Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ John Kingston pendelte wohl zum tausendsten Mal vor dieser Tür hin und her. Links. Rechts. Links. Rechts. Unruhig. Überfüllt – und leer. Alles war seltsam. Alles war komisch. Nichts konnte er fassen – seine Welt brach zusammen. Blieb stehen. Fiel ins Nichts. Seine Gefühle … ein schreiender Haufen. Im Hintergrund hörte er, wie seine Frau das nächste Taschentuch beschmutzte. Ein Schluchzen entkam ihr. Wie lange weinte sie schon? Minuten? Stunden? Tage? Jahre? Er konnte es nicht bemessen. Wie lange rannte er schon vor dieser Tür auf und ab? Wie lange schon konnte er nicht mehr still sitzen? Wann hatte ihn die Schreckensnachricht ereilt? Was war nur geschehen … Ein Tag … Ein Tag – und sein Leben sollte sich ändern? Was nur war geschehen? „Oh, Herr …“, murmelte er leise, vielleicht nur für sich selbst hörbar, „Oh, Herr – sie ist doch eine der deinen … Wie kannst du sie nur so bestrafen?“ Und damit hatte er das erste Mal in seinem Leben Gott die Schuld an etwas gegeben. Wie konnte er nur zulassen, dass seiner Tochter so etwas widerfuhr? Es fühlte sich so an, als wäre Jake, der Nachbar, vor wenigen Sekunden erst in sein Haus gestürmt. Als hätte er vor wenigen Sekunden erst diese Hallen betreten. Und als wären in jenen Sekunden Stunden vergangen. Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr. Er wollte nur noch Wissen. Wissen darüber, was vorgefallen war – weshalb. Und wer dahinter steckte. Und vor allem: Was nun geschehen würde. Der Abend war bereits eingetreten, Magdalena kochte eine ihrer berühmten Mahlzeiten. Sie hatten heute beide frei – er hatte keine Messe zu besuchen und Magdalena brauchte nicht zu kellnern. Sie konnten dann also ausführlich mit Kyrie über ihre neuesten Errungenschaften sprechen! In letzter Zeit hatte ihre Tochter es nämlich sehr eilig gehabt – zu eilig für seinen Geschmack. Sie waren kaum mehr dazu gekommen, miteinander zu reden. Und das störte ihn – vor allem, da sie sehr beschäftigt wirkte. Als würde irgendetwas sie bedrücken, ihr keine Ruhe mehr lassen. Er wollte mit ihr darüber reden. Aber wenn er die Ansätze dazu brachte, lehnte sie ihn freundlich ab. Konnte nicht mit ihm darüber reden. Ihm schien klar, dass es nur zwei Auslöser für derlei Situationen geben konnte: Entweder dachte sie über Erkenntnisse aus dem Himmel nach … oder über den Jungen, der ihr scheinbar jeden Tag nach der Universität auflauerte! Aber nicht einmal während der – mittlerweile wohl viel zu kurzen – Autofahrten, sprach sie. Sie blockte einfach. John fühlte sich ziemlich davon gestört, dass seine Frau seit einigen Tagen immer nach der Arbeit noch eine Erledigung zu machen hatte – sonst hatte sie das auch immer am Nachmittag erledigt. Aber jetzt bestand sie darauf, das zu machen, noch bevor sie Kyrie abholten! Aber was sollte er denn gegen den weiblichen Charme seiner Liebsten unternehmen? John saß vor dem Fernseher und besah sich der Nachrichten. Die Welt war eigentlich recht friedlich. Seit Jahrhunderten hatte es keine Kriege mehr gegeben – nach dem letzten hatten die Nördliche und die Südliche einen Vertrag unterzeichnet. Seither war die gesamte Welt eigentlich ein Land – und das förderte Frieden. Auch dass Menschen wieder zu Gott gefunden hatten – unter anderem durch Prediger wie ihn – hatte ihnen für ein friedliches Miteinander geholfen. Traurig war dabei nur, dass es noch Einzelne gab, welche einem Gesamtfrieden im Wege standen. Verbrecher – Mörder, Räuber, Schläger. Kriminelle aller Art. Gerade als John die Fernbedienung zur Hand nehmen wollte, um umzuschalten, begann es, laut und heftig an der Tür zu hämmern. Wie verrückt donnerte jemand darauf ein. „John! Magda! John! Macht die Tür auf! Schnell!“, rief jemand, „John, verdammt!“ Er erhob sich. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Im selben Moment steckte Magdalena ihren Kopf ins Wohnzimmer – ein besorgtes Stirnrunzeln zierte ihr ansonsten schönes Gesicht. „Mach auf!“, drängte sie ihn. Er ging schnellen Schrittes zur Tür und öffnete sie – wie er erwartet hatte, stand sein Nachbar davor. Der Mann überragte ihn um gute drei Köpfe, sein hellbraunes Haar war ordentlich kurz geschnitten und seine blauen Augen strahlten erregte Besorgnis aus. Er wirkte beinahe geschockt. Und ausgelaugt – als wäre er ein ziemliches Stück gerannt. „Kyrie, John!“, schrie er ihn an, obwohl er direkt vor ihm stand. Sein Magen zog sich zusammen. „Kyrie?“, wiederholte John unsicher. Was hatte Jake nur? Etwas in ihm zog sich zusammen. „Kyrie, verdammt!“, brüllte er, „Ich …! Sie hat mich nicht begrüßt – das war so komisch! Und dann … sie taumelte! Ich ging zu ihr – und … sie fiel! Verdammt, John! Sie ist einfach gefallen!“ Er holte hörbar Atem. Und John fühlte, wie er erblasste. Wie alles in ihm zusammenrutschte. Ohnmacht schien ihn zu überrumpeln. Was sollte er tun? Was war geschehen? Kyrie. Kyrie war in Gefahr. „Wo ist sie?!“, wollte John wissen, wobei er aus Verzweiflung den anderen Mann schüttelte, „Wo?!“ Er musste sich beruhigen. Musste sich einkriegen! Was nur?! „Die Ambulanz hat sie abgeholt!“, kreischte der andere, „Verdammt! So viel Blut! So … anders! Verdammt!“ Kyrie … Kyrie – er musste zu ihr. Die Sorge umhüllte ihn, drängte alle anderen Gefühle beiseite. ER musste zu seiner Tochter! Und während er sich umdrehte, starrte er in das weiß gewordene Gesicht seiner Frau, aus deren Augen Tränen fielen. „John …“, ertönte die erstickte Stimme seiner Frau hinter ihm, „Was … was kann nur passiert sein?“ Sie war fertig. Magdalena war einfach fix und fertig – und es war nicht zu überhören. Ein Blick auf die Uhr, die dort angebracht war, besagte, dass sie bereits seit sieben Stunden hier warteten. Das Schild, auf dem „Intensiv“ stand, leuchtete in aggressivem Rot. Seit sieben Stunden. „Ich weiß es nicht …“, gab er zu und beendete seinen Rundlauf, weil er sich zu seiner Frau setzte. Er nahm sie in den Arm. Sofort drückte sie sich an ihn und versteckte ihr Gesicht an seiner Brust. Er umarmte sie fester. Er würde sie nicht loslassen. Er konnte es nicht. Er würde daran zerbrechen. „Ich will es herausfinden“, fügte er leise hinzu. „Wo … wo kann sie nur gewesen sein …?“, stotterte Magdalena, „Mit wem? … Was kann sie nur getan haben? Sie ist doch … sie ist doch unser liebes Mädchen … unsere gute Tochter … Ein … ein Engel …“ Ein erneuter Tränenschwall erstickte die restlichen Worte, die seine Frau wohl noch aussprechen wollte. Ihre Tochter. Ihr Engel … Wer konnte Kyrie so etwas nur antun? Wer? Zu seiner Trauer, seiner Verzweiflung mischte sich von Stunde zu Stunde mehr Wut. Wut auf denjenigen, der ihr das angetan hat. „Ich … ich …“, begann er. „Entschuldigen Sie, sind Sie Familie Kingston?“, erklang eine Stimme hinter ihm. John drehte sich um, ohne Magdalena loszulassen. Eine Krankenschwester stand dort. Sie hatte das typische, weiße Kleid an und trug dazu noch einen Hut mit Kreuz. Sie hatte dunkles Haar und wirkte sehr jung – vielleicht war sie nur ein Lehrling. „Ja, John Kingston ist mein Name“, bestätigte er ihre Vermutung. „Die Ärzte haben die Polizei alarmiert. Sind Sie bereit, mit den Herrn und Damen Beamten zu sprechen?“, wollte das Mädchen wissen – sie klang dabei ein wenig beunruhigt, vielleicht auch besorgt. Verstand sie ihre Situation? Er nickte entgegen seines Willens. Er wollte nicht mit Polizisten reden, ohne dass Kyrie mit ihm gesprochen hatte, aber er stimmte trotzdem zu. Er musste so viel wie möglich über den Vorfall herausfinden. „Dankeschön“, fügte sie hinzu und machte daraufhin kehrt. Magdalena verhielt sich still, als die Polizisten um die Ecke traten. Es war ein großer Mann mittleren Alters, der in der Uniform der Polizeiwache steckte. Die Uniform war dunkelblau und viele Streifen markierten einen hohen Stand im Amt. Neben ihm stand eine Frau, die sogar noch mehr Streifen trug, allerdings wesentlich kleiner war. „Guten Tag. Wir haben gehört, dass Ihre Tochter überfallen worden sein soll – ist sie bereits vernehmungsfähig?“, fragte der Mann. Doch er beantwortete seine Frage mit einem Blick zur rot strahlenden Tafel. „Dürfen wir Sie in der Zwischenzeit vernehmen?“ „Natürlich“, sagte John ernst, wobei er auf die Sitzbank ihm gegenüber deutete. Die Polizisten sahen einander bedeutungsvoll an. Die Frau nickte. „Vielen Dank“, antwortete der Beamte und nahm Platz. Die Polizistin blieb stehen. „Schädelbrüche, Rippenbrüche, Armbrüche, Beinbrüche, Hämatome, Schnittwunden … Verletzungen an der Wirbelsäule“, las John leise vor sich hin, als er zuhause am Küchentisch saß. Es war Mittwoch, doch er arbeitete heute nicht. Magdalena und er hatten sich frei genommen – sie mussten Kyrie unterstützen. Sie hatten bis fünf Uhr morgens ausgeharrt. Sie hatten gewartet. Und gehofft. Und dann war die Nachricht gekommen: Sie war außer Lebensgefahr. Die Krankenschwestern hatten vorgeschlagen, dass Magdalena und er nach Hause fahren sollten. Sie würden nichts tun können. Sie waren unfähig zu helfen. Kyrie würde erst heute Abend erwachen. Sie würde viel Kraft schöpfen müssen. Sie würde sehr ausgelaugt sein. Und vielleicht würde sie Erinnerungsprobleme haben. Vielleicht würde sie nicht mehr diejenigen sein, die sie zuvor war … Nichts mehr … Alles konnte sich verändert haben … Alles … konnte anders sein … Er verkrampfte seine Hände, was dem Papier Risse zufügte. Er hatte die Erklärung zu einer Vordiagnose erhalten. All diese Dinge hatten sie festgestellt. Prognostiziert. Es war ihr Verdacht. Dieses Wort hatten sie betont. Reiner Verdacht. Vielleicht würde sie mehr gehabt haben – vielleicht auch weniger. Hoffentlich. Gott musste ihr doch helfen! Er musste sie heilen! Nach der Operation hatte er mit keinem Arzt mehr gesprochen. Niemand war zu ihnen gekommen, um ihnen die Sachlage zu erklären – die Informationen dürften niemandem zukommen, den Kyrie Kingston nicht selbst dazu auserkoren hatte. Es war deprimierend. Dabei waren sie doch ihre Eltern! Zählte dieser Stand denn heutzutage gar nichts mehr? Der Polizei waren sie nebenbei auch keine große Hilfe gewesen. Ob Kyrie in der Schule oder beim Studium Probleme mit Mitschülern hatte? Ob Kyrie private Feinde hatte? Ob sie mit besonders viel Geld oder Schmuck unterwegs war? Ob etwas aus ihrem Eigentum fehlte? Ob sie sich jemanden vorstellen könnten, der zu solcher Handlung fähig wäre? Ob sie wüssten, was es bedeutet, dass in ihrer Kleidung viele Vogelfedern gehangen hatten … Er war kurz davor gewesen, die Sache mit den Federn zu erklären, um zumindest eine richtige, hilfreiche Antwort geben zu können. Doch er hatte geschworen, niemals gegenüber einem anderen Menschen die Engel zu erwähnen. Und er würde sich daran halten … Sie war also im Himmel gewesen … Hoffentlich würde sie sich erinnern. Hoffentlich würde sie darüber reden … „Denkst du, dass sie Feinde hat?“, wollte Magdalena, die plötzlich hinter ihm stand, wissen, „Denkst du, sie wurde gehänselt?“ Wer nur würde es wagen, seiner Tochter so etwas anzutun? Sie war doch so lieb! „Ich … ich bin mir nicht sicher …“, grummelte er, „Sie hat nie darüber gesprochen …“ Und er hatte sich nie Sorgen gemacht. Hätte nie mit so etwas gerechnet! Was für ein Mensch würde ihr so etwas antun?! „Melissa wird es wohl nicht gewesen sein …?“, fragte Magdalena plötzlich, „Sie hat sie nicht mehr ein einziges Mal erwähnt, seit …“ John schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Er seufzte. „Uns wird nichts anderes mehr übrig bleiben, als abzuwarten … Abzuwarten, zu hoffen … und zu beten.“ Ray saß auf der Steinmauer. Im Ein-Minuten-Takt blickte er über die daherströmende Menge, um Kyrie zu sichten. Doch sie war bisher einfach nicht aufgetaucht. Heute schienen sie ziemlich zu überziehen. Ein Blick auf sein Handy verriet ihm die Uhrzeit. Es war beinahe schon spät genug, dass sie bereits wieder aufbrechen müsste. Hatte er sie verpasst? Hatte sie heute früher aus gehabt – oder viel später? Aber dann hätte sie das gestern doch wohl angemerkt … War sie auf die Schnelle krank geworden? Sie hatte gar nicht mehr so erschöpft gewirkt … Er holte sein Mobiltelefon erneut hervor und ging die Kontaktliste durch. Nein. Er hatte es tatsächlich in drei Wochen nicht einmal geschafft, sich nach ihrer Handynummer zu erkunden! Am liebsten würde er sich selbst schlagen. Was wenn sie wirklich krank war? Oder wenn sie … oder wenn sie mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte? Sein Auftritt gestern war auch wirklich peinlich gewesen … Er hatte ihr wirklich etwas vorgeheult … Es war schon fast fünfzehn Jahre her und dennoch … dennoch weinte er noch immer, wenn er darüber reden musste … wenn … wenn er es jemanden erzählte … Er verstand es, wenn sie von nun an Umwege machte, um ihn nicht mehr anzutreffen. Um diese Schmach zu umgehen … Er konnte es nachvollziehen. Aber … aber er wollte es nicht akzeptieren! Der Gedanke, sie nicht mehr an dieser Mauer zu treffen, war … war schlimm. Einfach … zerstörend. Wieder einfach nach Hause zu pendeln. Einfach auf die Freundin seines Vaters zu treffen … Seit er sie vor zwei Wochen einmal gesehen hatte, war er ihr nie mehr wieder begegnet. Dadurch, dass er mit Kyrie reden konnte, verflog die Zeit – er verspürte kaum Hunger und danach war Kim nicht mehr zu Hause! Und sein Vater sowieso nicht. Er war einfach frei. Und … und er genoss es nebenbei noch, sich mit ihr auszutauschen. Kyrie hatte so einen angenehmen Charakter – man wollte einfach mit ihr reden, wollte ihr erzählen, wollte, dass sie etwas über einen wusste … Die Geschichte mit seiner Mutter … Niemals hätte er sie irgendeinem dahergelaufenen Menschen erzählt. Fünfzehn Jahre lang hatte er geschwiegen, als wäre nie etwas geschehen … Und da kam sie – da kannte er sie gerade einmal drei Wochen und schon sprudelte er wie ein Wasserfall! Und dann … und dann hatte er bei ihr auch noch das Gefühl, als würde es sie wirklich ernsthaft betreffen. Als wollte sie sofort etwas tun … Wenn es nicht ganz so lächerlich wäre, würde er fast glauben, dass sie zum Roten Dorf gefahren wäre, um dort seine Mutter zu besuchen und deshalb wäre sie nicht hier, aber das … das war doch … unmöglich … Dabei wollte er ihr doch unbedingt erzählen, dass Diane sich gestern endlich wieder bei ihm gemeldet hatte - dass sie ihm nicht geschrieben hatten, weil sich in ihrem Leben gerade viel aufstaute. Ausbildung, Arbeitswechsel ... Und dass seine Mutter einen Schwächeanfall erlitten hatte, weil sie die neue Medizin nicht vertragen hatte. Wenn er ausgebildet war würde ihm so etwas bestimmt nicht passieren! Seine Mutter war wegen dieses Fehlers für eine Woche im Krankenhaus - auf Beobachtung. Aber laut Diane erholte sie sich gut. Und dadurch, dass Kylie derzeit Abschlussprüfungen hatte - was für diese kein Problem darstellen würde, auch wenn diese eine Woche vorverschoben waren -, wodurch zie dann die Hauptpflegerin für seine Mutter sein würde. Er wollte Kyrie beruhigen, wie er selbst beruhigt worden war. Noch einmal ließ er seinen Blick über die Menschenmenge schweifen. Es schien keinen Zweck zu haben. Sie war nicht hier. Er bewegte sich dennoch nicht vom Fleck. Er würde einfach weiterwarten. Bis sie kam. „Luxuria ist und bleibt verschwunden“, schnaubte Acedia, welche auf ihrem pompösen Bürostuhl saß und ungehalten einige Zettel hin und her schleuderte, „Und sie erkennen noch immer nicht, dass ich Recht habe!“ Sie war so rechthaberisch. Immer bestand sie darauf, dass sich ihre Meinung – wenn sie denn ausnahmsweise einmal eine hatte – durchgesetzt würde. Aber so spielte sich das eben nicht. „Zwei hast du schon überzeugt“, beschwichtigte Nathan sie, „Einen wirst du wohl noch dazu bekommen!“ Er grinste. „Und sonst lässt du einen eben verschwinden – oder zwei.“ Sie sah ihn unbeeindruckt an. „Und dann würden sie die beiden auch einfach als ‚kurzfristig abgängig’ abstempeln und die Sache wäre für sie gegessen.“ Sie seufzte und verschränkte beleidigt die Arme. „Manchmal nehmen sie alles zu sehr auf die leichte Schulter! Ira und ich kennen Luxuria besser als unsere eigenen Stiefel – wenn wir beide sagen, Luxuria sei kein Urlaubstyp, dann meinen wir es auch beide so!“ Nathan fragte sich immer wieder, was zwischen Ira, Luxuria und Acedia geschehen war. Alle drei schienen keine allzu nahe Beziehung mehr zueinander zu haben. Aber wenn eine der seltenen Gelegenheiten kam, an denen Acedia auspackte, dann ließ sie nicht allzu viel darüber verlauten. Nathan glaubte, dass sie alle einmal Freunde waren. Aber er wusste nicht, ob das gewesen war, als sie alle schon Todsünden waren oder nicht. Sie hatte ihm aber bereits zu deutlich klar gemacht, dass er das auch nicht herausfinden würde – „Mische ich mich in deine Angelegenheiten ein, Kindchen?“, hatte sie ihn ziemlich am Anfang äußerst genervt gefragt, „Also lass uns ein Arbeitsverhältnis pflegen. Wir werden niemals Freunde werden. Akzeptiere das.“ Er hatte sich daran gehalten. Und ihre Beziehung ebenfalls – rein geschäftlich mit einigen Späßen. „Das fasse ich dann so auf, dass du meinen Vorschlag ablehnst“, fügte er schmunzelnd hinzu, „War auch nur so eine Idee – vielleicht würden mehr Verschwundene sie aufrütteln.“ Plötzlich fiel ihm etwas ein. „Wobei … Hast du gehört, dass in den tieferen Rängen auch ein paar Leute abhanden gekommen sind? Mittwoch zum Beispiel … oder Genesis.“ Sie sah ihn überrascht an. „Ach wirklich? Wirklich vermisst oder auch nur Urlauber?“ Sie wirkte erneut ungehalten. „Noch Urlauber. Aber wenn nicht bald welche aufkreuzen oder noch mehr vermisst werden, werden sie sich an die Todsünden wenden. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn Luxurias Verschwinden der Öffentlichkeit mitgeteilt …“ „Nein“, unterbrach Acedia ihn barsch, „Wird es nicht. Haben sie beschlossen. Wollen Panik vermeiden.“ Sie antwortete schnell und abgehakt. So wütend hatte er sie nur selten erlebt. „Wir sollen uns keine Sorgen machen, beschließen sie! Und dann wollen sie Panik vermeiden! Wozu Panik – es gibt doch nichts, worüber wir uns Sorgen machen sollen. Sie ist ja nur auf Urlaub!“ Die Frau atmete tief durch – und runzelte die Stirn. Aber er verstand ihren Punkt. Sie wussten, dass etwas nicht stimmte. Sie glaubten Acedias Worte. Doch sie unternahmen nichts. Denn etwas zu unternehmen, würde bedeuten, dass etwas geschehen war. Und das wäre das Schlimmstmögliche – immerhin war Luxuria eine Todsünde. Er nickte verständnisvoll. „Weißt du …“, begann er vorsichtig, „Vielleicht … vielleicht sind wir doch mehr wie Menschen, als wir von uns glauben.“ Sie horchte auf. Sie kannte die Menschen ja nicht. Sie hatte nie engeren Kontakt zu einem – und wenn sie es auch als Vorteil betrachtete … für Nathan war es das nicht. Diese zwanzig Jahre auf Erden hatten ihn viel gelehrt. „Sie schieben auch alles auf. Die Friedensverträge zwischen den beiden Ländern waren erst nach einer langen Kriegsaison entstanden. Die Gesetze wurden erst eingeführt, nachdem die Verbrecher die Länder verwüstet hatten … Alles wird erst im Nachhinein geregelt.“ Er erlaubte sich ein schiefes Grinsen. „Mich würde es nicht wundern, dass sie bei uns erst etwas ändern, wenn der Himmel in zehn Schwarzen Löchern zerteilt liegt.“ Acedia entblößte ihre Zähne vor Belustigung. „Vielleicht würde sie das endlich wach rütteln.“ Dann erhob sie sich und schlug dreimal mit den Flügeln, um ihre Gelenke zu lockern – und ihr Gemüt, wie es schien. „Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit. Heute räume ich selbst auf.“ Sie hatte die Zettel irgendwann einfach liegen lassen. Nathan hatte das gar nicht so stark wahrgenommen. „Du kannst gehen. Ich denke, jemand wartet auf dich.“ Sie lächelte. Stimmungsschwankungen … Er sprang von seinem Sessel auf und verbeugte sich übertrieben. „Kein Problem! Wenn du wen zum Reden und Lästern brauchst – ich bin gerne zur Stelle.“ Er grinste sie frech an. „Schönen Tag noch. Wenn du mich brauchst … du weißt, wie du mich rufst.“ Dann stockte er. „Aber möglichst nicht mittwochs!“ Sie nickte, wobei sie sich so tief über den Schreibtisch beugte, dass ihre tiefroten Haare darauf zu liegen kamen. Nathan verließ das Büro – und dabei bemerkte er, dass er noch viel zu früh dran war! Da würden die anderen ja gar nicht auf ihn warten müssen. Und er wollte Kyrie ja eine faire Chance geben, sich mit den anderen ohne ihn besser anzufreunden. Eile mit Weile – so lautete ein Sprichwort, das er aufgeschnappt hatte. Er mochte diesen Spruch, er traf seine Einstellung nämlich ziemlich genau. Also ging er locker-lässig alle Treppen nach unten. Vielleicht würde ihm sogar Deliora noch begegnen – dann konnten sie zusammen ihre Runde drehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)