Memori3s von _Myori_ ================================================================================ Es, Ich, Über-Ich... und man selbst ----------------------------------- „Kontrollierte Amnesie“ lautete der Titel des Berichtes, den Zeus ihm zufrieden strahlend auf den Tisch gelegt hatte, und Hades las die beiden Wörter nun schon zum gefühlten hundertsten Mal. Dann endlich, nachdem er sich sicher sein konnte, dass er sich nicht doch verlesen hatte, sah er mit gerunzelter Stirn zu dem Dunkelhaarigen auf. „Ist das dein Ernst?“ Nach Zeus enttäuschtem Ausdruck zu urteilen, schien er ein wenig mehr Begeisterung von ihm erwartet zu haben. Er beugte sich dem Jüngeren entgegen. „Hast du eigentlich gelesen, was du da vor dir hast? Verstehst du nicht was das da bedeutet?“, entgegnete er beschwörend. Verunsichert starrte Hades zurück auf die Zeilen. Fast jedes vierte Wort war ein Fachausdruck, den er nicht kannte. Kopfschüttelnd sah er wieder auf. „Zeus, glaubst du wirklich, dass sowas möglich ist?“ In den Augen seines Gegenübers begann es verheißungsvoll zu funkeln. „Hideki, dieser Gedanke wurde schon so lange verfolgt- die Menschen haben seit Jahrhunderten nach einer Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Verstand, dem Bewusstsein, gesucht. John Locke hatte damals schon gesagt, dass der Geist ein unbeschriebenes Blatt Papier sei. Das Leben, die Erfahrungen füllen dieses Blatt mit Zeilen aus- warum sollte es nicht möglich sein, diese wieder zu löschen?“, fragte er Hades mit aufgeregter Stimme, doch noch immer lag Unglauben in dem Blick des Braunhaarigen. „Locke war ein Philosoph- das sind alles nur Metaphern und Theorien, diesen Bericht hier mit eingeschlossen…“, erwiderte Hades und las noch einmal die letzten Zeilen des Textes. Zeus deutete auf das Blatt Papier. „Mag sein, dass es nur Theorien sind, aber das hier beruht auf Wissenschaft- moderne Neurowissenschaft! Und bedenke, dass das Phänomen der Amnesie tatsächlich existiert.“ Hades seufzte. „Theorien sind ja schön und gut, aber-“ „Mal angenommen das hier Beschriebene stimmt…“, unterbrach ihn Zeus und sah ihm ernst in die Augen. „Könntest du dir vorstellen, dass es technisch umsetzbar ist?“ Überrascht schwieg Hades einen Moment lang, dann versuchte er erneut den Text zu entziffern. Nach dem, was er verstehen und sich zusammenreimen konnte, war die grundlegende Idee hinter dieser Theorie, das Gedächtnis und vor allem die alten Erinnerungen gezielt durch Stromstimulationen zu manipulieren oder gänzlich zu löschen. Nachdenklich kratzte er sich am Hinterkopf, dann gab er sich geschlagen und zuckte seufzend mit den Schultern. „Strom durch einen Menschen zu jagen ist keine revolutionäre Idee, das gibt’s leider schon zu genüge heutzutage- es könnte also machbar sein… könnte!“, wiederholte der Jüngere betont und hob mahnend einen Zeigefinger, als Zeus in diesem Moment von einem Ohr zum anderen zu grinsen begann. „Hast du denn überhaupt `ne Ahnung, wie das genau funktionieren soll?“, fügte Hades fragend hinzu und musterte seinen Freund eindringlich, sodass sich das Grinsen ernüchtert in seinem Gesicht wieder etwas abbaute. „Nein, aber ich kenne jemanden, der darüber bestens informiert ist.“, entgegnete Zeus stolz. Hades` Stirnrunzeln nahm weiterhin zu. „Warum das überhaupt alles? Was erhoffst du dir davon?“ Der Blick des Älteren bekam etwas Verstohlenes. „Bedingungslos ergebene Diener…“, raunte er über den Tisch hinweg, dass Hades blass wurde. „Du… das willst du nicht wirklich machen, oder?“, rief er so aufgebracht, dass Zeus beschwichtigend die Hände hob. „Jetzt mal den Teufel nicht gleich an die Wand. Ich will den Leuten doch nicht ihr ganzes Leben nehmen- nur Teile, damit sie bei uns bleiben. Denk dran, es handelt sich um einen kontrollierten Gedächtnisverlust.“ Immer noch argwöhnisch starrte Hades seinen Partner an. „Du willst ihnen also die Erinnerung an Freunde und Verwandte nehmen, liege ich da richtig? Woher willst du wissen, ob sie das überhaupt wollen? Niemand würde so etwas freiwillig zulassen…“ Unbeeindruckt zuckte Zeus mit den Schultern. „Darüber zerbreche ich mir später den Kopf.“ Er deutete wieder auf den Bericht. „Zuerst sollten wir an die nötigen Informationen kommen.“ Schnell hob Hades die Hände. „Hey, ich habe mit keinem Wort dieser Sache zugestimmt!“ Für Sekunden starrten sie sich stumm an, dann erhob sich Zeus seufzend, ging um den Tisch herum und legte den Jüngeren die Hände auf die Schultern. „Hideki.“, sagte er langsam und betont. „Ich will niemanden damit schaden- im Gegenteil. Glaubst du nicht, dass es genügend Menschen dort draußen gibt, die gerne etwas vergessen wollen?“ In seinem dunklen Irispaar spiegelte sich nur noch Ernst wider. „Wir könnten den Menschen damit helfen.“ Die Augen des Braunhaarigen verengten sich sichtlich. „Und dann willst du sie für dich arbeiten lassen.“ „Für uns.“, verbesserte Zeus ihn nachdrücklich, dann legte sich ein mitleidiges Lächeln auf seine Lippen. „Es gibt nichts umsonst im Leben, mein Freund.“ Beinahe eine volle Minute verging, ehe Hades seufzend antwortete: „Und wie willst du deinen Bekannten davon überzeugen, uns dabei zu helfen?“ Das anfängliche Lächeln breitete sich wieder zu einem breiten frechen Grinsen aus. „Glaub mir, ich kenn da das ein oder andere Druckmittelchen.“ Souta Hidashi war nicht mehr der Jüngste. Er hatte seiner Arbeit als Dozent schon vor langem den Rücken gekehrt, auch wenn er theoretisch noch ein paar Jahre bis zur Rente gehabt hätte. Er war seine Arbeit nicht Leid gewesen, keineswegs, das war nicht der Grund für seinen frühzeitigen Rückzieher gewesen… im höflichen Fachjargon hatte man es mit „Arbeitsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen“ umschrieben- dass er die Formulierung selbst zum Lachen fand, hatte er sich natürlich gegenüber dem Dekan verkniffen. Seine, seit ein paar Jahren angeknackste Psyche hatte ganz bestimmt keine Auswirkungen auf seine körperliche Gesundheit gehabt, das hatte er sich stets eingeredet- natürlich wusste er es im Grunde besser; er hatte seit Jahrzehnten nichts anderes getan, als sich mit dem menschlichen Bewusstsein auseinanderzusetzen- auch wenn er zugeben musste, dass seine Knochen seit einigen Jahren mehr schmerzten und er immer öfter unter Migräne litt. Aber das schob er, starrsinnig und dickköpfig wie er ist, seinem Alter in die Schuhe. Mit über Sechzig konnte man sich so etwas ohne weiteres erlauben. Das war wahrscheinlich auch der Grund gewesen, warum man ihn aus „gesundheitlichen Gründen“ und nicht etwa aufgrund von „familiären Schicksalsschlägen“ in den Ruhestand geschickt hatte- das Wort „Schicksalsschläge“ hätte nur unangenehme Fragen nach sich gezogen, auf die er gut und gerne verzichtete. Souta weigerte sich strikt, seinen Zustand als „Ruhestand“ zu betiteln- Passivität traf es seiner Meinung nach besser, immerhin arbeitete er weiterhin, soweit es seine Gebrechen zuließen. Ruhestand hätte bedeutet, dass er Tag ein, Tag aus in irgendeinem Schaukelstuhl vor sich hinstarren und über alte Zeit sinnieren würde- lachhaft! Soweit würde er es niemals kommen lassen. Auch würde die Universität Professoren, die sie in Rente geschickt hat, nicht immer mal wieder bitten, eine Gastvorlesung zu halten, oder? Und obwohl er im ersten Moment, wenn die Einladung eintraf, immer verärgert vor sich hin maulte, betrat er im Endeffekt die alten, mit Erinnerungen behafteten Vorlesungssäle stets mit einem nostalgischen Lächeln auf den Lippen. Es freute ihn dann doch im Nachhinein, wenn er sah, dass sich eine Hand voll junger Leute für seine Studien interessierten und bereit waren, sein Wissen in sich aufzunehmen- und solang diese Einladungen nur alle paar Monate in sein Haus segelten, sollte es ihn nicht weiter stören; schließlich waren sie, genau betrachtet, eine willkommende Abwechslung. Vor allem die heutige Vorlesung hatte einen äußerst angenehmen Eindruck bei ihm hinterlassen. Die Studenten hatten regelrecht an seinen Lippen gehangen und so interessierte Fragen gestellt, dass er sich für einen kurzen Moment wieder sein altes, passivitätsfreies Leben zurückgewünscht hatte. Müde, aber dennoch glücklich, ging er mit gemächlichen Schritten den Gang zu seinem Arbeitszimmer entlang und ließ sich noch einmal ein paar äußerst interessante Fragen einiger Studenten kritisch durch den Kopf gehen. So vertieft in seine Gedanken schloss er die Bürotür auf, ohne zu merken, dass sie längst unverschlossen war. Erst das ausbleibende Deckenlicht machte ihn stutzig. Verwundert legte er ein paar Mal hintereinander den Lichtschalter neben der Tür um, doch nichts passierte. War die Lampe etwa kaputt? In dem spärlichen Licht, das vom Flur aus in das Zimmer fiel, schaute er angestrengt auf seine Armbanduhr. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht- viel zu spät, um jetzt noch den Elektriker anzurufen. Mit einem Schmunzeln musste er an die Worte des Mannes denken: „Sie können mich Tag und Nacht anrufen.“ Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Satz wörtlich zu nehmen, allerdings konnte er sich rechtzeitig wieder ausbremsen. Die angeregten Diskussionen mit den jungen Menschen hatten einen lang versiegten Übermut in ihm reanimiert, stellte Souta kopfschüttelnd fest, dennoch zauberte dieser Gedanke ein Lächeln auf seine rauen Lippen. Die gute Laune in vollen Zügen genießend, trat er an seinen großen schweren Schreibtisch heran, hinter dem er stundenlang am Tag saß und Bücher wälzte oder Berichte und Gedanken aufschrieb. Der Tisch war zur Bürotür ausgerichtet, direkt vor der riesigen Fensterfront stehend, sodass der ganze Raum von fahlem Mondlicht zusätzlich etwas erhellt wurde. Er hatte es, bevor er an diesem Abend zur Uni aufgebrochen war, nicht mehr geschafft, ein Teil seines Skriptes fertigzustellen, an dem er zurzeit arbeitete, aber er fühlte sich, trotz der Müdigkeit, die langsam seine Glieder hochkroch, so motiviert und dennoch wach, dass er kurzerhand beschloss, die letzten ausstehenden Zeilen heute noch aufzuschreiben. Ohne um den Tisch herumzugehen, knipste er die kleine Lampe an- aber auch hier blieb die erhoffte Helligkeit aus. Stirnrunzelnd verharrte er in seiner Bewegung. Das konnte doch nicht wahr sein! War das nur ein dummer Zufall oder hatte jemand an der Sicherung gespielt? Ärger verdrängte langsam die beflügelnde Freude. Souta startete einen letzten Versuch und griff nach dem Telefon, das ebenfalls auf seinem Schreibtisch stand. Nichts. Die Leitung war tot… Das konnte doch nicht- „So spät wollen Sie noch jemanden anrufen?“ Die belustigt klingende Stimme hatte so plötzlich die vorherrschende Stille durchbrochen, dass Souta beinahe vor Schreck der Hörer aus der Hand gefallen war. Mit hämmerndem Herzen sah er auf. Die Stimme, die eindeutig einem Mann gehörte, war aus Richtung seines Schreibtischstuhls gekommen, der, wie Souta erst jetzt feststellte, mit der Lehne zu ihm zeigte. Verstört wich der Alte vor der Geräuschquelle zurück. In diesem Moment drehte sich der Stuhl und gab den Blick auf die in ihm sitzende Person frei, die, soweit er das erkennen konnte, vergnügt zu ihm hochschaute. Souta begann zu zittern. Er hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen- war er ein Einbrecher? Aber… „…wie sind Sie an der Alarmanlage vorbeigekommen?“, sprach er seinen Gedanken laut aus und ging weiter rückwärts. Er hatte sein Arbeitszimmer, genau wie das restliche Haus, schon vor Jahren mit einigen Sicherheitsmaßnahmen ausgestattet. Die Alarmanlage, die er sich vor kurzem erst neu zugelegt hatte, entsicherte automatisch, wenn er die Tür zu seinem Zimmer aufschloss- und das war nur mit seinem Schüssel möglich, von dem er wusste, dass er das einzig existierende Exemplar besaß. Jegliches gewaltsame Aufbrechen des Schlosses hätte einen schrillen Alarm ausgelöst, den man im ganzen Haus gehört hätte. Wie also war dieser Mann in sein Zimmer gekommen? Geräuschvoll fiel die besagte Sicherheitstür in seinem Rücken plötzlich zu, sodass er für einen Moment befürchtete, einen Herzstillstand zu erleiden. Panisch drehte sich Souta auf dem Absatz um und starrte in ein weiteres Gesicht, das jedoch weitaus weniger belustig aussah. Der Mann an der geschlossenen Tür verschränkte die Arme. „Sie meinen dieses Billigding?“, fragte der pikiert und Souta sah ihn deutlich eine dunkle Braue nach oben ziehen. „Ich hätte mehr erwartet. Dieses Schloss war eine Beleidigung.“ Der alte Mann fühlte sein Herz schmerzhaft rasen. Er saß in der Falle, konnte nicht vor und nicht zurück. Hilflos sah er abwechselnd zu den beiden Männern. „Wer sind Sie?“ Der Mann, der an seinem Schreibtisch saß, rührte sich. Er schien seine gefalteten Hände auf etwas zu stützen, vielleicht einen Gehstock oder ähnliches, das konnte Souta nicht mit Sicherheit erkennen. Der Fremde zuckte mit den Schultern. „Wer wir sind ist unwichtig- interessanter ist dagegen Ihre Person, Hidashi- san.“ Souta unterdrückte den Drang weiter vor ihm zurückzuweichen, denn das hätte ihn nur näher an den anderen Mann herangebracht. Somit verweilte er in der Mitte des Raumes, die potentielle Gefahr, die diese Männer eindeutig darstellten, vor und hinter sich wissend. Der Alte zwang sich zur Ruhe und ballte die knorrigen Hände etwas zu Fäusten. Der anfängliche Zorn hatte ihn wieder. „Was wollen Sie von mir?“, fragte er an den Mann am Schreibtisch gewandt. „Geht es Ihnen um Geld? Bitteschön, Sie können-“ Der Fremde unterbrach ihn mit einem kurzen, harten Lachen. „Um Geld geht es hier nicht, davon haben wir selbst ausreichend viel.“, entgegnete er in einem Tonfall, der Souta leicht stutzig machte. „Nein?“, fragte er vorsichtig nach, als habe er sich verhört. „Nein.“, wiederholte der Mann hinter ihm brummend und so gereizt, dass es Souta einen Schauer über den Rücken jagte. Er schluckte und schaute verwirrt sein Gegenüber an. „Wie gesagt: wir sind vielmehr an ihrer Person interessiert, oder- um genauer zu werden- an ihren Fähigkeiten.“, sagte dieser in einem Tonfall, als ziere ein amüsiertes Schmunzeln sein Gesicht. „Ich…“, fing der Alte stockend an. „Ich verstehe nicht ganz…“ Wortlos legte der Fremde ein Blatt Papier auf den Schreibtisch und machte eine auffordernde Handbewegung. Nur zögernd ging Souta wieder auf den Tisch zu, hinter dem der Mann mit dem merkwürdigen Gehstock saß, und griff nach dem einzelnen Zettel. In dem spärlichen Mondlicht konnte er kaum ein Wort des Textes entziffern, jedoch hatte er diese Zeilen schon so oft in seinem Leben gelesen, dass er ihn schon allein an dem Aufbau der Zeilen und Absätze wiedererkannte. Er spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich, als er die fettgedruckte Überschrift las: Kontrollierte Amnesie. Der Artikel, der seine ganze Forschung, sein ganzes Leben, auf einer Seite zusammenfasste. Überfragt sah er von den Zeilen wieder auf. Was sollte das alles hier? Unfähig, die passenden Worte über die Lippen zu bringen, erhob also der Fremde wieder seine Stimme. „Ich gehe recht in der Annahme, dass Sie es waren, der diese Theorien verfasst hat?“, fragte dieser sachlich und ernst. Souta nickte. „Was wollen Sie von mir?“, fragte er noch einmal, doch diesmal klang seine Stimme viel verzweifelter. Er hörte, wie etwas in seinem Rücken vom Boden angehoben wurde, dann tauchte plötzlich der zweite Fremde neben ihm auf, einen Stuhl in der Hand tragend. „Wollen Sie sich nicht vielleicht setzen?“, wich der Mann am Schreibtisch seiner Frage charmant aus. „Sie sehen erschöpft aus und wir werden hier bestimmt ein etwas längeres Gespräch führen.“ Bevor Souta antworten konnte, hatte der Andere den Stuhl hingestellt und ihn mit sanfter, aber dennoch bestimmter Gewalt auf das gebrachte Möbelstück hinunter gedrückt. Der Mann verschwand stumm aus seinem Blickfeld, jedoch konnte Souta spüren, dass dieser weiterhin direkt hinter ihm stand. Schweißperlen bildeten sich auf seiner faltigen Stirn und nervös begannen seine Hände zu zittern, in denen er immer noch den Zettel hielt. Es kam ihm unsinnig vor, den Mann ein drittes Mal zu fragen, was sie von ihm wollten, also entschloss sich Souta dazu, abzuwarten und zu schweigen. Sekunden wurden so von der Stille verschluckt, ehe der Mann vor ihm den Gegenstand, auf den er sich die ganze Zeit gestützt hatte, in die eine Hand wechselte und dann aufstand. Während er um den Tisch ging, begann er wieder zu sprechen. „Ich muss Ihnen offenkundig meinen Respekt zollen, Hidashi- san. Ihre Arbeit ist ein Meisterwerk; äußerst interessant…“ Er kam direkt vor Souta zum Stehen und lehnte sich gegen die Kante des prunkvollen Schreibtisches. Jetzt, aus der Nähe betrachtet, sah der Alte, dass der Fremde breit grinste. „… und äußerst inspirierend.“, vollendete er seinen Satz und sah erwartungsvoll auf Souta hinab. Dieser versuchte seinem durchdringenden Blick auszuweichen, was ihm allerdings nur mit mäßigem Erfolg gelang. Kurzerhand beschloss er, sein Unbehagen mit einem Lächeln zu übertünchen. „Das hört jeder Wissenschaftler gerne.“, antwortete er mit leichtem Dank in der Stimme. Das Grinsen seines Gegenübers nahm weiter zu. Es kam ihm nicht aufgesetzt vor; anscheinend respektierte dieser Mann tatsächlich ihn und seine Arbeit. Ein Stück seiner Selbstsicherheit kehrte zurück und er wagte sich so zu einem weiteren Schritt: „Inwiefern hat Sie meine Arbeit inspiriert?“ Souta wollte Antworten und er wurde das Gefühl nicht los, dass diese mit seinen alten Theorien zur Gedächtnisforschung zusammenhingen- warum sonst hätte der Fremde ihm seinen eigenen Bericht unter die Nase gehalten? Ganz bestimmt nicht nur, um Souta seine Bewunderung für ihn auszusprechen. „Nun, mein Partner und ich“ Und damit deutete der Fremde an dem alten Neurobiologen vorbei zu dem anderen Mann. „haben uns überlegt, ihre Theorien in die Tat umzusetzen.“ Souta brauchte ein paar Sekunden, um den Sinn hinter den Worten zu verstehen- dann jedoch trafen ihn die Tatsachen wie ein Blitzschlag. Seine Augen weiteten sich in entsetzter Erkenntnis. „Sie wollen… eine kontrollierte Amnesie durchführen?“ „Wir reden hier nicht von einer Durchführung…“, korrigierte ihn der junge Mann leicht tadelnd. „Wir hatten mehr an eine Maschine gedacht, mit der wir gezielt die Gedächtnisse von vielen Menschen löschen können.“ An seine Angst nicht weiter denkend, schüttelte Souta energisch den Kopf. „Sie sind wahnsinnig.“, hauchte er fassungslos. „Vollkommen übergeschnappt. Sowas können Sie doch nicht ernsthaft wollen!“ Der Fremde sah ihn an, als wolle ihm sein Gegenüber gerade verzweifelt weismachen, ein Ufo gesehen zu haben. Überrascht blinzelte der Jüngere und verzog den Mund wieder zu einem breiten Grinsen. „Natürlich meine ich das ernst- sonst hätten wir uns doch nie die Mühe gemacht, bei Ihnen zuhause einzubrechen…“ Ein spöttisches Schnauben wurde hinter Souta laut und die Schultern hebend fügte der Fremde vor ihm hinzu: „…zumindest hatten wir vorgehabt, uns die Mühe zu machen.“ Sich auf die Unterlippe beißend, starrte der Alte wieder auf die Zeilen in seiner Hand hinab. Er hatte jahrelang an dem Phänomen des Gedächtnisverlustes geforscht, mit Erfolg sogar eigene Theorien aufgestellt. Er ist danach einen Schritt weitergegangen und hatte Überlegungen angestellt, wie man eine Amnesie technisch bewirken könnte- aber er hatte nie mit dem Gedanken gespielt, dieses Wissen in die Realität umzusetzen. Sein Wunsch war es gewesen, irgendwann eine Möglichkeit zu finden, den Gedächtnisverlust auf neuronalem Weg rückgängig zu machen- doch dafür, so hatte er immer gesagt, müsste man zuerst einmal den Mechanismus der Amnesie verstehen. Nur aus diesem Grund hatte er diese Forschungen betrieben. Zornig sah er auf. Er würde nicht kampflos zulassen, dass sein Werk so schändlich missbraucht werden würde. „Warum wollen Sie so eine Maschine entwickeln? Wer, zur Hölle, sind Sie?“ Gelangweilt setzte sich der Mann auf den Tisch. „Ich sagte bereits, dass unsere Namen hierfür keine große Bedeutung haben und was den Grund angeht: den werden Sie nicht erfahren, weil es Sie nichts angeht.“, erwiderte er und sein Grinsen bekam zusehends etwas Freches. Dieser Ausdruck schürte neue Wut in Souta. „Was wollen Sie dann überhaupt von mir?“, knurrte der Alte gereizt. Gefahr hin oder her, aber er würde sich nicht für dumm verkaufen lassen. Der Mann vor ihm lachte kurz auf und beugte sich, ungläubig eine Braue nach oben ziehend, dem alten Mann entgegen. „Ist Ihnen das immer noch nicht bewusst geworden?“, fragte der Jüngere belustigt. Souta sah ihn fragend an, dann, als stünde es auf einmal in der Luft geschrieben, beantwortete er sich seine Frage selbst, jedoch war sie keineswegs zufriedenstellend. „…ich helfe Ihnen ganz bestimmt nicht.“, sagte er bestimmt, was allerdings den anderen nur dazu veranlasste, einen erhobenen Zeigefinger tadelnd hin und her zu bewegen. „Das würde ich nicht so vorschnell sagen.“, begann er mit der Zunge schnalzend. „Unsere Beweggründe gehen Sie zwar nichts an, aber ich könnte mir vorstellen, dass so eine Maschine auch Ihr Interesse wecken könnte…“ Soutas Augen verengten sich vor Zorn und ohne zu Zögern stand er auf. Der andere Fremde, der die ganze Zeit hinter ihm stand, hinderte ihn nicht daran. „Ich wüsste nicht, was daran mein-“ Der alte Mann unterbrach sich, als der Fremde ihm in diesem Moment ein weiteres Stück Papier unter die Nase hielt. Widerwillig nahm Souta dieses an sich. Egal was diese Wahnsinnigen noch als Argumente vorbringen würden, er- Zum zweiten Mal an diesem Abend fühlte sich Souta wie von einem Blitzschlag getroffen. Der Zettel war bei genauerer Betrachtung ein Foto, das ein junges Mädchen auf einer Schaukel zeigte. Sie trug ein luftiges Sommerkleid und in ihre schwarzen Haare hatte sie sich Blumen gesteckt. Ihre Augen strahlten so vor Freude, dass sie sogar ihr breites Lächeln fast gänzlich in den Hintergrund stellten. Der Baum mit der Schaukel, auf dem die ungefähr 17-jährige saß, stand vor einem Haus, das Souta sehr gut kannte. Er hatte dieses Sommerhaus vor Jahren gekauft und er selbst war es auch gewesen, der dieses Foto geschossen hat. In dem Sommer, in dem er sie zuletzt so gesehen hat, der letzte friedliche Sommer ohne Sorgen… „Die kleine Sonoko scheint ein sehr fröhliches Kind gewesen zu sein, oder?“, riss ihn die dunkle Stimme des Fremden aus seinen Gedanken. Souta hörte ihn tief und lang seufzen. „Hab gehört, dass sie vor drei Jahren einen schrecklichen Unfall gehabt hatte- ist das nicht auf einer Klassenfahrt passiert? Muss ziemlich schrecklich sein, seine besten Freunde sterben zu sehen…“ Das Herz des Alten drohte zu zerspringen. Zitternd fasste er sich an die schmerzende Brust und ließ sich kraftlos auf den Stuhl nieder. Kalter Schweiß brach ihm auf der Stirn und in seinen Handflächen aus und mit Tränen in den Augen sah er flehend zu dem jungen Mann vor ihm auf. „Bitte… machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber- aber tun Sie meiner Tochter nichts.“ Ein kleines, mitleidiges Lächeln tauchte in den Mundwinkeln seines Gegenübers auf. „Keine Angst. Wir hatten nie vorgehabt, ihr etwas anzutun… ich denke, die Kleine hat schon genug gelitten.“ Der Fremde stieß sich leicht von der Tischplatte ab und kam so wieder auf die Füße. Den länglichen Gegenstand lehnte er vorsichtig gegen den Tisch und ging erneut um diesen herum. Die Arme hinter den Rücken verschränkend, fuhr der Jüngere im Plauderton fort: „Stimmt es, dass sie heute noch Angst vor längeren Autofahrten hat?“ Souta hob ruckartig den Kopf. Er spürte sein Herz bis in den Hals hinauf schlagen. „Ihr Freund ist damals bei diesem Unglück ums Leben gekommen, ebenso wie zwei ihrer Freundinnen, wenn ich mich richtig erinnere- seitdem schottet sie sich vollkommen von Gleichaltrigen ab und hat gar keine Freunde mehr, habe ich Recht?“ Der Fremde seufzte wieder und diesmal klang es ehrlich und aufrichtig. „Sie muss sich sehr quälen…“, fügte er leise hinzu. Souta konnte seine Verwunderung nicht weiter verbergen. „Wie… woher wissen Sie das alles? Das wurde nie öffentlich gemacht.“ Gelangweilt zuckte sein Gegenüber mit den Schultern. „Es war nicht sonderlich schwer, an die Informationen heranzukommen.“, sagte er und fing an, die Finger seiner Hand langsam abzuzählen. „Schuljahrgangsfotos, Mitschnitte von Zeugenaussagen, alte Polizeiakten, Obduktionsberichte…“ „Vergiss die Skripte ihres Psychiaters nicht.“, fügte auf einmal der Andere in Soutas Rücken brummend hinzu. Sein Partner unterbrach seine Aufzählung und sah grinsend zu ihrer Geisel, die immer blasser im Gesicht wurde. „Manchmal beneide ich ihn um sein gutes Gedächtnis…“, gab er anerkennend zu. „Wie auch immer.“, nahm der Fremde das eigentliche Thema schnell wieder auf. „Wie Sie sehen sind wir über die jetzige Lage Ihres Töchterchens bestens informiert.“ Der junge Mann drehte sich zu einem der Regale um, die an der Wand standen und in denen Souta seine alten Berichte aufbewahrte. Wahllos nahm der Fremde einen Ordner heraus und während er durch die abgehefteten Seiten blätterte, fingen seine Augen im Mondschein an zu leuchten. „Und wie ich sehe, hat Sie Sonokos Schicksal auch nicht ganz kalt gelassen…“, fügte er hinzu und ließ den Ordner geräuschvoll wieder zuklappen. Souta schluckte. „Ich bin ihr Vater, natürlich-“ „Ein Vater mit einem besonderen Wissen…“, fiel ihm der Mann ins Wort und deutete auf den Ordner in seiner Hand. „Sie hatten ihre Thesen zur Amnesieforschung schon lange vorher ad acta gelegt und ruhen gelassen- aber diese Aufzeichnungen hier sind, den Datierungen nach zu urteilen, in den letzten drei Jahren entstanden. Sie wollten einen Weg finden, wie Sie Ihre Tochter von ihren psychischen Schmerzen befreien können.“ „Nein, ich hatte nie vorgehabt, das Gedächtnis eines Menschen zu zerstören!“, erwiderte Souta teils verzweifelt, teils zornig und ballte seine Hände so stark zu Fäusten, dass sie schmerzten. Der Fremde sah ihm einen Moment lang forschend in die Augen, dann stellte er den Ordner zurück in das Regal und ging wieder auf Souta zu. Sein Blick war ungewöhnlich ernst geworden. „Wollen Sie nicht alles in Ihrer Macht stehende tun, um Ihrer Tochter zu helfen?“ Verzweifelt sah der Alte zu Boden. Er war den Tränen nahe. Seit er in den Ruhestand geschickt worden ist, hatte er sich jeden Tag den Kopf darüber zerbrochen, wie er sein Kind von den Erinnerungen erlösen konnte. Sonoko hatte sich so sehr verändert, seit sie diesen Busunfall überlebt hatte. Alles, was dieser Fremde erzählt hatte, stimmte, auch wenn er es nicht mehr ertragen konnte, ewig daran erinnert zu werden- Sonokos glanzlose Augen jeden Tag aufs Neue zu erblicken, war schon schmerzhaft genug. Natürlich hatte er seine Forschung mit dem Gedanken wieder aufgenommen, eine kontrollierte Amnesie bei Sonoko durchzuführen- aber dieses Vorhaben war reinster Irrsinn, pure Verrücktheit gewesen. Was bemächtigte gerade ihn dazu Gott zu spielen? Niemand hätte ihn dabei unterstützt. Als wolle er der Realität entfliehen, sah er auf das Foto in seiner Hand hinab und verlor sich in dem tiefen Grün ihrer lachenden Augen. Aufsteigende Tränen vernebelten ihm die Sicht und Sonokos jüngeres Ich verschwamm immer mehr, bis dicke Tropfen auf der glänzenden Oberfläche des Fotos abperlten. Souta sah, tief Luft holend, wieder auf und schüttelte den Kopf. „Selbst wenn- es würde technisch nicht möglich sein.“ Der Fremde lachte wieder freudlos und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie sind nicht das einzige Genie hier in diesem Raum. Um die Technik werden wir uns kümmern, darüber müssen Sie sich nicht Ihren klugen Kopf zerbrechen…“ Verbittert presste der Alte die rauen Lippen aufeinander. Er selbst war auch schon so weit gekommen und hatte einen befreundeten Mechatroniker, dem er sehr vertraute, um Rat und Hilfe gebeten, doch er hatte nur verwundert den Kopf geschüttelt und ihm gesagt, dass sein Vorhaben Wunschdenken bleiben würde. Und nun erpressten ihn zwei Unbekannte und behaupteten felsenfest, seine Theorien in die Praxis umsetzen zu können. Souta wusste von Sekunde zu Sekunde weniger, was er von diesen Männern halten sollte. Wollten sie ihm tatsächlich helfen? Könnten sie wirklich all seine Sorgen und Probleme lösen? Sich an dem verbliebenden kleinen, rebellischen Gedanken klammernd, wagte der rational denkende Teil seines Verstandes einen letzten Widerstand, obwohl er genau wusste, dass seine Sehnsucht den Kampf längst gewonnen hatte. „Was ist, wenn es nicht klappt? Was, wenn irgendetwas schief geht?“ Der Fremde zuckte erneut mit den Schultern. „Nun, wir werden ausschließlich nach Ihren Vorgaben arbeiteten- wenn also Fehler passieren, dann nur Ihretwegen.“ Der junge Mann unterbrach sich kurz und ein böses Grinsen zeichnete sich im Mondlicht grotesk von seinen Gesichtszügen ab. „Es dürfte allerdings in Ihrem Interesse liegen, dass sowas nicht passiert, oder? Immerhin wird es das Leben Ihrer eigenen Tochter sein, das Sie mit den kleinsten Ungenauigkeiten aufs Spiel setzen.“ Bevor Souta etwas darauf antworten konnte, hatte der Fremde schon nach dem länglichen Gegenstand gegriffen und war an ihm vorbei zur Tür gegangen. Der Andere folgte ihm schweigend. „Überlegen Sie es sich. Wir werden Ihnen einen Tag Bedenkzeit geben, dann wollen wir Ihre Entscheidung hören. Und denken Sie erst gar nicht daran, die Polizei oder sonst wen hier drin einzuweihen- wir kriegen es heraus und dann werden wir spurlos verschwinden, womit Ihre einzige Chance auf die Vollendung Ihres Lebenswerkes zunichte gemacht worden wäre.“ Der Mann hatte schon die Hand nach der Türklinke ausgestreckt, als Souta seinen Schock endlich überwand und abrupt aufstand. „Was Sie vorhaben ist illegal!“, rief der alte Mann mit letzter Kraft. Der Unbekannte stoppte in seiner Bewegung und sah lächelnd zu Souta zurück. „Legalität ist eine Sache der Auslegung, Hidashi-san. Ich finde es zum Beispiel sehr legal und richtig von einem Vater, seinem Kind zu helfen. Denken Sie daran, für wen Sie das immerhin tun…“ Damit drehte sich Zeus von dem alten Wissenschaftler weg und trat hinaus auf den hell erleuchteten Flur. Als Hades die Tür hinter sich zugezogen hatte, hörten sie beide ein lautes Poltern aus dem Zimmer dringen, danach war es ruhig. Hades zögerte und spielte kurz mit dem Gedanken, noch einmal umzukehren und nachzusehen, doch dann gab er sich einen Ruck und schloss zu Zeus auf, der unbeirrt weitergegangen war. Sie wollten gerade um die nächste Ecke gehen, als auf einmal eine junge Frau auftauchte und beinahe mit Zeus zusammenstieß. Erschrocken blieb sie stehen und starrte den Blassen aus weit aufgerissenen Augen an. In ihrem grünbraunen Irispaar flackerten Verwunderung und Angst, die in jedem Augenblick, der verstrich, weiter zunahm. Zeus versuchte seine Überraschung zu unterdrücken und ihrem faszinierenden Blick standzuhalten- denn obwohl jeglicher Glanz aus ihren traurigen Augen gewichen war, konnte Zeus eine Spur der vor Jahren versiegten Freude und Willensstärke in Sonokos Antlitz immer noch erkennen, als habe sich das prägende Erlebnis ihrer Vergangenheit lediglich wie feiner Staub auf einem Foto abgelegt, den man nur wegwischen musste, um die alte Pracht ihres Lebensmutes wieder voll sehen zu können. Sonoko riss sich von Zeus` Blick los und sah verängstigt Hades an, der einen halben Meter versetzt hinter Zeus stehen geblieben war. Dann schien sie eine neue Angst zu packen und panisch sah sie den Gang hinunter, aus dem die beiden Männer gekommen sind. Sie presste die Lippen aufeinander, als müsse sie sich beherrschen, nicht etwas zu sagen. Zeus musterte sie noch einen Augenblick lang, dann ging er an ihr vorbei. „Sieh nach ihm.“, sagte er knapp. Die junge Frau verweilte einen kurzen Moment noch zögernd an Ort und Stelle, dann lief sie, die Fremden hinter sich lassend, den Gang zum Büro ihres Vaters hinunter. Es war das erste und letzte Mal, dass Zeus und Hades Sonoko bei vollem Bewusstsein begegneten- man würde sie im narkotisierten Zustand auf die Maschine setzen, die später den Namen ‚Memoria‘ tragen wird. Erst viele Jahre später sollte Zeus ihr Gesicht in einem anderen Mädchen wiedererkennen und sich vor allem an ihre selbstbewussten Augen erinnern. Souta selbst sollte nie miterleben, wie seine Tochter ein neuer Anfang geschenkt werden würde; er verstarb ein paar Monate später an den Folgen eines Schlaganfalls und auch diese Erinnerung wurde, auf seinen eigenen Wunsch hin, aus Sonokos Gedächtnis gelöscht. Für sie war er friedlich im Schlaf gestorben, ohne je Schmerzen verspürt zu haben. So lauteten seine letzten Worte, die er Zeus in einer Mail hinterlassen hatte, als er noch dazu in der Lage war, sie zu formulieren. So sollte Sonokos selbst viel zu kurzes Leben dennoch ein glückliches werden, was nicht zuletzt an einem amerikanischen Straßenmusiker und ihrer gemeinsamen Tochter lag. „Glaubst du, er wird uns tatsächlich helfen?“ Zeus begann auf Hades` Frage hin selbstsicher zu grinsen. „Er wird sich diese Chance nicht entgehen lassen, da bin ich mir sicher.“ Hades quittierte dies mit Schweigen und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Es war schon lange nach Mitternacht, dennoch waren die Straßen gut befahren. „Und hast du schon eine Idee, wo wir diese Maschine bauen wollen?“, fragte Hades weiter. Zeus nickte und streckte sich, soweit das auf einem Autositz möglich war. „Ich hab da was in Aussicht… du kennst doch das alte Parkhaus im Rotlichtviertel der Hauptstadt, oder?“ „Das, was seit ein paar Jahren leer steht?“, erwiderte Hades fragend und zog die Stirn auf Zeus` breites Grinsen hin kraus. „Du glaubst gar nicht, für welche Schleuderpreise die sowas verhökern.“ Hades riss verwundert die Augen auf. „Du hast nicht allen Ernstes ein Parkhaus gekauft! Bist du verrückt? Soviel Geld besitzen wir doch gar nicht!“ „Mach dir darüber mal keine Sorgen, ich hab das alles geregelt.“, entgegnete Zeus schulterzuckend und auf Hades` irritierten Seitenblick hin, fügte er hinzu: „Ich hab `nen Deal mit meinem alten Drogenhändler ausgemacht- er streckt ein Teil des Geldes vor und dafür geht ein Teil unseres Einkommens in Zukunft an ihn.“ Hades seufzte kopfschüttelnd. „Schön, dass ich das auch mal erfahre…“ Zeus machte eine beiläufige Handbewegung. „Ich hätte es dir schon noch rechtzeitig gesagt.“, sagte er ausweichend und sah aus dem Fenster. Hades verkniff sich seinen Kommentar zu Zeus` Aussage und fuhr schweigend wieder an, als die Ampel vor ihm auf Grün umsprang. Minuten verstrichen, bis Zeus ein neues Gespräch mit einem leisen Räuspern anschnitt. „Hat… Hitomi nicht bald Geburtstag?“ Flüchtig bedachte Hades ihn mit einem Blick, der nicht vielsagender hätte sein können. Zeus sah, wie sein Freund sich zwang, wieder auf die Straße zu achten. „Ja, hat sie.“ Der Schwarzhaarige holte tief Luft. Reue darüber, dieses Thema angesprochen zu haben und genervte Wut, dass Hades immer noch so empfindlich reagierte, rangen einen Moment lang in ihm um die Vorherrschaft; das Ergebnis daraus war eine vorsichtige Zurückhaltung und die Warnung seines Verstandes, die nächsten Worte bloß mit Bedacht zu wählen. „Nun, ich hatte überlegt, ihr vielleicht etwas zu schenken.“, begann Zeus im beiläufigen Plauderton. „Nichts Großes oder so- ich dachte da an einen Gutschein, aber ich habe keine Ahnung, über was sie sich freuen würde und da-“ „Schuhe.“, fiel Hades ihm kühl ins Wort. „Sie mag Schuhe…“ Stumm sah Zeus auf Hades` Hände, die sich verkrampft um das Lenkrad geschlossen hatten. Ruhe und Gleichgültigkeit in der Stimme bewahrend, entgegnete er verspätet: „Gut… dann wird`s also ein Gutschein für Schuhe…“ Hades antwortete ihm nicht. Nach weiteren zehn Minuten, in denen niemand etwas gesagt hatte, parkte Hades den Van vor dem Hauptbahnhof. Gerade wollte Zeus aussteigen, als der Jüngere das anhaltende Schweigen endlich brach. „Darf ich dich etwas fragen?“ Zeus stockte in seiner Bewegung und sah fragend zu Hades hinüber. Dieser senkte seinen Blick auf die Hände, die immer noch das Lenkrad umschlossen. Der Schwarzhaarige sah ihm an, dass sein Gegenüber mit den unausgesprochenen Worten kämpfte. „Magst du Hitomi?“ Eine plötzliche Ohrfeige hätte Zeus` Gesichtszüge nicht weniger stark entgleisen lassen. Er versuchte sich den Schock nicht anmerken zu lassen und rettete sich in ein entspannt aussehendes Lächeln. „Sie ist deine beste Freundin… natürlich versuch ich da, mit ihr auszukommen und-“ „Das habe ich nicht gefragt…“ Beim Klang seiner schneidenen Worte schluckte Zeus den Rest des Satzes wieder hinunter. Zittrig fuhr er sich durch die Haare, dann riss er sich zusammen und sah Hades offen und ehrlich an. „Hitomi ist nett- sehr nett sogar. Mit ihr kann man sich stundenlang unterhalten und sie ist jedem gegenüber zuvorkommend und hilfsbereit.“ Er seufzte, als er Hades` feindseligen Blick sah. „Ich mag sie, ja- aber nicht so, wie du befürchtest.“ Das Gesicht des Braunhaarigen verfärbte sich leicht rot, woraufhin Zeus breit grinsen musste. „Mach dir nicht immer so viele Gedanken, verstanden?“ Er klopfte Hades freundschaftlich auf die Schulter und stieg aus, ehe der andere etwas erwidern konnte. Zeus schaute Hades noch kurz hinterher und wartete, bis der Van an der nächsten Kreuzung abgebogen war. Als er sich zum Bahnhof umdrehte, sah er, wie sich die entfernten Lichter eines langen Zuges diesem näherten- laut Zeitplan hätte es sich um den Zug handeln müssen, der Zeus in die Hauptstadt gebracht hätte. Die Lichter wurden langsamer, bis sie hinter den Dächern und Mauern der angrenzenden Gebäude aus seinem Blickfeld verschwanden. Er hätte es wahrscheinlich noch rechtzeitig geschafft, wäre er nun losgelaufen- stattdessen drehte er auf dem Absatz um und ließ den Hauptbahnhof mit ausgreifenden Schritten hinter sich. Zufrieden betrachtete Hitomi den Stapel abgearbeiteter Krankenakten. Sie streckte die steifgewordenen Glieder und sah sehnsüchtig zur Wanduhr. So ruhig ihre Nachtschichten in der Regel auch waren, so langsam gingen diese auch leider um. Sie seufzte. Für die nächsten vier Stunden würde sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen, wie sie die Zeit totschlagen konnte. Auf einmal streckte eine Kollegin den Kopf zum Schwesternzimmer hinein. „Ach, hier bist du, ich hab dich schon überall gesucht.“, sagte die Schwarzhaarige erleichtert und trat vollends ins Zimmer. Hitomi runzelte die Stirn. „Was gibt es denn so dringendes?“ Die Frau deutete zurück auf den Flur. „Gerade ist dieser junge Mann an der Rezeption aufgetaucht- du weißt schon, dieser Blasse, der-“ Sie stockte, als Hitomi in diesem Augenblick abrupt von ihrem Stuhl aufstand und sie aus geweiteten Augen ansah. „Hat er gesagt, was er will?“, fragte die Jüngere schnell. Die Angesprochene blinzelte und zuckte hilflos mit den Schultern. „Nein, aber er meinte, dass er unbedingt mit dir unter vier Augen sprechen müsste.“ Mehr hörte Hitomi nicht. Sofort drängte sie sich an ihrer Kollegin vorbei und ließ sie an Ort und Stelle stehen. „Ich hab ihn ins dritte Behandlungszimmer gebracht.“, rief sie der Blonden noch hinterher, dann war Hitomi aus ihrem Blickfeld verschwunden. Hitomi musste sich bremsen, um nicht durch die Gänge der Station zu rennen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie die breite Tür mit der richtigen Aufschrift erreichte und diese aufriss. Niemand war zu sehen. Schwer atmend betrat sie das Zimmer und sah sich um. Das grelle Deckenlicht brannte, die Jalousien vor den kleinen Fenstern waren zugezogen und die Untersuchungsliege, die in der Mitte des Raumes stand, war akkurat und steril vom letzten Einsatz hinterlassen worden. Gerade wollte sie seinen Namen rufen, als plötzlich die Tür, durch die sie gekommen war, in ihrem Rücken zufiel. Etwas erschrocken wirbelte sie herum und entdeckte ihn vor der Tür stehend, die eine Hand immer noch auf der Klinke ruhend. Sie versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen und ging, die Hände in den Stoff ihres weißen Hemdes verkrallt, ein paar Schritte auf ihn zu. Sie schluckte ihre Anspannung hinunter und holte zittrig Luft. „Was ist diesmal mit Hideki?“, fragte sie so leise, dass ihre Stimme nicht mehr als ein Hauchen war. Zeus lächelte traurig und drehte den Schlüssel laut klickend im Schloss herum. „Ich weiß es nicht.“, sagte er hilflos. „Mir gehen langsam die Ideen aus…“ Eine Sekunde lang starrten sie sich noch an, erkannten in den Augen des anderen die mühsam zurückgehaltene Sehnsucht, dann wurde Hitomis Beherrschung mit ihrer angehaltenden Luft zusammen weggetragen und wie eine Süchtige trieb es sie in Zeus` Arme. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)