Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Kyrie erhob sich von ihrem Platz im großen, geräumigen, mit Sitzgelegenheiten voll gestellten Vorleseraum. Sie räumte ihre Notizen zusammen und stopfte sie alle in ihre Tasche. Die Prüfungen rückten immer näher und näher. Bis zum Ende des Wintersemesters war zwar noch Zeit, aber sie wollte so schnell wie möglich das Studium beenden – und das bedeutete, dass sie es ja nicht vermasseln durfte. Als sie sich in der Universität eingetragen hatte, hatte sie sich damit abgefunden, bestimmt nicht mehr als eine Freundin zu haben, mit der sie vielleicht hin und wieder lernen konnte … Aber das Schicksal hatte ihr da einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und ihr Herz verkündete ihr frohlockend, dass dieses Leben so viel besser war, als ihr vorheriges. Vielleicht hatte sie zuvor bessere Noten gehabt. Vielleicht hatte sie mehr Zeit für sich allein gehabt – aber was sie bestimmt nicht hatte, war so viel Spaß, Freude, Freundschaft und Erfülltheit! Im Himmel war einfach alles besser. Und auf der Erde hatte sie schlussendlich auch einen Freund, dem sie vertraute. Ray war anders als ihre ganzen bisherigen Freunde. Nicht nur der Umstand, dass er ein Mann war, sonderte ihn ab, sondern auch sein Umgang mit ihr … und ihre Beziehung. Er war ganz bestimmt nicht auf Nathan fixiert. Und das änderte schon einiges. „Ich habe gehört, er sei gestorben!“, ertönte die aufgeregte Stimme einer ihrer Mitstudentinnen, „Bei einem Meeresunglück ums Leben gekommen!“ „Ja, dass er nicht sicher angekommen sei, habe ich auch gehört“, stimmte ihr eine andere zu. „Ich habe gehört, Nathan sei in die Südliche gezogen, weil er dort seine längst verlorene Liebe zurückerobert!“, mischte ein Mann aus ihrem Lehrgang mit. „Seine einzige Liebe bin ich!“, ertönte Melindas erzürnte Stimme, „Er hat es mir selbst gesagt! Unter Tränen!“ Melinda war weiterhin bei der Nathan anhimmelnden Gruppe, da sie in einer – wenn auch kurzen – Beziehung mit ihm gewesen war. Sie hatte Kyrie keines Blickes mehr gewürdigt, seit Nathan verschwunden war. Unerreichbar – für sie. Ungewohnter Triumph – bösartiger Stolz – keimte in Kyrie auf. Endlich hatte sie etwas, wonach all diese Leute nur trachteten! Vor allem Melinda … Was hatte es ihr da genützt, sie so zu verletzen? Was nur? „Hey, die Einsame starrt dich an“, erklang ein Murmeln in der Gruppe. Kyrie wandte sofort das Gesicht ab und marschierte nach draußen. Sie wollte zu Ray. „Seit Nathan weg ist, ist sie sogar noch arroganter – und das, obwohl sie nicht einmal mehr Grund dazu hat!“, maulte Melinda gut hörbar. „Vielleicht ist sie noch in Kontakt mit ihm?“, mutmaßte ein anderer. „Mit ihr – und nicht mit mir? Also bitte!“, keifte die ehemalige Freundin. Und danach schloss Kyrie die Tür hinter sich und eilte durch die Gänge. Was kümmerte es sie, was diese Leute von ihr dachten? Sie sollten sie in Ruhe ihr Studium machen lassen. Sie glaubte zumindest an die Grundsätze, die sie hier lernten. Nicht so wie diese … anderen … Einige waren doch ganz in Ordnung, aber diese eine Gruppe nervte sie insbesondere. Und von dieser Gruppe Melinda, die ihr noch immer so ähnlich sah. So, als wollte sie ihr weiterhin die Geschehnisse unter die Nase reiben. Aber Kyrie hatte sich in diesen zwei Wochen geändert. Sie war stärker geworden. Auch wenn Melinda das nie erfahren würde. Ehe sie sich versah, verließ sie das Gebäude und war schon am überfüllten Weg. Sie drängte sich durch die Menschenmenge. Keiner dieser Menschen hier interessierte sich für sie. Nicht für Nathan. Nicht für Ray. Ihnen waren Engel egal – und einigen vermutlich auch Gott. Diese Menschen lebten ihre eigenen Leben – und sie hatten vermutlich alle ihre eigenen Geheimnisse und Geschichten. Und darin ähnelten sie sich … Kyrie erkannte Ray sofort. Er stand mit dem Handy in der Hand vor der Mauer und machte einen bestürzten Gesichtsausdruck. „Guten Tag, Ray“, begrüßte sie ihn, „Alles in Ordnung?“ Sie blieb neben ihm stehen und sah zu ihm hoch. Sie hoffte, dass die Leute zumindest einen Bogen um sie machen würden. „Ach, es ist nichts“, murmelte er hörbar betrübt, dann setzte er allerdings ein freundliches Lächeln auf, „Und, wie geht es dir, Kyrie? Fleißig gelernt?“ „Selbstverständlich!“, antwortete sie ihm, auch wenn sie nicht glaubte, dass alles in Ordnung sei. Aber wenn er es nicht erzählen wollte, würde sie auch nicht nachhaken. Das … gehörte sich einfach nicht. Er würde es ihr sagen, wenn die Zeit reif dazu war. Und so führten sie ihr Gespräch fort. Kyrie vertiefte sich sehr in die Themen, die sie ansprachen, genoss jedes Wort und freute sich in ihrem Herzen auf jede weitere Unterhaltung, die sie mit Ray führen würde. Er war ihr Freund. Ob er es genauso sah? Ihre Jacke hatte sie vor drei Tagen wieder sicher mit nach Hause genommen. Sie war in etwa nach dem Abendessen wieder heim gekommen und hatte sich danach gleich schlafen gelegt – zwar war sie keineswegs müde, allerdings wusste sie, dass sie es am nächsten Morgen sein würde, wenn sie nicht schlief. Sie bevorzugte es, ausgeschlafen zu sein. Liana war tatsächlich nicht ein einziges Mal aufgetaucht, was sie ziemlich verwunderte. Sie hatte Nathan gestern gefragt, weshalb das so war – er konnte ihr keine Antwort darauf geben. Liana habe ihm nichts gesagt. Aber das war bei Engeln an sich normal. Seltsames Volk. Er hatte ihr aufgetragen – mittels eines Rufs während des Mittagessens – dass sie noch einmal kommen sollte. Die Übung zu rufen, hatte sie derzeit zu meistern, also musste es ein ernst gemeinter Ruf sein. Glaubte sie zumindest. Sie zog ihren roten Rock aus, welchen sie heute zum Studium getragen hatte, und auch das dazugehörige, schwarze Korsett und die weiße Bluse, um sie gegen das leichte, weiße Sommerkleid, das ihren Rücken frei ließ, auszutauschen. Sie wollte die schöne Kleidung einfach nicht zerstören. Ihre Mütter würde bald die meiste Kleidung überarbeitet haben, sodass sie nicht ständig dasselbe für den Himmel tragen musste. Nachdem sie sich von ihren Eltern verabschiedet hatte, verließ sie das Haus und ging die leere Straße entlang. Diese Straße war so anders als die vor der Universität. Hier fiel sie jedem auf, da es nur so wenige Menschen waren, die hier vorbeikamen. Viele kannte sie. Einer ging auf der anderen Straßenseite vorbei und winkte ihr zu. Jake, der Nachbar. Sie winkte zurück und eilte weiter fort. Es war ... seltsam. Genauso seltsam wie Joshua beim Treffen. Er hatte nicht ein Wort mit ihr gesprochen. Sie dachte, wenn sie jetzt so eine Art „Freunde“ wären, würde er mehr mit ihr reden, aber … er hatte das ganze Reden Thierry, Deliora und Nathan überlassen. Vielleicht war er auch nicht redselig. Vielleicht hörte er lieber zu? Oder mochte er sie immer noch nicht? War eine gemeinsame Nacht nicht genug für ihn, um sie zu Freunden zu zählen? Sollte sie Nathan darüber ausfragen? Nein. Nein – er hatte schon in jener Nacht unzufrieden auf ihre Fragen reagiert. Sie wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Sie wollte ihn nicht verlieren. Er war ihr Freund. Kyrie stieg die Treppen nach oben, die so unendlich viele waren, und kam auf der Dachterrasse zum Stillstand. Sie beobachtete den Himmel, der in so vielen Gold- und Gelbtönen schimmerte und leuchtete und die Welt erhellte. Die Sonne war einfach ein Geschenk Gottes – und sie ehrte es. Sie wollte nicht, dass die Dämonen dieses Geschenk je zerstörten. Die Nacht, ohne das Licht des Himmels, war so dunkel und düster ... Sie konzentrierte sich fest auf das Verlassen des Gebäudes und erschien im Himmel. Danach hörte sie weiter in sich hinein, um herauszufinden, wo Nathan zu finden war. Diesmal schien er an einem ganz anderen Ort zu sein – dieses Gefühl des Rufs, seine Magie, deutete weiter weg. Kyrie überlegte, ob es nicht klüger wäre, zurück auf die Erde zu gehen und von dort aus direkt zu Nathan – aber so erhielt sie noch ein wenig Flugübung. Ja – sie würde den Weg fliegen. Ganz so weit weg würde es schon nicht sein. Während sie sich vom Boden abstieß und ihre Flügel wild zu schlagen begannen, erhob sie sich über den Boden und sauste dahin. Die Wolkendecke über ihr berührte sie nicht, aber sie hielt sich in beachtlicher Höhe, um den Flug auch genießen zu können. Einige Engel, an denen sie vorüber sauste, sahen ihr freudlos oder missbilligend nach, doch sie sagten nichts. Zum Glück. Sie wollte nie mehr wieder so einem Engel begegnen, wie sie ihn gesehen hatte. Sie hatte Nathan nichts davon erzählt. Immerhin war nichts passiert – sie machte sich bestimmt nur völlig grundlos Sorgen. Und sonst würde er sich auch noch sorgen. Als Assistenz der Todsünde hatte er bestimmt schon genügend eigene Probleme – da brauchte er nicht noch einen weiteren Krisenherd. Vor allem keinen eingebildeten. Sie flog die Wolken entlang, immer diesem Gefühl folgend, dass Nathan sich in jener Richtung befand und immer näher kam. Sie wollte dieses Mal beobachten, wie die Magie wieder zu ihm zurück gelangte – sobald ihre anderen Sinne ihn wahrnahmen. Darauf musste sie sich besonders konzentrieren! Sie war gestern bereits im Himmel gewesen, um mit Nathan noch eine kurze Übungsstunde zu halten. Er hatte mit ihr alles wiederholt, was sie beherrschen sollte. Die Stunde war wirklich sehr kurz gewesen. Er hatte gesagt, sie brauche eigentlich nur noch zweimal die Woche kommen – und zum Mittwochstreffen. Das freute sie auf eine seltsame Weise – da blieb wieder Zeit zum Lernen. Aber sie würde ihren Freund nur noch selten sehen … Das Gefühl verdeutlichte ihr, dass sie schon ziemlich nahe am Ziel war. Sehr schön. Letztendlich landete sie vor etwas, das sie ein wenig … an eine Kirche erinnerte … Sie blieb davor stehen. Sie war sich sicher, dass er sich darin befand. In einer … Kirche. Nahe liegend. Oder auch nicht. Bisher hatte sie gedacht, Kirchen wären Erfindungen der Menschen – und nur zufällig eine Sprunghilfe für Engel. Sie schritt vorsichtig und unsicher zum riesenhaften, goldenen Tor. Die Kirche war komplett aus Wolken gemacht und hatte – wie alles andere – Goldtöne, Weißtöne, Grautöne und Brauntöne an sich. Im ersten Moment hätte man sie vielleicht auch für ein Schloss halten können. Vielleicht war es auch ein Schloss. Sie öffnete das Tor und schritt hindurch. Als sie hinein schaute, war sie enttäuscht. Das Tor selbst war sehr geschmückt, viele Verzierungen umgaben es und ließen es wertvoll erscheinen, da sie alle nach sehr viel Arbeit aussahen. Innen jedoch … war sie leer. Einfach leer. Hier und dort stand ein Tisch mit ein paar Stühlen drum herum. Aber auch nur sehr wenige. Sie zählte zwei Kästen, die jedoch ebenfalls schmucklos waren. Es wirkte ziemlich eintönig und langweilig. Als sie den Blick nach oben schweifen ließ, erkannte sie, dass einige weiß-goldene Wolken oben schwebten. Sie schwang sich in die Höhe und flog so leise wie möglich nach oben, um die Wolken zu betrachten. Es waren insgesamt fünf Wolken, die sich dort befanden. Die erste Wolke, über welche sie sich beugte, war leer. Sie hatte mehr weißliche Farben als goldene an sich, leuchtete jedoch schön. Auf diese Wolke hätte bestimmt ein Engel gepasst. Was sie wohl darstellten? Vielleicht brachte die nächste Wolke Erleuchtung. Die vier Wolken, die Kyrie hinter sich gebracht hatte, ähnelten sich alle sehr. Sie waren leer und Wolken. Als sie sich von der vierten abhob und auf die letzte zu steuerte, glaubte sie, ihr Herz bliebe stehen. Nathan lag auf dieser Wolke – ruhig schlafend, friedlich schlummernd. Seine Augen waren geschlossen und sein Brustkorb und hob und senkte sich in beruhigender Langsamkeit. Er schlief! Plötzlich bemerkte sie, dass der Ruf in ihr selbst verstummt war. Nein! Sie hatte es schon wieder verpasst … Aber was sollte sie jetzt tun? Warten? Ihn aufwecken? Sich auf eine andere Wolke legen? Doch wie hätte sie hier schlafen können? Der Himmel vertrieb alles, was mit Müdigkeit zu tun hatte. Sie war fit und hellwach! Warum schlief er dann? Kyrie entschied sich dazu, auf einem ungenutzten Plätzchen auf dieser Wolke zu sitzen und zu warten. Sie setze sich hin, ließ ihre Flügel ausgebreitet, achtete aber darauf, dabei Nathans eigene Flügel nicht zu behindern. Sie saß dort und musterte Nathan. Er schlief wie ein Engel. Seine Miene war völlig ruhig, allerdings fehlte auch sein Lächeln. Sein Gesicht war wunderschön, aber es wirkte einfach so viel älter … Ob sie sich je daran gewöhnen würde? Wenn sie nicht scharf darüber nachdachte, ignorierte sie es – oder nahm es zumindest hin -, aber so … Sie hätte gerne einhundert Jahre mit ihm verbracht. Ihn altern sehen … Sie fragte sich, weshalb er sich für diese Altersstufe entschieden hatte. Er war damit merklich älter als Thierry, Joshua und Deliora. Liana hatte sich ebenfalls für ein älteres Gesicht entschieden – obwohl alle beide dennoch jung wirkten. Sie wunderte sich darüber, was sie denn wohl für ein Gesicht benutzen würde, wenn sie die Chance hätte, sich das auszusuchen. Vermutlich ein viel jüngeres oder viel älteres. Eher noch das ältere. Wenn sie dann weiße Haare und viele Falten hatte. Kyrie lächelte über ihre eigenen Gedanken – worum sie sich sorgte! Es konnte ihr doch völlig egal sein. Sie würde es sowieso nicht erleben. „Woah! Du bist ja da!“, erklang eine überraschte Stimme. Sie schaute zurück und lächelte Nathan ins Gesicht. „Guten Morgen, Schlafmütze!“ „Du hast mich gefunden!“, rief er erfreut aus, „Ich bin stolz auf meine Schülerin!“ „Danke, aber das habe ich nur durch meinen Lehrer geschafft“, antwortete sie lobend. „Also hast du meinen Ruf tatsächlich wahrgenommen! Sehr schön!“ Er grinste. „Dann denke ich, bin ich bereit, es dir zu sagen!“ Bisher hatte er noch gelegen, doch jetzt erhob er sich ins Sitzen. Kyrie nahm es als Zeichen, aufzustehen. Sie schwebte neben der Wolke in der Luft. Zum Glück trug sie ihre Stiefel. Ob Sandalen rutschen würden? Nathan stütze sich selbst mit den Händen auf der Wolke ab und schaute sie erwartungsvoll an. „Was … möchtest du mir denn sagen?“, wollte sie von ihm wissen – zögerlich. Er streckte ihr eine Hand hin – sie nahm sie langsam und vorsichtig entgegen, wofür sie sich ein wenig nach vorne beugen musste. „Herzlichen Glückwunsch, Kingston Kyrie!“, rief er laut und deutlich aus, „Du bist von heute an ein freier Engel! Ich entlasse dich aus meiner Obhut – du darfst im Himmel von nun an frei verfügen, fällst unter das Engelsrecht und bist an Engelsgesetze gebunden!“ Er grinste erfreut. „Tolle Leistung!“ Kyrie konnte nicht umhin, ihn mit offenem Mund anzustarren. Ihre Augen mussten ziemlich weit hervorstehen – zumindest fühlte es sich so an. „Frei … Freier Engel?“, wiederholte sie stockend, „Kein Schüler mehr?“ Er nickte stolz und ließ ihre Hand wieder los, nachdem er sie einmal kräftig durchgeschüttelt hatte. „Kein Schüler mehr!“ „Ich … Ich darf ohne deine Erlaubnis hingehen, wohin ich möchte? Kann … kann gehen, wohin ich will? Darf … darf hier oben sein, sooft ich möchte?“, informierte sie sich weiterhin ungläubig. War … war das sein Ernst? Er bestätigte es mit einem zufriedenen Nicken. „Tun und lassen, was du möchtest! Du bist keine Gefahr mehr für andere Engel und sie sollten auch mit dir klar kommen!“ Er grinste. „Ab jetzt gibt es kein Schüler-Lehrer-Verhältnis mehr, Kyrie!“ Daraufhin entrann ihm ein Lachen. „Wir sind Freunde!“ „Freunde …“, wiederholte sie leise, noch immer geschockt. Und plötzlich realisierte sie alles – alles machte Sinn. „Freunde!“, rief sie erfreut aus – und ohne darüber nachzudenken, umarmte sie Nathan fest. „Wir … ich bin ein Engel!“, stellte sie fest, während sie ihn drückte, „Ein Engel!“ Er klopfte ihr beruhigend auf den Rücken und umarmte sie dann auch. „Ich bin stolz auf dich, Kyrie!“ „Ich … ich doch auch!“, sagte sie erstaunt, „Nathan – Nathan! Ich habe es geschafft!“ Er lächelte. Und sie lächelte zurück. Ein waschechter Engel! Nathan stand an der Türschwelle zu seinem Haus und schaute Kyrie nach. Sie waren noch eine Weile geblieben und hatten unten an den Tischen gesprochen. Sie schien sich wirklich unglaublich zu freuen. Und das freute ihn. Die Entscheidung, ihr Verhältnis zu ändern, hatte ihn gestern Nacht übermannt. Während sie Schülerin war, durfte sie den Himmel eigentlich nur auf seinen Befehl hin betreten, musste sich bei ihm melden und etwas mit ihm unternehmen, bis sie die Grundlagen beherrschte. Und die hatte sie allesamt gemeistert. Es waren eigentlich nur noch Kleinigkeiten zu tun – zweimal die Woche eben, aber … Eigentlich war das unnötig. So hatte sie viel mehr davon, denn wie sollte sie sich da jemals mit anderen Engeln anfreunden? Sie sollte doch hier ein neues – oder zumindest ein zweites – Zuhause finden. Er hatte es auf der Erde doch gleich gemacht. Er hätte eigentlich nicht von ihrer Seite weichen sollen – aber er wollte die zwanzig Jahre genießen. Und er hatte es getan. Dafür hatte er seine Aufgabe eben ein wenig … biegen müssen. Kyrie hatte weit mehr Jahre vor sich. Sie sollte es sich gleich zu Anfang hier gemütlich machen – sodass niemand sie vergessen würde und dass sie sehr viel Spaß hatte. Vielleicht konnte sie während der Ferien ja einmal länger hier oben bleiben, als nur für ein paar Stunden. Thierry würde sich freuen, wenn sie ein paar seiner Spiele mit ansehen konnte, Deliora konnte ihr vielleicht einige Tricks mit Magie zeigen und Liana hatte bestimmt gerne eine Freundin, mit der sie den ganzen Tag herumtollen konnte. Und wenn Kyrie in der Nähe war, hatte Nathan einfach nicht das unzähmbare Bedürfnis, Joshua zu küssen. Es hielt sich dann ... in Grenzen. Sie hielt ihn irgendwie allein mit ihrer Anwesenheit davon ab. Damit würden achtzig Jahre als Assistent leichter umgehen – und er hatte auch keinen Grund mehr, auf die Erde zu kommen! Die Mittwochstreffen fanden weiterhin statt, auch wenn Kyrie ihm gesagt hatte, dass sie langsam anfangen musste, für ihre Prüfungen zu lernen – aber sie würde versuchen, die Treffen einzuhalten. Und jetzt konnte sie ja auch an anderen Tagen kommen und sich mit den anderen treffen – auch wenn Nathan mit Acedia oder anderen Pflichten beschäftigt war. Dadurch ersparten sie sich das ständige Terminemachen und sie konnte auch einmal für ein paar Minuten kommen, wenn sie Ablenkung brauchte. Einfach praktisch! Doch die Mittwochstreffen blieben. Dass sie alle einen Grund hatten, zu kommen. Sie waren einfach etwas ... Besonderes. Außerdem hatte er ihr erlaubt, in sein Haus zu kommen, wenn sie wollte. Er hatte sowieso genug Platz und seit Joshua nicht mehr hier wohnte, war es meistens unbesetzt, wenn er nicht gerade schlief. Er würde noch ein sechstes Bett aufbauen, um Kyrie einen Ruheort zu bieten. Als Assistent der Todsünde lebte man zwar sozusagen im Büro der Todsünde, aber keiner konnte einem verbieten, sich ein Haus zu bauen und dahin manchmal zu flüchten, wenn man genug von Papier hatte. Er hatte die Chance genutzt, um sich einen Ort zum Ausschalten zu gewähren. Leider hatte er kaum einmal Zeit, herzukommen. Manchmal kamen auch Thi, Liana oder Deliora einfach hierher, um sich eine schöne Zeit zu machen, während er nicht da war. Aber es störte ihn keinesfalls. Immerhin vertraute er seinen Freunden. Ob Joshua auch noch gelegentlich kam, wusste er nicht. Er verwob die Magie und verhärtete sie daraufhin, als er sie in Form eines Wolkenbettes gegossen hatte. Die ersten beiden Betten hatte er sich anfertigen lassen – danach hatte er die Magie selbst beherrscht und sich die anderen drei selbst erschaffen. Das war dann der nächste Vorteil als Assistent einer Todsünde: Man war einfach stark und konnte alles machen! ... Und wenn die daraus entstandenen Gegenstände nicht ganz so professionell wirkten, wie die von Profis erschaffenen. Auch wenn die Betten wieder verlockend wirkten, um sich einfach hinzulegen, wusste er, dass er in Acedias Büro noch genug zu tun hatte – na dann, an die Arbeit! Und so flog er den Weg zurück zum Goldenen Turm, an der Außenmauer hinauf und durch das Fenster, das jemand offen gelassen hatte, wieder hinein. Praktische Abkürzung. Im Büro erwartete ihn ein ziemliches Gewirr an Zetteln und Aufgaben. Wie schön. Und das konnte er jetzt alles als Vollzeit-Assistent erledigen. Er war kein Lehrer mehr! Wow. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)