Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Also heute keine weitere Übungseinheit?“, wiederholte Nathan abermals – nur um ganz sicher zu gehen, dass sie es auch ganz ehrlich so meinte. Hoffentlich hatte sie nicht alle Hoffnung aufgegeben oder so was! Aber … nein. Das wäre ja nicht Kyrie. Kyrie war willensstark und mutig. Er schaute sie an. Sie standen auf einer großen Dachterrasse, welche zu einem leer stehenden Hochhaus gehörte. Kyrie erwiderte seinen Blick, wobei sie im selben Moment ihre Schwingen verschwinden ließ. Er erwartete eine Antwort, aber sie gab ihm keine. Plötzlich tauchten ihre Flügel wieder auf und- …! … Kyrie wirkte verwirrt. Nein, mehr deprimiert. „Hast du eben versucht, dein Schwert im Schnellreflex zu rufen?“, wollte er von ihr wissen. Er tätschelte ihren Kopf. „Ich zeige es dir, dann kannst du es üben“, schlug er vor, „Einverstanden?“ „Ja“, murmelte sie, „Wobei ich es mir einfacher vorgestellt hätte.“ Er nickte verständnisvoll. „Es macht einen riesigen Unterschied für dein Schwert, ob du dich im Himmel befindest, wo du einfach von Licht umgeben bist, oder aber auf der Erde, wo du vom Himmel abgetrennt bist.“ Wobei es hier wohl noch am ehesten hätte funktionieren sollen, so hoch oben in der Nähe des Himmels, wo es beinahe so wirkte, als würde der Himmel die Erde berühren –nur beinahe. Aber wohl nicht gleich beim ersten Mal. So etwas erforderte einfach Übung – und auch wenn die ersten Schritte die schwersten waren … Kyrie würde das meistern, wie sie jede andere Übung ebenfalls in einem gewissen Zeitrahmen gemeistert hatte. Von dem her machte es überhaupt keinen Unterschied, ob man es mit Halbengeln oder richtigen Engeln zu tun hatte. Bis auf ihre Herkunft waren sie einfach gleich. Schade, dass es nicht jeder so sah. „Weshalb?“, wollte sie wissen. Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. Vermutlich beschwerte sie sich innerlich darüber, dass er ihr immer die gefühlte Hälfte der Informationen vorenthielt. Aber das war eben er. … Und als würde das mit Absicht geschehen! Manchmal vergaß er eben etwas Wichtiges oder weniger Wichtiges. „Ganz einfach – deine Flügel sind ja nie ganz aufgeladen, wenn du von oben auf die Erde kommst. Auch wenn es nur die geringe Entfernung auf ein Dach ist – es ist zumindest weniger anstrengend. Aber das bedeutet auch immer noch, dass du und dein Schwert wirklich nur von der bereits minimierten Kraft in deinen Flügeln abhängig seid. Und das zeigt sich eben in der Zeit, die das Schwert zum Erscheinen benötigt. Oder eben daran, dass es sich gar nicht rufen lässt.“ Sie legte den Kopf schief. „Nützt es dann überhaupt etwas, wenn ich …“ Er unterbrach sie. „Lass deinen Meister zu Ende sprechen.“ Er grinste. „Jedenfalls: Es gibt Tipps und Tricks, wie man das Schwert beschleunigt rufen und es auf der Erde besser einsetzen kann. Aber dafür ist es nötig, das Schwert erst einmal zu verstehen – und dir fehlt da noch etwas an Übung.“ „Wie viel?“, wollte sie wissen – jetzt wirkte sie verzweifelt. Vermutlich hatte sie viel mehr Angst vor einem Angriff der Menschenengelhasser, als sie zugab. Aber er würde sie beschützen. Und wenn es das Letzte war, was er tat! „Wie wäre es, wenn wir uns ein Ziel setzen würden?“, schlug er spontan vor, „Sagen wir … An dem Tag, an dem du Thierry oder mich besiegst, sind wir so weit.“ Sie starrte ihn mit riesigen Augen an. „Was?“, brach es aus ihr heraus, „Was?“ Sie zeigte sich wahrlich schockiert. Gerade als er zu einer kecken Beruhigung ansetzen wollte, überwand Kyrie ihren Schock und fügte mit fester Stimme hinzu: „Das werde ich nie schaffen, nicht im Leben! Jeff kann mich gleich umbringen. Alles ist umsonst. Ich werde nie zwei seit Jahrhunderten ausgebildete, sportliche Engel besiegen!“ Plötzlich ließ sie ihre Schultern hängen. „Niemals …“ „Hey“, gab Nathan beruhigend von sich, wobei er seine Hände auf ihren Schultern lagerte und sie ein wenig zurechtrückte, sodass sie keine andere Wahl hatte, als ihm ins Gesicht zu sehen. Hoffnungslosigkeit machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Du bist Kyrie, weißt du? Du bist jemand, der an Gott glaubt – ohne Menschen wie dich, wäre er schon lange in sich zusammengefallen! Auch wenn er uns Engel als seine Krieger hat – überzeugte Menschen sind es, die ihm in Wahrheit die meiste Lebensenergie schenken. Er steht in deiner Schuld.“ Er lächelte aufmunternd. „Und jemand, in dessen Schuld Gott steht, wird es wohl schaffen, so ein mickriges Schwertchen zu rufen und damit schwächliche Engelchen aufzuspicken.“ Sie lächelte ihn an. Plötzlich schaute sie panisch Richtung Universität. „Oh nein! Ich komme zu spät!“, rief sie erschrocken und rannte los, woraufhin ihre Schwingen erneut verschwanden. Kyrie hatte sich gefreut, als Nathan ihr hinterhergelaufen war. Immer wieder bis zum selben Ort, jeden Tag. Wenige Kreuzungen vor der Universität verabschiedete er sich Mal um Mal wieder von ihr, nur um sie später am Tag wieder bei ihr zuhause abzuholen. Eigentlich sollte ihr diese ständige Bewachung wirklich ein Gefühl von Sicherheit verschaffen, doch … Dieser Angriff war einfach tief sitzend. So tief, dass nicht einmal Nathans Fürsorge dieser Angst entgegensetzen konnte. Doch vielleicht … wenn sie sich wirklich ein Ziel setzte? Würde sie es schaffen, Thi oder Nathan jemals im Schwertkampf zu schlagen? … Nein, das war doch völlig unmöglich … Aber heute. Heute war nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken – dieser Tag würde sich um die Sieben Sünden drehen. Gestern hatten Kyrie und Ray bereits einen kurzen Ablaufplan besprochen, mit dem sie beide einverstanden waren. Ray hatte ihr auch versichert, dass sie keine Angst vor den anderen zu haben brauchte. Sie hoffte, dass er Recht behalten würde … „Kyrie!“, ertönte eine nur zu bekannte Stimme. Sie hob den Kopf und lächelte Ray entgegen. Er wank ihr aus der Menge zu, ebenfalls lächelnd. Sobald er bei der Mauer angekommen war, legte er seine prall gefüllte Tasche neben der ihren ab und machte es sich am Steinbau gemütlich. Sie saßen nebeneinander. Kyrie hob den Blick, um Ray genau mustern zu können. Heute wirkte er ein wenig erschöpft. Vermutlich hatte er schlecht geschlafen … Seine Haare waren auch zerzauster als üblich – auch wenn das seine Niedlichkeit noch mehr unterstrich. Sein Kopf drehte sich in ihre Richtung und diese grünen Augen blickten in ihre dunklen – fragend. „Hab ich etwas im Gesicht?“, wollte er von ihr wissen. Sie lächelte entschuldigend, schüttelte den Kopf und verneinte: „Ach, nein, keinesfalls!“ Er verzog belustigt das Gesicht. „Ach ja? Was gibt es dann so Interessantes zu bestaunen?“ Sie überlegte, einfach abzuwedeln, doch stattdessen gab sie zu: „Deine Haare sind heute zerwuschelt. Und du wirkst müde.“ Sofort schaute er ertappt hin und her und fuhr sich unauffällig übers Haar. Dann räusperte er sich, woraufhin Kyrie kurz zu kichern begann. Er sah sie todernst an. „Besser so?“ Dann grinste er. Sie schüttelte lediglich ihren Kopf, ersparte sich aber eine Antwort. Sein zufriedenes Lächeln war ihr Antwort genug. „Wie waren die Vorlesungen?“, wollte er von ihr wissen, „Seid ihr schon in Ferienstimmung?“ „Der halbe Saal war leer“, entgegnete Kyrie, wobei sie eine strenge Miene aufsetzte, „Dabei war es sehr interessant … Aber … Mir stellt sich eine Frage …“ Ray wirkte interessiert. „Und die wäre?“ „Wenn … wenn jemand davon überzeugt ist, dass er schwach ist, aber gegen Stärkere ankämpfen muss … Sollte er die Herausforderung annehmen? Auch ohne eine Überlebenschance“ Die Frage wirkte leicht unsicher – immerhin war sie auch unüberlegt und hatte rein gar nichts mit den heute vorgenommenen Themen zu tun gehabt. Aber … mit dem Thema, mit dem sie sich zu beschäftigen hatte … Aber wenn sie ohnehin zu schwach war … würde es dann einen Unterschied machen, wo und wann sie ihr Ende fand? Ja. Würde es. Letzten Endes würde es immer darauf hinaus laufen, dass sie Nathan dafür als Schülerin für Kurz oder Lange zur Last fallen müsste. „Hm. Ich würde sagen, dass es sich auf jeden Fall bringt, den Kampf anzunehmen“, richtete er nach kurzer Zeit, „Immerhin … stirbt man ohnehin. Doch wenn man kämpft, kann man beweisen, dass man es schaffen kann. Dass man sich selbst und andere ändern kann.“ Er schaute sie durchdringend an. … Ja, sie würde ohnehin sterben, doch wenn sie das Ziel etwas herunter setzen konnte, dann würde es doch … Nein, es würde nicht machbar sein. Immerhin brauchte sie eine gewisse Stärke, um das Schwert auf der Erde überhaupt rufen zu können … Und wenn sie nicht einmal im Himmel diese Stärke aufbringen konnte … Wie sollte sie es dann auf der Erde je schaffen? „… Was sagen denn die Dozenten zu dem Thema?“, fügte Ray nach kurzer Zeit hinzu. Sie blinzelte ihn verwirrt an. Stimmt, sie hätte wohl besser antworten sollen. Aber stattdessen schüttelte sie den Kopf. „Die Antwort gibt es erst beim nächsten Mal, haben sie gesagt“, umschrieb Kyrie Nathans Andeutungen. Sie musste sich ein Ziel setzen. Aber … bis wann? Sie hatte für sich selbst entschlossen, dass sie es bereits bei der nächsten Einheit preisgeben würde. Er nickte. „Ich verstehe“, fügte er noch hinzu, dann begann er damit über sein Studium zu sprechen. Er hatte seine Stunden so eingeteilt, dass er jeden Tag ein anderes Fach hatte – und alle nur für sechs Stunden pro Tag. Es war eine durchaus intelligente Einteilung, wenn man bedachte, dass sich dadurch die Jahre, die man insgesamt an der Universität verbrachte, verlängerten – doch wenn man drei Richtungen studierte, machte das wohl nicht mehr den erheblichen Unterschied aus. Als das schwarze Auto auf den Parkplatz rollte und Kyrie sich bereits erhob, erinnerte Ray sie an ihre Verabredung: „Heute, um 16 Uhr vor deinem Haus – nicht vergessen!“ Sie lächelte ihm zu. „Ich freue mich schon!“ Ihre Mutter grinste liebevoll. „Mein Mädchen ist so wunderhübsch!“ Sie wuschelte Kyrie durch das schwarze Haar, welches sie in der letzten Stunde gelockt, zu Zöpfen verarbeitet und teilweise hochgesteckt hatte – und letzten Endes hingen sie doch wieder schlaff nach unten. Na gut, einige Wellen waren übrig geblieben. Kyrie betrachtete sich selbst im Spiegel. Es wirkte dennoch … übertrieben. Es fehlte nur noch die Krone und sie hätte sich selbst an eine Märchenprinzessin erinnert. Oder an eine der Damen, die früher die Welt regiert hatten. Jetzt standen immerhin irgendwelche Politiker an der Macht, die einfach damit beschäftigt waren, den Frieden zu bewahren – und das, ohne dass sie von irgendwelchen Dämonen, Engeln oder Göttern wussten. Was für eine Welt. „Und das Kleid habe ich dir auch noch umgenäht!“, rief ihre Mutter enthusiastisch aus. Mit düsterer Vorahnung wandte Kyrie sich um und erkannte, dass sie Recht behalten hatte: Ihre Mutter schien sie hier mehr auf eine königliche Hochzeit in einem Glasschloss vorzubereiten als auf ein stinknormales Konzert in der Gosse. Das Kleid, das Magdalena in den Händen hielt, war lang, weiß und hatte unzählige Perlen, Rüschen und unterschiedliche Arten von Stoffen eingearbeitet. Sie lächelte nüchtern. „Danke für die Mühe, Mama“, begann sie, „… aber das trage ich lieber zu einer Heirat …“ Magdalena kicherte. „Na gut. Aber du musst mir versprechen, dass du denjenigen heiratest, den du wahrlich liebst.“ Sie zwinkerte ihr zu. … Wovon sprach sie …? Egal. Es war beinahe sechzehn Uhr und sie war noch immer nicht angezogen! Kyrie erhob sich. „Weißt du …“, setzte sie an, während sie zum Kleid schritt, welches ihre Mutter in den Händen hielt, und kurz darüber fuhr. Der Stoff fühlte sich angenehm an. Das Kleid war ganz nach der derzeitigen Mode geschnitten. Und es verbrauchte nur wenig Platz. Wo hatte sie das überhaupt her? Plötzlich erkannte sie es. Ihr klappte der Mund auf. „Ist das … Ist das mein Sommerkleid?“, wollte Kyrie schockiert wissen. Ihre Mutter nickte stolz. „Jede einzelne Perle und Rüsche habe ich in den letzten Tagen eigenhändig angenäht, alle Stoffbahnen sind von mir selbst ausgesucht und auf diese Weise bearbeitet! Und ich hoffe, dass du uns Ray darin endlich richtig vorstellen wirst!“ Sie wirkte unvorstellbar glücklich. … Aber warum das Sommerkleid? Natürlich hatte Kyrie das mit Melinda ausgesucht, aber dennoch … Es war das einzige Kleid dieser Art, das sie besaß. Und ihre Mutter hatte daran doch zuvor schon Änderungen unternommen und … Sie unterdrückte ein Seufzen. Egal. Doch … was meinte sie eigentlich mit … Ray und … vorstellen? Sie schaute ihre Mutter fragend an. Setzte ihren unverständlichsten Blick auf. „Ray … und du“, wiederholte ihre Mutter wie selbstverständlich, „Ihr seid doch ein Paar!“ Sie grinste. Kyries Augen wurden merklich weiter und größer. Ihr Mund klappte weiter und weiter auf – und sie spürte, wie das Blut ihr ins Gesicht schoss. Ehe sie einige Worte heraus brachte, machte sie einige ungeschickte Klappergeräusche, da ihr Sprachorgan außer Betrieb zu sein schien. Mit zitternder Stimme fragte sie nach, wobei sie sich wie der größte Trottel auf Erden fühlte: „Ach … ja? Sind wir? Aber … Sind wir …! Wie kommst du darauf?“ Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Wie konnte ihre Mutter nur eine Annahme solcher Art treffen? Sie hatte doch nie irgendetwas angedeutet! Und dass er sie heute auf das Konzert einlud, war doch ebenfalls bloßer Zufall! Genauso wie ihr Mauertreffen … Wenn einer von ihnen das Studium beendete, würden sie sich wohl nie mehr wieder sehen … Und … Ein nüchterner Gedanke kam ihr: Auch wenn sie sich in ihn verlieben würde, könnte sie es nie auf sich nehmen, ihn weiter zu belügen. Und da sie ihm nicht die Wahrheit sagen konnte, erübrigte sich das ganze Thema. Sie war froh, dass sie nicht mehr freundschaftliche Zuneigung für ihn empfand. Wie also kam ihre Mutter auf solch absurde Ideen?! „Ihr trefft euch jeden Tag“, begann ihre Mutter, wobei sie die Aufzählung mit ihren Fingern veranschaulichte, „Ihr habt so viel Spaß miteinander – und so glücklich habe ich dich seit deiner Freundschaft mit Nathan nicht mehr gesehen!“ Sie verschränkte die Arme. „Dein Vater akzeptiert es zwar nicht, aber du kannst Nathan wohl nicht zum Mann nehmen, wenn er im Himmel so beschäftigt ist. Auch wenn er ihn bevorzugen würde.“ Sie lächelte freundlich. „Wobei sich das wohl ändern würde, wenn wir endlich in den Genuss kämen, Ray kennen zu lernen!“ Kyrie krallte sich im Sommerkleid fest und schob es mit aller Gewalt in die Arme ihrer Mutter zurück. „Behalte dir das“, antwortete sie kühl, drehte sich um und stürmte aus dem Zimmer. Im Badezimmer blieb sie stehen, schloss die Tür und setzte sich davor. Instinktiv fasste sie an ihr Herz, welches viel zu schnell schlug. Sie war nervös. … Was faselte ihre Mutter da? Sie … Sie hatte doch keine Ahnung … Niemand hatte eine Ahnung von ihren Gefühlen – immerhin hatte sie sie gekonnt verborgen … Hatte zumindest all die Jahre geglaubt … All die Jahre, in denen sie auch sich selbst belogen hatte … „Na toll“, bedauerte sie, „Ich habe immer noch kein Gewand.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)