Spaltung des Untrennbaren von Reeney ================================================================================ Die warmen Sonnenstrahlen kitzelten in meinem Gesicht, weckten mich langsam und sanft, zusammen mit dem Zwitschern der Vögel. Es war ein wunderschöner Freitagmorgen. Ich fühlte mich voller Energie und freute mich sogar auf meinen Vormittag in der Schule. Es war nicht so, dass ich etwas gegen die Schule an sich oder gegen den Unterricht hatte, auch wenn dieser meistens mehr als langweilig war. Nein, warum ich es hasste, zur Schule zu gehen, lag daran, dass mich meine nette Mitschülerin Tamara immer niedermachen musste und das mitsamt ihrer Anhänger. Grund dafür war mein Name: Cölestine. Ich hasste meinen Namen schon immer. Schon als ich ganz jung war, haben alle über den Namen nur gelacht und mich deswegen schief angesehen. Ich mutierte zum Einzelgänger, mied selbst meine Familie, was meinen Eltern keineswegs gefallen hatte. Immerhin hatten sie mir diesen Namen gegeben, weil er sich von dem lateinischen Wort für „himmlisch“, „caelestis“, ableitete und sie es als ein Wunder Gottes ansahen, dass sie nach sechs Fehlgeburten doch noch ein gesundes Kind zur Welt bringen konnten. Als sie also sahen, wie unglücklich ich mit meinem Namen war, sorgten sie dafür, dass auf den Klassenlisten immer nur Tine, anstelle von Cölestine, stand. Da wir eh ein paar Jahre später umgezogen sind, kannte man mich von da an nur noch als Tine Martinson und mein Leben verlief ziemlich normal. Alles was ich noch tun musste, um meinen schrecklichen Vornamen zu verbergen, war dafür zu sorgen, dass jedenfalls keiner meiner Mitschüler meine Zeugnisse in die Hand bekam, in denen mein vollständiger Name aus rechtlichen Gründen stehen musste. Doch genau das war Ende des letzten Schuljahres passiert und seitdem schikanierten mich Tamara Sommers und ihre Clique täglich. Aber an diesem Morgen konnte selbst der Gedanke, dass meine Peiniger heute wieder in der Schule auf mich warten würden, mir meine gute Laune nicht nehmen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dieser Tag für mich ein Glückstag sein sollte. Auf dem Weg zur Schule merkte ich jedoch schon, dass es außer mir kaum jemanden gab, der bei einer solch fröhlichen Stimmung war. Ich fragte mich, was wohl los sei und lange brauchte ich nicht auf eine Antwort zu warten. „Tine!“, rief mir Joshua, der schwarzhaarige Chaot aus meiner Klasse zu, als ich gerade das Schulgebäude betreten hatte. Er war außerdem mein Cousin und bester Freund. „Hey Josh“, begrüßte ich ihn, als ich neben ihm zum Stehen kam. Wie die meisten wirkte auch er ziemlich aufgeregt. „Sag mal, habe ich etwas verpasst?“, fragte ich schließlich nach, während wir unseren Weg zum Klassenzimmer langsam fortsetzten. Mit großen Augen starrte er mich erst ungläubig an, bevor er breit grinste. „Du kriegst auch nichts mit, oder?“ Dann wandte er seinen Blick von mir ab. „Tamara wurde ermordet.“ Abrupt blieb ich stehen. Ich hasste sie, ohne Zweifel, und in den letzten Wochen waren ihre Schikanen sogar so weit gegangen, dass ich ihr mehrmals den Tod gewünscht hatte, doch war das noch etwas ganz anderes, als wenn sie, ein 17-jähriges Mädchen – egal, ob Biest oder Engel – ermordet wurde. Wer würde eine so grauenhafte Tat nur tun? „Das… das ist kein Scherz, oder? Von wem?“, hakte ich unsicher nach, obwohl sein Gesichtsausdruck mir die Antwort bereits mitgeteilt hatte. „Nein, kein Scherz und man weiß es nicht“, gab er nur leise bei, während ich mir auf die Lippe biss. Das war also der Grund, wieso niemand die gute Laune mit mir teilte. In dem Augenblick kam ich mir auch selbst irgendwie schuldig vor, dass ich so glücklich war, während eine Mitschülerin, auch wenn sie meine Feindin war, ihr Leben verloren hatte. Aber eigentlich konnte ich doch nichts dafür. Bis gerade eben hatte ich ja nicht von ihrem Tod gewusst. Der restliche Schultag war ziemlich trüb verlaufen. In unserer Klasse herrschte eine deprimierte Stimmung. Jeder Lehrer betrauerte Tamaras Verlust und wollte uns Hoffnung zusprechen, um uns ihren Abschied zu erleichtern. Auch mich ließ ihr Verschwinden nicht kalt, wenngleich es auf der anderen Seite doch eine Erleichterung für mich bedeutete. Ihre Anhänger würden ohne ihr Oberhaupt kaum auf mich losgehen. Eigentlich konnte ich wirklich etwas glücklich sein, doch wollte ich mich nicht an dem Tod einer anderen Person erfreuen, besonders wenn dieser so grausam war. Dem Mädchen wurde das Gesicht zerkratzt, die Kehle abgeschnürt und dann hatte man sie aus dem Fenster geworfen. Ich wusste nicht, ob dieses Gerücht wirklich der Wahrheit entsprach, doch schien meine Peinigerin auf keine angenehme Art gestorben zu sein, und die Vorstellung, es könnte jedem von uns genauso passieren, bereitete selbst mir Unbehagen. Immerhin waren weder Täter, noch Motiv bekannt. Das Wetter dagegen bildete einen starken Kontrast zu der bedrückten Stimmung, die sich über die ganze Stadt auszubreiten schien. Die Sonne stand hoch am Himmel, der in einem endlosen, herrlichen Blau uns zulachte. Es war angenehm warm, ein wunderschöner Frühjahrstag eben. Ich war froh, dass meine Familie und ich heute zu meiner Tante fahren würden, die morgen ihre Hochzeit feiern wollte. Im Gegensatz zu meiner anderen Tante, Joshuas Mutter, lebte sie einige Kilometer entfernt, weswegen wir mehrere Stunden mit dem Auto zu ihr brauchten. In dem kleinen Städtchen, in dem sie lebte, würde die Stimmung sicher viel besser sein als hier und mit dieser Vermutung sollte ich nicht falsch liegen. Es versprach also eine gute Ablenkung zu werden. Als wir am frühen Abend das große Haus, in dem meine Tante Simone zusammen mit ihrem Verlobten wohnte, erreichten, herrschte dort schon Feststimmung. Außer meinen Eltern und mir waren noch Joshua und seine Eltern vor Ort. Seine Mutter war, wie meine, eine Schwester der Braut. Alle anderen Gäste sollten erst morgen eintreffen, da diese entweder nicht so weit zu fahren hatten, oder nicht mehr im Hause der Verlobten übernachten konnten. Generell war das Haus riesig und man konnte es wahrscheinlich schon als Villa bezeichnen. Da meine Tante Anwältin war und ihr Verlobter ein angesagtes Lokal als Chefkoch führte, hatten sie bei der Finanzierung keinerlei Schwierigkeiten. Sein Essen musste wirklich hervorragend schmecken und ich freute mich schon darauf, es beim Abendessen selbst bewerten zu dürfen. Bis jetzt hatten wir nämlich noch nie eine Gelegenheit dazu gehabt, weil er und meine Tante immer zu beschäftigt waren, als dass sie Zeit für Besuch gehabt hätten. So war es heute auch das erste Mal für uns, dass wir ihren Lebensgefährten zu Gesicht bekamen. Das Erste, was dementsprechend geschah, war also eine kleine Vorstellungsrunde. Lange hielt meine Freude wieder nicht an. Ihr Verlobter, Noha, machte einen ziemlich schlechten ersten Eindruck auf mich. Seine Haare waren ungepflegt, genauso wie sein Bart und unsere Sprache beherrschte er auch nicht perfekt und sie war voller Akzent, was auf seine französische Herkunft zurückzuführen war. „Simone, wieso hast du nicht mir gesagt, was für eine belle Enkelin du hast?“, äußerte er sich, als wir auf mich zu sprechen kamen. Ich erwiderte nur mit einem matten Lächeln, bevor wir dann auch schon in das große Esszimmer gingen, um uns dem Abendessen zu widmen. Das war auch nicht das Wahre. Es war viel zu viel und alles war zu süß und das gekochte Gemüse schon längst wieder kalt. Es widerstrebte mir, das als Gourmetklasse zu bezeichnen. Doch das Schlimmste war, ich musste neben Noha sitzen. Kaum hatte ich meinen Teller geleert, häufte er ihn mir wieder unter den Worten „Iss du plus, dann du wirst plus bezaubernd, ma belle.“ Also zwang ich noch einen Teller in mich hinein, gefolgt von einer viel zu zuckerhaltigen Nachspeise namens Crème brûlée. Ich war mehr als froh, als das Essen endlich vorbei war und Joshua und ich noch etwas die Villa besichtigen gingen. „Er passt nicht zu Simone“, äußerte sich mein Cousin, woraufhin ich nur schnell zustimmend nickte. „Mais oui, er ist perfecte“, äffte ich ihn nach. Joshua lachte kopfschüttelnd. „Es heißt parfait“, korrigierte er mich, was ich mit einem Grinsen und einem neckenden Stoß in seine Rippen erwiderte. „Ach lass mich doch mit deinem Französisch in Ruhe!“ Wir gingen in ein weiteres Stockwerk, als sich plötzlich mein Magen umdrehte. Ich spürte, wie mir das Essen langsam wieder hoch kam und gab noch schnell ein knappes „Sorry“ von mir, ehe ich durch die Gänge rannte, um nach einer Toilette zu suchen. Ich fand keine, konnte den aufkommenden Inhalt nicht mehr zurückhalten und übergab mich schließlich auf dem Treppenabsatz. Wenig später fanden mich die anderen Anwesenden im Haus dort kniend vor. Meine Mutter entschuldigte sich sofort, während Noha meinte, das sei doch nicht schlimm und man könne es ja schnell sauber machen. Daraufhin holte er sich einen Lappen und wischte den Marmorboden vor meinen Füßen. „Da verträgt Madmonsielle Cölestine das gute Essen wohl nicht. Trés bedauernswert“, seufzte er, bevor er auch schon ein übertrieben freundliches Lächeln aufsetzte und mir bemitleidend über die dunkelbraunen Haare strich. Ich konterte mit einem finsteren Blick, ehe ich aufstand, mich höflich bei meiner Tante entschuldigte und in das Zimmer verschwand, das man mir für die Nacht hergerichtet hatte. Bei ihren Verlobten hatte ich mich aus folgenden Gründen nicht entschuldigt: erstens, weil er mich Cölestine nannte, zweitens, weil ich ihn generell nicht mochte und drittens, weil mir seine verhätschelnde, französische Art zuwider war. Ich warf mich auf das weiche Bett und starrte wütend zur Decke. „Warum muss ich nur immer von solchen Ärschen umgeben sein? Können die nicht einfach aussterben?!“, murmelte ich gereizt vor mich hin. Dieser Noha ging mir wirklich auf die Nerven und einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob mir sein Tod vielleicht sogar weniger ausmachen würde als der von Tamara. Es war eine interessante Frage, aber eine Antwort wollte ich darauf eigentlich nicht haben. Meinen Schlaf hatte ich voller Wut auf den Bräutigam begonnen, doch, wie auch gestern, erwachte ich am nächsten Morgen mit fröhlichster Laune. Das Wetter war sogar noch schöner als gestern. Es war der perfekte Tag für eine Hochzeit. Ich holte ein hübsches Kleid hervor und machte mich auf dem Weg zum Bad. Ich hatte Glück, dass es im Moment von niemand anderem benutzt wurde und ich so gleich duschen konnte. Dennoch beeilte ich mich, denn bis zur Trauung in der Kirche waren es nur noch drei Stunden und vielleicht wollte noch jemand anderes das Bad in Anspruch nehmen, auch wenn es sicherlich nicht das Einzige in dem großen Anwesen war. Nachdem ich fertig gewaschen, angezogen, frisiert und geschminkt war, ging ich in das Esszimmer im Erdgeschoss. Dort erwartete mich eine in Tränen aufgelöste Simone, die von beiden Seiten von ihren Schwestern getröstet wurde, sowie eine ziemlich deprimiert dreinblickende, restliche Verwandtschaft. Das Ganze erinnerte mich stark an gestern und sofort machte sich ein schlechtes Gefühl in meinem Magen breit. Vorsichtig wandte ich mich an Joshua, der nur ein paar Meter von mir entfernt stand. „Was ist denn passiert?“ Er sah mich seufzend an. „Noha ist tot“, flüsterte er mir zu und ich zuckte zusammen. Irgendwie kam ich mir wirklich verarscht vor. Gestern Tamara, heute Noha… Wer wohl morgen dran sein würde? Ich lachte ungläubig über meinen Gedanken und zog somit die Aufmerksamkeit der versammelten Familie auf mich. Es waren finstere Blicke, die mein Lachen sofort wieder verstummen ließen. „Tut mir leid…“, murmelte ich und wollte eigentlich schon wieder den Raum verlassen, als Simone das Wort erhob. „Das warst doch du! Gib es zu! Du hast meinen Geliebten Noha ermordet!“, brüllte sie so laut, dass ihre Worte an den Wänden wiederhallten. Wie versteinert sah ich sie an. Warum unterstellte sie mir das? Nur weil ich gelacht hatte? Aber das war doch gar nicht mal aus Schadenfreude. „W… was?“, stotterte ich reichlich verwirrt. Wie kam sie auch auf sowas Absurdes? „Außer dir, hatte niemand einen Grund dazu!“, schrie sie mich an und ich ließ meinen Blick zu den anderen Anwesenden wandern. Sie alle sahen stumm zwischen mir und Simone hin und her. „Es tut mir leid. Beruhig dich“, flüsterte meine Mutter ihrer Schwester zu, was in der Stille dennoch deutlich zu hören war. Mit großen Augen sah ich zu ihr. Sollte das heißen, dass auch sie glaubte, ich sei für den Mord verantwortlich? Aber das machte keinen Sinn. Welchen Grund sollte ich denn haben? Ganz davon abgesehen, dass ich zu so einer Tat niemals fähig wäre. „Mom?“, äußerte ich mich knapp und ihre Reaktion war ein schneller Blick in die andere Richtung als die, in der ich von ihr aus gesehen stand. Also hatte ich Recht. Für sie war ich ebenfalls der Täter. Ich, ihr „himmlisches“ Kind! Ich schüttelte entsetzt den Kopf und rannte davon. Joshua folgte mir, packte mich in der Eingangshalle am Arm und blieb stehen, was ich etwas später ebenfalls tat. „Tine, auch du solltest dich beruhigen“, sagte er sanft, während er mich etwas näher an sich zog und meinen Kopf zu sich drehte. Nur widerwillig sah ich ihn an, während Tränen aus meinen Augen rannen. Ich war enttäuscht, gekränkt und wütend. Nohas Tod war auch für mich eine Belastung. Er war die zweite Person, die ich kannte, die innerhalb der letzten zwei Tage starb. Wie auch Tamara, hatte ich ihn nicht gemocht, aber deswegen war ich noch lange keine Mörderin! Und diese Unterstellung von meiner eigenen Familie, meinen eigenen Eltern, war einfach zu viel. Sie mussten mich doch kennen, mussten wissen, dass ich zu sowas nie in der Lage wäre. Warum also verdächtigten sie mich? Warum vertrauten sie mir nicht mehr? „Den.. denkst du… etwa…“ Meine Stimme zitterte genauso wie auch mein ganzer Körper und ich war froh, dass ich meinen Satz nicht mal ganz aussprechen musste, bis Joshua wusste, was ich wissen wollte und mir eine Antwort gab. „Nein.“ Es war nur ein Wort, aber es ließ mich kurz zufrieden lächeln. „Danke“, äußerte ich mich fast lautlos und lehnte mich gegen ihn, worauf er mir seine Arme um die Hüfte legte. Es war schön, dass wenigstens er mir glaubte und seine Nähe schaffte es tatsächlich, mich ein bisschen zu beruhigen. Dennoch saß der Schmerz in meiner Brust tief und fest. Eine frische Wunde, zugefügt von den Klingen des Verrates, des Vertrauensbruchs der Eltern an ihrem eigen Fleisch und Blut. „Komm, leg dich dort drüben auf die Bank und ruh dich aus“, ertönte Joshuas Stimme an meinem Ohr und ich nickte knapp, bevor ich mich von ihm zu der Bank führen ließ. Ich legte mich auf sie und schloss die Augen, um so weitere Tränen zurückzuhalten. „Ich glaub, im Moment wär es mir sogar gleich, wenn auch noch meine Eltern sterben würden…“, seufzte ich vor mich hin. Im Moment fühlte ich mich wirklich so. Niemals hätte ich gedacht, dass mich meine Eltern so wenig kennen würden, dass sie mir einen Mord zutrauten und dann noch einen an einem Bräutigam, kurz vor seiner Hochzeit. An jemanden, der fast schon selbst zur Familie dazugehörte. Solche Beschuldigungen taten weh und ich wollte für Personen, die mir das unterstellten, nichts empfinden. „Sag sowas nicht“, kommentierte Joshua nur, während er mir zärtlich über die Haare strich. Ich zuckte mit den Schultern, dann ließ ich alles einfach an mir vorbeigehen und versuchte mich wieder zu beruhigen. „Tine!“, vernahm ich den entsetzten Schrei Joshuas. Ich schreckte auf, ließ meinen Blick durch den Raum gleiten. Ich stand wieder im Esszimmer. Ein paar Stühle lagen umgekippt am Boden, so wie auch die Tischdecke und einige Dekorationen. Um mich herum standen in einigem Abstand meine Verwandten. Vor mir lag meine Mutter. Niedergestochen. Aus Schreck sprang ich einen Schritt zurück. „Mom!“, rief ich entsetzt. Ich wollte mich zu ihr knien, sie rütteln und ihr sagen, dass sie wieder aufwachen sollte, doch konnte ich es nicht. Der Anblick der riesigen Blutlache gefiel mir gar nicht. Ob es schon zu spät war? War sie tot? Bei diesem Gedanken musste ich hart schlucken. Ich starrte sie an, aber von ihr kam keine Regung. „Ist sie wieder normal?“, fragte Joshuas Mutter ängstlich, worauf ich den Blick zu dieser hob. Sie zitterte am ganzen Leibe, ihr Gesicht war bleich und in ihren Augen stand die Panik. Die übrigen Anwesenden machten keinen besseren Eindruck. „Hoffen wir es“, gab mein Vater bei. „Was ist passiert?“, wollte ich wissen, doch anstatt eine Antwort zu bekommen, tauschten meine Verwandten nur skeptische Blicke. Ich starrte wieder zu meiner Mutter. Von wegen, es machte mir nichts aus, wenn sie starben! Es riss ein nur noch tieferes Loch in mein Herz. Warum starben auf einmal so viele Menschen, die ich kannte? Wer hatte das getan? Ich konnte es nicht sagen, aber die Worte meiner Tante erklangen erneut in meinem Kopf. „Das warst doch du!“ Konnte das vielleicht sein? War ich das? Unmöglich! Was bildete ich mir da bloß ein? Außer unüberlegt ihnen den Tod gewünscht zu haben, hatte ich doch nichts getan und soweit ich wusste, konnte das alleine noch lange niemanden umbringen. Aber wieso schienen dann alle Angst vor mir zu haben? Und warum konnte ich mich nicht daran erinnern, was sich erst vor wenigen Minuten abgespielt haben sollte? Ich hatte doch nicht geschlafen. Ich fiel auf die Knie. Erneut rollten Tränen über meine Wangen. Das alles war zu viel für mich. „Tine, erinnerst du dich denn nicht?“, richtete sich Joshua mit stockender Stimme an mich. Ich schüttelte nur den Kopf. „War… war ich das?“, schluchzte ich, während ich wieder zu ihm aufsah. Dieser Gedanke hatte sich in meinem Kopf gefestigt. Ich konnte mir zwar nicht erklären, warum ich das tun sollte oder gar wie, aber eine bessere Erklärung fiel mir nicht ein. Joshua sah an mir herab, auf meine Hände. Zögernd folgte ich seinem Blick und jetzt erst bemerkte ich das scharfe Küchenmesser, das in meiner linken Hand ruhte. Es war wie in Blut getränkt und auch meine Hände, mein schönes Kleid hatten etliche Blutspritzer abbekommen. „Verstehe“, gab ich fast lautlos von mir. Meine Fragen waren immer noch alle da, bis auf die, wer der Mörder war. Ich schluckte. Ich hatte meine Mutter tatsächlich getötet. War ich dann vielleicht sogar für Nohas Tod verantwortlich? Ich verstand das nicht. Wenn ich der Mörder war, wieso habe ich dann nichts von meinen Taten mitbekommen? Das machte doch wirklich keinen Sinn. Jedoch konnte ich mich darüber nicht aufregen. Ich wusste, dass ich die Verantwortliche war, dass ich Menschen, das Leben genommen hatte. Auch einem Menschen, den ich liebte. Ich wusste nicht, wieso und wie und vielleicht war ich deswegen eine Gefahr, der ich selbst niemanden aussetzen wollte. Die Vorstellung, auch noch andere zu töten, bereitete mir Sorgen und in meinen Sorgen und in der Verzweiflung sah ich nur einen Ausweg. Ich hob das Messer an. Meine Hand zitterte und um es ein bisschen ruhiger führen zu können, umfasste ich es auch mit meiner zweiten Hand. Ein letztes Mal sah ich zu Joshua, meinem Vater und den anderen, die meine Bewegungen genauestens verfolgten. Ja, es war das Beste so. Ich wollte keinem mehr weh tun und wer konnte schon sagen, ob ich nicht genau das tun würde? Ich lächelte kurz, dann schloss ich die Augen und bevor ich es mir anders überlegen konnte, rammte ich mir das Messer in die Brust, dorthin, wo mein Herz sein müsste. Ich vernahm noch ein schreiendes „Nicht“, das sich Joshua zuordnen ließ, bevor ich mein Bewusstsein verlor. Es war angenehm. Ich glaubte, noch nicht tot zu sein, aber ich spürte auch keinen Schmerz, sowie auch meine restlichen Sinne nicht zu arbeiten schienen. Kam man sich so vor, wenn man bewusstlos war? So schnell sterben würde man ja nicht, oder? Eigentlich war mir das egal. Für mich hatte nichts mehr eine Bedeutung. „Bist du jetzt glücklich?“, ertönte eine Stimme. Es war meine, nur viel rauer als sonst. Sie kam aus keiner Richtung. Sie war einfach da. „Wer bist du?“, entgegnete ich, auch wenn ich glaubte, es zu wissen, doch meine Antwort hätte wieder jeder Logik widersprochen. „Ich bin du“, sagte die Stimme. Es war genau das, was ich mir gedacht habe. „Du frägst dich, wie das möglich ist“, äußerte sie sich, als könne sie meine Gedanken lesen. Nun, wenn diese Stimme auch von mir kam, dann war das sogar logisch. Irgendwie. Sie lachte. „Cölestine Martinson, das bin ich und das bist du. Nein, du bist Tine Martinson.“ Ich verstand nichts. Absolut gar nichts. „Du wolltest deinen Namen loswerden, aber man kann nicht einfach so die Dinge von einem trennen, die einem nicht gefallen. Du hast dich von deinem vollständigen Namen getrennt und damit auch von den Gefühlen, die er mit sich brachte, sowie einen Teil von dir selbst. Verschwunden ist dieser Teil nicht. Du hast es nur in dir versteckt und aus deinen negativen Gefühlen entstand ich. Ich bin du. Ich bin der Teil von dir, den du nie beachtet hast, der die ganze Zeit über geschlafen hat, bis jetzt“, erklärte sie weiter. Ich konnte dem immer noch nicht ganz folgen. Es machte keinen Sinn, auch wenn ich glaubte, es zu durchschauen. Wie sowas möglich war, stand zwar immer noch nicht für mich fest, aber langsam fügten sich die Puzzleteile zusammen und auch wenn ich das „Wie“ nicht beantworten konnte, es verlangte nach keiner Erklärung. „Dann warst du das. Du hast meine Mutter getötet“, stellte ich fest und ein Lachen hallte durch den unendlichen Raum, in dem ich mich befand. Ich wertete es als Ja. „Geht Noha dann auch auf deine Rechnung?“ „Noha, Tamara und es sollten noch viel mehr sein…“ „Aber wieso?!“, unterbrach ich sie und einen Moment herrschte Ruhe, absolute Stille. „Weil du dir ihren Tod gewünscht hast. Ich habe nur getan, was der Teil von dir, der du bist, nicht tun konnte. Ich bin du und auch wenn es lange gedauert hat, bis ich auf unseren Körper Einfluss ausüben konnte, wir sind ein und dieselbe Person und so kann ich tun, was immer ich tun will.“ Ihre letzten Worte klangen nicht mehr so, als sei sie eine zweite Stimme, sondern kamen sie von meinem eigentlichen Ich. Was ich damals von mir abgestoßen hatte, kehrte wieder zu mir zurück. Zu mir, Cölestine Martinson. Danach verschwand auch mein Denken, gefolgt von meinem restlichen Ich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)