sie kann es nicht richtig und deshalb-“

„Was soll das heißen? Sie kann so etwas banales, wie Essstäbchen halten, nicht? Wenn sie selbst das nicht kann, bezweifle ich, das sie überhaupt etwas zustande bringt!“

Oliver murmelte eine Entschuldigung und senkte gedemütigt den Kopf. In Fins Augen blitzte es allerdings wütend.

„Was ist so schlimm daran, nicht mit Stäbchen essen zu können? Mit normalem Besteck geht es viel einfacher und warum sollte ich so umständlich essen, wenn Papa das zu Hause auch nicht tut?“ Oliver starrte seine Tochter erschrocken an und ließ sein Besteck klappernd auf den Teller fallen. Alles war still um ihn herum, er hörte nur, wie ihn sein Herz bis zum Hals schlug. Mivakos knochige Finger zuckten gefährlich und ballten sich langsam zu Fäusten.

„Na wenigstens beherrscht sie unsere Sprache- was allerdings bestimmt nicht dein Verdienst ist…“, sagte sie gepresst zu Oliver und aß betont beherrscht weiter.

Während der restlichen Gänge wagte es niemand mehr, etwas zu sagen und so zog sich das Mahl in die Länge. Anschließend setzten sich einige der Gäste, darunter Oliver und - zu seiner eigenen Verwunderung- auch Mivako zusammen und tranken Tee. Überall fanden kleinere Gespräche statt, in denen sich Mivako nicht allzu selten einmischte.

„Hast du nun eigentlich einen vernünftigen Beruf, Oliver?“, meinte sie irgendwann und wieder verstummten alle anderen Gespräche sofort. Oliver schluckte. Wie er diese Familie doch hasste… Er setzte ein gequältes Lächeln auf.

„Nun… ich bin immer noch Musiker, Mivako- sama.“, antwortete er höflich und nippte rasch an seinem Tee, während Mivako ihn mit ihren Blicken durchbohrte.

„Ach wirklich? Mich wundert es tatsächlich, dass du dich damit noch über Wasser halten kannst- und natürlich auch Finja…“ Mit den Augen suchte sie seine Tochter. „Geht sie zur Schule?“

Fin wollte schon wieder pampig antworten, doch Oliver kam ihr noch zuvor. „Ja. Und sie ist sogar sehr gut. Magst du nicht mal von deinem letzten Zeugnis erzählen, Fin?“ Fin schüttelte nur mit dem Kopf und presste die Lippen aufeinander. Ihre Großmutter schwenkte desinteressiert ihre Tasse.

„Du solltest sie bei ihrem ganzen Namen nennen. Sonst gewöhnt sie sich noch hinterher an diesen Jungennamen…“

Fin schob die Unterlippe vor. „Ich habe nichts gegen meinen Spitznamen, ich finde ihn schön!“

„Finja!“, versuchte Oliver sie zischend zum Schweigen zu bringen und blickte um Verzeihung bittend zu Mivako auf.

Diese seufzte nur. „Ich sehe schon, dieses Kind hat bis jetzt keinerlei Art von Erziehung genossen.“ Dann streckte sie Fin ihre Tasse entgegen. „Hier. Mach dich nützlich und bring mir neuen Tee.“

Fin funkelte zuerst sie und dann ihren Vater an, der sie nur mit flehendem Blick anschaute. Bitte, tu, was sie sagt

Zum Glück wusste Fin, wann man den Bogen überspannte. Kurzerhand griff das Mädchen zu Olivers Erleichterung nach der Tasse und ging in Richtung Küche. Wenige Minuten später kam sie wieder zurück, die dampfende Tasse in beiden Händen haltend. Und dann passierte das, was nicht passieren sollte:

Fin wusste genau, wann sie den Bogen überspannte, jedoch konnte sie es unmöglich bei Mivako verhindern, diese Grenze irgendwann zu überschreiten. Mehr auf die heiße Tasse achtend, als auf den Boden, stolperte sie über ihre eigenen Füße. Die Tasse zerschellte und Fin stürzte mit den Händen voran in die Scherben und schnitt sich die Handflächen auf. Sofort sprang Oliver auf und eilte zu seiner Tochter, die nun schluchzend ihre blutenden Hände betrachtete. „Fin, alles in-“

Was kannst du eigentlich?!“, donnerte Mivakos Stimme hinter Oliver. Schnell stapfte sie an Oliver vorbei, packte Fin am Handgelenk und zog sie in die Höhe.

„Mivako, bitte, es war nicht…“

„Du hältst dich daraus! Von nun an werde ich dafür sorgen, dass dieses Kind meiner Familie nicht all zu viel schaden wird, denn du hast versagt!“, keifte Mivako, dass Oliver sie geschockt anstarrte. Grob schüttelte sie Fin am Arm und zeigte auf die Scherben. „Sieh, was du angerichtet hast! Du dumme Göre!“ Fin kullerten Tränen von ihren Wangen.

„Es tut mir Leid, obaa- sa-“

Oliver zuckte unter der schallenden Ohrfeige heftig zusammen, die Fin nun zu spüren bekam.

„Wage es nicht noch einmal, mich als deine Großmutter zu bezeichnen!“, schrie Mivako das Mädchen an, das nun stumm vor sich hin weinte. Hilfe suchend schaute Finja zu Oliver auf, doch dieser konnte das alles nicht mehr ertragen und drehte sich, selber mit den Tränen kämpfend, von seiner Tochter weg.
 

Während der Heimfahrt saß Fin die ganze Zeit über still auf dem Beifahrersitz und schaute auf ihre verbundenen Hände. Die Tränen, die in ihren Augenwinkeln klebten, waren getrocknet und hatten einen roten Schimmer auf der Haut hinterlassen. Sooft es Oliver möglich war, warf er ihr einen besorgten Blick zu, wagte es jedoch nicht, sie anzusprechen. Ihm war klar, dass er einen Fehler gemacht und sie im Stich gelassen hatte, doch er fand nicht den Mut, sich zu erklären.

Nach einer ganzen Ewigkeit parkte er sein Auto schließlich in der Einfahrt ihres Hauses- oder besser: das seiner Eltern, welche es beinahe ganz finanziert hatten. Er schaltete den Motor aus und wartete. Fin starrte immer noch zu Boden, die Hände im Schoß gefaltet und schwieg. Es kam ihm vor, als habe Mivako die Kleine durch ihr strenges Auftreten in eine andere Welt verbannt, wo ihr Geist nun ziellos umherirrte. Oliver seufzte. Er musste nun mit ihr reden.

„Tut es noch sehr weh?“, fragte er vorsichtig und streckte zögernd die Hand in ihre Richtung aus. Noch ehe seine Finger ihre Schulter berühren konnten, wich sie ihm aus und ihr Blick verhärtete sich. Olivers Hand ruhte noch einen Moment lang in der Luft, unsicher was er nun tun sollte und zog sie doch schließlich zurück.

„Warum hast du nichts getan?“ Fins Stimme war brüchig und dünn und diesen Tonfall hatte Oliver zuvor noch nie gehört. Anklagend. Enttäuscht…

Oliver schluckte hart. „Was hätte ich denn tun sollen?“

Fins Kopf schnellte in die Höhe und sie starrte ihren Vater beinahe hasserfüllt in die Augen. „Du hättest etwas sagen können! Warum lässt du dich von Oma so herumschubsen?“ Sie war wieder den Tränen nahe. Oliver schloss kurz die Augen um sich zu sammeln und nach den richtigen Worten zu suchen, dann sagte er fast vorsichtig: „Fin, das ist nicht so einfach… Weißt du, deine Großmutter will, dass man sie respektiert und-“

„Du sagst mir immer, dass man nur Respekt von anderen erwarten darf, wenn man selbst den anderen auch respektiert!“

„J- ja, schon, aber…“

„Ich verstehe nicht, wieso du dich nicht dagegen gewehrt hast… Sie hat dich, mich und auch Mama beleidigt und du hast gar nichts gesagt!“

Wütend schlug Oliver auf das Lenkrad vor ihm, dass es laut zu hupen begann. „Verdammt, Fin, ich darf nichts gegen sie sagen!“, schrie er hysterisch. „Sie sichert unsere Existenz, sie ist unsere finanzielle Quelle! Ich müsste ihr auch schon ohne diesen Umstand die Füße küssen vor Dankbarkeit, dass sie mich in ihrer Gegenwart überhaupt akzeptiert. Sie steht über mir, sehr weit über mir…!“

Niemand sagte etwas. Eigentlich hatte Oliver nicht vorgehabt, Fin davon zu erzählen. Sie sollte ihre kleine Illusion vom erfolgreichen Musiker, ihrem Vater, nicht verlieren- jedenfalls nicht so früh. Finja starrte ihn ungläubig an, dann schüttelte sie den Kopf und schnallte sich ab.

„Aber sie ist immer noch ein Mensch und kein Gott…“ Sie knallte die Autotür beim Aussteigen so feste zu, dass das ganze Auto leicht wackelte. Oliver blieb sitzen und sank, den Kopf in die Hände vergraben, kraftlos in sich zusammen.
 

Mit den Jahren wurde das Verhältnis zwischen Oliver und Mivako immer angespannter. Sie ließ ihn und seine Tochter nun öfter an Familienfesten teilnehmen, nur um sich bei der Gelegenheit über Finjas mangelnde Erziehung zu beschweren oder Oliver anders zu demütigen. Das Mädchen hatte sich mit der Zeit ein immer dicker werdendes Fell gegenüber den Sticheleien zugelegt und hörte irgendwann gar nicht mehr hin- ihr Vater dagegen drohte an der ganzen Situation langsam zu zerbrechen…

Das Geräusch der Klingel ließ Fin hochschrecken. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren und festzustellen, dass sie immer noch an dem gedeckten Esstisch saß. Mit steifen Gliedern stand sie auf und rieb sich über die müden Augen. Sie war tatsächlich eingeschlafen…

Es klingelte erneut und mit eiligen Schritten rannte die Dreizehnjährige zur Haustür. Sie öffnete die Tür so weit, wie die Kette es zuließ und spähte in die Dunkelheit. Sie brauchte nicht lange, um die Männer, die auf der Türschwelle standen, zu erkennen, sodass sie nur seufzend die Tür wieder schloss, die Kette entfernte und die beiden Männer hineinließ.

„Tut mir Leid, dass ich geklingelt habe, aber er hat seine Schlüssel mal wieder vergessen. Wo soll ich ihn hinbringen?“, fragte der Mann leise und zog sich den Arm des Betrunkenen noch weiter über die Schulter. Das Mädchen deutete auf eine Tür, die an den schmalen Flur angrenzte. „Ins Wohnzimmer…“, murmelte Fin, schloss die Eingangstür wieder hinter sich und ging vorne weg in den von ihr gedeuteten Raum.

Der Freund ihres Vaters sah der Kleinen etwas besorgt hinterher. Es war nicht das erste Mal, dass er Oliver so nach Hause brachte und jedes Mal reagierte Finja auf dieselbe erschreckende Art- nüchtern, übermüdet, routiniert.

Oliver schien von all dem nichts mitzubekommen; er hat, seit er ihn aus seinem Auto gezerrt hat, nichts mehr gesagt, selbst sein betrunkenes Gesäusel, dass er sich die ganze Zeit über anhören musste, hatte aufgehört, als sei er nun vollkommen weggetreten und nicht mehr ansprechbar.

Fin tat ihm leid. Er fühlte sich immer wieder schlecht, wenn er mit Oliver abends wegging und der Idiot so übertrieb; er hatte ihn schon mehrmals darauf angesprochen, aber Oliver war leider unbelehrbar, was den Alkohol anging…

Der Mann legte Oliver aufs Sofa, während Fin kurz in dem Schlafzimmer ihres Vaters verschwand. Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb an dem gedeckten Esstisch hängen. Kopfschüttelnd sah er wieder auf den schlafenden Hausherrn hinab.

„Du bist so ein Idiot.“, raunte er leise und seufzte. Er wartete, bis das Mädchen wieder im Wohnzimmer auftauchte, beladen mit einer Wolldecke, mit der sie ihren Vater zudeckte, dann räusperte er sich.

„Soll ich noch ein wenig bleiben?“, fragte er besorgt, doch Finja schüttelte nur den Kopf und schenkte ihm ein müdes Lächeln.

„Danke, aber ich komme schon klar.“

Er sah sie noch einen Moment lang mitleidig an, dann zuckte er betrübt mit den Schultern und ließ sich von Fin zur Tür begleiten. Sie verabschiedete ihn kurz, dann, als sie die Tür hinter ihm wieder abgeschlossen hat, fuhr er sich seufzend durchs Haar und schaute in den kalten Nachhimmel hinauf. Dieses Mädchen war genauso schlimm, wie ihr Vater- dickköpfig und unbelehrbar…

Fin setzte sich wieder auf einen der Stühle, die um den Esstisch drapiert standen und sah, den Kopf auf ihre zierlichen Hände gestützt, zu Oliver hinüber. Ihr Vater schnarchte- und das tat er eigentlich nur, wenn er betrunken war. Als er nach fünf Minuten immer noch nicht aufgewacht war, stand sie schnaubend auf, nahm ein gefülltes Wasserglas vom Tisch und kippte es ihrem Vater kurzerhand ins Gesicht. Tatsächlich schreckte Oliver auf, fuchtelte wild mit den Armen und blinzelte verdutzt. Seine lang gewordenen, braunen Haare klebten ihm auf Stirn und Wangen und mit fahrigen Händen versuchte er sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht zu wischen. Fin schwieg, ließ ihm die Zeit, sich zu fangen und sah nur mit verschränkten Armen auf ihn herab.

Endlich schien Oliver klar zu werden, wo er sich befand und sah verwirrt zu seiner Tochter hoch. „Fin, w- was bist du denn noch auf?“, fragte er mit schwerer Zunge und sah sich zu der großen Wanduhr über dem Kamin um. „Hast du mal auf die Uhr gesehen?“

Fins Blick bekam etwas Anklagendes. „Ich habe auf dich gewartet.“, erwiderte sie und so sehr sie auch versuchte, ihre helle Stimme schneidend klingen zu lassen, konnte sie nicht unterdrücken, dass etwas Beleidigtes in ihr mitschwang. Oliver fuhr sich seufzend durch die nassen Haare und versuchte sich vollends aufzurichten.

„Fin- Schatz, das sollst du doch nicht- du hast doch morgen Schule…“

Die Augen des Mädchens verengten sich weiter. „Morgen ist Sonntag.“

Oliver stockte in seiner Bewegung, dann begann er verlegen zu lachen. „Ach ja, stimmt…“

Das Mädchen schlang ihre Arme noch mehr um ihren Körper und nickte in Richtung Esstisch. „Ich meinte auch, dass ich mit dem Essen auf dich gewartet habe.“ Ihr Vater folgte ihrem Blick und holte erschrocken Luft, als er den dekorierten Esstisch und die Teller darauf entdeckte.

„War das etwa heute gewesen, dass Frau Conner für uns kochen wollte?“, fragte er erschüttert und biss sich auf die Unterlippe. „Verdammt, das habe ich total vergessen.“ Er hörte seine Tochter neben ihn wütend schnauben.

„Das Essen habe ich gekocht.“

Olivers Herz machte einen schmerzhaften Satz in seiner Brust und mit geweiteten Augen starrte er seine Tochter an. Unsicher, was er nun tun sollte, streckte er vorsichtig eine Hand aus, um sie am Arm zu berühren.

„O nein, Fin das… das tut mir schrecklich leid, glaub mir…“, sagte er schuldbewusst und verfluchte sich in dem Moment, dass er so lallte. Er bekam einen Ärmel ihres Pullovers zu fassen, doch augenblicklich riss das Mädchen sich von ihm los und ging einige Schritte auf Abstand. Angewidert rümpfte sie die Nase. „Du stinkst nach Alkohol.“

Als hätte sie ihn geohrfeigt, zog er die Hand zurück und sah weg. Ihm war schon länger bewusst, dass er kurz davor stand, ein Alkoholproblem zu bekommen, doch er fand einfach nicht die Kraft, dagegen vorzugehen. Er wusste, dass es keine Lösung für seine anhaltenden Probleme mit der Familie seiner verstorbenen Frau war oder mit seiner wankelmütigen Arbeitssituation, aber die Abende in den Bars und Kneipen halfen ihm dabei, seine Sorgen für den Moment zu vergessen- allerdings schien dies nicht das einzige zu sein, was ihm der Alkoholrausch an Erinnerungen nahm.

„Verzeih mir, Fin, bitte…“, flehte Oliver kleinlaut und versuchte Fin wieder in die Augen zu sehen. Das Gesicht des Mädchens war immer noch hart und anklagend und schweigend erdolchte es ihn mit seinen Blicken. Je älter sie wurde, je schmaler und femininer ihre Gesichtszüge wurden- so musste Oliver immer wieder bitter feststellen-, desto deutlicher sah er Sonoko in ihr. Er spürte, wie ihm heiße Tränen in die Augen stiegen und schnell sah er wieder auf seine Hände hinab.

„Es ist schon wieder ein Brief von Mivakos Anwalt gekommen.“, durchbrach Fins helle Stimme das bedrückende Schweigen. Verwundert runzelte Oliver die Stirn.

„Seit wann liest du-?“

„Hast du ihn schon gelesen?“, fiel seine Tochter ihm brüsk ins Wort und hob erwartend die schmalen Brauen. Oliver ließ seine geplante Bemerkung kurzerhand fallen- so demütigend es auch war, aber er musste sich eingestehen, dass er eine Diskussion mit ihr zum Thema Diskretion und Briefgeheimnis in seiner jetzigen Verfassung eh nicht gewonnen hätte. Stattdessen seufzte er tief und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar.

„…nein, noch nicht.“, gab er zu und kratzte sich am Hinterkopf. Die Dreizehjährige schnaubte genervt und verschränkte erneut kopfschüttelnd die Arme vor ihrer Brust.

„Papa, du musst was tun.“

„Ich weiß…“, brummte Oliver missmutig und faltete seine Hände im Nacken.

„Wenn du weiterhin nicht auf ihre Briefe reagierst, wird sie böse.“

„Ich weiß.“, wiederholte er nun gereizter und seine Hände begannen sich zu verkrampfen. Fins Stimme wurde immer anklagender.

„In dem stand sogar schon was von einem Gerichtsbeschluss-“

„Ich weiß!“, rief Oliver so laut, dass Fin erschrocken zusammenzuckte und sich beeilte, den Mund zuzuklappen. Ihr Vater saß nach vorne gebeugt vor ihr auf dem Sofa, die Hände im Nacken zu Fäusten geballt und starrte zu Boden. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie sah, wie sein ganzer Körper zu beben begann und dann hörte sie ihn schluchzen. Das Geräusch ging ihr schmerzhaft unter die Haut und ließ sie selbst mit den Tränen kämpfen.

Sie hatte vorgehabt, ihn wütend zur Rede zu stellen, sie wollte ihm seine Fehler vor Augen führen und ihn dazu bringen, dass er ihr schwor, mit dieser verdammten Trinkerei aufzuhören. Und jetzt? Jetzt tat er ihr nur noch leid. Fin war alt genug geworden, um Olivers Situation nachvollziehen zu können. Ihre Großmutter, die sie niemals so nennen durfte, ließ keine Gelegenheit aus, um ihn verbal niederzumachen. Fin stand über diesen Beleidigungen, allerdings waren sie auch nie an sie selbst gerichtet gewesen…

Wie sie ihren Vater dort weinen sah, bröckelte erneut ein Teil ihrer kleinen Welt, die in den letzten Jahren, nach dem Tod ihrer Mutter, so sehr gelitten hatte.

Sie schluckte das beklemmende Gefühl in ihrem Hals hinunter, setzte sich neben Oliver und umarmte ihn von der Seite. Sofort sah Oliver auf, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht, nahm Fin ebenfalls in die Arme und zog das Mädchen weiter auf seinen Schoß.

Für Minuten saßen sie so umschlungen auf dem Sofa und sagten kein Wort. Oliver beruhigte sich langsam und tröstend fuhr Fin ihm mit ihrer Hand über den großen Rücken.

„Ich will nicht von dir weg, Papa…“, flüsterte sie irgendwann und legte ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters. Oliver unterdrückte die neuen Tränen und drückte seine kleine Tochter noch mehr an sich.

„Ich will das genauso wenig, Schatz.“, antwortete er heiser und vergrub sein Gesicht in ihrer braunen Lockenmähne. Er schwieg kurz, dann fügte er mit bebender Stimme hinzu:

„Ich hasse diese verdammte Familie- ich hasse dieses gottverdammte Land…“
 

Die Flügeltür öffnete sich geräuschvoll und eilig strömten die wenigen Zuschauer und Parteien des Rechtsstreites aus dem Gerichtssaal. Oliver wagte es zum ersten Mal seit zwei Stunden wieder durchzuatmen. Seine Anwältin ging neben ihm und steckte im Gehen die Unterlagen in ihre Aktentasche.

„Nochmals vielen Dank. Ohne Sie wäre es nicht so glimpflich ausgegangen.“, sagte Oliver und reichte der Frau seine Hand. Die Anwältin lächelte zwar, allerdings ließen ihre Augen auf etwas anderes schließen.

„Ich rate Ihnen, sich nicht zu früh zu freuen, Herr Lynn.“, begann sie mahnend und erwiderte die dankende Geste ihres Mandanten. „Wir konnten den Richter milde stimmen, aber das heißt leider noch lange nicht, dass wir gewonnen haben.“ Der Ernst in ihrem Blick nahm zu. „Wenn Sie Ihr Versprechen eines Entzugs nicht einhalten, kann niemand mehr etwas dagegen tun, das die Familie Ihrer Frau das Sorgerecht erhält.“

Innerlich zog sich alles in Oliver zusammen, doch nach außen hin schaffte er es, die Fassade des Willenstarken aufrechtzuerhalten.

„Ich werde mich bessern.“, antwortete er mit fester Stimme. „Ich verspreche es Ihnen.“

Seine Anwältin seufzte. „Versprechen Sie das Ihrer Tochter.“, entgegnete sie und nickte zurück in den Raum, in dem Finja noch saß und sich ihre Jack anzog. „Immerhin geht hier um sie- und laut Gericht hat sie es jetzt in der Hand. Ihre Entscheidung wird sehr stark gewichtet werden, da bin ich mir sicher.“

Oliver sah ebenfalls zu Fin. Das Mädchen wollte sich gerade von ihrem Platz erheben, als Mivako auf einmal an ihr vorbeiging und ein, zwei flüchtige Worte mit ihr wechselte. Fin erschrak leicht, als die Frau plötzlich neben ihr auftauchte und versuchte, Mivakos dominantem Blick standzuhalten. Als sich die Frau wieder zum Gehen abwandte, beeilte sich Fin, eine höfliche Verbeugung zu vollführen, allerdings bezweifelte Oliver, dass Mivako diese Bemühung des Respektzollens überhaupt gesehen hat. Als Fin sich wieder aufrichtete, sah er, wie blass seine Tochter im Gesicht geworden war und bei diesem Anblick, breiteten sich Schuldgefühle in seinem Magen aus.

Das ehrwürdige Familienoberhaupt kam auch an ihm und seiner Anwältin vorbei und obwohl ihr Blick gewohnt kalt und herablassend war, lief es Oliver eisig den Rücken hinunter und sein Herz begann schneller zu schlagen. Der Blickkontakt währte nur wenige Sekunden, dann ging Mivako erhobenen Hauptes an ihm vorbei.

Seine Anwältin sah Mivako hinterher und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Das Mädchen konnte einem nur leidtun- ein Vater, der seinen Kummer im Alkohol ertränkt und eine Großmutter mit der Herzenswärme eines Eiswürfels. Sie hatte während der Verhandlung so manches Mal trocken schlucken müssen, wenn sie in Mivako Hidashis Richtung geschaut hat- so eine Gefühlskälte hatte die Anwältin selten bei einem Menschen gesehen. Finjas Vater liebte seine Tochter über alles, auch wenn seine verantwortungslosen Taten -ohne das nötige Hintergrundwissen- etwas anderes vermuten ließen, aber dieses… Biest schien das Sorgerecht nur gewinnen zu wollen, um des Sieges willen.

Sie hing ihrem Gedanken noch einen Moment kurz nach, dann drehte sie sich seufzend zu ihrem Mandanten um. „Wir sind hier fertig für heute.“, sagte sie und reichte Oliver erneut die Hand. „Wir sehen uns dann nächste Woche- und denken Sie an unsere Abmachung.“

Der Angesprochene beeilte sich zu nicken. „Das werde ich.“ Die Frau wollte sich schon abwenden, als Oliver sie sanft am Oberarm zurückhielt.

„Ich wollte Sie noch etwas fragen…“, begann er leiser, sodass seine Anwältin verwundert die Stirn runzelte.
 

Fin brauchte ein paar Sekunden, um nach der Begegnung mit Mivako wieder ruhig atmen zu können. Ihr Herz schlug so schnell, als sei sie Kilometerweit gerannt und ihre Knie zitterten wie Espenlaub. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was die Frau zu ihr gesagt hatte, der Schreck über ihr plötzliches Erscheinen saß ihr zu tief in den Knochen.

Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, knöpfte sich Fin ihre Jacke ganz zu und suchte ihren Vater in der Menge. Sie entdeckte ihn auf dem Flur stehend und in ein Gespräch mit seiner Anwältin vertieft. Oliver schien schnell und hastig auf die Frau einzureden, deren Blick immer ungläubiger wurde. Einmal sah Fin, wie sie energisch den Kopf schüttelte, woraufhin ihr Vater die Handflächen nach oben drehte und ihr flehend in die Augen sah. Für Sekunden schienen beide zu schweigen, dann sah die Anwältin kurz weg, fuhr sich mit der Rechten über den Nasenrücken, schaute wieder auf und sagte etwas, das Oliver erleichtert aufatmen ließ. Er lächelte, schüttelte glücklich ihre Hand, dann wandte sich die Anwältin ab und verschwand in dem Getümmel der vorbeigehenden Menschen.

Fin setzte sich in Bewegung und lief auf ihren Vater zu. Als dieser sie entdeckte, wurde sein Grinsen ein Stück weit breiter und er schloss sie stürmisch in die Arme.

„Was hast du mit Frau Saito besprochen?“, wollte Fin wissen, nachdem Oliver seine überschwängliche Begrüßung beendet hat. Ihr Vater blinzelte überrascht, doch dann grinste er wieder und fuhr ihr durch die dichten Haare.

„Sei nicht immer so neugierig. Ich verrate dir das schon bei Zeiten.“, sagte er und zwinkerte ihr gut gelaunt zu.
 

Erschöpft schloss Fin einige Tage später die Haustür auf, warf ihren Schulranzen unachtsam in die eine Ecke des Flures und pellte sich aus ihren Jackenschichten. Seit Vorgestern waren die Temperaturen rapide abgesunken, sodass nun niemand mehr leugnen konnte, dass der Winter einzog. Fin hasste den Winter schon allein wegen den vielen Klamotten, die man gezwungen war anzuziehen, um nicht zu erfrieren- hinzu kamen die Unmengen von Schnee auf den Gehwegen, welche für beinahe jeden ihrer Nachbarn ein unüberwindbares Hindernis darstellten, und die Schneematschbälle, die sie nun auf dem Schulhof ewig ins Gesicht bekommen würde.

Sie konnte nicht nachvollziehen, warum alle in ihrer Klasse anfingen, auszuflippen und jubelnd durch die Gegend zu rennen, sobald die ersten Schneeflocken vom Himmel fielen- was war so toll an diesem kalten Zeug? Gut, früher war sie auch immer raus gegangen um Schneemänner zu bauen oder Schlitten zu fahren, aber jetzt war sie vernünftig genug, um zu wissen, dass eine Erkältung oder gar Grippe dieser „Spaß“ garantiert nicht wert war und so gesehen war sie auch viel zu alt für so einen Blödsinn!

Seufzend stellte sie ihre vom Schnee durchgenässten Schuhe auf das bereitliegende Handtuch und beeilte sich, den kalten Flur hinter sich zu lassen. Auf dem Weg in ihr Kinderzimmer warf sie einen flüchtigen Blick in den Wohnraum und gerade wollte sie schon wieder weiter gehen, als sie auf dem Sofa eine Person entdeckte. Ruckartig blieb sie stehen und sah noch einmal stirnrunzelnd auf ihren Vater.

„Papa? Warum bist du schon zu Hause?“, fragte Fin verwundert und ging auf den Mann zu. Dieser schien sie gar nicht zu bemerken, er sah nicht einmal auf, als sie schon fast neben ihm stand. Ihr Vater saß mit gefalteten Händen dort und starrte ausdruckslos die gegenüberliegende Wand an. Auf dem niedrigen Couchtisch lag ein Brief, daneben eine geöffnete Bierflasche. Fin konnte von ihrem Standpunkt aus nicht sehen, was genau in dem Brief drinstand, allerdings erkannte sie über der fettgedruckten Kopfzeile das Emblem der Firma, für die Oliver seit längerem Lagerarbeiten verrichtete. Auch wenn sie wusste, dass ihr Vater es nicht gerne sah, wenn sie seine Post las, nahm Fin das Schreiben in die Hand und überflog die Zeilen, jedoch kam sie nicht sehr weit.

„…das hat mit Sicherheit Mivako eingefädelt.“, riss Olivers Stimme sie aus ihrem Lesefluss und ließ sie erschrocken aufschauen. „Ganz bestimmt.“, fügte er leise hinzu und griff nach der Flasche, die auf dem Tisch stand. Fins Hände verkrampften sich bei Olivers Bewegung, sodass sie das Kündigungsschreiben leicht zerknitterte.

„Papa, du sollst doch nicht trinken…“, sagte sie müde und kraftlos, was Oliver lediglich mit einem Schulterzucken quittierte.

„Ist mir doch egal.“, murmelte ihr Vater und setzte die Flasche an die Lippen.

Fins Blick verhärtete sich augenblicklich. „Mir aber nicht!“, zischte sie zornig, sodass Oliver tatsächlich verwundert zu ihr aufblickte, als hätte sie ihn aufs äußerste beschimpft. Der anklagende Blick seiner Tochter zeigte Wirkung und schuldbewusst stellte Oliver die Flasche zurück auf den Tisch.

„Tut mir leid…“, antwortete er aufrichtig und fuhr sich seufzend durch die Haare.

„Das sagst du immer.“, erwiderte Fin nur, sodass Oliver die Lippen aufeinander presste und wegsah. Wie so oft konnte er ihren durchdringenden und tadelnden Blick nicht ertragen. Für Minuten sagte niemand etwas, dann nahm Oliver all seinen verbliebenen Mut zusammen und sah seiner Tochter lächelnd ins Gesicht. Er bedeutete ihr, sich neben ihn zu setzen, was sie dann auch nach kurzem Zögern tat. Olivers Laune hellte etwas auf.

„…Fin, was würdest du sagen, wenn wir von hier weggehen würden?“, begann er und in seiner Stimme lag eine Vorfreude, die Fin allerdings nur die Stirn runzeln ließ.

„Du meinst umziehen? Warum, das Haus gehört uns d-“

„Ich rede nicht von umziehen…“, unterbrach ihr Vater sie und seine Augen begannen zu leuchten. Er wusste, wie er alles noch retten konnte. Er würde seine Tochter wieder glücklich machen. „Ich möchte mit dir weg von hier- raus aus Japan.“

Zu seiner Verwunderung riss das Mädchen erschrocken die Augen auf. „Aber… warum?“, fragte sie fassungslos und rutschte ein Stück weit von ihm weg. Oliver war zuerst genauso überrumpelt von Fins Reaktion, mit der er so nicht gerechnet hatte, doch dann holte er tief Luft und nahm die zierlichen Hände seiner Tochter in seine eigenen.

„Ich halte es hier nicht mehr aus, Fin. Dieses Land, dieser Streit mit dieser verdammten Familie- ich ertrag das alles nicht mehr!“, erwiderte er um Ruhe in der Stimme kämpfend und sah ihr hilflos in die Augen. Du musst das doch verstehen, Fin, flehte sein Blick, gerade du!

Als Fin nichts erwiderte, sondern ihn weiterhin schockiert anstarrte, startete Oliver einen neuen Versuch.

„Ich habe mit Saito gesprochen. Wenn ich das alleinige Sorgerecht erhalte, darf ich das Land mit dir verlassen. Ich will wieder in meine Heimat, nach Amerika. Ich habe alles geregelt, meine Eltern würden unseren Flug bezahlen und wir könnten die erste Zeit auch bei ihnen wohnen und-“

Mit einem Satz war Fin auf den Beinen. „Aber ich will nicht nach Amerika!“, rief sie aufgebracht. Mitleidig sah Oliver zu ihr hoch und versuchte sich an einem verständnisvollen Lächeln.

„Hast du Bedenken wegen der Sprache? Das brauchst du nicht, Schatz- dein Englisch ist super, du-“ Fin unterbrach ihn erneut mit einer energischen Handbewegung und schüttelte den Kopf. „Nein, Papa, ich will einfach nicht von hier weg!“

Olivers Blick wurde immer ungläubiger. Er rutschte auf dem Sofa näher an Fin heran und sah ihr hilflos in die Augen.

„Fin, versteh mich doch bitte. Ich hätte diese Entscheidung schon viel früher treffen müssen, dann hätten wir uns so vieles ersparen können. Wir können hier doch nicht mehr glücklich werden.“

Du vielleicht nicht.“, erwiderte das Mädchen sofort und entfernte sich noch weiter vom Sofa. Bei diesen Worten begann sein Herz schneller zu schlagen.

„Ich… was willst du damit sagen?“, wollte Oliver mit brüchiger Stimme wissen. Es lief alles schief…

Fins Blick wurde ein Stück weit trauriger und mit gesenktem Kopf wich sie Olivers fragendem Gesicht aus. Als müsse sie sich sammeln, schloss sie die Augen und atmete tief durch.

„Du hast Recht, Papa. Es wäre besser für dich, wenn du wieder nach Amerika gehen würdest…“, sagte Fin leise und fing an, an ihrem Ärmel herumzunesteln. Sie sprach nicht sofort weiter und ihre nächsten Worte schienen ihr nur schwer über die Lippen zu kommen. „Aber ich will hier bleiben.“, vollendete sie ihren Satz zögernd und sah dabei ihrem Vater wieder in die vor Schock geweiteten Augen. Er schien nicht die Kraft aufbringen zu können, zu antworten, sodass Fin einfach ruhig und beherrscht weitersprach: „Hier sind meine Freunde, Papa, ich gehe hier zur Schule und… und ich glaube dir, dass dich hier nichts mehr glücklich macht- ich habe dich oft genug weinen sehen. Aber das hier… ist meine Heimat, verstehst du?“, erklärte das Mädchen hilflos, doch Oliver schüttelte nur fassungslos den Kopf.

„Das meinst du nicht ernst.“, flüsterte ihr Vater kraftlos. Fins selbstsichere Fassade begann sich unter dem entsetzten Anblick ihres Vaters aufzulösen, sodass sie nur noch mit Mühe das Zittern unterdrücken konnte. Dennoch schaffte sie es, ihre Worte überzeugt und bestimmt klingen zu lassen.

„Doch. Ich will, dass du glücklich bist, aber das kannst du anscheinend hier nicht werden…“

In Olivers Augen sammelten sich Tränen. „Fin, bitte…“, flehte er erstickt.

Fin schluckte ihre eigenen Tränen hinunter. „Ich habe mich entschieden, Papa.“
 

Der Sorgerechtsstreit wurde wenige Tage später entschieden. Der Ausgang wäre auch ohne Fins Aussage eindeutig vorherzusagen gewesen, jedoch gab der Wunsch des Mädchens die letzte Entscheidungshilfe, sodass der Familie Hidashi in allen Punkten das alleinige Sorgerecht zugesprochen wurde.

Am nächsten Tag stand Oliver vor der Tür des Ehepaares Conner. Sie waren langjährige Nachbarn gewesen, die nie gezögert hatten, Vater und Tochter zur Seite zu stehen und zu helfen. Peter Conner, ein alter hagerer Mann mit dicken Brillengläsern und Halbglatze sah verwundert auf die Reisetasche, die neben Oliver auf der Fußmatte stand.

„Das sind noch ein paar Sachen von Fin.“, erklärte Oliver mit dünner Stimme und zuckte etwas hilflos mit den Schultern. „Ich dachte mir, dass sie die vielleicht hier haben möchte, solang-“ Oliver brach den Satz ab und versuchte sich noch in ein verlegendes Lächeln zu retten. Peter kam ihm zur Hilfe, nickte und nahm die Tasche an sich.

„Ich werde sie ihr geben. Danke, Oliver.“, erwiderte er freundlich und sah Oliver aufmunternd in die Augen. Der sonst so stattliche Mann war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hatte abgenommen, was man besonders im Gesicht erkennen konnte und seine Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Es tat Peter weh, seinen liebgewonnenen Freund und Nachbarn so zu sehen.

„Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie Fin für ein paar Tage bei sich aufnehmen, bis sie bei Mivako einziehen kann.“, sagte Oliver, woraufhin Peter lächelnd den Kopf schüttelte.

„Wir freuen uns jedes Mal, wenn wir das Kind um uns herum haben und wenn wir Ihnen damit helfen können, tun wir das von Herzen gerne.“ Er sah kurz an Oliver vorbei zu dem Auto, das in seiner Einfahrt stand. Ein paar Koffer waren auf der Rückbank zu erkennen. Betrübt schaute Peter wieder zu Oliver auf. „Sie wollen uns also tatsächlich verlassen?“

Etwas überrascht sah nun auch Oliver über die Schulter zurück zu seinem Wagen und zuckte verlegen mit den Schultern. „Ja. Mein Flug geht in ein paar Stunden.“

„Es ist jammerschade…“, erwiderte der alte Mann traurig. „Ich hätte Sie gerne noch länger um mich gewusst- wer soll denn jetzt immer das Laub und den ganzen Schnee aus meiner Einfahrt wegräumen?“, fügte Peter zwinkernd hinzu und auch Oliver konnte sich ein Lachen nur schwer verkneifen, jedoch hielt die aufhellende Stimmung nur kurz, sodass der Jüngere im nächsten Moment wieder mit hängenden Schultern und gesenktem Blick vor ihm stand. Peter seufzte und legte Oliver eine Hand an den Oberarm.

„Sie haben die richtige Entscheidung getroffen, Oliver.“, sagte er aufrichtig, doch sein Gegenüber schüttelte nur bitter lachend den Kopf.

„Ich lasse meine Tochter im Stich. Wie kann das eine gute Entscheidung sein?“ Verzweifelt presste er die Lippen aufeinander. Tränen drohten ihm erneut über die Wangen zu laufen. „Ich bin ein schlechter Vater, mehr nicht.“

„Sie brauchen beide einen Neuanfang.“, erwiderte Peter. „Die letzten Jahre waren nicht leicht gewesen und Sie beide haben es mehr als jeder andere verdient, glücklich zu werden und ihren Frieden zu finden- nur Fin war der Meinung, dass Sie das nicht zusammen werden können. Sie weiß, dass Sie sie über alles lieben und Finja liebt Sie, das können Sie mir glauben. Sie glauben, Sie seien ein schlechter Vater?“ Peter sah ihm tief in die Augen. „Sie stehen vor mir und weinen um ihre Tochter. Sie haben alles für Sie getan. Trauer ist menschlich, Oliver, niemand würde Ihnen verbieten, um Ihre verstorbene Frau zu weinen. Aber Sie müssen jetzt nach vorne schauen! Sie haben in ein paar Situationen falsch gehandelt, ja, und Fin sieht diese Fehler und ist enttäuscht, deshalb ist es umso wichtiger, dass Sie genau diese Chance jetzt nutzen. Lassen Sie die Vergangenheit ruhen und fangen Sie noch einmal bei null an. Werden Sie für Fin wieder der Vater, der Sie vor Sonokos Tod waren und lassen Sie Ihrer Tochter die Zeit, selbst zu entscheiden, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist. Das ist das einzig Richtige, was Sie nun tun können, also tun Sie`s!“ Peter schenkte Oliver ein aufmunterndes Lächeln. „Fliegen Sie wieder in Ihre Heimat und machen Sie sich keine Sorgen um Fin. Sie ist ein tapferes Mädchen, sie wird sich von nichts unterkriegen lassen.“

Sprachlos stand Oliver vor dem alten Mann. Dann, ohne dass er wusste warum, schloss er Peter in die Arme.
 

„Kindchen, dein Vater steht draußen vor der Tür. Willst du ihm nicht auf Wiedersehen sagen?“, fragte Marie Conner leise und setzte sich neben Finja auf das Gästebett. Das Mädchen zog die Beine noch näher an den Körper und schüttelte energisch mit dem Kopf.

„Ich will ihn nicht wiedersehen.“, murmelte sie und schlang die Arme um ihre Schienbeine. Marie seufzte und legte Fin behutsam einen Arm um die Schulter.

„Belüg dich doch nicht selbst, Fin…“

Das Mädchen wich dem mitfühlenden Blick der alten Frau aus. Sie belog sich nicht! Sie wusste, dass es besser für sie beide war, wenn sie sich nicht noch einmal sahen. Ihr Vater wollte weg von hier und sie würde ihn nicht davon abhalten.

Es war besser so…

Oliver brauchte sie nicht und Fin brauchte ihn nicht- warum sollten sie sich also den Abschied unnötig schwer machen, indem sie sich weinend in die Arme fielen? Sie hatte Oliver genug Tränen vergießen sehen und mit jedem Mal ertrug sie es schwerer, mit jedem Mal konnte sie es immer weniger glauben, dass ihr Vater- ihr Papa, den sie immer bewundert hatte- weiter in Selbstmitleid ertrank. Fliehen war die einzige Möglichkeit, die er sah? Sollte er ruhig, sie würde das nicht tun! Sie würde sich von Mivako nicht einschüchtern lassen.

Sie hörte, wie ein Motor draußen gestartet wurde und dieses Geräusch ließ sie hochschrecken. Sie kannte den Wagen. Mit einem Satz war sie auf den Beinen und lief zum Fenster, das zur Straße hinzeigte. Sie sah noch, wie Oliver losfuhr, das Gesicht emotionslos und eingefallen, dann war er aus ihrem Sichtfeld verschwunden.

Du hast dich richtig entschieden! , rief sie sich selbst zur Ordnung und verfluchte im nächsten Moment ihr Herz dafür, die Kontrolle über ihren Körper übernommen zu haben. Marie stand auf, stellte sich hinter Fin und nahm das schluchzende Mädchen tröstend in die Arme.



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Kommentare zu dieser Fanfic (64)
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Von:  blacksun2
2012-10-28T14:54:27+00:00 28.10.2012 15:54

*dir stürmisch um den Hals falls und dich umwerf*
Danke für das tolle Ende
Das ist wie Weihnachten und Ostern an einem Tag (und mir wollen sie erzählen, Weihnachten wär noch eine Weile hin. Die haben alle keine Ahnung ^^)
Fin hat sich richtig entscheiden und dafür meinen vollsten Respekt: es ist schwer, das Leben zu akzeptieren, so wie es kommt, vor allen, wenn es dir mitten ins Gesicht schlägt
Und sie wurde dafür belohnt

Die Geschichte war:
genial hoch 10 multipliziert mit Spannung zum Quadrat und addiert mit genialen Ausdruck mal 100%
Tja das Ergebnis dieser Gleichung ist ein begeisterter Fan : )

Mir ist da in dem Kapitel was aufgefallen und ich weiß gar nicht, ob das auch vorher schon mal war:
Bei folgenden Konstrukten

„Ach ja, ich vergaß.“, nickte Helen und schaute ihn spöttisch an.

kommt kein Komma vor den Ausführungszeichen


„Erinnerungen eines Engels“ heb ich mir auf. Sowas wie der letzte Schluck Wein. Den muss ich speziell genießen

Bin voller Lob für Cod3s und denke ernsthaft, du hast das Zeug zu einer Autorin

Glg
blacksun

Von:  blacksun2
2012-10-20T13:11:34+00:00 20.10.2012 15:11
Der Kampf ist zu Ende. Die Spannung geht weiter. Und wie

Ganz ehrlich, ich kann nicht sagen, wie Fin sich jetzt entscheidet.

Dafür weiß ich was anderes mit Sicherheit: ein würdiges Finale!!
Großartig hast du Schmerz, Verzweiflung, Angst und alles, was die einzelnen Personen hier bewegt hat, rübergebracht

Nur eins ist dir hoffentlich klar: DU DARFST NERO NICHT STERBEN LASSEN (ich weiß, wenn wäre es zu spät, denn die Geschichte ist ja schon fertig.
Wer hätte das gedacht: Zeus save the day.
Obwohl er verrückt ist, hat er doch auch was Gutes an sich.

Ach Mist, ich wünschte ich wäre dort Sanitäter, dann würde ich mich um Ares kümmern. Als erstes müsste er sich obenrum freimachen und dann ... *fett grinst*

ein Kapitel, dass einen süchtig macht

Nur ein was hat mich stutzig gemacht: Fin weiß doch, dass Judgement nur ein Fake ist – warum hat sie sich Sorgen um das Passwort gemacht. Stattdessen hätte sie doch sagen können, wie es ist

glg
blacksun

Von:  blacksun2
2012-08-29T17:45:12+00:00 29.08.2012 19:45
boah, wie fies bist du, kurz vorm Schluss tust du der armen Fin so was an
eine spannende Jagd, durch und durch
Nero würde sich bestimmt wahnsinnig freuen, Fin wiederzusehen, nur nicht da und nicht in Begleitung von Hades

Ich hab es wie im Film vor mir gesehen, das wär so eine Stelle im Film, wo man auf keinen Fall auf Toilette gehen würde : )
Wobei, bei diesen Film würde ich nicht einmal eine Sekunde verpassen wollen, aber dafür ist die Werbung da

Kann dich nur aus ehrlichem Herzen loben, es ist dir gelungen Spannung zu erzeugen, zu halten und das mit einem Ausdruck der supertoll ist

Glg
blacksun

Von:  blacksun2
2012-08-24T09:12:56+00:00 24.08.2012 11:12

ich und Nero hatten jetzt ganz lange eine Gemeinsamkeit, wir haben beide gewartet und gewartet bis Ares zurückkehrt
Nero muss sich scheinbar noch eine Weile gedulden, ich hatte heute schon das Glück

allerdings wundere ich mich ein wenig: Ares hätte sich von Peresphone den Rest des Codes holen sollen, sonst war alles umsonst, oder er hat es getan und du hast es nur nicht geschrieben

Fin kann sich an dem Tag der Geschehnisse wirklich als „Glückspilz des Tages“ bezeichnen, sie lässt auch keine Gefahr aus

oO er war Kores Bruder *schnief * die Arme

*nochmal schnief * warum gibt es kein Buch, kein Hörbuch, ein Film, ein Kalender, eine Ares-Actionfigur, Cod3s Bettwäsche etc zu der Geschichte – dann würde sie so gewürdigt werden, wie sie es verdient

ja auch in diesem Kapitel wusstest du wieder zu überzeugen mit spannenden Auseinandersetzungen, geschickten Formulierungen und unerwarteten Wendungen, ja, auch hier ist es einfach nur Begeisterung, die mich erfülllt

glg
blacksun

ach übrigens: Kore ist die Einzige, die mir Ares streitig machen darf ^^
Von:  blacksun2
2012-06-04T14:59:21+00:00 04.06.2012 16:59
das Ende, es war so herzzerreißend, so dramatisch, so bewegend
du weißt, wie du den Leser mitreißt und ihn mitfiebern lässt
der Kampf bis zum letzten Atemzug von Äeneas war einer der vielen „wow“-Effekte in diesem Kapitel.
Aber auch, wie greif- und fühlbar du Persephones Verzweiflung dargestellt hast

Eigentlich hatte ich schon gedacht, Ares kommt rechtzeitig *seufzt*, aber am Timing muss der Gute wohl noch arbeiten

Der Plan, wie sie überhaupt dort eingebrochen sind, finde ich sehr gut ausgearbeitet

Was passiert eigentlich, wenn Nero Bestätigung drückt, ohne den Code vollständig eingegeben zu haben?

Respekt, wie du seit so vielen Kapitel die Spannung aufrecht erhalten kannst

Deine Charaktere, jeder einzelne, sind super ausgearbeitet und die „Zerstöre-Judgement“-Gruppe sind mir allesamt ans Herz gewachsen

Glg
blacksun


Von:  blacksun2
2012-06-04T14:33:18+00:00 04.06.2012 16:33
Wiedersehen macht Freude? Was für eine spöttische Überschrift ^^
Wir sollten Finja fragen, was sie dazu sagt
Aber vorher hab ich das Wort und darf sagen, was ich über das Kapitel denke

Ich zitiere gerne andere Leute und deswegen nutze ich jetzt die passenden Worte von Culcha Candela „Das ist hammer“
Uhh, Pickelface hatte bei ihr nichts zu lachen
Und sie nicht bei ihren nächsten Besuchern
Ob das ausgleichende Gerechtigkeit ist : P

Hihi, der Anfang war schon witztig, ganz schön boshaft, und spitzzünging,
und immerhin 10 Minuten mit üblen Verwünschungen rumgebracht, ich würde nach 4 Minuten versagen

dein Schreibstil ist nach wie vor klasse, genial und meiner Meinung nach Bestseller-würdig
und wenn das auf deinem Schreibtisch verrottet und nie den Weg in ein Buch findet, dann wäre das eine unausprechliche Schande

glg

Von:  Kuhfleckenschokolade
2012-05-25T12:10:02+00:00 25.05.2012 14:10
Eigentlich hatte ich jetzt nicht vor, alle zwei Kapitel einen Kommentar zu hinterlassen, da die Geschichte eh abgeschlossen ist und es vielleicht besser ist, Dir keine so gestückelte Meinung zu geben, aber ich kann nicht anders - denn vor allem in diesem Kapitel ist einfach so viel an Dynamik in scheinbar ganz einfachen Sätzen vorhanden, dass es mich wirklich beeindruckt. Vor allem bei dem Traum, bei dem einfach alles so rasch in sich fließt. :)
Von:  Kuhfleckenschokolade
2012-05-25T11:44:21+00:00 25.05.2012 13:44
Wow, ich muss sagen, Du verstehst es wirklich, Spannung aufzubauen. :)
Zudem bekommt man - trotz der wenigen Worte - immer eine gute Ahnung davon, wie die Charaktere wohl von der Persönlichkeit sind wie sie sich wohl gerade fühlen. Das ist mir auch schon beim Prolog aufgefallen, in dem einen die Handelnden sofort sympathisch waren. :)
Bin sehr gespannt, wie es weitergeht, wobei ich ja das Glück habe, dass diese Geschichte auf jeden Fall beendet ist, wodurch ich Antworten auf all die Fragen erhalten werde, die Du aufwirfst.
Von:  blacksun2
2012-05-15T09:27:52+00:00 15.05.2012 11:27

es ist so genial, dass ich es kaum fassen kann
ich muss mal eines klarstellen: Ich hoffe, du denkst nicht: ach die übertreibt nur – denn ich empfinde wirklich die Begeisterung, wenn ich das lese und sehe es wie einen Film vor meinem inneren Auge abspielen

jede Szene ist bei dir so besonders, speziell

Ares handelt richtig – unsensibel, aber richtig. Sie wäre da drin wirklich keine Hilfe. Aber, ich befürchte, sie wird nicht in dem Gefängnis bleiben

Als sie das Parkhaus betreten haben, war es schon sehr spannend, weil man jede Minute damit rechnet, dass ein Feind aus der Dunkelheit springt

Voller Vorfreude schaue ich schon auf das nächste Kapitel

Glg
blacksun

Von:  blacksun2
2012-05-15T09:07:44+00:00 15.05.2012 11:07

man könnte denken es ist nachts, denn in meinen Augen strahlen zwei Sterne vor Entzückung ^^
ja ich bin begeistert, ja ich liebe diese Fanfic
ja, ich würde sie gern in meinen Händen halten, mit einem Cover und dem Aufdruck Bestseller

Zeus rächt sich auf eine relativ friedliche Weise, wenigsens keine Explosionen und Massenmorde
Irgendwie verstehe ich Zeus . . .

*grinst* die Stelle mit den beiden Wächtern war ja voll geil, na den Streit hätte ich gerne gesehen

und wieder kann ich nur den Kopf schütteln, über Finjas Mut, und gleichzeitig ihren unendlichen Leichtsinn
hoffentlich verschlimmert sie die Situation nicht

ich kann es nur wiederholen: dein Ausdruck ist bombastisch, die Story hervorragend

glg



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