Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Nathan konnte es wirklich kaum fassen, dass er heute einen Tag ohne Kyrie hinlegen würde! Natürlich liebte er die Zeit, die er mit seinem Lieblingsschützling verbrachte … Außerdem hatte er sie heute auch schon gesehen und sie waren die ganze Nacht lang am Trainieren gewesen … Aber dennoch! Heute Abend würde er sie nicht abholen. Dass erinnerte ihn an die Zeit von vor ein paar Wochen. Vor diesem bescheuerten Übergriff, den dieser verdammte Xenon in Auftrag gegeben hatte! Damals war er mit all seiner Recherche und all seinem Wissen und sämtlichen Aufgaben sehr gut zurecht gekommen. Zwanzig Jahre erschienen vielleicht wie eine kurze Zeit, aber sie hatten es gehörig in sich! Er war kaum nachgekommen – und dann auch noch diese Sonderaufgabe mit Luxuria, die Acedia wohl von allem am meisten interessierte. … Und nebenbei noch Kyrie aufzuziehen und zu beschützen … Xenon gehörte einfach bestraft. Aber Kyrie wehrte sich dagegen, dass er diesem Mann einfach die Meinung sagte – immer wenn er ihm im Gang begegnete, begann Wut in Nathan zu kochen. Eigentlich sollte er als angehende Todsünde keine solche fühlen, doch dieser Mann war einen Schritt zu weit gegangen. Er – und auch seine aggressiven, völlig verrückten Kumpane, die wirklich glaubten, dass ihr Weg der richtige sei! Lächerlich. Er saß in Acedias Büro und ging die Protokolle der letzten Konferenz durch. Sie hatten Kyrie wirklich mit keinem Wort erwähnt. Xenon war zu wichtig, um verraten zu werden! … Dabei hatte Nathan einst Respekt gegenüber Gula empfunden … Doch jetzt … Jetzt erkannte er, was für eine Marionette er im System war. Nun – vielleicht war das etwas hart ausgedrückt, daran gemessen, dass Luxuria schon einige Zeit ihre Pflichten vernachlässigt hatte, aber … Kyrie war für ihn genauso wichtig, wie Luxuria für den Himmel. Da zählte wohl das Gemeinwohl. Aber was waren schon ein paar Monate? Der Übergriff auf Kyrie hatte tatsächlich stattgefunden – bei Luxuria schwankten die Gemüter! Sie war erst kurz fort – was waren schon ein paar Monate!? Vor seiner Zeit auf der Erde hatte Nathan nicht gewusst, was es bedeutete, einen Monat zu leben. Er konnte sein Leben höchstens in Jahrzehnten, wenn nicht sogar nur in Jahrhunderten messen. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, was ein Tag war oder eine Nacht – und jetzt teilte er seine Wochen in Tage und seine Tage in Stunden ein. Vielleicht hatte der Aufenthalt auf der Erde ihm wirklich etwas mitgegeben. Man bemerkte auch, dass andere Todsünden vermutlich ähnlich fühlten wie er: Mittlerweile hielten sie beinahe jeden Tag eine Konferenz ab – wahrscheinlich hatten sie das schon immer so gemacht, bloß hatte ihn das nicht gekümmert, weil er sich unter einem „Tag“ nichts vorstellen konnte. Daran, dass seine Freunde allerdings immer wussten, wann es Zeit für das Mittwochstreffen war, erkannte er, dass wohl bloß er nicht umsichtig genug gewesen war. Doch sie hatten alle ihre Gründe, auf so kurze Zeitspannen zu achten: Thierry musste an unterschiedlichen Trainingseinheiten teilnehmen, die täglich wöchentlich stattfanden. Deliora musste sich an genaue Termine für das Herstellen unterschiedlicher Bücher und Schriften halten, weshalb sie das Datum und den Tag – die praktischerweise der Erde angeglichen waren! – ebenfalls im Auge behalten musste. Liana traf sich sooft mit verschiedenen Leuten, dass sie vermutlich an den Zeitplänen der anderen die Stunden zählen konnte … Und Joshua … Er war vermutlich genauso unbekümmert wie Nathan. Früher war es wohl so, dass Nathans Zeitplan seiner war – sie hatten alles zusammen gemacht. Und jetzt … Jetzt sahen sie sich mittwochs. Er sortierte Blätter und las schnell über die unterschiedlichen Berichte. Luxuria war erneut ein großes Thema gewesen. Acedia schrieb, dass sie zwei Verbündete hatte, die sie dabei unterstützten, einen Ersatz für Luxuria zu finden, sodass sie wieder Sieben Todsünden waren. Sie stützte sich dabei auf ihre eigene Erfahrung mit der Todsünde – nämlich auf jene, dass eine Luxuria keine Pflichten vernachlässigte. Dass ihr deshalb etwas zugestoßen sein musste. Und genau dort lag der Punkt: Ihre Gegner wollten nicht einsehen, dass irgendetwas geschehen sein musste. Dass es da draußen etwas gab, das eine vertrauenswürdige Todsünde von der Arbeit abhielt. Kamen Superbia oder Acedia zu spät, so würde das wohl keinen der Sieben wundern … Doch Luxuria. Nathan glaubte, dass jemand, der genauso pflichtbewusst wie Luxuria war, Ira darstellte. Zumindest wirkte der Mann sehr berechnend auf ihn und er schien immer beschäftigt zu sein, seinem Terminkalender gerecht zu werden. Vielleicht war das auch bloß so, weil er keines Assistenten mächtig war. Aber wie man bemerkte, mühten sich vor allem die faulen Todsünden damit ab, zu allererst einen Assistenten zu finden, der für sie die nervige Nebenarbeit erledigte, sodass sie sich auf ihr Amt konzentrieren konnten. Natürlich hatten auch gewissenhafte Todsünden Assistenten … Hätte Luxuria einen Assistenten gehabt, so hätte dieser bestimmt eine Ahnung von ihrem Aufenthaltsort … Oder aber sie wüssten mit Sicherheit, ob sie noch am Leben war. Wenn sich der Assistent nämlich zur Todsünde ausrufen lassen konnte, so wehrte sich der Name entweder dagegen, an ihn weitergegeben zu werden, falls die ehemalige Todsünde noch lebte, oder nicht. Das Problem dabei war, dass dies im öffentlichen Rahmen unter Anwesenheit möglichst aller Engel geschehen musste. Und das würde wohl Aufmerksamkeit erregen. Einen anderen starken Engel zu suchen, der die Aufgabe der Todsünde im Falle einfach übernehmen könnte, war ebenfalls mit Nachteilen durchspickt, da er keinerlei Vorbereitung auf das Todsündenleben erhalten hatte. Nathan zum Beispiel kannte mittlerweile die Rechte und vor allem die Pflichten und Tagesabläufe einer Todsünde – und durch die Berichte wusste er auch mehr über die Geschehnisse im Himmel als normale Engel. Er war vorbereitet. Theoretisch konnte Acedia bald abtreten. Aber Nathan wollte das nicht. Zwar erklärten sie ihm, dass man als Todsünde dann sein Leben wieder genießen durfte, doch er war sich nicht so sicher. Vor allem, wenn er über Acedias Termine nachdachte. Plötzlich schoss ihm etwas: Was, wenn jemand Luxuria etwas angetan hatte, um an ihr Amt zu kommen? Es musste ein starker Engel sein. Jemand, der zumindest die letzte Wahl überlebt hatte, oder einer, der zu ihrem Assistenten werden wollte, aber abgelehnt wurde oder ein anderes persönliches Motiv hatte. Acedia kannte Luxuria schon lange – vielleicht konnte er mit ihr darüber reden. Schnell machte er sich zu ihrem Terminkalender auf, um zu sehen, wo sich seine Chefin im Moment aufzuhalten hatte. Im Saal des Höchsten Gerichts also. Es war wirklich gemütlich. Ganz anders als alle Konzerte, die er bisher besucht hatte. Aber ihm gefiel dieser Stil. Die Halle – die seltsamerweise von außen hin als „Café“ bezeichnet wurde – umfasste relativ wenig Platz. Im Untergeschoss befanden sich bestimmt nicht mehr als fünfhunderte Personen, die sich vor allem vor der Bühne tummelten, um die Bandmitglieder mit eigenen Augen beobachten zu können – und vergeblich zu versuchen, sie mit ihren Händen zu berühren, auch wenn der Vokalist sich manchmal die Mühe machte, in bereitgestellte Hände zu klatschen. Weiter hinten waren runde Tische aufgestellt, um die herum kleine, leichte Stühle standen, mit denen man wohl niemanden umbringen konnte – wofür Veranstalter von Jugendkonzerten sorgen mussten. Wow – er lernte tatsächlich etwas in Rechtskunde! Ray saß auf genau so einem bequemen Stuhl und begutachtete die Menge. Vor ihm stand sein Getränk, in der Mitte des Tisches hatten sich in der Zwischenzeit einige Snacks angesammelt, die sie mit Vorliebe zu sich nahmen. … Na ja, diejenigen von ihnen, die anwesend waren. Er sah zur einzigen Person in seiner Nähe. Kyrie saß neben ihm, ihr Blick war starr auf die Bühne gerichtet und man konnte ihrem Gesichtsausdruck ansehen, wie gerne sie ebenfalls vorne in der tosenden Menge stehen wollte, um den vergeblichen Versuch zu unternehmen, ein Mitglied zu berühren. Im Moment sangen sie eines ihrer unbekannten Lieder. Ray vermutete, dass es etwas in Richtung „Himmel“ heißen musste – sooft, wie er das Wort sang. Doch auch der Rhythmus des Liedes war sehr zu seinem Gefallen. Gedankenverloren wippte er mit, während er zu einem Keks griff. Ken und Maggie hatten sich bereits vor einer Weile verabschiedet – sie wollten ihre Zweisamkeit im Obergeschoss genießen. Im Obergeschoss konnte man das Konzert noch immer mitverfolgen, da dort riesige Schächte waren, durch die man den Schall hören konnte – doch man sah die Band nicht. Darum würde man da oben wohl eher mehr Paare als Fans antreffen. Wo Ted abgeblieben war, wusste Ray nicht. Das Lied neigte sich dem Ende zu und nach dem letzten tosenden Applaus – Kyrie stand auf und klatschte und kreischte laut mit, während Ray bloß klatschte und anerkennend nickte – kündigte der Sänger, der auch beim Reden seine engelsgleiche Stimme nicht verlor, an, dass sie sich für eine kurze Pause zurückzogen. Aufgeregtes Geplapper startete, nachdem die Fans jetzt eine ganze Stunde lang unterhalten worden sind. Kyrie wandte sich zu ihm um. Ihre Augen glitzerten vor Begeisterung. „Danke, Ray!“, rief sie laut aus, „Danke, dass du mich mitgenommen hast!“ Sie übertönte tatsächlich die Menge! Sie erhob sich schnell und ehe er sich versah, umarmte sie ihn. „Danke!“ Er drückte sie kurz, rückte dann aber mit dem Stuhl ein wenig zurück und schaute ihr ins Gesicht. Erst jetzt bemerkte er, dass sie sich für den heutigen Tag extra mit Make-up herausgeputzt hatte. Ihr Lidschatten war bloß leicht aufgetragen und violett, aber er betonte ihre Augen besonders. „Keine Ursache“, wedelte er ab, „Ich bin doch froh, dass du dabei bist.“ Dann grinste er. „Und dass es dir gefällt.“ Sie lächelte. „Wenn wir uns jetzt schon an die Bühne stellen würden, dann hätten wir nachher genug Platz!“, schlug sie plötzlich vor, wobei sie zur Bühne deutete, wo zwar noch ein Haufen Menschen standen, aber bei Weitem nicht mehr so viele. Er runzelte die Stirn. „Das wird eng.“ Sie blickte ihn energisch an. „Es ist es wert!“ Ray seufzte theatralisch, dann erhob er sich. „Was immer die Dame wünscht.“ Das Grinsen verließ seine Lippen nicht. Gerade als er Kyrie anbot, sich bei ihm einzuhaken – was auch immer sein Ruf besagte, er war höflich und kannte die Etikette! -, erschien Ted urplötzlich vor ihm. An beiden Armen hatte er ein junges Mädchen eingehakt. „Das sind Barbie und Stacy!“, stellte er überlaut vor – wobei er unablässig grinste, „Und sie wollten dich unbedingt kennenlernen!“ Unbegeistert schaute er die beiden Mädchen an. Sie waren in einem ziemlich anderen Stil gekleidet als Kyrie – doch sie waren genauso hübsch. Bloß dass eine feuerrotes Haar hatte, während die andere sich hellrotem bediente. Ted schien wohl Rothaarige zu bevorzugen – zum Glück. „Hallo“, antwortete er. Eine der beiden trat vor und umarmte ihn stürmisch. „Willst du mit mir tanzen?“, wollte sie wissen, „Auf der Oberfläche läuft Musik!“ Ihre Worte unterstrich sie, indem sie sich an ihn anschmiegte. Er warf Ted einen bösen Blick zu, nahm die Hände des Mädchens in seine Hand und schob sie vorsichtig zurück. „Kein Interesse“, lehnte er ab. Sie wirkte beinahe beleidigt – ihre Freundin kicherte lautlos. „Spar dir dein schadenfrohes Grinsen“, wies er sie an, drehte sich um und war gerade dabei, Kyrie sein Angebot erneut zu unterbreiten, als er bemerkte, dass sie verschwunden war. Hilfe suchend, schaute er zu Ted – dieser war allerdings gerade mit dem Trost seiner beiden Freundinnen beschäftigt. Ray schaute sich um. Wo war Kyrie? Kyrie schmiegte sich durch die Menge an Leuten. Scheinbar hatten einige dieselbe Idee wie sie gehabt und waren bereits in der Pause unterwegs in die erste Reihe. Als sie zwischen einigen Leuten hindurch geeilt war, erkannte sie schon ein paar Lücken ganz vorne. Eilig rannte sie auf diese zu, um sie zu besetzen. Jetzt musste sie sich nur noch groß genug machen, sodass später Ray auch noch Platz hatte. Falls er überhaupt kam. Aber vielleicht beschäftigte er sich auch lieber mit Stacy. Das Mädchen hatte immerhin sehr schöne, rote Haare und hellblaue Augen, die wie Kristalle wirkten. Sie hätte es ihm wohl nicht verübeln können, wenn er entgegen seiner Worte mit ihr tanzen wollte. Sie hätte ja auch auf ihn warten können, falls er dem Mädchen eine Abfuhr erteilte, aber ihr Herz hatte so fest zu schlagen begonnen, dass sie keinen anderen Ausweg mehr wusste, als sich umzudrehen – und während sie sich wegdrehte, bemerkte sie eine Menschenmenge, die gefährlich schnell der Bühne näher kam. Also musste sie einfach schneller sein. Breitbeinig und mit beiden Ellbogen von sich gestreckt, lagerte sie ihren Kopf auf der Bühne, sodass niemand ihr ihren Platz streitig machen konnte. Einige machten es ihr nach. Scheinbar gab es hier mehr Leute, die Plätze frei hielten. Ihr Herz schlug noch immer wie wild – sie hoffte, dass dies von der Aufregung wegen des nächsten Auftritts war und nicht weil … weil … Weil sie es unangenehm fand, daran zu denken, was Ray mit diesem Mädchen alles machen konnte. Sie bemerkte, dass ihr Blut in die Wangen schoss. Sooft wie in den letzten Stunden war sie wohl noch nie errötet. Aber … Ray löste in ihr einfach ein seltsames Gefühl aus. Ein Gefühl, das Kyrie auf diese Weise noch nie so richtig verspürt hatte. Nämlich Eifersucht. Immerhin war er ihr Mauerfreund. Sie versuchte, es abzuschwächen, doch es gelang ihr kaum: All die hübschen, jungen Mädchen, die sich hier herumtrieben, waren potenzielle Konkurrentinnen – und was Kyrie von ihnen unterschied, war einfach, dass sie mit Ray hier war. Er hatte ihr die Karte gegeben, hatte sie mit dem Auto abgeholt und war dann bei ihr geblieben … Natürlich hatte sie all die kalkulierenden Blicke bemerkte, die während der Auftritte auf Ray gefallen waren. Die anderen hatten dabei wohl einfach durch sie hindurch gesehen … Aber vor allem … Vor allem hatten sie doch gutes Recht, Ray anzusehen und ihn vielleicht für sich auszuwählen. Genau dasselbe Recht hatte er. Kyrie hatte kein Besitzrecht auf ihn – er durfte sich mit denjenigen abgeben, mit denen er Zeit verbringen wollte. Und Kyrie hatte wirklich Verständnis dafür entwickelt, dass es eben nicht sie war, mit der jemand beisammen sein wollte. Dass die anderen ihr einfach vorzuziehen waren … Sie hatte bereits darüber nachgedacht, wie sie diesen Umstand ändern konnte. Wie sie sich ändern konnte … Doch mit jedem törichten Versuch, sich selbst umzuformen, erkannte sie, dass sie genau so bleiben wollte, wie sie war. Sie war nämlich stolz auf sich selbst. Aber das bedeutete doch nicht, dass sie deshalb bereit war, alleine durch ihr Leben zu ziehen. Mit der Veränderung vom Menschen zum Halbengel hatte sie immerhin vier neue Freunde gefunden und einen verloren geglaubten wieder gewonnen. Dadurch, dass sie mit aller Kraft ihre Tränen unterdrückte, hatten Ray und sie sich zu Freunden entwickelt … Es lag also an ihr. An ihr und ihrer fürchterlichen Angst, sich zu ändern. Sie blickte kurz zurück. Keine Spur von Ray. Also hatte er sich entweder dazu entschieden, mit Stacy den weiteren Abend zu verbringen … Oder er war auf der Suche nach ihr. Urplötzlich fühlte sie ein Vibrieren in ihrer Tasche – daraufhin ertönte ihr Klingelton. Sofort packte sie ihr Mobilfunkgerät aus und legte es schleunigst an ihr Ohr. „Kyrie!“, ertönte aus der anderen Leitung, „Wo steckst du denn? Ich kann dich einfach nicht finden.“ „Ich … stehe in der ersten Reihe“, gab sie von sich, wohl bemüht, noch immer so breit wie möglich zu wirken, obwohl ihre Beine zitterten. Er suchte sie. Er hatte Stacy fortgeschickt! „Oh.“ Ein Lachen ertönte. „Ich auch!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)