Eternal Search von Rainblue (Die Suche nach dem Hier) ================================================================================ Kapitel 7: Das Monster in mir ----------------------------- „Lass das bitte nicht wahr sein…“, stöhne ich auf und lasse enttäuscht die Schultern sinken. Ich habe ihn aus den Augen verloren. Nachdem ich ihm durch den ganzen Wald hinterher geschlichen bin – nicht gerade leicht, der Mann ist nämlich nicht auf den Kopf gefallen – ist mir seine Spur jetzt doch abhanden gekommen. Missmutig sacken meine Schultern noch ein Stück tiefer und gleich im Anschluss auch der Kopf. Vor meinen Füßen liegt ein Kieselsein, kaum größer als eine Fingerkuppe. Genauso wie die in meiner Gegenwartswelt. Wütend trete ich dagegen, dass er über den asphaltierten Weg schlittert. Vor dem Schloss befindet sich eine Stadt, die nur notdürftig von Laternen erhellt ist. Zudem herrscht, wenn auch zu später Stunde, noch reger Betrieb. Vor allem viele fein gekleidete Menschen flanieren ausgelassen durch die Straßen, unterhalten sich beschwingt miteinander und hin und wieder schnappe ich Wortfetzen wie „Prinz“, „Ball“ oder „Tanz“ auf. Kein Wunder, dass ich ihn hier verloren habe. Komisch. Ich kannte den jungen Mann nicht. Und ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum ein Fremder so eine Anziehungskraft auf mich ausübt. Wieso wollte ich ihn so dringend treffen, traute mich dann aber nicht, auf ihn zuzugehen? Sein Gesicht… nein, ich kenne sein Gesicht nicht. Ebenso wenig seine Stimme oder sonst irgendwas. Ich bin unfähig zu sagen, was es ist. Nur eines, das weiß ich zweifelsfrei; Ich möchte ihn finden. „Zu spät, hm?“, murmele ich und gehe, ohne rechte Ahnung wohin, weiter durch die Stadt. Meine Finger fahren die Ränder des Talismans nach. Dem Anschein nach bin ich sogar für die Bedienung eines Kompasses zu dämlich. Gerade als ich mich frage, ob ich darüber lachen oder weinen sollte, biege ich um eine Kurve und bleibe wie zu Eis erstarrt stehen. Das Schloss! Da ist es in ganzer Pracht und Größe, direkt vor meiner Nase. „Sehr witzig“, bemerke ich trocken und verberge den Talisman wieder im Ausschnitt meiner Kleidung. Das Schloss ist noch ein Stück entfernt. Vor mir ragt ein beachtliches Tor auf, das aber glücklicherweise sperrangelweit offen steht, dahinter erstreckt sich im sanften Mondlicht ein riesiger Garten. Und vor den Treppen, die zum Eingang hinaufführen, stehen mehrere von diesen „Gefährten“, deren Bezeichnung mir entfallen ist. Mir ist immer noch nicht ganz klar, wo hier der Sinn liegt, aber das ist unwichtig. So gern ich mir auch die magische Herrlichkeit des Gartens genauer ansehen würde, laufe ich halb hindurch auf das Schloss zu. Gleich. Nur noch ein paar schnelle Schritte. Die Feenfrau sagte doch, er würde zu dem Palast gehen. Er muss hier sein. Mein Atem beginnt flacher zu gehen. Warum bin ich so aufgeregt? Egal. Nur noch die Treppe. Nur noch… Als wäre ich geradewegs gegen eine unsichtbare Mauer geprallt, stocken meine Beinmuskeln, wollen sich nicht mehr bewegen. Wie eine Statue stehe ich da und starre auf die perlweiße Tür am Ende der Treppe. Nichts geschieht. Es ist als ob die Zeit eingefroren wurde. „Du bist dir also sicher, dass er dich treffen will? Sieh den Tatsachen ins Auge. Du bist eine Kreatur der ewigen Nacht. Ein missratenes Geschöpf im Blut seiner Taten. Glaubst du wirklich, er würde nicht erkennen, was du bist? Deine Sucht nach Licht verwirrt dir den Geist. Siehst du nicht, wie dein eigener Schatten wächst, wenn du dem Tag näher kommst? Wie er sich ausbreitet, andere bedeckt, sie in sich hineinzieht…“ „Halt… den Mund…“, versuche ich zu sagen, aber es kommt kein Ton hervor. „Oh, Demon… wann lernst du endlich dazu? Willst du es nicht begreifen? Öffne die Augen und erkenne die Wahrheit…“ „Verschwinde aus meinem Kopf!“ Das schreie ich. Aber nicht nach außen. Nach innen. „Aus deinem Kopf, sagst du… Wie du wünschst. Aber ich werde nie verschwinden. Ich bin seit Anbeginn hier und werde es sein, solange du lebst. Weil ich du bin.“ „Nein… du bist nicht…“ Mein Körper bewegt sich losgelöst von meiner Kontrolle, während ich weiter vor mich hin flüstere. „Du bist… das Monster… du bist… du bist schuld… an allem schuld…“ Ich taumele vom Weg ab, der zum Schloss führt, und betrete den Rasen daneben. An der Mauer stehen mehrere große Hecken, die mich vor fremden Blicken abschirmen, als ich mich gegen den kalten Stein lehne und daran herunterrutsche, bis ich im Gras sitze. Wie ferngesteuert ziehe ich beide Knie an, stütze die Arme darauf und lasse das Gesicht hineinfallen. „Du bist das Monster… du bist schuld…“ Vor meinem geistigen Auge beginnen sich Bilder zu entfalten, wie Schmetterlingsflügel, ganz langsam, Farbe für Farbe, Detail für Detail… Aber das geht nicht lange so. Die Erinnerungen schieben sich näher an mein Bewusstsein heran. Es ist längst zu spät, sie zurückzustoßen. Ich schließe die Augen. Und der Sturm fegt los. Licht. Ein See aus Licht. Auf seiner Oberfläche trieben Klänge. Ein Lachen. Rein. Weich. Dann eine Berührung. Geborgenheit. Die schützende Wärme einer Umarmung. Etwas strich mir liebevoll über die geschlossenen Augen. Ein Rauschen in der Ferne. Eine Stimme. So ruhig. So klar. Ich wollte die Augen nicht öffnen. Ich wollte weiter in den Klängen treiben. Aber dann tat ich es doch. Ein Gesicht. Die braunen Augen funkelten. So schön… Sie lachte. Sie war glücklich. So glücklich. Ich wollte sie berühren. Ihr weiches Haar fühlen. Ihr Lächeln in mich aufnehmen. Ich liebte sie. Obwohl ich sie zum ersten Mal sah. Das beständige Rauschen in der Ferne. Wärme. Liebe. Ich war so glücklich. Und dann… Nichts. Schwärze. Kälte. Ich verstand nicht. Wo war die Wärme hin? Wo war die Frau hin, die ich so liebte? Hatte sie mich verlassen? Nein… das würde sie niemals tun. Sie würde mich nicht in der Dunkelheit zurücklassen. Aber ich war allein. Allein im Abgrund tiefster Finsternis. Konnte nichts sehen. Nichts fühlen. Wie kam ich hier raus? Und dann kam der Schmerz. Der glühend heiße Schnitt in meinem Nacken. Panisch presste ich die Hände darauf, zog sie aber sofort wieder zurück. Die Haut dort brannte wie Feuer. Ich wusste nicht, wohin mit dem Gefühl. Dann fand mein Körper von selbst ein Ventil und schreckliche Laute schossen aus meiner Kehle empor. Schreie. Die niemand je hörte. Nur ich selbst. Vom Nacken breiteten sich die Flammen weiter aus, drangen in meine Muskeln vor, schienen mich von innen heraus zu zerfetzen. Ich krümmte mich zusammen, Tränen schossen mir aus den Augen und zogen ihre Spuren über mein Gesicht. Und noch immer schrie ich, so als könnten die furchtbaren Töne den Schmerz lindern. Aber natürlich konnten sie das nicht. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich dort in der Dunkelheit lag und mit der Veränderung meines Körpers kämpfte. Im Nachhinein glaube ich, dass es nicht mehr als ein paar Minuten gewesen sein können. Aber wenn man Höllenqualen leidet, dann ist das mit der Zeit Ansichtssache, oder? Irgendwann war es vorbei. Schwer atmend, das Gesicht voller halb getrocknetem Salzwasser, lag ich da und lauschte auf das Pulsieren meines Herzens. Erst als der Abstand zwischen den Schlägen wieder länger geworden war, hob ich matt eine Hand und berührte mit den Fingerspitzen meinen Nacken. Die aufgesprungene Haut war noch warm. Als ich das realisierte, stieg mir auch der Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase. Vorher war er mir wohl entgangen. Ich musste die Zeichnung nicht nachziehen, um zu wissen, wie sie aussah. Ich spürte deutlich das ganze verschlungene Geflecht des Mals. Jedes schwungvolle Ende eines Zweiges, jede spitze Biegung und vor allem den runden Fleck genau in der Mitte. Es verging – so kam es mir vor – eine Ewigkeit, ehe ich aufstehen konnte. Mein Körper fühlte sich fremd an. Ungelenk. Mit viel zu viel Kraft und einer Art „Impuls“, der mich dazu zwang, hochzukommen und voranzustolpern. Ich konnte diese Empfindung nicht einordnen… oder doch? Es war, als wäre ein Teil von mir abgebrochen, herausgerissen wie die Seite eines Buches. Und das Loch, das nun in mir klaffte… ich wollte es füllen. Alles andere war irrelevant. Nur diese Leere vertreiben. Zurück in das warme Licht der Erinnerung… Sehnsucht kann eine sehr intensive Folter sein. Ich zwang ich mich also, weiterzugehen. Bald schon kam mein erstes „wirkliches“ Gefühl zu mir. Ich konnte es noch weniger als das andere definieren, da ich keine Gefühle kannte. Ich besaß nur diese Bilder von zuvor. Aber selbst die kamen mir inzwischen wie eine Illusion vor. Ein Traum. Ein schöner zwar, aber doch nur ein Traum. Was ich jetzt fühlte, glich allerdings nicht den Empfindungen meiner Erinnerung. Nicht annähernd. Inzwischen weiß ich, was es war. Das Gefühl, das mir tobte, die Klarheit weit in den Hintergrund schob und mich in ein besessenes Tier verwandelte; Wut. Vielleicht sogar Zorn. Gepaart mit dem Gefühl von Unvollständigkeit wurde es sogar noch grässlicher. Damals war ich nahe dran, den Verstand zu verlieren, soviel ist sicher. Warum es gerade Wut – oder gar Hass – war? Ich weiß es nicht. Vieles aus dieser Zeit kurz nach meinem Erwachen ist in den Tiefen meines Herzens versunken. Außer Reichweite. Aber ich weiß noch genau, wie es sich anfühlte, als es das erste Mal zu mir kam. Ich irrte weiter durch die Finsternis, rannte irgendwann, während der Zorn in mir mit jedem Schritt wuchs. Die Dunkelheit blieb. Es kam mir so vor, als würde ich schon seit Stunden laufen, aber nicht von der Stelle kommen. Denn außer Schwarz war nichts um mich herum. Es gibt gute Gründe dafür, warum die meisten durchdrehen, wenn sie zu lange in der Finsternis sind. Meine Art lernt das sehr früh. Gefangen in diesem Kokon, ohne Hoffnung, ohne Aussicht auf Rettung. Jede Richtung gleich, kein oben, noch ein unten. Kein Widerstand, nur lichtloses Nichts. Diese Zeit sollte mich noch lange in meinen Albträumen heimsuchen. Erst als ich kurz davor stand, mir die eigenen Augen aus den Höhlen zu reißen, die diesen Ort nicht mehr ertragen konnten, sah ich ihn. Unvermittelt. Seine Gestalt war weder gekommen, noch hatte sie sich dort materialisiert. Er war einfach da. So als wäre er schon die ganze Zeit da gewesen. „Wer bist du?!“, knurrte ich und nahm eine Kauerhaltung an, die meinem Körper so vertraut schien, als hätte er sie bereits viele Male zuvor benutzt. Die Gestalt rührte sich nicht. Gar nicht. Nicht mal ihr Gesicht bekam die Ahnung eines Ausdrucks. „Ich bin wie du.“ Kurz hielt ich inne. Nahm aber gleich darauf wieder die Haltung an, die Abwehr und Angriff zugleich war. „Und was willst du von mir?“ Er schüttelte den Kopf und ich glaubte, eine Art Lachen auf seinen Lippen zu erkennen. „Dir helfen.“ Erneut stockte mir der Atem. Von einer plötzlichen Neugier befangen, legte ich den Kopf schräg und betrachtete die Person vor mir eingehend. Es war ein Mann, hoch gewachsen und von einer nahezu felsenfesten Ruhe umgeben. Tiefgoldenes Haar, im Nacken zusammengebunden, nur ein paar Strähnen hatten sich gelöst, umspielten das ernste Gesicht und lagen vor den Augen. Die Farbe der Augen… ich konnte ihr keinen Namen geben, ich kannte schließlich keine Farben. Aber selbst jetzt, wo ich viele gesehen habe, kann ich für seine Augen keinen greifbaren Ton finden. Ich weiß nur, dass sie damals für mich die Farbe von… Hoffnung hatten. „Wie ist dein Name?“, fragte er, nachdem wir uns eine zeitlang angeschwiegen hatten. Ich zuckte zurück, als hätte er mich angeschrieen, dabei sprach er die ganze Zeit sehr gedämpft. „Mein… Name…?“ Mit einem Mal pulsierte die Brandnarbe in meinem Nacken wieder. Ich hatte einen Namen. Irgendwo in den nebligen Tiefen meines Seins war er verborgen, hatte bisher nur keinen Grund gehabt, aufzutauchen. „D…“, kam es undeutlich aus meinem Mund. Es war, als würge mich etwas. „Dem…“ Sprich es aus! Erschrocken sah ich zu dem Mann auf. Nein, er hatte nichts gesagt. Das war eine andere Stimme gewesen. Ich kam nicht umhin, dass sie mir sehr vertraut vorgekommen war. Ich wollte nicht auf sie hören, trotzdem würgte ich auch den Rest des Namens hervor. „Demon…“ Mehr nicht? Irritiert zog ich die Luft ein. Wieso „mehr nicht“? Weil etwas fehlt, wurde mir dann klar. Aber wo war es? „Demon“, wiederholte der Fremde vor mir leise. Es war unmöglich, seiner Miene zu entnehmen, was er dachte. „Und dein Name ist…?“, fragte ich kurz angebunden, um die Verwirrung von eben zu zerstreuen. Diesmal war ich mir sicher, dass er lächelte. „Earth.“ Heute frage ich mich oft, warum wir solche Namen tragen. Nur ein Wort, die direkte Bezeichnung für etwas, keine verborgene Bedeutung. Damals dachte ich, es wäre normal so. Ich registrierte, dass er mir die Hand hinhielt und wich einen Schritt zurück. „Ich bringe dich hier raus“, erklärte er knapp, ohne die Hand sinken zu lassen. Als ich nicht reagierte, tat er es doch. „Du kannst gern allein den Weg nach draußen suchen. Aber glaub mir, dass du dann noch eine Weile hier bleiben wirst.“ „Woher willst du das wissen?“, zischte ich. So ein Wichtigtuer. Er verzog die Lippen wieder auf diese ungenaue Art; war das ein Lächeln oder etwas anderes? „Ich weiß es einfach. Du bist nicht die Erste, die dieser Prüfung unterzogen wird.“ „Prüfung?“ Er nickte nur ernst. Dann hob er erneut die Hand, hielt sie mir hin wie ein Versprechen. Zögerlich trat ich näher, ohne Earth aus den Augen zu lassen. Er hatte offenbar nicht vor, mir wehzutun und darum hob ich vorsichtig die Hand. Ich ließ sie unschlüssig in der Luft hängen, nur wenige Zentimeter von seiner entfernt. Doch er drängte mich nicht. Hatte nur diesen beruhigenden Zug um den Mund. Ich gab mir einen Ruck und überließ mich dem warmen Druck seiner Finger. Er sollte für lange Zeit die einzige Person bleiben, von der ich mich berühren ließ. Und seine Hand die einzige, die ich ergriff. Earth holte mich damals aus der Dunkelheit. Doch nachdem ich den ersten Schritt in meine neue Welt gesetzt hatte, verschwand er. Ohne ein Wort der Erklärung, ohne Verabschiedung. Alles, was mir blieb war die Erinnerung an die Wärme seiner Hand. Denn seit dem Tag habe ich ihn nie wiedergesehen. Winzige, spitze Steinchen bohrten sich in meine bloßen Füße. Das Land um mich herum schien sich in die Unendlichkeit weiterzuziehen und gleichermaßen war ich an einer Stelle eingekesselt. „Was… ist das?“, hauchte ich, streckte misstrauisch die Hand aus und war nicht wenig überrascht, als sie hindurch glitt. Ich schloss die Finger, bekam aber nichts zu fassen. Wie hätte ich auch da schon die trügerische Bleichheit von Nebel kennen können. Unberührbar und doch undurchdringlich. „Wo sind wir, Eae…“ Verwirrt sah ich mich um. „Earth…?“ Aber von dem Mann fehlte jede Spur. Ich war allein dort in diesem schleierhaften Gefängnis. Mal wieder. Hier war es zwar nicht dunkel, aber ebenso erdrückend, ebenso verlassen… „Earth?“, versuchte ich es noch einmal und ignorierte die Verzweiflung, die sich dabei in meine brüchige Stimme gestohlen hatte. „Wo bist du? Earth?!“ Kalter Schweiß bedeckte meine Stirn und mein Nacken begann zu kribbeln. Er wird nicht wiederkommen. Vor Schreck keuchte ich auf. „W-Was willst du? Wer bist du?!“ Ich wirbelte in alle Richtungen herum, aber wo ich auch hinsah, war nur diese weiße rauchartige Masse. Alles und nichts hätte darin lauern können. Die Stimme in meinem Kopf lachte. Ein kaltes, gefährliches Lachen. Mir wurde bewusst, dass ich zitterte, obwohl es nicht halb so kühl war wie in der Dunkelheit. Das müsstest du doch am besten wissen, Demon. „Nein, ich kenne dich nicht…“, brachte ich mühsam hervor. Als das Gelächter wieder losging, presste ich mir beide Hände auf die Ohren, was jedoch nichts half. Es war in mir. Nur ich konnte es hören. Ist das so? Dann sollte ich mich dir wohl vorstellen… Ich schrie auf, als ein brutaler Stich vom Nacken aus meinen Körper durchfuhr. Mir wurde schwindelig und ohne es wirklich wahrzunehmen, sank ich auf den Boden. Als die Stimme diesmal lachte, klang es eher wie ein Knurren. Und noch dazu knapper, weniger hallend. Ich konnte mir die Veränderung nicht erklären, bis ich begriff, dass das Gelächter aus meinem eigenen Mund kam… Und da wusste ich plötzlich auch, wieso mir die Stimme so vertraut erschien. Weil es meine eigene war. Richtig, Demon. Weißt du jetzt, wer ich bin? Ich nahm die Hände von den Ohren, legte sie auf den Boden, vergrub sie in den kalten Steinen, sah starr darauf hinab und kämpfte mit der Angst, die sich ihren Weg durch mich hindurch bahnte. „Du bist… ich…?“ Statt einer Antwort flackerte ein Bild vor meinem geistigen Auge auf. Nur für eine Sekunde, aber die genügte vollkommen. Vor mir stand ein großer, fahler Spiegel, mit Rändern aus verkohltem Holz, von zahlreichen Spinnweben umgeben. Drum herum war nichts, nur Dunkelheit. Der Spiegel deiner Seele. Ich stand davor, sah hinein, aber zurück sah nicht das, was ich erwartet hatte. Kein Wesen mit heller Haut, dunklem Haar oder diesen filigranen Händen vor mir auf den Steinen. Nein… Was mich ansah war ein Geschöpf, das nur der tiefsten Dunkelheit entsprungen sein konnte. Der Körper massig, von schmutzig schwarzem Fell bedeckt, dennoch jede Rippe und das Rückrat gut erkennbar, eine längliche Schnauze mit Fangzähnen, die nach oben und unten über das Maul hinausreichten und zwei Hörner, gebogen, die links und rechts aus dem Schädel ragten. Am Rücken trug es Flügel, die einen leichten Bogen um seinen Leib beschrieben, knöcherig, die Flughaut teilweise aufgerissen und – das vielleicht abscheulichste – es stand nicht auf vier Beinen, obwohl die Vorderläufe den Anschein erweckten, es müsste. Es hielt sich aufrecht, was es grauenhaft menschlich wirken ließ. Grünlichblaue Augen traten aus den großen Höhlen hervor, die Pupille ein senkrechter Schlitz. Und es grinste mich an mit einer scheußlichen Fratze, die ich nie mehr vergaß. „Was…?“, stieß ich hervor. Das, was du wirklich bist. Ich glaube, dass ich noch ein Nein hervorpresste, bevor ich wie paralysiert auf die Stelle hinab sah, wo meine Hände waren. Wo jetzt keine Hände mehr waren, sondern die sehnigen Tatzen des Monsters. Ich kreischte etwas Unverständliches und war mit einem Satz auf den Beinen. Aber meine Hände waren wieder normal. Blass, zitternd, doch wieder wie vorher. Und trotzdem war es da, ich spürte es. Seinen heißen, modrigen Atem, die verstörende Anmut seiner Bewegungen, die Gier und das irre Glitzern in seinen Augen, die ganze Präsenz seiner Finsternis. Ja… gib dich ihm hin. Lass dein Herz in die Schatten fallen und du wirst keinen Schmerz mehr fühlen. Umarme die Dunkelheit. Lass sie dich leiten, nimm ihre Stärke an… Gebannt lauschte ich den hypnotisierenden Worten. Kein Schmerz mehr… all das würde ein Ende nehmen. Ich würde nicht länger umherirren. Ich stand kurz davor, ihrem Angebot nachzugeben, mich in ihre Arme sinken zu lassen, den verheißungsvollen Rufen zu folgen und eins zu werden mit der ewigen Nacht. Dort würde ich auch nicht mehr… allein sein, oder? Hör auf. Wie aus einem Traum gerissen schreckte ich auf. Das eben… das war nicht die Stimme in mir gewesen, nicht die die so klang wie meine eigene, nur dunkler. Das war eine andere gewesen. Fremd… oder doch nicht? Sie war rein, voll, so ganz anders als meine. „Wer…?“ Genau in dem Moment erkannte ich eine Silhouette, die aus den Schwaden des Nebels auf mich zukam. Halt. Nicht nur eine. Binnen kürzester Zeit hoben sich noch zwei weitere im Weiß ab. Nacheinander wurden ihre Konturen klarer, bis ich sie deutlich wahrnehmen konnte. Unruhig wich ich ein Stück zurück. „Tatsächlich“, sagte die mittlere Gestalt, die auch die größte von ihnen war. Es handelte sich um einen wahren Hünen, mit dichtem, silbrigem Haar, das wirr über seine Schultern fiel. Die Augen im kantigen Gesicht waren schwarz und mutig. Außerdem strahlte er unbrechbaren Stolz aus. „Ich hab’s doch gesagt!“, meinte da eine der kleineren Gestalten. Eine junge Frau mit krausem Haar, ebenfalls schwarz, aber durch einen auffälligen Goldschimmer darin, irisierend. Ihre orangefarbenen Augen huschten anklagend zum dritten im Bunde. Er schien im gleichen Alter wie die Frau zu sein, hatte jedoch glattes schwarzes Haar, das bis zu den Spitzen gleichmäßig heller wurde, um schneeweiß zu enden. Seine Augen waren tiefviolett und doch bemerkte ich fast noch im selben Augenblick, dass er exakt das gleiche Gesicht wie sie hatte. Die beiden waren Zwillinge. „Ja, in Ordnung. Du hattest Recht“, gab er die Augen verdrehend zu. Die Frau grinste gewinnend. „Unglaublich. Er gibt zu, dass ich Recht hatte! Dass ich das noch erleben darf…“ „Nun gut“, unterbrach der Silberhaarige sie mit seiner Stimme, in der ein Knurren mitklang. Nicht dass er sich wütend anhörte. Das Geräusch schien einfach dazuzugehören. So wie bei mir der leicht raue Unterton. „Wie heißt du?“ Ich brachte noch mehr Abstand zwischen uns, indem ich weiter zurückwich. Das war mir nicht geheuer. Wer waren die drei? Und was wollten sie von mir? „Demon“, murmelte ich. Erstaunlich, dass sie mich verstanden. „Gut“, meinte der Große nur. „Mein Name ist Lion. Und das sind…“ „Eclipse!“, rief die Frau aus und winkte mir albern zu. „Lunar“, schloss sich ihr Zwilling, mit einem skeptischen Seitenblick auf seine Schwester, an. „Und wir sind genauso wie du“, erklärte Lion ernst. Dann wies er mit einer Hand auf die Einöde, die uns umgab. „Das hier ist unsere Gegenwart. Die Welt, in die wir hineingeboren werden und die wir erst verlassen können, wenn wir unsere andere Hälfte gefunden haben.“ Ich antwortete nicht, obwohl mir tausend Fragen im Kopf aufstiegen. Wahrscheinlich, weil ich irgendwie spürte, dass er Recht hatte. „Du musst keine Angst haben“, sagte Eclipse und lächelte freundlich. Jedenfalls ist mir heute klar, dass sie das tat. Dort im Nebel sah ich nur ihre Zähne, die aufblitzten und mich dazu brachten, noch tiefer in die Knie zu gehen. Wie ein Raubtier auf der Pirsch. Verwirrt warfen sich die drei gegenseitig Blicke zu. Wie ich das hasste. Was dachten die über mich? Welche schneidenden Worte bildeten sich in ihren Gedanken? Warum sahen sie einander so viel sagend an? Das machte mich krank. Und rief die Wut wieder wach, die ich in der Dunkelheit verspürt hatte. „Wir werden dir nichts tun, wir…“, setzte Lion an, aber ich zerschnitt seinen Satz mit einem Fauchen, von dem ich selbst am meisten erschreckt war, dass es aus meiner Kehle kam. „Jetzt beruhig dich doch mal“, schnaubte Eclipse dann und wollte auf mich zugehen, aber ihr Bruder hielt sie am Arm fest. „Nicht.“ Er musterte mich mit einem Blick, in dem ich Misstrauen las und so was wie… Abscheu? Es war Lion, der schließlich auf mich zuging und sacht aber zielstrebig die Hand ausstreckte… „Fass mich nicht an!“, grollte ich und schlug sie so heftig weg, dass er ein paar Schritte wegtaumelte. Sofort eilten die beiden Zwillinge zu ihm. Eclipse zog scharf die Luft ein. „Gebrochen“, murmelte Lunar fassungslos. Lion selbst biss sich auf die Unterlippe, damit sich der Schmerz nicht in seinem Gesicht zeigte. Aber darauf achtete ich kaum. Meine Aufmerksamkeit galt seiner Hand. Und nicht nur der Hand. Drei tiefe Kratzer erstreckten sich vom Handrücken bis fast zum Ellenbogen. Keine Schürfwunden, wie meine Nägel sie eigentlich hätten verursachen müssen. Als ich an mir hinuntersah, blitze noch einmal das Bild auf. Der Spiegel und die grässliche Kreatur, die vor ihm stand. Aber da war was falsch. Ich hatte vor dem Glas gestanden. Das, was sich dort gezeigt hatte, war meine Reflektion gewesen. Ich war das Monster. Die Erkenntnis schlug so unbarmherzig in meinem Kopf ein, dass meine Atmung zu stottern begann. Die Augen weit aufgerissen nahm ich wahr, wie die anderen von Lions Hand aufsahen, mich mit Blicken straften, die anschuldigend, unverständlich waren… ja, aber vor allem anderen ängstlich. Sie fürchteten mich. Das war noch viel grausamer als ihr Misstrauen. Letzteres konnte ich aushalten. Furcht nicht. Ich trat einen halben Schritt zurück und stolperte fast, als ich mich schlagartig abwandte und davon stürmte. Wie unglaublich dumm ich doch war. Ich hatte mich geirrt. Earth hatte mich nicht aus der Dunkelheit geholt. Ich war noch immer drin. _____________________________________________________________ Das wohl längste Kapitel bis jetzt und wahrscheinlich eines der schwersten. Ich hoffe, es war nicht zu langweilig so lange ohne KH-Charaktere. ^-^’ Aber ich musste Demons Geschichte einfach sehr detailliert ausfächern, damit der Leser versteht, was da in ihr vorgeht. Um mich in passende Stimmungen zu versetzen, hab ich mir die ganze Zeit Gruselmusik reingezogen… Danach war erstmal nur rausgehen in die Sonne angesagt. ^-^ Im nächsten Kapitel wird noch der Schluss des Flashbacks geschildert, aber keine Sorge, danach werde ich die KH-Charaktere wieder in den Vordergrund stellen. ;) Hoffentlich kam rüber, was ich mit diesem Kapitel erreichen wollte. Eines noch: Falls es euch interessiert, welche beiden Lieder mich maßgeblich zu der ganzen Vergangenheitssequenz, und eigentlich auch zu Demon selbst, inspiriert haben, dann klickt auf die Links unter der Kurzbeschreibung, hinter: Inspirationssongs. Beim Treffen mit Earth ist der zweite im Hintergrund besonders schön. (Man muss nur ein bisschen die Lautstärke aufdrehen). Tausend Dank fürs Lesen! *Knuff* Rainblue Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)