Nora, Cherain und ihre Geschichten von royalbelial ================================================================================ Kapitel 2: Nora und Cherain zu Besuch bei Herrn Schnitter --------------------------------------------------------- Nora und Cherain zu besuch bei Herrn Schnitter Als Nora und Cherain eines Abends spazieren gingen, kamen sie an einem Haus vorbei, das auf einem Hügel stand. Gegen den orange-roten Abendhimmel zeichnete sich seine schwarze Silhouette ab. Zu dem Haus führte eine Steinerne Treppe, die sich in vielen Kurven wand. Mal nach links, mal nach rechts. Gerade als die beiden weitergehen wollte, viel ein Umschlag vom Himmel. Auf dem Umschlag stand etwas, doch Nora konnte noch nicht lesen, sie war doch gerade erst in die Schule gekommen. „Cherain, was steht da“, fragte sie und deutete auf die verschnörkelte Schrift auf dem Umschlag. „Da steht Nora“, antwortete er, „Der ist für dich. Mach ihn auf und ich lese ihn dir vor.“ Das Mädchen nickte eifrig und öffnete den Umschlag. Darin war eine mit dem Scherenschnitt eines Mannes verzierte Karte, auf deren Rückseite etwas geschrieben Stand. Neugierig dreinschauend hielt sie Cherain die Karte vor die Augen. „Nicht so dicht“, beschwerte er sich und Nora nahm die Karte etwas zurück. Cherain konzentrierte sich, schließlich schüttelte er den Kopf. „Es ist Unsinn“, meinte er, „Du brauchst nicht zu wissen, was da steht. Lass uns weitergehen.“ Nora schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. „Doch, muss ich... es ist ein Brief für mich.“ Cherain seufzte. „Na schön. Da steht: ‚Du bist eingeladen zum Tee bei Herrn Schnitter - im einzigen Haus auf dem Hügel.’ Aber Nora, du willst doch da nicht wirklich hin?“ „Natürlich, wo wir doch so förmlich eingeladen wurden“, erwiderte Nora und lief auch schon auf die Stufen zu. „Nora, der Brief ist vom Himmel gefallen. Was ist den daran förmlich?“, protestierte Cherain, „Förmliche Briefe bringt ein Postbote.“ Cherain schüttelte sein Fell und folgte seinem kleinen Menschenmädchen. Er versuchte gar nicht erst, sie zum Umdrehen zu überreden. Sie würde ja doch nicht hören. Einerseits war er froh, dass sie nun mutiger und weniger ängstlich geworden war, andererseits hatte er auch Angst, dass sie ihn vielleicht irgendwann nicht mehr brauchen würde. Der Aufstieg war nicht ganz leicht, die Stufen waren unterschiedlich hoch und oftmals auch glatt. Aber irgendwann hatten sie den Aufstieg geschafft und sie standen vor die Türe. Nora suchte nach der Türglocke, doch sie fand keine. „Da ist ein Klopfer“, sagte Cherain und deutete mit seiner Schnauze zu einem Ring aus Metall, der an der Türe hing. Erwartungsvoll klopfte das Mädchen an und wartete. Sie klopfte nochmals und auch noch ein drittes Mal. Dann wurde ihnen endlich aufgemacht. Als sie eintraten, standen sie in einer Halle. Was mehr als merkwürdig war, denn das Haus hätte niemals einen Raum von dieser Größe beherbergen können. An den Wänden reihte sich Bücherregal an Bücherregal. Die Rücken der Bücher waren allesamt schwarz. Nora schaute sich nach der Person um, die die Türe geöffnet hatte. Doch niemand war zu sehen. Nur in der Mitte des Raumes, an einem Tisch saß eine Person und schrieb in ein Buch. Aber so schnell hätte niemand zwischen dem Tisch und der Tür hin und her laufen können. „Sind Sie Herr Schnitter?“, fragte Nora und die Person an dem Tisch schaute auf. Es war ein Mann und er war komisch angezogen... fast wie ein Zauberer, fand Nora. Blonde Ponyfransen, die unter einem Zauberhut hervorlugten, hingen in sein Gesicht. „Ah, du bist schon da. Sehr schön, sehr schön“, sagte der Mann und lächelte. Er stand auf und ging auf das Mädchen und ihren Hund zu, „Und du hast jemanden mitgebracht.“ „Das ist Cherain, er passt auf mich auf“, erklärte Nora, während Cherain sich vor Nora stellte. Cherain war groß, so dass Nora sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um über ihn hinwegzusehen, „Sind Sie denn nun der Herr Schnitter?“ „Ja, der bin ich“, sagte er und blieb vor den beiden stehen. „Na, na Cherain. Du musst dir keine Sorgen machen, ich will ihr nichts böses. Ihr wird nichts passieren.“ „Genau, dafür werde ich sorgen“, grollte Cherain leise, woraufhin Herr Schnitter eine Augenbrauen hob. Nicht weil Cherain sprechen konnte, sondern eher, dass er sich nicht beruhigen lies. Er war eben ein Beschützer, der gut auf sein Kind acht gab. Alle Kinder hatten einen Beschützer. „Ich habe dich zum Tee eingeladen“, meinte Herr Schnitter Dann und ging zu einer Gruppe gemütlich aussehender Sessel, die um einen Kaffeetisch herum gruppiert waren. Auch wenn sie ja Teetrinken wollten. Warum gab es eigentlich keine Teetische? Keiner der fünf Sessel glich dem anderen. Ein jeder sah anders aus. Nora könnte schwören, dass sie vorhin, als sie herein gekommen waren nicht da gestanden hatten. Sie kletterte auf einen roten Sessel mit goldenen Troddeln dran. Cherain setze sich neben sie auf dem Boden. Ihr Gastgeber, nahm die Bauchige Teekanne, die mit Vögelchen verziert war. „Was magst du für Tee?“, fragte er und schaute Nora abwartend an. Seine Augen waren wässrig blau und glänzten. „Pfefferminze bitte“, antwortete sie und darauf hin goss Herr Schnitter ihr ein. Der Tee hatte eine ganz normale Farbe, die Pfefferminztee eben hatte, doch als er sich selbst eingoss, kam roter Tee aus der Kanne. Er zog eine flache silberne Flasche aus der Innentasche seines Jacketts und tat davon ebenfalls was in die Tasse. „Wenn du Zucker willst, dann nimm dir ruhig“, sagte Herr Schnitter und nickte zu der eben erschienenen Zuckerdose. Er selbst nahm nun auf dem blauen Sessel gegenüber Noras rotem Platz, ein mattes lächeln umspielte seine dünnen Lippen. Nora schaufelte Zucker in ihre Tasse und lies den merkwürdigen Mann nicht aus den Augen. „Warum haben Sie mich eingeladen?“, fragte Nora und fügte schnell hinzu, „Nicht, dass es mich nicht freuen würde.“ Immerhin wollte sie nicht unhöflich wirken. „Die Antwort ist leicht“, sagte er und sein lächeln wurde etwas lebendiger, „weil du mich sehen wolltest.“ Nora runzelte die Stirn. Das machte doch keinen Sinn, wie sollte sie jemanden treffen wollen, von dem sie nicht wusste, das es ihn gab? „Entschuldigen Sie, aber Sie haben doch mich eingeladen. Ist da nicht irgendwas verkehrt?“, fragte sie und nippte an ihrer Teetasse. „Nein, nein. Das ist schon richtig so“, erwiderte er gelassen, „Möchtest du nicht wissen, wo du bist und wer ich bin?“ Sie wollte schon, hatte sich aber nicht getraut zu fragen. Außerdem war es doch irgendwie klar wer ihr gegenüber war: Der Herr Schnitter; und sie waren in dem Haus auf dem Hügel. Doch Nora hatte das Gefühl, das dies nur die Oberfläche war. Also nickte sie und schaute den Mann neugierig an. „Das hier“, sagte der Herr Schnitter und vollzog mit seiner rechten Hand eine ausladende Bewegung durch den Raum, „Ist die Halle der Zeiten. Unter anderem. Dieser Ort hat noch viele andere Namen. Es Reicht aber, wenn du dir diesen einen merkst.“ Halle der Zeit war ein merkwürdiger Name. Denn hier gab es keine einzige Uhr. Doch wollte Nora den Herrn Schnitter nicht beleidigen und behielt ihre Gedanken für sich. Ihr Gastgeber fuhr fort: „Und ich bin sozusagen der Bibliothekar. Also wäre Bibliothek der Zeiten vielleicht besser.“ Er grübelte ein wenig über seine eigenen Worte und nickte schließlich. „Ja, Bibliothek der Zeiten ist besser.“ Nora lies ihren Blick wieder durch den Raum schweifen. „Ist eine Bibliothek so was wie eine Bücherei?“, fragte sie. „Ja genau“, antwortete der Schnitter, „Nur die Bücher hier, kann man nicht leihen. Sie werden nur aufbewahrt.“ „Was sind das denn für Bücher?“, fragte das Mädchen. Ein Buch war so schwarz wie das andere. Einige waren dicker, andere dünner, doch allesamt waren sie schwarz eingebunden. Der Herr Schnitter schien genau auf diese Frage gewartet zu haben. Er nahm noch einen Schluck Tee, um über seine Antwort nachzudenken, dann sagte er: „Diese Bücher sind etwas ganz besonderes. Ein jedes von ihnen gibt es nur ein einziges Mal und ein jedes von ihnen wurde von einer anderen Person geschrieben.“ Nora schaute sich um. Es waren viele Bücher, so viele, dass sie sie gar nicht zählen konnte. Ein jedes soll von einer anderen Person geschrieben worden sein? Nora konnte sich gar nicht vorstellen, dass es so viele Menschen auf der Welt gab. „Und noch etwas. Alle Bücher, die du hier siehst, wurden hier geschrieben“, fügte Herr Schnitter an. Nora knabberte an einem Keks und dachte nach. „Dann steht in jedem Buch eine andere Geschichte?“, fragte sie und kraulte Cherain zwischen den Ohren. Der Schnitter nickte kurz und erklärte: „Ein jedes Buch enthält eine andere Geschichte und jede dieser Gehschichten ist wahr. Man kann also sagen, die Bücher enthalten die Wahrheit.“ „Die Wahrheit?“, fragte Nora, sie konnte sich Wahrheit nicht als etwas vorstellen, dass man aufschreiben konnte. „Diese Bücher enthalten die wahre Geschichte eines jeden Verstorbenen“, offenbarte der Schnitter ihr nun. Wieder umspielte dieses matte Lächeln seine Lippen. „Alle Menschen, um die es in diesen Büchern geht sind tot?“, fragte Nora nach und ihre Augen waren fast so groß wie ihre Untertasse. Wer würde sich denn die Mühe machen, die Geschichte eines jeden Toten aufzuschreiben? Das musste doch eine ganze Menge arbeit sein. Dann fiel Nora ein, dass ein jedes Buch seinen Eigenen Schreiber hatte. Wenn jeder nur eines dieser Bücher geschrieben hatte, war es schon um einiges weniger Arbeit. „Und wer hat diese Bücher denn nun geschrieben?“, fragte sie, nach dem sie Cherain nach einigen Minuten des erstaunten Schweigens mit seiner feuchten Nase angestupst hatte. Der Schnitter lachte leise. „Also... es ist eigentlich ganz einfach, wenn du nur darüber nachdenkst“, sagte der Herr Schnitter und leerte nun seine Teetasse. Er stellte sie auf dem Tisch ab und sie verschwand. Nora dachte nach, aber irgendwie kam sie zu keinem rechten Ergebnis. „Weißt du es Cherain?“, fragte sie ihren Begleiter. „Ich habe eine Ahnung“, sagte er und klang beklommen, „Und sie gefällt mir nicht.“ Misstrauisch schaute er zum Herrn Schnitter hinüber, der nun die Beine überschlagen hatte und die beiden abwartend ansah. „Ich habe dir doch bereits versichert Cherain, dass Nora nichts geschehen wird“, merkte der Mann milde lächelnd an. Cherain wollte was erwidern, doch da meldete sich Nora wieder zu Wort: „Ich habe eine Idee, aber das kann eigentlich gar nicht sein... die Toten selbst haben die Geschichten geschrieben.“ „Ich wusste doch, dass du ein kluges Mädchen bist“, sagte der Schnitter anerkennend und nickte, „Es ist richtig. Die Toten sind die Autoren ihrer Geschichten.“ Jetzt wo sie das Wusste, konnte Nora nicht mehr sagen, ob sie diesen Ort beängstigend, oder beindruckend finden sollte. Ihre Mutter hatte ihr mal gesagt, dass die Toten in den Himmel oder in die Hölle kamen. Das konnte sie sich aber nicht so recht vorstellen. Der Himmel war doch nur eine riesige blaue Fläche und dahinter, da kam das Weltall, hatte sie irgendwo mal aufgeschnappt. Im Weltall war es kalt und dunkel. Sie wollte sich nicht vorstellen, dass dort irgend ein Mensch nach dem Tod hinmusste. Nora schaute den Schnitter zweifelnd an. „Wieso sollten die Toten das tun?“, fragte sie. „Lass mich erklären“, sagte der Herr Schnitter, „Wenn ein Mensch stirbt, dann kommt er hier her. Hier muss er seine Lebensgeschichte aufschreiben. Dabei kann er nicht lügen. Es ist immer die Wahrheit. Er ist hier, solange er braucht.“ „Aber, was wenn der Mensch nicht schreiben kann?“, fragte Nora, „Dann muss er doch für immer hier bei ihnen bleiben!“ Der Schnitter lachte und meinte: „Das klingt jetzt so, als sei das ein ganz furchtbares Schicksal. Ist es denn gar so schlimm bei mir?“ „Nein, nein, das wollte ich nicht sagen“, sagte Nora etwas verlegen. „Mach dir keine Sorgen, ein jeder der hier ankommt, kann schreiben. Egal ob er es zu Lebzeiten gelernt hat oder nicht“, beruhigte der Herr Schnitter das Mädchen. „Und wozu ist das gut? Wozu ist diese Bibliothek gut?“, fragte Nora, deren Neugier nun gepackt worden war. „Siehst du Nora, wenn ein Mensch stirbt ist die sein Leben vorbei. Doch nur weil ein Leben vorbei ist, heißt es nicht, dass er es so einfach vergessen werden kann. Dafür war die Zeit des Lebens einfach zu kostbar. Es wäre doch schade, wenn das mit dem Tod gänzlich verloren ginge. Also landen die Toten bei mir und beginnen zu schreiben. Es ist nicht immer leicht, sich mit seinem wahren Ich auseinander zusetzen, aber bisher hat es noch jeder geschafft“, erzählte der Herr Schnitter und erschien Nora nun um einiges Älter, „Und selbst wenn die Lebenden einen einst vergessen... gibt es hier immer noch einen Beweis, dass man gelebt hat. Egal wie gut, oder wie schlecht man dabei war.“ „Und wenn ein Toter mit seinem Buch fertig ist?“, wollte Nora nun wissen. Der Raum erschien ihr nun viel voller als zuvor. Zunächst hatte sie hier nur Bücher gesehen, doch nun wusste sie, dass dies hier das Leben selbst war, dass man in Regale gestellt hatte. Das Leben eines jeden einzelnen. „Dann geht er. Das schreiben dieses Buches, ich kann mir vorstellen, dass es eine Vorbereitung ist für das was danach kommt“, antwortete der Herr Schnitter. „Und was kommt danach, wo gehen die Toten denn hin?“ „Das, weiß nicht einmal ich“, meinte ihr Gastgeber mit einem entschuldigenden Lächeln. Nora nickte. Niemand weiß es also, nicht einmal der Herr Schnitter. „Mein Bruder war also auch hier?“, fragte sie leise. Cherain stellte die Ohren auf und schaute Nora besorgt an. Es tat ihr also immer noch weh. Deshalb waren sie also hier. Der Schnitter nickte. „Alle kommen hier her“, erinnerte er sie. „Dann... kann ich vielleicht sein Buch sehen?“ „Wenn du denn weißt, welches es ist. Ich kann dir nur nicht erlauben darin zu lesen“ „Ich kann sowieso noch nicht lesen“, erwiderte Nora und lächelte kurz, „Ich suche es nun.“ Der Schnitter nickte und sagte: „Derweil würde ich mich gern mit Cherain unterhalten, wenn er denn nichts dagegen hat.“ Cherain schnaubte, stimmte aber mit einem nicken zu. Nora hüpfte aus dem Sessel und lief zu den Regalen. Irgendwie hatte sie das Gefühl ganz genau zu wissen, wo das Buch ihres Bruders stand. „Nun?“, fragte Cherain und sah Nora nach. Es kam nicht oft vor, dass sie etwas ohne ihn machte. „Weißt du Cherain... Nora mag irgendwann erwachsen werden und dich vielleicht vergessen… aber in ihrem Buch, wirst du mehr als nur ein Nebencharakter sein“, sagte der Schnitter, der aufgestanden war und neben dem Hund in die Hocke gegangen war, „Und bis es soweit ist, pass so gut auf sie auf, wie du nur kannst.“ „Ja, das werde ich“, sagte Cherain, es war das einzige was ihm gerade einfiel. Das einzige was es zu den Worten des Schnitters zu sagen gab. „Ich hab es!“, rief Nora von den Regalen herüber. Aufgeregt kam sie zu den beiden herübergelaufen und hielt Cherain das Buch unter die Nase. „Nicht so dicht“, beschwerte er sich. Nora ging wieder etwas auf Abstand. Er nickte. Da stand der Name von Noras Bruder. Dazu sein Geburts- und Todestag. Nora strich über den Einband des Buches. „Das ging aber schnell“, sagte der Schnitter anerkennend, „Weist du Nora, dein Bruder hat viel gelächelt, als er dieses Buch geschrieben hat.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)