Engelstanz der Dunkelheit von abgemeldet ("If people had wings...they'd be monsters") ================================================================================ Kapitel 11: Bonus: Justizmord ----------------------------- Engelstanz der Dunkelheit ____________________________ J u s t i z m o r d Er blinzelte, drehte müde den Kopf zur Seite und erhob sich widerwillig aus seinem Sessel und obwohl es bereits nachmittags war, hatte er Mühe zu erwachen. Nicht nur das dieser absurde Nachtmahr mit einer unnachgiebigen Härte gegen seine Stirn schlug, er schaffte es auch noch in die Realität überzuwechseln und sich tief in seinen Verstand zu bohren. Es kostete ihn eine erstaunliche Kraft sich endgültig von diesen widersinnigen Bildern zu lösen und das unangenehme Gefühl in seiner Brust zu verscheuchen. Aber auf eine sonderbare Weise hatte dieser Traum keinen Schrecken in ihm ausgelöst, er war böse gewesen, ja, und er hatte sein Unterbewusstsein auf eine Ebene erreicht, die er nicht für möglich gehalten hatte, aber die Angst blieb dennoch aus. Er strich sich gedankenverloren über das Kinn, verharrte einen Sekundenbruchteil in dieser eigentümlichen Pose und löste sich dann mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung aus seiner Starre. Für gewöhnlich neigte er nicht zu Alpträumen – Nicht einmal zu Träumen – wenn er es recht überlegte. Aber dieser Traum war anders gewesen, er besaß die Kraft ihn ein Stück weit ins Wachsein nachzuschleichen, er ließ kalte Schweißperlen auf seine Stirn treten, und obwohl er gegen das ohnmächtige Gefühl anzukämpfen versuchte, gelang es ihm nicht einmal im Ansatz die Fassung zu bewahren. Dieser Nachtmahr war auf eine erschreckende Weise real gewesen, die Bilder schlugen in sein Bewusstsein zurück, ohne, dass er sich dagegen wehren konnte – Jedes noch so winzige, entsetzliche Detail flackerte vor seinem geistigen Auge auf. Er bekam eine fürchterliche Gänsehaut, dann runzelte er genervt die Stirn. Aber da war noch etwas anderes, er konnte das beklemmende Gefühl einen Herzschlag eher wahrnehmen, bevor es seinen Körper wirklich befiel. Als ob nicht der Traum allein schon genügt hätte, um seinen Tag zu ruinieren, meldete sich nun auch noch seine völlig grundlose Beunruhigung wieder, die ihn über die letzten Tage verfolgt hatte. Sie wuchs zu einem Meer aus zehntausend tollwütigen Armeisen heran, die erst durch seinen Verstand krabbelten, sich dann in seinem ganzen Leib ausbreiteten und es ihm unmöglich machten sich zu beruhigen oder gar einen klaren Gedanken zu fassen. „Von nun an soll es dein Schicksal sein über die Toten zu wachen“, diese Worte hämmerten immer wieder durch seine Gedanken. War es Berufung? Fügung? Oder doch nur einer ungnädigen Laune der Natur zu verdanken, dass sein Leben diesen leidvollen, aber unabwendbaren Weg eingeschlagen ließ?! Er hatte sich längst an die ewige Dunkelheit, in der er zu leben verdammt war, gewöhnt. Es war schwer gewesenen, ja, aber nicht unmöglich – und heute, gut zehn Jahre nach dem Vorfall, war ein anderes, normales Leben für ihn undenkbar geworden. Er genoss sein Amt und die Privilegien, die sich ihm dabei boten. Er war ein Engel gewesen, oh ja. Und doch spürte er ein abscheuliches, fast unmenschliches Verlangen in sich aufkeimen, es war über die Jahre stärker geworden, es wuchs zu einer Saat des Bösen heran und zwang ihn mit sicheren Schritten an den Abgrund seiner Existenz zu treten. Drängte ihn näher zur Sünde hin und näher zum Höllensturz selbst. Er wollte nichts mehr, als Vergeltung zu üben. Das himmlische Reich, das einst seine Heimat gewesen war, sollte in einem gewaltigen Kugelhagel untergehen, die Straßen sollten zu reißenden Bächen aus reinem Blut werden und dann wollte er über sie hinwegsteigen, über die geschundenen und entstellten Kadaver seiner ehemaligen Freunde. Wenn die Zeit gekommen war, würde er über sie alle triumphieren. Verträumt fuhr er sich durch das braune, wirre Haare, er brachte seine Frisur durcheinander, glitt dann weiter über die geschwungenen Hörner an seinen Schläfen und ballte seine Hände instinktiv zu Fäusten. Sie waren längst zum Symbol seiner Qualen geworden, durch sie würde er sich auf ewig von den Engeln unterscheiden, auch wenn er versuchen würde seinem Schicksal zu entrinnen, wusste er, dass ihm die Möglichkeit auf eine freie Entscheidung verwehrt blieb, solange er sie als Zeichen seiner Sünde trug. Er hatte verloren. Den Streit, den er vor zehn Jahren aus einer Nichtigkeit heraus geführt hatte und nun musste er mit der Schande leben – Gott hatte sein Urteil gefällt. Er begann innerlich zu zittern, er spürte die Wut durch jede Faser seines Körpers rauschen, aber sie schaffte es nicht ihn zu betören – Nicht dieses Mal. Als ob er Angst vor dem Licht hätte, verharrte er einen halben Schritt, bevor er die Helligkeit erreichen konnte, im schützenden Schatten, seine Augen huschten angestrengt über die zahllosen Monitore, mit denen er die einzelnen Sektoren der Totenhalle überwachte, dann schürzte er abfällig die Lippen. „Wenn du so viel Verstand wie Mut besitzen würdest, könnte ich dich sogar als Gegner ernst nehmen“, zischte er haltlos und machte einen wütenden Schritt voran, beugte sich über die Tastatur seiner Schaltfläche und zoomte in das Gebiet hinein, in das sich sein ungebetener Gast verirrt hatte. Als ob er die Anwesenheit des Totenrichters spüren konnte, drehte sich der Dämon schlagartig herum und stierte für die Dauer von zwei, drei Atemzügen in die Kamera. Aber irgendetwas war falsch. Alles an ihm wirkte verzerrt, auf kaum in Worte zu fassende Weise anders, nicht nur dämonisch, sondern lag auf einer Schwelle, die weit an die Grässlichkeit heranreichte. In seinen Augen glaubte er keine Drohung zu lesen, sondern etwas, das weit jenseits davon lag – Es war ein düsteres Versprechen. Dann hörte er Schritte, gefolgt von einem hohlen, tiefen Geräusch. Jemand klopfte an der Tür, doch statt auf ein Wort von ihm zu warten, war die Person einfach eingetreten, - Nein! - Sie war förmlich in den kreisrunden Raum hereingeplatzt. „Sir, die Dämonen aus dem dritten Himmel sind bereits in Sektor fünf eingedrungen. Sie sind im Begriff die Seelen zu rauben“, die Hektik, die der Mondengel verbreitete, schwang nicht auf ihn über. Sie schien an ihm abzuprallen, schaffte es nicht einmal an der Oberfläche seiner Vernunft zu kratzten, mehr noch – je mehr sein Gegenüber in Rage geriet, umso ruhiger schien er im Anbetracht der wachsenden Gefahr zu werden. Für einen zeitlosen Augenblick stand er einfach nur ungerührt da, fixierte mit einer perfiden Art der Faszination den flackernden Monitor und sagte dann mit einem bissigen Unterton: „Als ob ich das nicht selbst wüsste, für wen hältst du mich eigentlich?!“ Sein Gesicht schimmerte im Schein des Bildschirms grünlich auf, das kalte Licht ließ seine Mimik für einen unendlich, gruseligen Moment tanzen – und als ob jemand flüssiges Plastik in eine Form gegossen hätte, wurden seine Gesichtszüge nicht nur unwirklich, vielmehr verzogen sie sich zu einer angstauslösenden Maske des Bösen. Seine eigenen Gedanken hatten ihn in den Bann geschlagen, sie begannen sich von dem Augenblick an zu materialisieren, als er ihn auf dem Kirchhof erblickt hatte – Widerstrebend löste er sich von dem Bild und tat eine übertriebene Bewegung auf seinen Untergebenen zu. Schlagartig, und ohne Vorwarnung stoppte er nur eine Handbreit vor dem Mann. Sein Gesicht war verschroben. Böse. Und hart. „Das reicht!“, fauchte er und entsicherte seinen Flammenwerfer, „Wenn du wirklich glaubst, dass ich dich damit durchkommen lassen werde, dann hast du dich geschnitten! Ich werde deinen schmächtigen Körper mit einer Salve aus meinem Gewehr für immer in Stücke reißen! FÜR IMMER – VERSTEHST DU?!“ Er spürte sofort, dass er dabei war, die Kontrolle über sich zu verlieren, aber diesmal würde er dem innerlichen, frevelhaften Trieb nicht die Oberhand gewinnen lassen, nicht jetzt. Wo sein Feind irgendwo dort draußen war. Zwar war es nicht das erste Mal gewesen, dass das Dämonenherr unter Myras Führung versuchte in die Totenwelt einzudringen, aber noch nie hatten sie es gewagt am helligten Tag sein Reich zu überfallen und sich an den verstorbenen Seelen zu vergehen. Er verzog angewidert das Gesicht. „Noch wissen wir nicht, wie viele von ihnen dort draußen sind, lasst die Tore niemals unbewacht – Denn genau darauf wird unser Feind es abgesehen haben. Sie wollen in die Totenhalle eindringen und das müssen wir um jeden Preis verhindern“, zischte er, seine Worte waren hart wie Eis und ebenso schneidend. Er beobachtete, wie der Mann mit einem sachten Nicken antwortete, dann fügte er in einem herausfordernden Ton hinzu, „Ihr müsst sie töten, bevor sie die Totenhalle erreichen können, nehmt keine Rücksicht – Sonst werden sie euch töten! Dämonen kennen keine Skrupel und noch weniger kennen sie so etwas wie Gnade oder Ehrgefühl. Sie sind Monster... kranke Monster! Das Töten liegt in ihrer Natur.“ Ein weiterer Gedanke kam ihm, und es war vielleicht der Unheimlichste von allen: Möglicherweise – und er traute sich nicht den Gedanken zu Ende zu bringen – unterschieden sich die Engel in Wirklichkeit gar nicht so stark von der grässlichen Dämonenbrut. Aber dieser Gedanke, so unvermittelt, wie er auch gekommen war, schien mehr als nur absurd zu sein. Er schüttelte heftig den Kopf, als wolle er diese Erkenntnis einfach abschütteln – Es gelang ihm nicht. Der Himmel hatte sich zugezogen, auch wenn seine Sinne geschärft waren, blieb die Dunkelheit absolut. Es war nicht nur überraschend schnell dunkel geworden, stellte der Totenrichter mit einem heftigen Gefühl der Verärgerung fest, vielmehr schien es so, als ob der Tag von einer unheimlichen Macht vollkommen verschluckt worden wäre und ein schwarzes, festes Leichentuch über den Horizont gespannt hätte. Sein subjektives Zeitgefühl blieb aus. Es konnten Minuten, Stunden oder Tage vergangen sein, seit er die Totenhalle verlassen und auf den Kirchhof gelangt war, aber er spürte, dass nichts davon stimmte. Ein Zufall?! Nein! Er glaubte nicht daran! „Wir teilen uns auf!“, sagte der Totenrichter knapp und winkte mit dem Lauf seiner Waffe erst nach rechts, dann nach links, „Wenn wir sie erst umzingelt haben, gibt es kein zurück mehr. Wir werden sie wie Kakerlaken in die Enge treiben und töten.“ Die Wolkendecke über ihnen war komplett geschlossen, es roch nach Regen, der spätestens in fünf Minuten losbrechen würde. Auf der anderen Seite des Gebietes konnte er ein Streulicht erkennen, es durchschlug nicht nur die Finsternis, sondern sorgte im gleichen Atemzug dafür, dass die Dunkelheit noch totaler und zusehends fest wie Stein wurde. Ihr Feind musste ganz in der Nähe sein. Er leckte sich amüsiert über die Lippen. Die Jagd hatte nicht begonnen, wie es schien, war sie bereits beendet gewesen, als er den Friedhof betreten hatte. Es gab kein Entkommen mehr. Trotz des bleichen Mondlichtes, das mit feinen, kaum zu erkennenden Streifen durch das Wolkenmeer schlug und die Welt, die darunter lag, in eine böse, unheilverkündende Aura hüllte, blieb die Dunkelheit absolut – Aber etwas hatte sich verändert. Als ob seine Umgebung elektrische Signale auf einer unhörbaren, tiefen Frequenz ausstrahlte, konnte er die Bäume und Sträucher vor sich spüren. Auch die Bereiche dazwischen waren nicht leer. Er konnte das Gras spüren, das feuchte Laub, das der letzte Regen von den Ästen gespült hatte, dann die Sinfonie des Lebens, das sich hier überall tummelte. Mäuse, Armeisen, Käfer und auch ihn – Seine Beute. „Cay, denkst du wirklich, dass das eine schlaue Idee war, ohne Ren auf Seelenjagd zu gehen?!“, das ungute Gefühl, das Mochi in den letzten Minuten beschlichen hatte, wurde zu einer Bestätigung. „Mach dir mal nicht ins Hemd, der Richter wird nicht einmal wissen, dass wir hier waren und ein paar Seelen mitgenommen haben“, spottete Cay, „Am Tag pennt der, das weißt du doch.“ „Das ist doch nur ein dummes Gerücht“, murmelte Mochi, seine Nervosität wurde zu einer schleichenden Angst, dann zu einem rasenden Orkan der Panik „Du hast den Ammenmärchen doch nicht etwa wirklich glauben geschenkt, oder?!“ Mochis Augen weiteten sich, die schwarzen Höhlen flackerten blutrot auf, dann trieben lodernde Flammenfinger aus den riesigen Löchern und breiteten sich schließlich um seinen gesamten Körper aus. Fast wie um seine Befürchtung zu bestätigen, zuckte Cay mit den Achseln, „Ich habe mir ehrlich gesagt keine Gedanken darüber gemacht.“ „Ist das dein Ernst, Boss?!“, er spürte, wie er von einem Schauer der Fassungslosigkeit ergriffen wurde, „Lieber Gott, warum werde ich mit so einem dummen Meister bestraft...“ „Liegt wahrscheinlich daran, weil wir alle Dämonen sind“, entgegnete Cay, „Du musst also mit mir leben, ob du es nun willst oder nicht – Gott denkt nicht einmal im Traum daran dich von mir zu erlösen.“ Dann geschah es. Der Friedhof begann sich zu verändern. Noch ehe er sein Ziel wirklich erreichen könnte, erlosch die schmale Mondsichel am Himmel. Cays Herz schlug hart gegen seine Brust, es wurde von einer Beunruhigung erfüllt, die an Panik grenzte, dann stürzte er los. Alle Farben, die sich im Kegel des Mondlichts befanden, versiegten mit einem Schlag, sie bewegten sich stromartig auf das Zentrum des Kirchhofs zu, als würden sie von einer unheimlichen Macht aufgesaugt. Dann erkannte er es. Der Atem stockte in seiner Kehle. Die Bäume waren noch Bäume, aber da war noch … etwas anderes. Das Gras unter seinen Füßen verhärtete sich, die Halme wuchsen zu einer Milliarde feiner, spitzer Nadel heran, durchbohrten erst seine Schuhsohle, dann seine Füße selbst. Er schrie gepeinigt auf, trat instinktiv zurück und stieß erneut in das Meer aus Messern. Er konnte fühlen, wie das warme, feuchte Blut seine Schuhe durchtränkte. Die Pflanzen und Blumen hatten Farben, die zwar von der Nacht gedämpft wurden, aber trotz allem völlig fremd und beißend glühten, ja, selbst die Umrisse der Grabsteine waren falsch und endlos verdreht. Eine Flut aus nebulösen, grotesk verzerrten Schatten brach über sie hinein, sie hüpften mit leichten, schwerelosen Bewegungen durch die Lüfte, tanzten an ihnen vorbei und streiften sie mit zufälligen, aber schnellen Hieben, die ihre Haut mit jeder Berührung verätzte. Ihre Pranken blitzten in der Dunkelheit auf, an ihren Krallen klebte eine rote, säurehaltige Substanz. Sowohl Mochi, als auch Cay schrien schmerzerfüllt auf. „Mochi...“, japste Cay, „Wir müssen von hier verschwinden... Der Totenrichter weiß, dass wir hier sind...“ „Was du nicht sagst, Chef!“, sagte Mochi wütend und verdrehte provokant die Augen. Bevor Cay jedoch seine schwarzen Schwingen heraufbeschwören konnte, wurde er von einer erneuten Welle erwischt, sie brachte ihn nicht nur zum Taumeln, als ob man ihn geschlagen hätte, sondern trieb ihm im gleichen Herzschlag die Tränen in die Augen. Trotzdem zwang er sich dem Ansturm standzuhalten, er ließ eine schwere Axt aus dem Nichts erscheinen, umklammerte den Griff mit beiden Händen und hielt sie schützend über sich gestreckt. „Nana, wer wird denn gleich weinen!“, eine kalte Stimme drang in sein Ohr, doch genau in dem Moment, als es ihm möglich war, den Standort seines Gegners zu lokalisieren, verschwand sie wieder aus seiner Hörweite und schwoll erneut an – Doch diesmal schien sie aus einer völlig anderen Richtung zu stammen, „Cay, Dämon des Zorns!“, säuselte die Stimme erneut, sie schien direkt hinter seinem Ohr – Nein! In seinem Kopf – zu sein, „Ich habe den gesamten Sektor nach euch Dämonengesindel abgesucht, aber ich habe niemanden gefunden – Niemanden, außer dir! Ich hoffe nicht, dass das wirklich dein ernst ist und du völlig allein hier aufgekreuzt bist – Denn dann bist du noch dümmer, als ich dich eingeschätzt hätte.“ Ein krankes, schrilles Lachen entkam seiner Kehle, dann wurde plötzlich die Silhouette eines großgewachsenen Mannes sichtbar, der mit langsamen, genüsslichen Schritten aus dem Niemandsland der Finsternis trat, seine Waffe hob und mit einem rasselnden Geräusch den Lauf entsicherte. „Richter, du hier?!“, fauchte Cay aufgebracht, seine Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt, seine Augen huschten durch die Dunkelheit und fixierten angestrengt die Gestalt, die sich auf ihn zu bewegte. Von einer Sekunde auf die andere stand er einer Kreatur gegenüber, die weder aus dem Himmel, noch aus der Hölle zu stammen schien – Er war ein Wechselbalg ohne jede Zugehörigkeit. Und doch – würde er sich ein Wesen aus dem Garten Eden vorstellen, dann musste es genau so aussehen. Die weißen Federn schimmerten seiden in der Halbdüsternis, die filigrane Form seiner Schwingen wirkte dünn und zerbrechlich, es war ein Bild, das nichts glich, was er je gesehen hatte. „Mein Name lautet Haru, merk ihn dir endlich!“, zischte der Totenführer bösartig und richtete sein Gewehr mit einer wuchtigen Bewegung auf den Dämon und drückt ab. Aus dem rauchigen Mündungsfeuer trat eine Salve aus tausend Schüssen, sie schlugen wie ein Donnerhagel auf seinen Widersacher nieder und verfehlten ihn nur um eine Haaresbreite. Eine Welle lähmenden Entsetzens machte sich in Cay breit, sein Körper hatte reagiert, noch ehe sein Verstand ihn von dem törichten Vorhaben abbringen konnte. Er stieß sich ab, hastete zur Seite weg und sprang mit einem verheerenden, langen Satz in die gräsernen Messer unter ihm. Eine eiserne Hand legte sich nur einen Lichtblitz später um seine Kehle und drückte fest zu, sodass er nicht einmal einen Schreckensschrei ausstoßen konnte. Seine Augen weiteten sich panisch, dann drehte er seinen Kopf mit einem zornigen Ruck zur Seite, und stieß mit einem abscheulichen, markerschütternden Keuchen hervor, „Geh-von-mir-runter-Verdammt!“ Ihre Blicke trafen sich, doch diesmal schaffte Haru es nicht dem stummen Duell standzuhalten, das lodernde Rot bezwang das stürmische Braun und entschied den Kampf für sich. Mit einer fast schon übertrieben wirkenden Kopfbewegung wich er den stechenden Augen seines Gegners aus und starrte für einen endlosen Augenblick einen Punkt irgendwo in der Dunkelheit an, den nur er selbst sehen konnte. Haru begann zu halluzinieren. Er war sich nicht sicher gewesen, was er erlebte, aber es war mehr als eine Illusion gewesen, eine ganz persönliche, nur für ihn inszenierte Peep-Show, ein Videoclip in 3D und Dolby-Stereo, bei dem seine eigene, höllische Fantasie Regie führte. Er berührte den Körper unter ihm voller Verlangen, er zog den Jungen in eine vollkommene Umarmung, dann glitten seine Hände über seine weiche, beinahe samtene Haut und ließen eine prickelnde Gänsehaut zurück. Der Junge erschauderte sichtbar, aber er wusste, dass ihm seine Berührungen nicht unangenehm waren, denn die Art, wie er sich an ihn schmiegte und ihn küsste, gab ihm zu verstehen, dass auch er sich nach mehr sehnte. Er wollte ihn, er begehrte ihn schon seit so vielen, endlosen Jahren mit einer bedingungslosen Leidenschaft und nun war er bei ihm, seine Blicke galten nur ihm, ihm allein. Mit einem atemlosen Seufzen schlossen sich seine Lippen erneut um die des rothaarigen Dämons – Es war mehr als nur ein Spiel mit dem Feuer gewesen – und Himmel – es war ein gefährliches Spiel, aber er musste es versuchen, auch wenn es den sofortigen Sündenfall ihrer beiden Seelen bedeutete, sollte ihr Band je öffentlich werden. Er war ein Engel und sein Liebster eine Ausgeburt der Hölle. Die Bilder seines Traums, die er mit aller Macht zu verdrängen versucht hatte, waren mit einer Brutalität in seinen Verstand zurückgekrochen, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und dann geschah es. Noch bevor Cay wirklich begriff, dass es eine unheimliche Veränderung gegeben hatte, löste sein Widersacher seinen Griff und trat erst einen, dann erschreckend viele Schritte zurück – dann war es vorbei. Der Totenrichter hatte seine Bastion der Illusionen eingerissen, die Wände des Irrsinns toben mit einem ohrenbetäubenden Geräusch in die Tiefe und ließen die Wirklichkeit, die über mehrere Stunden friedlich geschlafen hatte, auferstehen. Der Friedhof war wieder ein Friedhof, alle Farben und Formen, die vom Wahnsinn verschroben und entstellt worden waren, glitten wieder durch die Drehtür in ihre Alptraumwelt zurück und verwandelten sich in ihre ursprüngliche Gestalt zurück. Der Terror war von dem Friedhof abgefallen wie ein alter, getragener Mantel. Was auch immer geschehen war, es hatte ihm das Leben gerettet. „War das schon alles, Richter?!“, er lächelte schräg. Es war ein gezwungenes, hysterisches Grinsen, ein letzter, verzweifelter Versuch seine Selbstsicherheit zu demonstrieren, aber er scheiterte. „Wir spielen ein anderes Mal weiter“, sagte Haru mit bebender Stimmer, die Farbe war abrupt aus seinem Gesicht gewichen, und obwohl er kreidebleich war, glühten seine Wangen in einem satten Rotton. Der Totenführer erhob seine Hand, die Schatten, die einst Cay angegriffen hatten, schlängelten sich nun gierig an dem Engel empor, sie hüllten ihn vollkommen ein, ohne ihm aber dabei Schaden zuzufügen und dann – genau in dem Augenblick, als der Totenrichter zu einer schwarzen, zuckenden Säule geworden war, fraß die Dunkelheit ein klaffendes, gespenstisches Loch in den Himmel. Der Totenrichter war verschwunden. Der Kampf war vorbei und er hatte ein Ende genommen, mit dem niemand gerechnet hätte – Es war ein aussichtsloser Kampf gewesen, ja, und auch wenn er dies wusste, trieb ihn eine unheimliche, fast schon übermächtige Kraft immer wieder an diesen Ort zurück. Benommen blickte Cay zu Mochi: „Was war denn mit dem los?! So habe ich ihn ja noch nie erlebt“, er verzog abfällig das Gesicht, „Ich frage mich echt, welche Synapse gerade in seinem Oberstübchen durchgebrannt ist... Aber ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich das überhaupt wissen will.“ „Also ich will es auf jeden Fall nicht wissen“, keckerte Mochi vergnügt. Vor mehr als zehn Jahren hatten sich reißende, mit Gift getränkte Fänge in seine Seele gegraben und seinen Verstand verpestet – hätte er damals nur gewusst, dass die Kreatur, der er blind vertraut und nachgelaufen war, nur eine materialisierte Alptraumgestalt seiner eigenen Ängste und Sehnsüchte gewesen war, hätte er ihren Lügen wahrscheinlich widerstanden und sich nicht das Leben genommen~ Der Selbstmord ist die abscheulichste aller Sünden. Und Gott, der Komponist des Lebens duldet den Plan vom Tod nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)