Taken: Swiss Edition von Rigo (Ensemble - Inspiriert vom Film "Taken") ================================================================================ Kapitel 1: ----------- 6. Mai, Freitagabend. Vash Zwingli saß auf der morschesten Treppenstufe zu seinem Zimmer und starrte auf die Haustür hinab. Die Tür, die sich schon vor zehn Minuten hätte öffnen sollen. Das Haus, in dem er wartete, war eine ehemalige kleine Farm. Inzwischen wurde der Stall nur noch von drei Ziegen bewohnt, um welche sich seine Schwester liebevoll kümmerte. Gelegentlich schaute auch die Nachbarskatze vorbei, weil Lilli es niemals schaffte, dem kläglichen Miauen zu widerstehen und ihr jeden Tag das restliche Mittagessen verfütterte. Sonst hatten sie keine Besucher. Keinen Festnetzanschluss. Keinen Kontakt zur Außenwelt. Falsch. Er hatte keinen Kontakt zur Außenwelt. Aber Lilli… Lilli war 18. Jung und voller Lebensfreude und Tatendrang. Lilli hatte soziale Bedürfnisse, die über das gelegentliche Gespräch mit ihrem älteren Bruder hinausreichten. Lilli – süße, kleine, naive Lilli. Ein plötzliches Geräusch ließ Vash zusammenzucken, bis er merkte, dass es bloß die Türklinke war, was bedeutete, dass seine Schwester endlich – endlich – zuhause war. Die offene Tür enthüllte den zierlichen Körper eines jungen Mädchens. Die Laterne über dem Hauseingang beleuchtete sie von hinten, sodass ihr Gesicht im Schatten lag und Vash ihren Gesichtsausdruck nicht ausmachen konnte. Doch als sie sprach, um ihn zu begrüßen – wohlwissend, dass er im Dunkeln auf ihre Heimkehr gewacht hatte, hörte er ein herzerweichendes Zittern in ihrer Stimme. „Zehn Minuten“, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Zehn Mi-“ An dieser Stelle brach seine Stimme und er musste die Augen zudrücken, bis er Sterne sah, um sich zu beruhigen. Lilli sagte nichts, stand nur da, mit ihrem Schattengesicht, und schwieg. Sie wusste, dass ihm jede einzelne Sekunde unaushaltbare Kopfschmerzen bereitet hatte. „Wo warst du?“, frage Vash, als er seine Stimme wieder zurückgewonnen hatte. Lillis Körper versteifte sich, als ob ihr die Frage Angst machen würde und als sie keine Antwort gab, entschied Vash ganz einfach selbst für sie zu sprechen. „Du warst wieder bei ihr.“ Bei ihr bedeutete in diesem Falle bei Elizavetha. Elizavetha Edelstein. 21 Jahre. 1,72 m groß, langes, braunes Haar, ledig, lebte mit ihrem Bruder – Roderich Edelstein, 25 – in dem nächstgelegenen Chalet, 1,5 Kilometer von ihrer eigenen kleinen Farm entfernt. Es war das nächste Nachbarshaus und sie gehörten zum selben Weiler. Die Geschwister waren fast unvorstellbar reich – was sie dem Erbe ihrer Eltern zu verdanken hatten – und lebten zurückgezogen in diesem Schweizer Bergdorf, um den Journalisten und Biografen zu entkommen, welche die Spuren ihres verstorbenen Vaters, dem letzten großen Pianisten, verfolgten. Vash wusste all das, bevor die beiden auch nur den ersten Schritt in ihr neuerworbenes Chalet gesetzt hatten. Lilli und Elizaveta hatten sich im Dorfladen beim Milch-holen kennengelernt und da sie die zwei einzigen jungen Frauen innerhalb mehrerer Quadratkilometer waren, hatten sie sich unausweichlich angefreundet. Vash hatte versucht, es ihr zu erklären. Die Welt war schlecht. Menschen waren schlecht. Lilli war zu schön, zu rein, um mit anderen Menschen in Berührung zu kommen. Sie war zu gutherzig, zu naiv, um da draußen überleben zu können. Freundschaft endete immer in Verrat. Liebe endete immer in einer Katastrophe. Das waren die Regeln des Lebens. Aber da – zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben – hatte Lilli sich gewehrt. Sie hatte nicht getobt und geschrien und rebelliert wie andere Teenager es tun würden. Er erinnerte sich genau an den Tag. Sie standen draußen auf der Wiese und beobachteten ihre drei Ziegen beim Grasen. Du kannst mich nicht ewig in dieser kleinen Hütte gefangen halten wie Rapunzel in ihrem Turm, hatte sie gesagt. Die Sonne hatte auf ihr blondes Haupt geschienen und das Leuchten hatte an einen Heiligenschein erinnert. Er hatte nichts dazu gesagt. Aber im Stillen hatte er sich selbst versichert, dass er es so lange wie möglich versuchen würde. Und wenn er dem Rapunzel eigenhändig die Haare abschneiden musste, um jeden zukünftigen Prinzen vom Eindringen in den Turm abzuhalten. „Es tut mir Leid, Bruder!“ Lillis zitternde Stimme bohrte sich regelrecht durch Vashs Ohren und der helle Klang vertrieb den Tumult der blinden Wut aus seinem Kopf. Sie schaffte es immer wieder. Es war eine tatsächliche Unmöglichkeit, wütend auf sie zu sein. Seine Enttäuschung allerdings, konnte sie ihm nicht nehmen, auch wenn er alles daran setzte, sie zu verbergen, denn er wusste wie sehr es Lilli verletzte. „Komm, lass uns zu Abend essen!“ Damit erhob er sich aus seiner sitzenden Position und kam die Treppe hinunter. Lilli tastete nach dem Lichtschalter, schloss die Tür hinter sich, nachdem sie ihn gefunden hatte. Vash sah die Tränen in ihren Augen glitzern, aber er ging an ihr vorbei in die Küche. Das untere Stockwerk bestand aus einem einzigen Raum in dessen linken Ecke sich ein Herd, ein Kühlschrank und ein Waschbecken befanden. Über ihm flackerte die Glühbirne der Lampe, die Lilli gerade angezündet hatte, fast so, als würde sie ihr verängstigtes Zittern nachahmen. „Hast du Hunger?“, fragte Vash. Er versuchte, es sanft zu sagen, aber irgendwie klang er dabei einfach nur heiser. Dass Lilli solche Angst vor ihm hatte, war neu und es schmerzte ihn. Er wollte ihr bestimmt keine Angst einjagen – ganz im Gegenteil: Er wollte, dass sie niemals Angst empfinden musste. „Nein“, sagte Lilli. „Setz dich, bitte! Ich werde uns eine Milch aufwärmen. Das beruhigt die Nerven.“ Vash beobachtete sie dabei, wie sie eine Pfanne aus dem Waschbecken fischte und im Kühlschrank nach der frischen Milch suchte. Das Zittern war inzwischen von ihrer Stimme in die Hände gewandert. Irgendetwas stimmt nicht!, entschied er, als sie die Milch vor lauter Nervosität verschüttete. Einer plötzlichen Eingebung folgend nahm er sein iPhone aus der Hosentasche. Die kleine Farm, in der sie wohnten, mochte von außen alt und halb-verfallen aussehen, tatsächlich aber hatte Vash sie vor dem Umzug mit den verschiedensten Gerätschaften ausgestattet. Er war nie mehr als fünf Meter von einer versteckten Waffe entfernt solange er sich im Haus befand. Außerhalb des Hauses waren Kameras installiert. Eine Alarmanlage umgab die gesamte Einzäunung der Ziegenweide und die einzige Zufahrt zum Haus. Nur Lilli und er kannten die Ziffer, die in das innerhalb eines alten Zaunpfahls versteckte Codegerät eingegeben werden musste, um sie auszuschalten. Sollte ein Fremder eindringen, so ging augenblicklich der Alarm los – direkt auf Vashs Handy, damit sich kein verirrter Wanderer zu Tode erschreckte und damit das Haus keinen Verdacht auslöste. Er hatte von seinem iPhone aus Zugriff auf die Kameras, damit er die Lage einschätzen und situationsgerecht reagieren konnte. Bisher hatte er noch keine einzige dieser Funktionen dringend gebraucht, nur hie und da, wenn er gerade nichts besseres zu tun hatte (und das hatte er nicht oft) die Gegend außerhalb ihrer vier Wände beobachtet. Bewacht. Doch jetzt klickte er sich voller dunkler Vorahnung in die am Kamin angebrachte Wärmekamera ein. Sie war auf die Zufahrt gerichtet. Das Bild war blau. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Er vergewisserte sich, dass Lilli keinen Blick auf sein iPhone erhaschen konnte und lenkte die Kamera weiter über den Stall. Drei rote Punkte erschienen auf dem Bildschirm – die Ziegen, die es sich im weichen Stroh gemütlich gemacht hatten. Sie verhielten sich ruhig, was ein gutes Zeichen war, denn sie waren sich nicht an fremde Menschen gewohnt und hätten sich vielleicht aufgeregter gezeigt, wenn jemand anderes in der Nähe war. Gerade wollte er den Hinterhof absuchen, als sich plötzlich etwas in seinem Gesichtsfeld bewegte. Es war Lilli, welche die warme Milch vor ihn hinstellte und er ließ das iPhone schnellstens wieder in die Hosentasche zurückgleiten. Lilli lächelte ihn an, während sie sich ihm gegenüber setzte und abermals hatte Vash das seltsame Gefühl, dass etwas nicht stimmte. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er und sah sie dabei eindringlich an. Der Satz war ein Code – sollte Lilli jemals nicht in der Lage sein, frei zu sprechen, würde sie mit „alles bestens“ antworten. „Mir geht’s gut, danke. Eliza hat mich eingeladen, bei ihnen zu essen, ihr Bruder hat viel zu viel gekocht… ich hoffe, das macht dir nichts aus.“ Und wie es ihm etwas ausmachte! Hatte er ihr nicht beigebracht, niemals Essen anderer Leute anzunehmen? Aber die Erleichterung über Lillis Wohlergehen dämpfte seine Wut und er nahm schnell einen großen Schluck von der Milch, um von dem peinlichen Schweigen abzulenken. Erst als er bereits heruntergeschluckt hatte, bemerkte er den leicht bitteren Nachgeschmack. „Lilli!“ Sie waren doch nicht vorsichtig genug gewesen. Die alte Milch-Frau? War sie es? Dabei hatte er doch jede Person im Dorf so gründlich überprüft… Doch er hatte keine Zeit, lange über den Täter nachzudenken. Die Wirkung erfolgte sofort. Irgendwie schaffte er es noch, sich auf die Füße zu kämpfen und eine Warnung auszustoßen – Lilli schaute ihn aus großen Augen an, schlug die Hände vor dem Mund zusammen und dann wandte sich ihr Blick auf die Eingangstür hinter ihm. Erst da hörte er das Geräusch der sich öffnenden Tür, Schritte, die eilig auf sie zukamen. Drei Sekunden. Drei Sekunden, mehr brauchte er nicht. Direkt vor ihm, im Tisch, befand sich ein Geheimfach, in dem er seine liebste Smith & Wesson versteckt hielt. Sich selbst für den vorzeitigen Abbruch der Lageüberprüfung verfluchend, klappte er den Mittelteil des Tisches hoch – die Tasse mit der präparierten Milch rutschte zu Boden – und tastete nach der Waffe. Sein Körper bewegte sich nur noch in Zeitlupe und seine Finger waren taub. Trotzdem konnte er Eines noch feststellen, bevor die Ohnmacht ihn übermannte. Die Smith & Wesson war weg. ~.~.~.~.~. Lilli sah mit vor Schock starrem Körper dabei zu, wie ihr Bruder sich im Augenblick der Erkenntnis auf die Beine kämpfte und in einer letzten Warnung ihren Namen schrie. Hinter ihm flog die Tür auf, eine Gestalt näherte sich ihnen, doch Lillis Sicht wurde bald verwehrt durch die Tischscheibe, die plötzlich aufklappte und ihr die heiße Milch entgegen schleuderte. Ein Krachen hinter der Tischklappe informierte sie darüber, dass ihr Bruder zusammengebrochen war. Ohne der anderen Person im Raum auch nur einen Blick zu widmen, eilte sie um den Tisch herum, wo Vash bewegungslos am Boden lag, und kniete sich zu ihm herunter. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie weinte, so fest, dass das Bild ihres Bruders vor ihrem Gesicht verschwamm und fette Tränen auf ihn hinunterfielen. Sie wischte sich die Augen mit dem Hemdärmel ab. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Es ist alles in Ordnung! Er schläft nur.“ „Ich… ich…“, stotterte Lilli, die Tränen verschluckten ihre Stimme. „Ich glaube, das war eine schlechte Idee, Eliza!“ Elizaveta stieg elegant über Vash hinweg und kauerte sich neben ihm zu Boden. Mit dem Daumen überprüfte sie seinen Herzschlag am Handgelenk. Sie fühlte es regelmäßig und ruhig schlagen. Zufrieden ließ sie die Hand wieder fallen und wandte sich stattdessen Lilli zu, um ihr eine dicke Träne von der Wange zu wischen. „Beruhige dich, Süße! Du hast deine Meinung doch nicht schon wieder geändert, oder?“ Lillis Kopfschütteln fiel besonders kläglich aus, aber Elizaveta störte sich nicht daran. „Na also! Komm schon, hilf mir, ihn auf sein Zimmer zu tragen. Wir werden dafür sorgen, dass er so bequem wie möglich aufwacht, damit er nicht denkt, er sei entführt worden. Und dann legst du ihm deinen Brief hin, okay? Er wird es schon verstehen.“ „Das wird er nicht“, widersprach Lilli schniefend. Trotzdem griff sie ihren Bruder unter den Armen und half ihrer neuen Freundin, ihn die Treppe hinauf zu tragen. Sie bemerkte, wie Eliza auf das leere Geheimfach im Tisch starrte, bevor sie ihren Blick auffing. „Zum Glück hast du die Pistole da raus genommen“, sprach Elizaveta ihre Gedanken aus. „Er hätte mich wahrscheinlich erschossen!“ „Das hätte er nicht!“, versicherte Lilli, fügte aber mit gemischten Gefühlen hinzu: „Er hätte dich wahrscheinlich nur angeschossen. Ins Bein, damit du nicht mehr flüchten kannst. Wenn du eine Waffe gehabt hättest erst in die Hand und dann ins Bein. So könnte ich dich im Falle eines Komplizen als Geisel nehmen oder er könnte später noch Informationen aus dir herauspressen.“ Eliza beobachtete den schlafenden Mann, den sie zwischen sich trugen, mit skeptischem Ausdruck. Hatte er ihr das so beigebracht? Die Gespräche am Mittagstisch der Familie Zwingli mussten etwas sehr Makabres an sich haben. Und je mehr sie über Vash erfuhr, desto kleiner wurde ihr schlechtes Gewissen. „Ist das sein Zimmer?“, fragte sie, als sie die steile Holztreppe mit Müh und Not erklommen hatten, ohne Vash eine schmerzhafte Rutschfahrt zu verpassen und ihn dadurch gleich wieder aufzuwecken. Lilli nickte und bog um die Ecke. Mit dem Ellbogen drückte sie die Klinke der Tür hinunter. Eliza sagte nichts, als sie das Zimmer betraten. Es war so unpersönlich eingerichtet, wie nur irgend möglich. Groß zwar, aber leer. Es gab je ein Fenster auf drei Seiten des Hauses und oben in der Decke war eine Dachluke erkennbar. Die Einrichtung bestand allein aus einem Bett, einem hölzernen Kleiderschrank und einem altmodischen Pult, auf dem ein Laptop einsam vor sich hin blinkte. Keine Bilder, keine Fotos schmückten die Wände. Es sah aus, als wäre er gerade erst eingezogen. Lilli war eindeutig am Ende ihrer Kräfte, denn sie ließ ihren Bruder mehr auf die Matratze fallen, als ihn sorgfältig hineinzubetten und es sah bereits wieder so aus, als wenn ihr das eine weitere Heulattacke bescheren würde. Elizaveta beschloss, schnell einzugreifen; sie legte Vashs Beine behutsam auf den Bettüberwurf und griff nach dem Duvet, um ihn damit zuzudecken. Er trug noch immer seine schweren Stiefel, die sie – ohne die Nase zu rümpfen, wofür sie sich insgeheim selbst lobte – von seinen Füssen zog und neben das Bett stellte. „So, siehst du? Alles in bester Ordnung! Hast du den Brief dabei, ja? Leg ihn hierhin, direkt auf seinen Bauch, da sieht er ihn bestimmt. Dann weiß er, was los ist und vielleicht ist er sogar stolz auf dich, dass du dich wehren und deinen Kopf durchsetzen kannst.“ „Das wäre schön“, seufzte Lilli in einem Tonfall, der erkennen ließ, dass sie kein bisschen daran glaubte. Aber sie legte mit zitternden Händen den vorbereiteten Brief auf Vashs Bauch, zupfte die Bettdecke zurecht und strich ihm einmal durch das blonde Haar. „Vielleicht…“, sagte sie, „vielleicht hilft es ihm. Einzusehen. Dass… wenn ich wieder zurückkomme… Dass ich auf mich selbst aufpassen kann. Und dass nicht alle Menschen schlecht sind.“ Sie riss ihren Blick von ihm los, um fragend zu Eliza empor zu schauen. „Was meinst du?“ „Das kann gut sein!“ Nachdem sie dieses verrückte Haus kennengelernt hatte, glaubte sie zwar nicht wirklich daran, aber sie sah, dass Lilli die Zustimmung brauchte – die Hoffnung, dass ihr Bruder ihre Taten gutheißen würde. Das arme Mädchen wurde seit dem Tod ihrer Eltern von ihrem Bruder eingesperrt und trotzdem liebte sie ihn über alles. Elizaveta konnte das nicht verstehen – hätte Roderich sie so behandelt, wäre sie schon längst abgehauen und hätte dabei noch dafür gesorgt, dass für immer die Umrisse einer Bratpfanne in seinen Hinterkopf eingraviert wären. Lilli aber riss sich nur mühsam von Vashs Anblick los, als Eliza darauf aufmerksam machte, dass der Pilot wartete. Sie würden mit dem persönlichen Hubschrauber der Edelsteins bis zum Flughafen fliegen. Von da aus ging es weiter nach London – ein Gedanke, der es in Lillis Körper von den Haarspitzen bis zu den Zehen kribbeln ließ. London war die Stadt, die in geheimnisvoll geflüsterten Gesprächen ihrer Eltern aufgetaucht war, deren Name sie nie aus dem Munde ihres Bruders gehört hatte, die irgendetwas mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte – das fühlte sie. Mit der Vergangenheit vor dem Unfall, vor dem monatelangen Koma, aus dem sie ohne Gedächtnis aufgewacht war. Wenn es einen Ort gab, der ihr helfen konnte, diese verlorenen Erinnerungen wiederzuerlangen, dann war das London. Und nicht einmal ihr schlechtes Gewissen, das sich im tiefsten Winkel ihres Magens zu einer dunklen, schweren Masse verformte, konnte sie davon abhalten, diese Chance zu nutzen. Diese Lücke im System. Vash hatte wahrlich nie damit gerechnet, dass Lilli je eine Freundin haben würde. „Komm!“, sagte Elizaveta; lächelnd. Lilli schaute sie wie in Trance an. Bisher hatte sie immer geglaubt, niemand anderen als ihren Bruder zu brauchen. Er hatte alles für sie gegeben – sogar seine eigene Freiheit. Aber eines – eines hatte sie von Vash nie bekommen. Er hatte schon lange verlernt, zu lächeln. Lilli ergriff Elizas Hand und lächelte zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)