Kurzgeschichten von AnnaBlume (Meine Sammlung von schnellgelesenen Erzählungen) ================================================================================ Kapitel 5: Haare ---------------- Haare Jeden Tag sehe ich zu, wie sie fallen. Büschel für Büschel, Zentimeter um Zentimeter. Ihre Lebenserwartung hängt ganz von ihrem Besitzer ab – es gibt solche, die mögen es lieber kurz, da muss man sich bereits nach ein paar Wochen wieder verabschieden. Andere hingegen tragen ihre Mähne lang und wild, da wird höchstens einmal im Jahr eine Schere angelegt. Ich, welche diese Schere führen darf, muss immer wieder auf die Haufen hinabschauen, die von da an nur noch den stinkenden Inhalt eines Abfalleimers sehen werden. Früher wurden lange Stücke noch für Perücken verwendet, darauf sollte man doch heute noch zurückgreifen können. Das ist ja kein schönes Leben, das diese Fäden immerhin menschlichen Ursprungs ausleben müssen. Jeder Mensch fühlt sich auf dem Kopf ganz anders an. Es gibt den Typ mit viel und äusserst dickem Haar, aber auch den, der nur wenige feine Härchen spriessen lassen kann. Wenn ich mit Waschen beginne, mache ich mich erst einmal mit den Haaren bekannt. Ich fühle sie, während meine Finger das Shampoo fein einmassieren. Ich spüle es erst wieder aus, wenn ich genau weiss, welche Art von Kopfbehaarung da auf mich zu kommt. Dann geleite ich den Kunden oder (was viel öfter vorkommt) die Kundin zu ihrem Stuhl und zücke meine Werkzeuge: Schere, Kamm und Klammern. Ob die Beschreibung des gewünschten zukünftigen Ichs kurz und bündig oder lang und detailliert erfolgt, spielt für mich keine Rolle. Meist höre ich ohnehin nur halbwegs zu. Denn wenn ich die vor mir sitzende Person im Spiegel untersuche, weiss ich sofort, was ich zu tun habe. Ich stelle mir die Frisur vor, betrachte sie mit meinem inneren Auge von allen Seiten und hebe meinen Kamm. Danach geht alles blitzschnell, ich kämme und schneide, klemme einige Strähnen aus dem Weg, schneide wieder und kämme erneut. So geht das durchschnittlich eine halbe Stunde, meine Kunden kommen kaum zum Wort. Aber das brauchen sie auch nicht. Denn je mehr sie von dem sehen, was aus ihnen wird, desto eher gefällt es ihnen, und sie halten schön den Mund und folgen gespannt dem Geschehen. Dann, wenn mein Kunstwerk vollendet ist, wird noch schnell heiss geföhnt und ich lege meine Utensilien beiseite. Entzücken folgt auf das erste Schweigen, man schüttelt sich die Hände, der Kunde bezahlt und verlässt zufrieden den Laden. Ich blicke auf den Boden. Wieder haben sich viele Haare zu einem Haufen angesammelt und warten auf ihr tragisches Ende. Mit etwas Fantasie könnte man doch viel daraus machen. Ich greife nach dem Besen, fege die Büschel zusammen und kippe sie mithilfe einer Schaufel in den Abfall. Sie müssen sich wohl noch etwas gedulden, bis mir eine geeignete Idee der Wiederverwertung einfällt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)