Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Kyrie erwachte gähnend, als ihr Wecker klingelte. Sie blieb für einen kurzen Moment liegen. Dies war die erste Nacht seit dem Vorfall, in der sie relativ ruhig und gut geschlafen hatte. In der sie nicht noch lange über Xenon nachgedacht hatte … Sie fragte sich, ob Xenon jetzt glücklich war. Er hatte es geschafft, sie aus dem Himmel zu vertreiben … Hatte es ihm wirklich etwas gebracht? Sie bewegte sich aus dem Bett und blieb dann im Nachthemd in ihrem Zimmer stehen. Ihre Muskulatur hatte sich sehr gut erholt. Sie spürte nichts mehr. Nach ihrem kleinen Schwächeanfall von gestern war einfach nichts mehr vorgefallen. Sie durfte es bloß nicht übertreiben. Ihr Blick fiel auf den Arm, der einfach lasch herunterhing, als würde er nicht leben. Als gehörte er einer Toten. Sie konzentrierte sich fest darauf, ihn zu bewegen, doch es war nicht möglich. Er schien wie ausgelöscht – sie konnte ihn sehen, aber mehr war da nicht … Gar nichts. Sie seufzte und drehte sich zu ihrem Bett, um es zu richten. Dabei fiel ihr Blick auf die Feder, die sich in diesem Glas befand. Für einen kurzen Moment schaute sie diese an. Sie wollte sich wieder abwenden, doch … Die weiße Feder zog sie an … Sie wollte sie spüren, ihre Flügel wieder entfalten … fliegen … wollte im Himmel sein … Aber … Würden die Flügel ihre Sehnsucht nicht nur verstärken? Sollte sie sie nicht einfach in sich behalten? Oder besser: Sie vergessen? Immerhin … waren sie nun in etwa so wertlos wie ihr Arm. Sie wusste, dass sie da waren … aber mehr auch nicht. Sie konnte sie nicht benutzen. Sie setzte sich auf das Bett und griff zur Feder, über welche sie einmal kurz strich. Sie war weich und zart. Sie hätte auch einem Vogel gehören können … einem freien Vogel, der im Himmel herumfliegen konnte, wie er wollte … Vielleicht waren es in ihrem Fall dann wohl eher Hühnerflügel als Schwanenflügel. Sie lächelte über diesen lächerlichen Vergleich. Es würden Engelsflügel sein – egal was geschah. Mit diesem Gedanken stellte sie das Glas mit der Feder zurück auf das Regal, auf welchem mehrere Glücksbringer standen. Die erste Feder brachte Glück, hatte Nathan ihr versichert. Ob er davon auch überzeugt war …? Kyrie konnte jetzt etwas Glück gebrauchen … Aber auf was genau hoffte sie eigentlich? Ein Wunder? Sie nahm die Bettdecke - mit einem Arm. Weil sie nur einen hatte. ... Wie sollte sie das Bett mit nur einem Arm zusammenlegen? Das war doch ... Sie hielt die Decke nach wie vor unschlüssig in der Hand. ... Konnte man mit nur einer Hand aufbetten? ... Sie sah zur Tür. Würde sie jetzt wirklich wegen ihrer Bettdecke ihre Mutter holen müssen? ... Sie starrte auf ihre Hand. Warum war das alles nur passiert? Sie machte jedem noch viel mehr Ärger als ohnehin schon ... Mutlos ließ sie die Decke fallen. Es hatte keinen Zweck. Gar nichts hatte einen Zweck ... Sie starrte zum Kleiderschrank. Zumindest Anziehen würde alleine noch klappen, oder? Sie unternahm den Versuch - und zu ihrer enormen Erleichterung funktionierte es auch. Sie entschied sich für eines der letzten Kleider, die noch nicht auf ihr Engelsdasein zugeschnitten waren. Ein freier Rücken würde ihr sowieso nichts mehr nützen … Wie sollte sie das nur ihrer Mutter verdeutlichen? Sie seufzte … Ein Wunder – ja, das wäre doch etwas … Und damit ging Kyrie nach unten, um ein Frühstück einzunehmen. Alleine … Ray verließ die Vorlesung, wobei er sich nicht anmerken lassen wollte, dass er es heute wieder eilig hatte – manchmal glaubte er, er müsse einfach früher dort sein, um Kyrie anzutreffen und andere Male war er davon überzeugt, dass er sich sehr viel Zeit lassen musste. Es war wirklich … ein Dilemma. „Ray!“, ertönte eine Stimme hinter ihm. Wenn die Stimme nicht so tief und abgehakt geklungen hätte, dann hätte er sich einreden lassen, dass es sich um Kyries Stimme handelte. Als er aber stehen blieb und dem Sprecher ins Gesicht sah, bestätigte sich sein Verdacht, dass es sich nur um Ken Melron handeln konnte. Der junge Mann hatte blondes Haar und einen blonden Bartansatz, der für einen aus dem Niedlichen Dorf üblich geschnitten war – in Form eines Herzens. Auch Ken war einer jener seltenen Immigranten, die dazu gezwungen worden waren, in die Stadt zu kommen – vor allem, um zu studieren. Aber Ken schien das wenig zu stören. Dafür blitzten seine zwei smaragdgrünen Augen viel zu freundlich. Allerdings konnte er einfacher in seine Heimat zurückkehren als Ray. Im Gegensatz zum Roten Dorf war das Niedliche Dorf nämlich sehr nah zur Nördlichen errichtet worden. Wie immer trug er seine schwarze, dick geränderte Brille, welche ihn besonders intelligent wirken ließ. Sein grau schimmernder Anzug unterstrich diesen Eindruck lediglich. Wenn man ihn aber genauer kannte, dann wusste man, dass er mehr ein Besserwisser als ein Alleswisser war. Aber vermutlich machte ihn genau das so liebenswürdig. … Oder so ähnlich. „Was ist?“, fragte Ray, um das Gespräch auf den Punkt zu bringen. Er musste sich heute wieder beeilen! Vielleicht war mit ihrem Vater ja wieder alles in Ordnung – aber Kyrie selbst? Was, wenn sie eben erst ab heute wiederkehren würde? „Kling nicht so gereizt“, forderte der Mann, während er sich seine Brille zurechtrückte, „Und sei lieber gespannt!“ Er lächelte provokant. „Was willst du?“, forderte Ray – noch immer ungehalten – zu wissen. Der Junge wusste einfach, wie man andere zur Weißglut brachte. Das war dann seine andere Seite. Er grinste. „Du weißt doch bestimmt, dass die Sieben Sünden in der Nördlichen auftreten, oder? Im Osten!“ Er wirkte hellauf begeistert, als er dies verkündete. Ray dachte kurz darüber nach. Stimmt, er hatte davon gehört, dass die Sieben Sünden, eine sehr beliebte Band, die ihren Beliebtheitsgrad über beide Kontinente erstreckte, in diesem Jahr zum ersten Mal in der Nördlichen auftreten würden. Sie bevorzugten die Dörfer, weil sie eine kleine Gruppe, die total abging, lieber befriedigten als eine große Menge. Deshalb hatten sie sich auch eine kleine Konzerthalle irgendwo in der schäbigsten Gegend gesucht, um die Leute abzuschrecken und „wahre Fans“ hervorzulocken. Ray mochte die Lieder dieser Band, auch wenn man das bei denen kaum pauschal festlegen konnte – eröffneten sie einmal ein total schnelles, hitziges Lied, bei dem man fieberte, kam als nächstes ein langsames, von dem man beinahe einschlafen konnte. Also sehr turbulent. Aber alles in allem waren sie einfach großartig. „Ja“, stimmte Ray zu, „Und ich weiß auch, dass das Konzert bereits vor einem Jahr ausverkauft war.“ Und aus diesem Grund hatte er sich auch nicht mehr damit beschäftigt. Es gab so viele Bands auf der Welt, die gute Lieder anboten – da musste er nicht unbedingt die Sieben Sünden real sehen. „Wir haben eine Karte für dich!“, platzte Ken heraus – übertrieben enthusiastisch. Ray war dennoch perplex. Sprachlos. Ob er gerade mit offenem Mund da stand? „Wir haben eine Karte für dich!“, wiederholte der Mann noch einmal – mit einem kecken Grinsen. Einem boshaften, kecken Grinsen. Ray starrte. „Wir haben eine Karte für dich!“, sagte er erneut, als hätte er es noch nie gesagt. Ray beruhigte sich. „Das hast du bereits gesagt“, wies er seinen Kollegen sachlich an. Dann änderte er seinen Tonfall: „Ihr habt also wirklich eine Karte für mich?“, wollte er gespannt wissen, „So richtig eine Konzertkarte für die Sieben Sünden im Ostblock und das in gut einem Monat?“ Er zog die Stirn kraus. „Wie das?“ Ken räusperte sich. „Also – alles hat vor einem Jahr angefangen, als ich mir diese fünf Karten gekauft habe. Na ja – da waren wir ja noch nicht einmal auf der Uni. Deshalb habe ich sie auch zur Seite gelegt, um sie für meine zukünftigen Freunde aufzubewahren. Aber mir sind sie …“ Er stockte kurz, um verlegen zu grinsen. „Na ja … Ich habe sie eben vergessen. Und als sie mir beim Aufräumen entgegen gefallen sind, habe ich mir Gedanken darum gemacht, mit wem ich sie teilen könnte. Dass meine Freundin …“ Er schaute sich schnell um, um sich zu versichern, dass auch keiner zuhörte. Stimmt, Ken hatte eine Freundin. Ray selbst hatte sie noch nie gesehen, weshalb er auch langsam bezweifelte, dass sie wirklich existierte … Aber wenn er schon eine Karte für sie hatte? „Also Maggie kommt auf alle Fälle mit, das stand für mich fest. Ich habe sie gefragt, ob ihr jemand einfallen würde, den sie mitnehmen wollte und da hat sie mir sofort zehn Leute genannt. Aber ich kenne die alle nicht und daher will ich nicht, dass die mitkommen. Darum habe ich Mark und Ted gefragt“, erklärte er ihm, wonach er kurz pausierte. Ray seufzte innerlich. Ken war eigentlich ziemlich schweigsam. Aber wenn er einmal sprach … dann redete er einfach. Und er war dann nicht mehr zu stoppen. Und wenn Ray die Karte haben wollte, dann musste er jetzt durch. „Ted war sofort einverstanden, Mark hat an dem Datum leider schon ein anderes Event im Visier! Also musste ich mich auf Teds Urteilsvermögen verlassen und er hat sich sofort für dich entschieden – du wärst mir ja gar nicht eingefallen!“ Er grinste entschuldigend. War das jetzt ein Scherz … oder nicht? „Und als fünfte Person kennt Ted da jemanden, der einfach perfekt für dich wäre, hat er gesagt! Und darum kommt Mel mit, die ist nämlich noch dazu eine von Maggies Freundinnen, die sie sowieso aufgelistet gehabt hatte und darum die perfekte Beifahrerin!“ Er wirkte hoch erfreut, dass er Ray die Geschichte jetzt erzählt hatte und schaute einfach so drein, als könnte seine Antwort gar nicht mehr negativ ausfallen. Mel? Okay. Gut – dann würde er eben mit dieser Mel weggehen! Hauptsache er konnte die Sieben Sünden doch genießen. Wenn er die Karten nicht vor die Nase gehalten bekommen hätte, hätte er auf das Konzert verzichten können – aber wenn er sie schon so angeboten bekommen hatte … Und neben den Sieben Sünden auch noch Ted und Ken zu genießen, welche einfach die abgedrehteste Mischung überhaupt ergaben … Ja. Das würde ein äußerst angenehmer Abend werden. Zumindest, wenn diese Mel erträglich war. Und Maggie. Falls sie existierte. „Gut. Ich komme mit“, stimmte Ray zu, „Danke für die Einladung.“ Er lächelte Ken an. Ken lächelte zurück – und plötzlich hielt er zwei Karten in der Hand. „Gib die eine Mel. Das wird sie sicher total umhauen und ihr werdet in drei Wochen verheiratet sein.“ Er grinste. Ray grinste nicht. Manchmal war Ken einfach zu oft mit Ted zusammen. Er würde den kleinen Kerl einmal wieder umkonvertieren müssen, sodass er sich von Scherzen dieser Art fern hielt. Die waren Teds Eigentum – ohne die war Ted nicht Ted. Aber Ken war mit diesen Scherzen einfach nur nervig. „Danke. Wir sehen uns bei der nächsten Vorlesung“, sagte Ray daraufhin und ging von Dannen. „Bis dann“, verabschiedete sich Ken, „Und vergiss ja nicht, dich auf das Konzert seelisch vorzubereiten! Wir werden so abgehen!“ Ray antwortete nicht, sondern verließ am schnellsten Weg die Universität. Hoffentlich hatte er Kyrie nicht wegen ein paar dummen Karten verpasst! Plötzlich bemerkte er, dass er rannte. Daraufhin bremste er sich. Was machte er da eigentlich? Hetzte sich herum … Er holte sein Handy aus der Tasche und begutachtete die Uhr. Es war seine und Kyries Zeit. Er war wirklich spät dran. Sollte er jetzt schon anrufen? Aber was, wenn sie auf der Mauer saß? Dann würde einfach niemand zuhause sein. Wie die letzten paar Male. Aber eigentlich wollte er gar nicht anrufen. Das würde doch … aufdringlich sein, einfach jeden Tag an diesem verfluchten Telefon zu läuten – aber … War es nicht auch unhöflich, einfach nicht zurückzurufen? Kyrie schaute auf die Uhr. Ihre Eltern würden wohl bald zurückkommen. Sie erhob sich von ihrem Schreibtisch. Seit sie als Engel entlarvt worden war, hatte sie nie mehr so viel Zeit ins Lernen investiert wie in den letzten paar Tagen. Vielleicht war es ganz gut, dass sie sich jetzt wieder vollkommen auf die Universität und ihr Studium konzentrieren konnte – so würde sie das zumindest gut abschließen und als ihre Lebensunterlage benutzen können. Das war es doch wert, oder? Nein … eigentlich nicht. Sie verließ ihr Zimmer und machte sich zur Treppe auf. Sie ging die Stufen nach unten, als hätte sie niemals Probleme damit gehabt. Es war noch immer ungewohnt, den Arm nicht benutzen zu können, doch sie lernte, damit umzugehen. Es zu akzeptieren. Sie konnte auch ihrer Mutter unter die Arme greifen, indem sie bereits Geschirr vorbereitete und vielleicht sogar ein wenig vorkochte. Dazu war sie gestern noch nicht in der Lage gewesen – aber heute schien einfach ein besserer Tag zu sein. Vielleicht hatte das Frühstück sie einfach gestärkt … oder ihre Feder. Nein – das bildete sie sich bestimmt nur ein, weil sie auf das Glück in ihrem Talisman hoffte. Auf das Glück, dass sie in den Himmel zurückkehren können würde, ohne dafür getötet zu werden … Plötzlich sank ihre Laune. Sie betrat die Küche und ging zum Schrank, in dem das Geschirr aufbewahrt wurde. Sie holte drei Teller heraus und ging mit diesen zum kleinen Esstisch. Die Küche war wirklich geräumig. Alle Möbel waren weiß und sauber und nirgendwo waren besonders gefährliche Ecken angebracht. Bloß das schwarze Telefon war eine Ausnahme – es stand in einer Ecke; der Kasten auf dem es angebracht war, hatte spitze Ecken und die Farbe unterschied sich ebenfalls. Man bemerkte einfach, dass es nicht zum Küchenset dazugehört hatte. Sie holte Besteck – und plötzlich fiel ihr beim Vorbeigehen am Telefon auf, dass etwas nicht stimmte. Sie benutzte dieses Ding wirklich nicht oft, doch sogar ihr fiel auf, dass jemand den Hörer verkehrt herum aufgelegt hatte. Ob ihr Vater oder ihre Mutter wohl einen so verstörenden Anruf erhalten hatte …? Sie fragte sich, worum es gegangen war, während sie den Hörer wieder richtete und mit dem Besteck weitermachte. Ein Besetztton erklang, als Ray es probiert hatte. Ein Besetztton. Das bedeutete, dass jemand zuhause sein musste, der telefonierte! Und weiters hieß das auch, dass seine Nachrichten tunlichst ignoriert wurden. Ob Kyrie das wohl angeordnet hatte? Er saß wieder auf der Mauer und wartete vor sich hin. Gerade als er auflegte, erschien eine neue Textnachricht von Kylie, welche ihm eine sinnlose Nachricht geschickt hatte, was sie öfters tat, wenn ihr langweilig war. Man bemerkte eindeutig, dass diese Frau ihre Prüfungen endlich hinter sich hatte – plötzlich hatte sie wieder sehr viel Zeit für Blödsinn. Aber er war froh, dass sie sich die Zeit nahm. „Wann hast du eigentlich vor zu kommen?“, wollte er von ihr wissen, wobei er die Worte schnell in das Gerät eintippte. Nachdem er ein wenig in der Gegend herumgeschaut hatte, um festzustellen, dass weder Kyrie noch ihre Eltern kamen, erhielt er eine Antwort. „Weiß ich noch nicht“, las er, „Aber ich werde dich schon nicht überraschen! Die Bahn ist echt wieder sehr teuer geworden. Aber das Geld spar ich mir bestimmt zusammen! Aber rechne nicht zu bald mit mir.“ Er zog eine Grimasse. Zumindest würde sie kommen. Irgendwann. Mal sehen, wer eher da war – Kyrie oder Kylie. Er schaute sich noch einmal um. Brachte es sich überhaupt, weiterhin hier zu warten? Was, wenn Kyrie einfach gar nicht mehr kommen würde? Wenn sie ihn … wirklich verlassen hatte? Aber das konnte er nicht akzeptieren! Erneut wählte er die Nummer. Kyrie fuhr schockiert herum, als das Telefon plötzlich zu läuten begann. Dabei stieß sie mit ihrem Becken gegen den Rand der Küchenzeile, an der sie gerade eine Flüssigkeit umrührte, die danach zum Essen gehören würde. Einmal im Jahr konnte sie immerhin kochen. Noch einmal rührte sie schnell um. Hoffentlich brannte das Zeug nicht an, während sie kurz zum Telefon ging … Deshalb mochte sie Handys lieber! Während man ein Handy benutzte, konnte man alles andere machen – man konnte nebenbei kochen, waschen, Zähne putzen … Nun, zumindest war es noch möglich, wenn man zwei Arme zur Verfügung hatte. Sie rieb sich kurz das Becken und ging dann zum Telefon, wobei sie den Topf im Auge behielt. Sie zuckte zusammen, als er ein seltsames Geräusch von sich gab – doch sie konnte nicht schon wieder das Telefon ignorieren. Darum beeilte sie sich mit den letzten Schritten und hob ab. „Kingston?“, begrüßte sie den Menschen auf der anderen Leitung geschäftsmäßig. Kingston. Jemand hatte abgehoben. Jemand hatte tatsächlich nach all dieser langen, verfluchten, unendlichen Zeit abgehoben! „Hallo!“; sagte er schnell, bevor derjenige wieder auflegen konnte, „Ich bin …“ „Oh, nein!“, erklang es von der anderen Seite. Plötzlich erkannte er in dieser Stimme Kyrie. Kyrie … sie lebte …! Sie lebte! Sein Herz klopfte wie wild gegen seine Brust. Kyrie war am Leben! „Kyrie! Alles in …“, fragte er, stoppte dann aber, als er ein krachendes Geräusch hörte. „Verflucht!“, erklang es von der anderen Seite. „Kyrie?!“, rief er verzweifelt, „Hey, Kyrie, alles in Ordnung?! Hallo!?“ Er erhielt keine Antwort. Hatte sie gerade tatsächlich aufgelegt? Hatte sie ihn etwa auch erkannt? Hielt sie ihn für einen Verrückten, weil er sooft angerufen hatte? Weil er Emotionen zeigte? Weil er nach all den Jahren seine Vergangenheit noch immer nicht verarbeitet hatte? Irgendetwas in ihm fühlte sich leer an. Verdammt leer. Er hievte sich von der Mauer weg und ging los. Zu sich nach Hause. Brachte es sich dann etwas, auf sie zu warten? Sich für sie an diese Mauer zu setzen und zu hoffen, dass sie zurückkehrte? … Aber … weshalb war sie so? Sie hatte nie auf ihn solch einen Eindruck gemacht … Vielleicht war alles bloß ein großes Missverständnis? Vielleicht … Die Lust zu telefonieren, war ihm gehörig vergangen. Die Suppe war übergekocht. Vielleicht hatte sie den Herd doch etwas zu heiß eingeschaltet … Oder zu wenig umgerührt … Oder weiß Gott was! Sie war einfach keine Köchin – sie konnte nur hoffen, dass sie irgendwann einmal einen berühmten Chefkoch heiraten würde, der sie jeden Tag versorgte. Sie konnte nicht einmal Suppe richtig kochen! Es war eine Katastrophe … Warum war sie nur so nutzlos? Sie konnte keinem helfen, sie stand nur im Weg – und augenscheinlich schien sie jeder zu hassen. Schnell wischte sie die Spuren ihres Missgeschicks weg und war dabei, auch sämtliche Beweise zu vernichten, dass sie versucht hatte, ihrer Mutter zu helfen. Ihre Mutter würde eindeutig besser ohne sie zurechtkommen. Jeder würde besser ohne sie zurechtkommen. Sie schaute zum Telefonhörer, der einfach so nach unten hing. Sie konnte da jetzt doch nicht noch einmal dran gehen! Was sollte sie sagen? Dass ihr Suppe übergekocht war?! Was, wenn es einer der Vorgesetzten ihres Vaters war? Was würde der nur denken? Ihr wurde schlecht. Sie war so ein verfluchter Feigling. Sie ließ sich immer sofort von allem abbringen und entmutigen … Sie starrte auf den Suppentopf. … Würde sie jetzt, weil diese Suppe übergekocht war, nie wieder zu kochen versuchen? Wie sollte sie da je einen Schritt vorwärts kommen? Ja, Übung machte den Meister, ja, man konnte aus Fehlern lernen, aber … Aber wozu sollte sie sich überhaupt anstrengen? Sie würde es sowieso nie schaffen. Nichts. Sie wandte sich um. Sie musste auflegen. Sie musste ihn wegdrücken. Sie konnte mit dieser Schmach nicht leben, aber … er tat ihr leid. Er hatte musste sich einfach total veralbert vorkommen - wenn sie erst abhob, sich dann nicht weiter rührte und dann einfach auflegte! Es war so peinlich, aber … aber … Sie nahm das Telefon in die Hand. „Hallo?“ Keine Antwort. Ein Piepen. Er hatte aufgelegt. Hieß das, dass er beleidigt war? Zutiefst entrüstet über ihr unmögliches Verhalten? Sie schaute hilfesuchend zur Tür. Ihre Eltern würden doch bald kommen – dann konnte sie das Missgeschick ihrem Vater doch erklären. Er würde das wieder in Ordnung bringen, aber … Nein. Sie musste das jetzt selbst in die Hand nehmen. Sie hatte sich die Suppe eingebrockt, also hatte sie es auch wieder auszulöffeln! Sie konnte nicht immer alles ihrem Vater tun lassen. Irgendwann würde sogar er die Hoffnung in sie aufgeben … Irgendwann würde noch der letzte Mensch erkennen, wie unnütz sie war. Nachdem sie sich die Hände abgetrocknet hatte und mit Seife auch den Geruch der Suppe ausgemerzt hatte, wagte sie sich erneut ans Telefon – die Wiederwahltaste war zum Glück sehr leicht zu finden, da alles genau beschriftet war. Das war dann wohl wieder ein Vorteil an dieser verkabelten Gerätschaft. Sie drückte die Taste und hielt sich den Hörer ans Ohr. Es piepte und piepte. Doch niemand hob ab … Hoffentlich hatte sie ihn nicht wirklich verärgert. Ihr Verhalten war auch zutiefst unmöglich gewesen! Nein, wie konnte sie nur?! Wegen Suppe … Sie war so dämlich. Aber … aber dieses überkochende Geräusch hatte sie so geschockt – und der Herd war dreckig … Warum musste sie immer die falsche Entscheidung treffen? „Bitte, irgendjemand“, murmelte sie, „gib mir eine zweite Chance …“ Sie legte wieder auf, als ihre Eltern hereinkamen. „Mit wem hast du da telefoniert?“, wollte John plötzlich wissen und war sehr schnell bei ihr. So schnell hatte sie ihn kaum einmal gesehen. War der Tarif etwa so überteuert, dass sie nicht telefonieren durfte? Das wusste sie gar nicht! „Ich habe keine Ahnung“, antwortete sie wahrheitsgetreu, „Ich habe zu spät abgehoben.“ Na ja – es kam wohl als Halbwahrheit durch, oder? „Guten Tag, übrigens“, fügte sie dann noch lächelnd hinzu. Jetzt sagte sie es ihm nicht einmal! Sie log schon wieder. Langsam wurde dieses dämliche Lügen zur Gewohnheit! Zum Alltag … Sie vermisste ihr altes, ehrliches Ich. Das Ich, das ihm gesagt hätte, dass sie Suppe überkochen ließ und dafür den Telefonisten verärgert hatte. Dass er sie einfach vergessen sollte. John nickte zufrieden. „Na gut“, murrte er, „Tag …“ Magdalena kam in die Küche. „Hier riecht es verbrannt“, stellte sie mit einem prüfenden Blick auf Kyrie fest. Diese grinste ihre Mutter nur freundlich an und wandte sich dann an ihren Vater. „Erwartest du einen wichtigen Anruf?“ Magdalena schüttelte ungläubig den Kopf. Er zuckte bloß mit den Schultern. „Zumindest erwarte ich Essen.“ Ray war ins Badezimmer gegangen, um sich abzuduschen. Diese Dusche war genau das Richtige für ihn. Hunger hatte er diesmal kaum welchen gehabt. Er hatte das Essen einfach stehen lassen. Aber diese Dusche … Er massierte sich das Haarshampoo ein. Konnte es wirklich sein, dass Kyrie ihren Kontakt zu ihm abbrechen wollte? Einfach … so? … Hoffentlich würde am Sonntag alles geklärt werden können. Wieso war er überhaupt so versessen auf sie? Wenn sie ihn so behandelte, dann … dann … Vor seinem inneren Auge tauchte ihr Bild auf. Wie sie ihn anlächelte. Und plötzlich umfloss sein Herz eine seltsame Wärme. … Sie war etwas Besonderes, so viel stand fest. Er war sich nur nach wie vor nicht sicher, wie besonders genau. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)