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Black Sheep

~ Why don’t You feel the Sense of Urgency ~
von

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Prolog

Die Menschen sind so blind…
 

Black Sheep
 

Sie verschließen ihre Augen vor allem was wichtig ist. Sie erkennen die Wahrheit selbst dann nicht, wenn sie direkt vor ihnen steht. Und das macht die Menschen zu schrecklichen, egoistischen Wesen, die sich nie für Andere interessieren, die Anderen niemals helfen werden, die Andere lieber noch mehr in den Dreck ziehen um sich selbst aus der Sache wieder heraus zu bringen…
 

Ich bin da nicht anders.

Auch ich habe meine Augen vor der Wahrheit verschlossen, um das Grauen der Welt nicht sehen zu müssen. Und dadurch habe ich meine große Liebe nicht nur verloren, sondern selbst umgebracht. Ich bin Schuld an ihrem Tod. Und das werde ich mir niemals verzeihen können.

Die Geschichte die ich hier erzählen möchte handelt nicht von mir, sondern von ihr.

Sie war das schönste Wesen, das mir je auf dieser Welt begegnet ist. Sie war wie ein Engel ohne Namen. Ihr Lachen war ein Glockenspiel, ihr Lächeln erhellte den Himmel. Sie hatte so sinnliche Lippen, die ich nur all zu gerne geküsst habe. Ihre Augen waren tief braun und voller Vorfreude auf die Welt. Doch nie habe ich verstanden, dass sich unter dieser Tiefe ein schwarzer Abgrund befand, der von Gewalt und Hass und Angst bereits überquoll.

Nehmt es mir bitte nicht übel, dass ich hier schon das Ende der Geschichte vorweggenommen habe. Anders kann ich diese Geschichte einfach nicht erzählen, die eine Romanze und ein Drama zugleich ist. Wenn ihr mich am Ende für meine Blindheit hasst, dann ist das euer gutes Recht und ich werde mich eurem Urteil gerne fügen. Doch hoffe ich noch mehr darauf, euch allen, die ihr diese Geschichte lest, die Augen für die Welt zu öffnen, damit nicht noch mehr Menschen so lange so leiden müssen wie sie es musste.
 

Ihre Geschichte begann lange, bevor ich sie traf.

Sie wuchs in einem guten Haus auf, hatte zwei große Brüder, eine liebevolle Mutter und einen noch lieberen Vater. Sie war sein kleines Mädchen gewesen, das er niemals aus den Augen ließ. Sie erzählte mir oft von ihnen, ihre Augen strahlten dann jedes Mal. Selbst in den Momenten, wo sie sich an die Streitereien mit ihren Brüdern erinnerte. Sie hat ihre Familie sehr geliebt.

Und ich habe sie geliebt.

Ich habe immer gehofft, eines Tages ihre Familie kennen zu lernen, ein Teil dieser Familie zu werden. Doch jetzt, ist mir das für immer verwehrt.
 

Ihr wollt jetzt bestimmt wissen, warum diese Geschichte ein solches Drama ist, wenn sie doch so ein fröhliches und geliebtes Mädchen war.
 

Es war ein langer Abend…

Der Abgrund tut sich auf

Der Abgrund tut sich auf
 

Es war ein langer Abend gewesen, den Karin mit ihren Freundinnen verbracht hatte. Sie waren in verschiedenen Diskotheken gewesen, hatten mit jungen Männern geflirtet und den ein oder anderen Cocktail getrunken. Karin hatte so viel Spaß wie schon lange nicht mehr gehabt. Ihr Vater war immer so streng, wenn es darum ging sie auch einmal allein raus zu lassen. Ihre Brüder durften immer alles, denn sie waren ja schon erwachsen und konnten gut auf sich selbst aufpassen… Klar! Als würde sie das nicht können. Sie war zwar noch nicht volljährig, aber das würde sich ja bald ändern.

Karin lächelte und verabschiedete sich winkend von ihren Freundinnen. Es war schon weit nach Mitternacht und sie würde mit dem Bus noch eine Stunde lang fahren müssen, bevor sie zuhause war. Sie hätte natürlich auch ihren Vater oder ihre Brüder fragen können, ob sie sie abholten, doch dann hätte sie gezeigt, dass sie ja doch noch unselbstständig ist und das wollte sie auf gar keinen Fall.

Sie zog sich die Jacke enger um den Körper und setzte sich auf einen der Metallsitze, die in der Bushaltestelle festgemacht waren. Dann zog sie ihren iPod aus der Tasche und ließ einen Ohrstöpsel unter ihren langen, braunen Haaren verschwinden. Sie drehte die Lautstärke so weit hoch, dass sie nicht davon taub werden würde, aber die Geräusche der Nachtluft ausblenden konnte.

Es war einfach nur kalt und dunkel und leer. Es ärgerte sie, dass sie nicht vom Hauptbahnhof aus gefahren war, obwohl sie dann länger brauchen würde. Aber wenigstens wäre dort Licht gewesen und vor allem ein paar offene Geschäfte, in denen sie sich hätte aufwärmen können.

Karin biss sich auf die Lippen um nicht zu zittern, als sie mit dem freien Ohr Schritte vernahm. Hoffentlich nur ein paar alte Männer, die noch auf eine Sauftour gehen, wiederholte sie innerlich, hoffentlich nur ein paar…

„Hallo Süße!“

Verdammt!

„Was machst du so spät allein noch hier?“, fragte eine tief männliche Stimme. Das raue Lachen, das daraufhin folgte, ließ sie erahnen, dass sie es hier nicht nur mit einem Mann zu tun hatte.

Schnell drehte sie sich weg und verkrampfte ihre Finger in ihre Tasche. Dass sie unter ihrem schweren Mantel nur einen Minirock und ein bauchfreies Top trug machte ihr gerade doch mehr Angst, als sie erwartet hätte, als sie vorhin noch mit ihren Freundinnen um die Häuser gezogen ist.

„Oh… Ist sie etwa stumm?“

„Oder will sie uns vielleicht einfach nur nicht hören?“

Wieder dieses Lachen.

Karin schloss panisch die Augen, als sie merkte, wie sich zwei der Männer neben sie nieder ließen und ihre Armen um ihre Schulter legten.

„Was hörst du denn gerade?“, fragte der eine und zog ihr sogleich den Stecker aus dem Ohr. Am liebsten hätte sie ihn jetzt angeschrien, aber das machte sie Sache meist ja nur noch schlimmer, das wusste sie. Andererseits fiel ihr nicht ein, was sie noch hätte tun können.

Gerade als sie den Mund aufmachte, erklang aber eine andere donnernde Stimme und Karins Herz machte einen kleinen Sprung.

„Hey! Lasst meine Freundin in Ruhe, oder ich ruf die Polizei!“

Unter lautem Protest standen die beiden Männern auf und verschwanden, nicht aber ohne ein „Wir sehen uns bestimmt bald wieder, Süße!“ zu rufen.

Karin atmete auf.

Die Stimme war unverkennbar gewesen, weswegen sie sofort rot wurde, aber trotzdem von ihren inzwischen eiskalten Händen aufblickte.

„Danke, Patrick.“

Patrick setzte sich neben sie und grinste, ihr einen heißen Kaffeebecher reichend.

„Keine Ursache. Als ich erkannte, dass du es bist, musste ich doch zu deiner Rettung eilen.“, meinte er fröhlich und trank aus seinem eigenen Becher. Karin blickte ihn von der Seite her an. Patrick war ein Klassenkamerad von ihr und vor allem war sie seit langen in ihn verliebt. Das gerade er sie retten würde… Es war wie ein Traum. Sie lächelte und trank.

„Wissen deine Eltern eigentlich, dass du hier bist?“, fragte er plötzlich, zog eine Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche und steckte sich eine an.

Karin schüttelte den Kopf: „Sie denken ich bin bei einer Freundin.“

„Gut…“

„Was?“

Das plötzliche Lächeln auf Patricks Gesicht wollte einfach nicht zu seinen Augen passen. Karin begann zu zittern. Auf einmal war ihr so schlecht und so schwummrig, alles drehte sich, alles war schwarz…
 

Die Geräusche die an ihr Ohr drangen klangen wie durch Watte gerufen und schafften es nicht wirklich, ihren Körper mit ihrem Geist wieder zusammen zubringen. Wo war sie überhaupt? Was war denn passiert? Karin blinzelte, doch auch das Licht der Deckenbeleuchtung schien wie durch einen Schleier auf die herab. Es war so bunt und… verzerrt?

Der plötzliche, stechende Schmerz, der sich von unten durch ihren Körper zog, ließ sie ihre Augen weit aufreißen, die sobald von Tränen gefüllt waren. Es tat weh. Es tat so weh. Sie wollte Schreien, doch kein Laut kam aus ihrer Kehle. Sie konnte die Person über ihr nicht erkennen, könnte die Stimmen nicht ausmachen. Sie fühlte nur den Schmerz in einem Rausch, der all ihre Sinne unbrauchbar machte und es ihr nicht erlaubte, noch einmal ihr Bewusstsein zu verlieren.

Karin wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als der Schmerz langsam zu einem rhythmischen Pochen wurde und der Nebel um sie herum sich lichtete.

„Na, Prinzessin, wieder wach?“, hörte sie Patricks Stimme fragen, doch klang sie so anders als sonst, so… falsch.

Sie blinzelte heftig um die letzten Tränen aus ihren Augen zu bekommen und stöhnte auf, als das drehen ihres Kopfes in Richtung von Patricks Stimme ihr Schmerzen verursachte.

„Ganz schön Schade, dass du keine Jungfrau warst, obwohl ich darauf hätte wetten können.“, säuselte er und trat auf sie zu, bis sie ihn erkennen konnte. Das Grinsen auf seinen Lippen ließ sie erschaudern, als die Worte ihr Ohr erreichten und ihr das Grauen auf den nackten Leib schrieb. Sie wollte weinen, ihn anschreien, ihn hassen, ihn umbringen, doch sie konnte sich einfach nicht bewegen.

„Tut es weh?“, fragte er gehässig und zog plötzlich ein kleines Tütchen aus der Hosentasche. Er schüttete den Inhalt in ein Glas, füllte es mit einem Schluck Wasser und trank es. Doch bevor es selbst in seine Kehle gelangen konnte, beugte er sich über sie und drückte ihr gewaltsam seine Lippen auf, und ließ die Flüssigkeit dadurch in ihren Hals laufen. Sie schluckte, obwohl in ihrem inneren alles danach schrie, es nicht zu tun, war sie doch zu durstig, zu ausgelaugt, um sich nach den Stimmen zu richten.

Sie hatte erneuten Schmerz erwartet, ein Brennen in ihrem Bauch, irgendetwas. Doch plötzlich war da solch eine süße Erfüllung, die den Schmerz in ihren Lenden willkommen hieß, die das Licht der Deckenlampe noch bunter werden ließ und Patricks grausames Grinsen in das Lächeln eines Engels verwandelte.

Die Drogen taten ihre Wirkung und zerstörten ein Mädchen, das bis dato nur die guten Seiten dieser Welt kannte.

Eine Schicksalhafte Begegnung?

Eine Schicksalhafte Begegnung?
 

Es dämmerte bereits und die meisten Menschen machten sich auf den Heimweg. So auch Oliver. Er zog sich die Jacke fester um die Schultern und beschleunigte seinen Schritt. Die dicken, schwarzen Wolken drückten den Himmel herab, ein Gewitter ankündigend. Ausgezeichnet, denn gerade heute hatte er seinen Regenschirm vergessen. Seufzend schloss er eine Sekunde seine Augen, die falsche, denn im nächsten Moment lag er schon bereits auf dem Boden. Fluchend über seine eigene Dummheit nicht auf Stolperfallen zu achten sammelte er die Papiere wieder ein, die bei der Aktion aus seiner Tasche gefallen waren. Alles wichtige Dokumente, die er neu schreiben müssen würde, falls sie dreckig oder nass wurden. Er hatte sie nicht bemerkt. Ihr leises Kichern, das ihn sich umblicken ließ, war das einzige, was sie verraten hatte. Oliver starrte das Mädchen einen Augenblick lang an, das dort neben ihm auf einer Bank saß, bevor ihm die Röte ins Gesicht stieg.

„Entschuldige.“, lachte sie und strich sich eine Träne aus den Augen. Ihre langen braunen Haare vielen ihr über die Schultern als sie sich bückte um die Papiere zu ihren Füßen aufzuheben und sie ihm zu reichen.

Er lächelte sie peinlich berührt an: „Das sah bestimmt albern aus.“

„Nicht albernen als bei jedem anderen auch.“, meinte sie kopfschüttelnd, doch ihre zuckenden Lippen verrieten sie. Na toll…

„Du solltest nicht so eilig über kaputte Wege laufen.“, meinte sie und blickte musternd die Stapel an Zettel an, die aus seiner Taschen quollen. Sie rückte rüber, was eindeutig eine Einladung war sich neben sie zu setzten. Oliver öffnete seine Tasche und sortierte die Schriftstücke neu ein, wobei ihm ihr faszinierter Blick leichte Schauer über den Rücken jagte.

„Ich wollte nach Hause bevor es zu regnen beginnt…“, nuschelte er, was seine Situation natürlich nicht rechtfertigte.

Ihr Blick veränderte sich. Nachdenklich schob sie sich eine Haarsträhne hinter die Ohren, bevor sie in den Kopf in den Nacken legte und die Wolken betrachtete.

„Vielleicht ist es ja vorbestimmt, dass du gerade hier und jetzt gestolpert bist…“

Verwirrt blickte er sie an und musterte sie. Meinte sie das gerade ernst? Ihre Kleidung sah neu aus, aber nicht zu neu als das sie sie heute zum ersten Mal trug. Es waren bestimmt keine billigen Sachen, aber sie waren auch nicht von der teuersten Stange. Ihre Nägel waren gepflegt und ihre Augen leicht geschminkt. Sie sah wie ein normales Mädchen aus einem normalen Haushalt aus, also warum dachte sie so?

„Darf ich mit zu dir kommen?“, fragte sie so plötzlich, dass er für eine Sekunde die Sprache verlor. Was?!

„Versteh mich nicht falsch!“, setzte sie dazu und seine Nerven entspannten sich etwas, „Es ist nur so… Ich glaube meine Freundin hat mich versetzt und ich will jetzt nicht wieder nach Hause gehen, weil meine Brüder eine Party feiern wollten und ich ja deswegen extra weg bin.“

Sie biss sich auf die Lippen und blickte ihn unter ihren langen Wimpern her an. Was für schöne Augen, traf es ihn blitzartig und er nickte, bevor er sich die Antwort noch einmal gut überlegen konnte. Ihre Arme schlangen sich um seinen Körper, umarmten ihn und ließen sein Herz einen kurzen Moment schneller schlagen.

„Danke.“ Geflüsterte Worte, die mehr sagten, als er verstand.

Oliver stand auf und hielt inne, als ihm etwas Wichtiges einfiel.

„Ich bin übrigens Oliver.“

„Freut mich, Oliver.“, war die einzige Antwort, die er je von ihr erhalten hatte. Er fragte nicht weiter nach. Als Sozialbetreuer wusste er, das manche Menschen nur ungern ihren Namen preisgaben, weil dies die Entfernung zwischen ihnen überbrücken würde. Und trotzdem wünschte er in diesem Moment, sie würde ihn ihm verraten. Lächelnd erhob sie sich und ging neben ihm her, während das Schicksal sich um sie webte, wie das Netz einer Spinne. Doch dass dieses Netz schwarz wie die Nacht sein würde, ahnte Oliver in diesem Moment noch nicht.

Der Schrei nach Hilfe

Der Schrei nach Hilfe
 

Sie war nicht ehrlich zu ihm.

Obwohl sie ihm doch immer von ihrem Tag erzählte, ihn dann liebevoll küsste und noch viel liebender in die Arme schloss, erzählte sie ihm doch nicht die ganze Wahrheit. Sie hatte Geheimnisse, nach denen er nicht fragte. Oliver wollte ihr vertrauen nicht hinter gehen, in dem er an sie zweifelte oder sie ausfragte. Dafür liebte er sie zu sehr. Dass aus eine so simplen Begegnung eine solche Beziehung entstehen würde, hätte er nicht zu träumen gewagt. Er hatte sie gemocht, als er nur ihr Lachen hörte und hatte sie geliebt, als ihre braunen Augen ihn das erste Mal direkt ansahen, ihn verschlangen. Doch das Gefühl ihrer Unehrlichkeit nagte an ihm. Was tat sie wirklich tags über?

Lächelnd gab sie ihm einen Kuss auf die Lippen.

„Einen schönen Arbeitstag.“, meinte sie fröhlich und richtete noch einmal seine Krawatte. Er hatte sie nach dem Abend nicht mehr gehen lassen. Und sie hatte es auch nicht gewollt. Sie teilten sich nicht nur eine Wohnung, sondern auch das Bett und das Leben. Sie war sein Ein-und-Alles geworden.

„Wünsch ich dir auch.“, flüsterte er und küsste sie zurück, fordernder, ein Versprechen. Ihre Wangen zierte ein süßes Rot als er die Tür hinter sich schloss und sich zu seiner Arbeit aufmachte. Als Sozialbetreuer hatte er jeden Tag mit so vielen Jugendlichen zu tun, die einfach viel zu früh zu den Drogen griffen und daher nicht mehr klar sprachen, dass er wenigstens zuhause den gesprochnen Worten trauen wollte. Also vertraute er ihr und misstraute ihr doch. Denn obwohl sie zusammen lebten, hatte sie ihm noch immer nicht ihren Namen verraten und nicht ihr Alter, auch wenn er sie auf Anfang zwanzig schätzte. Warum diese ganzen Geheimnisse? Wenigstens ihren Beruf kannte er. Sie war Kellnerin in einem kleinen Café, in dem er sie noch nie besuchen konnte, da sie ihm nicht verraten wollte, wo es sich befand.

Oliver parkte sein Auto vor dem Jugendamt und stieg aus. Es würde ein langer Tag, mit vielen Problemen werden, also musste er seine Gedanken frei bekommen von seinen eigenen, die doch eigentlich keine waren, oder? Als er die Eingangshalle betrat, kam ihm die aufgebrachte Sekretärin bereits entgegen.

„Oliver, da ist eine Mutter, die behauptet sie wüsste, dass ihre Tochter anschaffen geht, trotzdem sie Minderjährig ist.“

„Danke, Anna. Ich werde sofort mit ihr sprechen.“

„Zimmer 2.“ Sie machte sich eine Notiz in ihren Block, bevor sie wieder hinter den Tisch verschwand, vor dem eine lange Schlange an Eltern und Kindern wartete.

Keine Zeit sich noch einen Kaffee zu holen, entschied Oliver und ging direkt zu der Mutter, deren Worte so aufrichtig und verletzt klangen, dass er ihr nur glauben konnte.

„Machen sie sich keine Sorgen. Falls sie wirklich in einem der Bordelle ist, so werde ich sie daraus holen.“, beruhigte er die Frau, schob seinen Stuhl zurück und öffnete dann die Tür. Er würde besser sofort losfahren und die Rotlichtstraßen der Stadt aufsuchen, da ihm die Mutter durch einen Anruf bei der Schule bereits sagen konnte, dass sie nicht dort war.

„Anna“, setzte er an und legte einen Stapel Papiere auf dem Tisch ab, „Ich werde mit Frau Meier die Drittgeschäfte anfahren um zu sehen, ob ihre Tochter dort ist. Bitte sag doch alle weiteren Termine für mich heute ab.“

„Geht klar.“, lächelte sie und legte die Unterlagen in eines der Ablagefächer.

„Kommen Sie, Frau Meier.“ Die Mutter nickte und folgte ihm.

Die Dienstwagen waren hinter dem Gebäude geparkt, sodass sie einmal quer außen herum mussten. Er hielt der Mutter die Tür auf, bevor er selbst einstieg. Natürlich hätte er sich ein Foto geben lassen und allein nach dem Mädchen die Augen aufhalten können, doch die Aufgebrachtheit der Frau hätte ihm nur alle zehn Minuten einen Anruf auf sein Handy verpasst. Es gab insgesamt drei Bordelle in der Stadt die öffentlich waren und dann noch eine ganze handvoll kleinerer, die nur bei den Besuchern selbst und beim Sozialamt bekannt waren. Er wusste nicht ob es überhaupt etwas brachte bei den öffentlichen vorbei zu fahren, weil diese nur Frauen über achtzehn einstellten, doch ein Versuch war es immer wert, aber es würde sein letzter sein. Er bog in die dreckige Seitenstraße ein und hielt am Seitenstreifen. Dann erklärte er der Mutter, dass sie warten mussten und den ganzen Tag nur dieses eine Bordell beobachten konnten. Denn es war unmöglich für sie zu den Türstehern zu gehen und nach dem Mädchen zu fragen, also würden sie abwarten müssen, ob sie heraus kam im laufe des Tages oder nicht. Morgen könnten sie dann zu einem anderen fahren. Die Mutter schien nicht begeistert, aber wer würde das schon sein? Das Problem war nur, dass die Menschen immer sofort wütend wurden, wenn man nicht etwas unternahm und einfach nur abwartete. Doch manchmal war das einfach der einzige Weg, was sie natürlich niemals sehen und noch weniger verstehen würden.

Also warteten sie.
 

* * *
 

Karin starrte noch lange die Tür an, bevor sie sich sicher war, dass ihr Freund nicht zurück kommen würde. Sechs Monate. Solange war sie nun schon mit ihm zusammen und lebte dieses Doppelleben, das sie in den Wahnsinn trieb. Sie liebte Oliver. Und obwohl sie fest daran glaubte, dass ihre Begegnung vom Schicksal her bevor bestimmt war, so sah er es doch trotzdem nicht. Wie oft musste sie noch nach Hilfe rufen, bis er die Worte endlich verstand? Wie lange müsste sie es noch aushalten? Sie wollte weg von diesem Ort, wollte fort aus dem Nebel, der ihr die Welt versüßte und das Leben leichter machte. Sie hasste und liebte den Nebel ohne den sie einfach nicht mehr konnte.

Langsam zog sie sich aus, schlüpfte in die Kleidung, die sie niemals vor Oliver tragen würde und band sich den langen Mantel um, der sie immer wieder an den einen Tag erinnerte, in dem der Nebel süß und bitter und voller Schmerzen war, bevor er sie für immer betäubte.

Sie sah die Menschen auf den Straßen nicht, die geschäftig hin und her eilten, bemerkte nicht die stickige Luft in der U-Bahn und nicht den Dreck auf den Straßen, als sie das herunter gekommene Gebäude erreichte, in dem sie heute arbeiten würde. Sie brauchte das Geld um den Nebel bezahlen zu können, der doch gleichzeitig die Schmerzen dieser Arbeit betäubte und ihren Blick vor den Grausamkeiten der Welt schützte.

Sie ignorierte die Männer, die sich ihr in den Weg stellten und ihr so wenig boten, dass sie noch nicht einmal das kleinste Gramm hätte bezahlen können, legte den schweren Mantel ab und ließ sich in das Sofa sinken, dass nur von den teuersten Frauen des Hauses benutzt wurde. Sie ignorierte die anderen Frauen und diese sie, denn hier war jeder auf sich allein gestellt. Die Stunden vergingen, in denen niemand ihren Preis bezahlen wollte. Natürlich hätte sie viele für weniger nehmen können, aber diese Rechnung ging einfach nicht auf. Sie war nicht billig. Sie wollte nicht billig sein, wollte nicht ihre letzte Würde verlieren, die sie durch Oliver doch wieder erlangt hatte. Ach, Oliver.

Karin stand auf und ging hinaus. Etwas frische Luft würde ihren Kopf klarer machen, so klar wie sie durch den Nebel sehen konnte. Ihre Hände zitterten. Sie wollte... Sie wünschte sich den dichten Schleier des Wahnsinns herbei, der sie nur für ein paar Stunden, die nächsten paar Stunden etwas unempfindlicher machen würde. Sie brauchte es, doch ihre Taschen waren leer.

Wachsam auf einen potentiellen Käufer blickte sie sich um und erstarrte. Nein! Nein, das war nur ein Traum. Ein ganz schrecklicher Alptraum.
 

* * *
 

Oliver stieg aus dem Wagen aus und starrte seine Freundin an. Das war doch nur ein Scherz. Eine Verwechslung, bestimmt. Sie konnte es nicht sein! Niemals! Seine Kehle war staubtrocken und seine Beine fühlten sich an als wären es nicht seine, als er auf sie zu ging um sich Gewissheit zu verschaffen. Keine Verwechslung, keine Doppelgängerin. Sie war es! Herr Gott im Himmel, was tat sie hier?!

„Oliver…“, drang ihre Stimme an sein Ohr und sie schien genauso überrascht wie er. Warum war sie hier? Sie konnte doch nicht wirklich…

„Was machst du hier?!“, brüllte er sie an und wurde nur noch wütender, als er merkte, dass er sie nicht mit ihrem Namen anschreien konnte.

„Ich…“, sie schluckte sichtlich und ihre Augen blickten ihn mit einer Dringlichkeit an, die er nicht verstand.

„Belästigt dich der Mann?“, fragte ein tiefer Bass und Oliver drehte sich um. Der Mann der dort auf sie zu kam, war gebaut wie ein Schrank. Mindestens zwei Meter groß und mit Schultern, die breiter waren als sie bei einem Menschen sein sollten. Nun hatte er Angst.

Sie schüttelte ihren Kopf. Oliver schnaubte verächtlich.

„Was tut sie hier?“, fragte er den Mann und nickte in ihre Richtung. Warum hatte sie ihm nur nie ihren Namen verraten?! Der Schrank blickte sie einen Moment an und lachte dann los.

„Oh! Ich verstehe! Sie ist wohl deine Freundin und hatte es dir nicht erzählt, was?“

„Was erzählt?!“, knurrte er. Machte der Kerl sich über seine Unwissenheit lustig?

„Die kleine Miss ist Kellnerin bei uns. Ich denke, da sie in einem Bordell kellnert, war es ihr wohl zu peinlich ihnen von ihrem Arbeitsplatz zu erzählen.“, erklärte der Mann mit ruhiger Stimme.

Olivers Herz schrie vor Erleichterung auf.

„Sie geht hier also nicht… anschaffen?“, fragte er trotzdem noch einmal nach und warf dabei einen Blick auf seine Liebste. Ihre Augen. Was stimmte nur nicht mit ihren Augen. Ihr Kopf nickte zwar und ihre Lippen lächelten genauso erleichtert wie er, aber ihre braunen Augen zeigten einen Schmerz, den er einfach nicht begreifen konnte.

„Oh nein! Es kommt zwar vor, das einer der Kunden, der im Schlafzimmer nicht genug bekommen hat, sie ab und an versucht anzugrabschen, aber dafür bin ich ja da. Ich passe auf meine Kellnerinnen schon auf, keine Angst!“

„Gott sei Dank.“, nuschelte er und drängte sich an dem Mann vorbei, um sie in die Arme zu schließen. „Tut mir Leid, dass ich an dir gezweifelt habe.“

Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn an sich. Eine fast verzweifelte Geste. Doch vielleicht war sie ja auch nur so erleichtert darüber, dass er es nun wusste und es ihr nicht übel nahm.

„Also dann, bis heute Abend.“, meinte er glücklich und küsste sie auf die Lippen. Er musste gehen, denn immerhin mussten sie beide noch arbeiten. Doch wenn sie heute Abend zuhause waren, konnten sie endlich alles unausgesprochene Aufklären. Lächelnd strich er ihr noch einmal über die Wange, den Blick ihrer Augen nicht lesend.
 

* * *
 

Er hatte es nicht gesehen.

Karin kamen die Tränen als sie sein Auto wegfahren sah.

Er hatte ihren Hilferuf nicht gehört. Hatte. Ihn. Einfach. Nicht. Gehört!

Zitternd vor Verzweiflung und Trauer rannte sie hinein. Sie wollte nur noch ihre Jacke holen und dann nichts wie weg von hier. Für heute konnte sie nicht mehr arbeiten!

Doch als sie sich zur Eingangstür wandte erstarrte sie. Das grausame Lächeln auf seinen Lippen jagte ihr eine Gänsehaut ein. Nein!

„Patrick…?“ Karins Stimme versagte, als ihr Blick sie ins Mark traf.

„Hallo, Süße. Bereit zu bezahlen?“, fragte er und kam auf sie zu, ohne auch nur auf ihre Abwehrhaltung zu achten.

„Ich… Ich habe das Geld noch nicht beisammen.“, kreischte sie beinahe, „Gib mir noch einen Tag!“

Patrick schüttelte den Kopf: „Das habe ich doch gestern schon. Ich kaufe das Zeug immerhin auch nur. Und da ich keinen Ärger mit meinen Verkäufern will, müssen meine Käufer pünktlich bezahlen. So läuft das nun mal.“

„Aber ich habe das Geld nicht!“, schrie sie und wich soweit zurück, bis ihr Rücken gegen die Wand stieß. Warum fielen ihr jetzt erst die anderen Männer auf, die da neben und hinter ihm standen?! Und warum half ihr keiner?!

„Tja, meine Liebe.“, säuselte er und packte sie an den Armen, nur um sie an sich zu ziehen und ihr einen Kuss aufdrücken zu können, „Ich glaube, dann haben wir ein Problem. Oh, oder sollte ich besser sagen: DU hast ein Problem?“

Die Männer lachten.

Der Schleier verflog, der Nebel riss auf und der Schmerz überflutete sie, ließ sie in Verzweiflung ertrinken. Die Welt war ein grausamer Ort, dachte sie, während der Schmerz in ihr pulsierte und das Gewicht der Gewalt den Atem raubte. Warum war sie überhaupt auf dieser Welt, wenn sie doch nur gequält und verletzt wurde? Wenn doch niemand sie verstand? Wenn doch niemand sie liebte? Sie konnte Olivers Worte in ihrem Kopf widerhallen hören und weinte. Wenn doch niemand sie so liebte, dass sie ihre Rufe hätten hören können? Warum verstanden die Menschen nur nie, wenn es ein Notfall ist? Warum hatte er nur nie bemerkt, wie dringend ihre Lage war?

Warum?

Warum?

WARUM?!

Der Nebel hatte sich gelichtet. Es war lange her, dass sie die Dämmerung sehen konnte. Die Sterne, die langsam am Himmel erschienen und der Mond, der umso stärker schien, umso mehr die Sonne verschwand.

Karin lächelte und schloss ihre von den Tränen geröteten Augen.

Wie leicht man sich doch fühlen konnte, in diesem letzten Fall Richtung Dunkelheit.

Epilog

Epilog
 

Die Menschen sind blind. Das musste ich am eigenen Leibe erfahren.

Ich blickte auf, meine Hände weiterhin in meinem Schoß faltend. Ich weiß nicht, ob meine Worte durch das Zittern meiner Stimme überhaupt zu verstehen waren. Durch den Schleier der Tränen erkenne ich kaum den Ausdruck auf ihren Gesichtern. Karins Eltern sahen mich an, als würde ich sie auf einer anderen Sprache ansprechen. Ungläubig, verwirrt.

Und dann höre ich das Schluchzen. Dieses grausame Geräusch, das mich zu der Frau, die Karin so ähnlich sieht blicken lässt. Sie sackte in sich zusammen, die Hände vors Gesicht gepresst und weinte mit einer Dringlichkeit, die mir das Herz zu zerreißen drohte. Ihre Brüder, zwei erwachsene Männer, wenden sich ab und verlassen den Raum. Ich wollte, ich könnte etwas zu ihnen sagen, doch jedes Wort scheint mir doch wie eine Lüge.

Ich hatte es nicht gehört. Hatte ihren Notruf nie vernommen, egal wie deutlich er doch ausgesprochen wurde und dafür hasste ich mich. Ich nehme jede Schuld an ihrem Tod auf mich, jede Trauer, jede Verzweiflung, jede Leere. Ich bin der jenige, über den ein Urteil gefällt werden sollte. Obwohl der wahre Täter, der sie Missbraucht und ihr Drogen verkauft hat, durch mein Dazutun schon gefasst war, so war das letzte Gericht doch noch nicht zusammen gekommen.

Meinen ganzen Mut zusammen nehmend starrte ich ihren Vater an und wartete auf die Worte. Auf die Worte des Hasses und der Verurteilung. Doch er sagte nichts. Die Tränen, die seine Wangen hinab rannen, sagten mehr als tausend Worte.
 

Ich habe hiermit Karins Geschichte niedergeschrieben.

Es befreit mich nicht von der Qual ihren Tod verschuldet zu haben. Aber es lässt mich hoffen, dass es Menschen geben wird, die nicht so blind sein werden wie ich und die Schreie nach Hilfe verstehen werden. Denn es gibt nicht grausameres auf der Welt als den Ruf zu ignorieren und somit den Schmerz der Not hinter den Nebel der Undurchdringbarkeit zu verbannen.
 

Oliver Walter, 21. Februar 1992, Berlin



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