Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Als Ray am Bahnhof stand, fühlte er sich ein halbes Jahr in die Vergangenheit gerückt. Nur, dass es diesmal nicht er war, der in den Zug stieg, sondern sie. Er umarmte sie weiterhin und sie drückte ihn ebenfalls fest. Der Zug war noch nicht da, sie waren sogar recht früh dran. „Ich werde den Kuchen gleich nach der Ankunft mit ihnen teilen“, versprach Kylie murmelnd. „Danke … Ich würde gern mitkommen, wenn ich könnte“, fügte Ray leise hinzu. Der Gedanke, sie nun … ewig nicht mehr sehen zu können, war unerträglich für ihn. Sie hatte ihm gestanden, dass es in nächster Zeit für sie wohl nicht mehr möglich war, Tickets zu organisieren. Dass sie sich wohl wieder auf Nachrichten und Anrufe beschränken mussten … Er hielt sie fester, wollte sie nicht gehen lassen. Sie hatten so viel miteinander durch gestanden. Sooft hatte er daran gedacht, dass er sein ganzes Leben nur wegen Kylie überhaupt überstanden hatte. Sie war ihm nie von der Seite gewichen, war immer bei ihm … „Tauschen gilt ja nicht“, erinnerte sie ihn daran, „Und du hast hier ja auch eine verzweifelte Seele, der du helfen kannst.“ Er wusste, dass das ein Scherz hätte werden sollen, auch wenn ihre Stimmlage das nicht zu erkennen ließ. Aber er kannte Kylie. Daraus schloss er, dass auch ihr der Abschied schwer fiel. … Er war sich dessen sogar ziemlich sicher. Keiner ließ gerne von seinem besten Freund ab. „Ich werde dich trotzdem vermissen“, meinte er, „Aber ich beeile mich mit dem Studium. Dann komme ich zu euch zurück.“ Diese Woche … es war … wie früher. Kylie hatte ihn geärgert, er hatte zurückgemault und am Ende des Tages hatten sie sich noch immer prächtig verstanden. Sie hatten so viel gemeinsam erlebt und gesehen … Und … auch wenn er es nicht gerne zugab … ihretwegen hatte er einiges mit seiner „Familie“ unternommen. Zwar hatten sie die letzten beiden Tage wieder mehr auf Ignoranz umgeschalten, aber … so ein kleiner Teil in ihm … dankte ihr für die Moment, die sie ihm dadurch geschenkt hatte. Auch wenn er sich nicht so genau erklären konnte, wie das möglich war. Er wollte sich weiterhin fern von ihnen halten. … Dahingegen wusste er genau, dass er seine Freundin alsbald wieder sehr vermissen würde. Aber irgendwann würde sie wiederkommen. Wenn nicht umgekehrt. „Und beim nächsten Mal meldest du mich gefälligst an“, verlangte Kylie dann. Erneut scherzhaft, wobei ihre Stimme diesmal sogar fast danach klang. „Klar, wenn ich es nicht vergesse“, meinte er schmunzelnd. „Keine Sorge, ich erinnere dich daran“, gab sie an, „Und schau zu, dass sie die Uni abreißen. Ich will nie wieder dumm dastehen.“ Er lachte leise in ihre Kapuze hinein. „Hat dir aber nicht geschadet.“ „Und du … Ich will, dass du glücklich wirst.“ Zum ersten Mal seit einer Viertelstunde trennten sie sich von einander, weil Kylie ihn von sich weg schob. Ein seltsames Gefühl. Ungewohnt. Er hätte sie noch ewig umarmen können. Ihre Nähe und Wärme genießen … die letzten Moment vor ihrer Abfahrt. „Also nutze diese Chance gefälligst und lasse sie ja nicht verstreichen!“ Es wunderte ihn, dass sie nicht mahnend den Zeigefinger hob. Aber er nickte. „Ja, Sir.“ Selbstzufrieden grinste sie ihn an. „Schwester heißt das, du Idiot.“ Er salutierte. „Aye, Schwester.“ Sie lachte. Und als wollte der Zug den Rest eines Gespräches unbedingt unterbinden, ertönte in dem Moment die Ansage durch die Lautsprecher. „Zug fährt ein“, murmelte Ray. Er betrachtete seine Freundin erneut. Sie hatte den Koffer hinter sich stehen. Liz hatte sie hierher gefahren. Radiant hatte sich gestern Nacht noch bei Kylie verabschiedet, Kim heute Morgen, wobei Kylie angeordnet hatte, dass sie unbedingt ein Foto von dem kleinen Baby haben wollte, sobald es da war. Liz war im Wagen geblieben und hatte sich von dort aus verabschiedet. Um sie beide „nicht zu stören“, wie sie es ausgedrückt hatte. „Und halte mich auf dem Laufenden“, forderte Kylie, „Deine Schwester ist mir zu geheimniskrämerisch! Die erzählt mir kaum noch was.“ „Sie hat ja genug eigene Probleme“, sagte Ray leichtfertig. Er sah den Zug. Wie er schnell näher kam. „Aber ja, ich gebe alles weiter, was ich so mitbekomme.“ Ernst legte sich in seine Züge. „Wenn du mir zuverlässig immer antwortest! Ich will nie wieder so eine Panik bekommen!“ Sie grinste. „Wer hat mir die Schwangerschaft vorenthalten?“ „Ich wusste nichts davon“, verteidigte er sich. Sie hob eine Augenbraue und sah ihn nüchtern an. „Was echt peinlich ist.“ Der Zug blieb stehen. Die Leute drängten sich zu den Türen. „Gut, dann geh ich jetzt“, meinte sie und wandte sich um. Schnell sprang er zu ihr und umarmte sie noch einmal richtig. „Danke, dass du gekommen bist. Du hast mir sehr geholfen.“ Sie lächelte ihn sanft an, während sie ihre Arme ebenfalls noch einmal um ihn legte. „Dafür sind Freunde doch da.“ Und als er winkend am Bahnsteig stand, direkt neben dem Fenster, aus dem Kylie ihn ansah und ebenfalls zu wank, während sie Grimassen schnitt, überlegte er sich für einen Moment, ob er es nicht riskieren sollte. Ob er nicht einfach in diesen Zug steigen und sich vor den Kontrolleuren verstecken sollte. Seine Mutter wartete am anderen Ende der Gleise. Er ging auf die Tür des Wagons zu. Kylie schaute ihm berechnend nach. Einige Leute waren noch immer dabei, einzusteigen. … Er würde vielleicht sogar bis ins nächste Dorf kommen, wenn so viel los war. … Jeden Tag eine Station. Kurz blickte er zu Kylie zurück, die ihn beobachtete. Sie würde ihn nicht aufhalten. Sie würde ihm helfen. Helfen, von hier wegzukommen. Zurück zu seiner Mutter … Er ließ alle Leute vor sich einsteigen. Und als er der Letzte war, erkannte er, dass Kylie vor den Stufen stand. Sie schaute auf ihn herab wie eine Königin einen Bauern betrachtete. Doch anstatt ihn fortzustoßen, streckte sie ihre Hand aus. „Willst du wirklich alles aufgeben?“, fragte sie leise, „Zurück in die kleine Welt kommen, aus der du stammst?“ Dann lächelte sie. „Ich habe nämlich nur drei Stück Kuchen dabei … Deine drei würden zuhause wohl verrotten.“ Er sah sie erstaunt an. Ein Bild erschien vor seinem geistigen Auge. Richtig, er hatte Kyrie versprochen, mit ihr seinen Geburtstagskuchen zu essen. „Als würde die Welt aus Kuchen bestehen“, meinte er leichtfertig. „Du musst zusehen, dass dein Horizont über Kuchen hinausgeht.“ Sie zwinkerte. „Ich freu mich schon auf die Hochzeitstorte.“ In dem Moment schlossen sich die Türen des Zuges und die Außenstehenden wurden darum gebeten, zurückzutreten. „Was meinst du mit Hochzeitstorte?“, rief er, in der Hoffnung, dass sie das Lippenlesen beherrschte. „Zug fährt ab“, sprach er mit der Ansage mit, als sich das Gefährt in Bewegung setzte. Und mit ihm seine beste Freundin, die amüsiert vor sich hin grinste. … Das Rote Dorf war wirklich klein. So klein, dass man dort kein ordentlicher Mediziner werden konnte. Dass man von dort aus nichts gegen Verbrecher unternehmen konnte. Und dass man auf der Welt nichts ändern konnte. Hier war das Leben, nach dem er sich sehnte, um das seiner Mutter erträglicher zu machen. … Und dafür brauchte er keinen Gott, egal, was Kyrie ihm einzureden versuchte. Er brauchte nur Wille. Er wandte sich vom Zug ab. Und den besaß er. Er musste ihn nur nutzen. Am Samstag hatte es nach dem Mittagessen Kuchen gegeben – und weil Thi rechtzeitig gekommen war, hatte er auch ein Stück bekommen. Das Gebäck hatte sie beide beruhigt. Sie hatte sich … besser gefühlt. Thierrys und ihre Anspannung musste ja weit fühlbar gewesen sein. … Beim ersten Mal hatte sie es schaffen müssen. Dann hätten sie gewusst, dass sie am Ziel waren. Dass Thi seine Erinnerungen löschen konnte, seinen Schmerz, die fremden Ängste … Und sie … sie hätte eine einmalige, einzigartige Waffe gehabt. Und dann hatte sie es tatsächlich geschafft. Sie hatte ihn beim ersten Hieb geblendet. Und das auf dem verlassenen Hochhaus. Sie waren gemeinsam in den Himmel aufgestiegen, um ihre Verletzung verschwinden zu lassen. Und dabei waren sie überglücklich gewesen. So glücklich, dass Thi ihr versprochen hatte, dass sie das nur noch einmal durchziehen mussten. Heute. Gleich nach der Kirche! Dass sie am Mittwoch bereits beide befreite Menschen sein würden. … Dass sie dann wieder glücklich sein konnten vor ihren Freunden. Kyrie hatte seinem Wortschwall der Fröhlichkeit zugestimmt, auch wenn sie tief in ihrem Inneren wusste, dass das bei ihr an einem anderen Grund liegen würde. Ray. Ab morgen konnten sie wieder zusammen sein. Zusammen reden, essen und lernen. Er konnte ihr dann mehr über Kylie erzählen und … sie konnten das Thema aufgreifen … Oder es auch ignorieren … Erneut stieg ihr deshalb Röte ins Gesicht. „Alles in Ordnung, mein Schatz?“, fragte ihre Mutter, die sie scheinbar schon eine Zeit lang besorgt musterte, „Du wirkst so … abgelenkt.“ Kyrie lächelte sie beruhigend an. „Nein, alles super!“ Und das war so. Es war … eigentlich alles – bis auf das Ding mit der Angst und den Halbengelhassern und dem Gefühl, dass heute noch irgendetwas schief gehen musste – alles toll. Dass sie Ray wieder haben würde war toll. … Sie war so peinlich. „… Dann … bin ich ja beruhigt“, gab Magdalena unsicher zu. „So, Schatz“, erklärte John, während er das Auto stoppte, „Wir sind da.“ Er sah seine Frau an und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Bis später.“ „Bis dann, Mutter“, verabschiedete sich Kyrie. Magdalena stieg aus und winkte ihnen dabei zu. Als sie in der Tür des Restaurants verschwand, wandte sich John seiner Tochter zu. „Setz dich vorne hin“, schlug er ihr vor. Kyrie nickte und tat, wie ihr geheißen wurde. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und dann fuhr ihr Vater auch schon los. Sie waren wie üblich früh dran – und schon wieder unterwegs zum Süden, da die Kirchentür noch nicht repariert worden war. Weshalb auch immer … Heute war sie aber gar nicht ganz so müde, obwohl sie früher aufstehen hatte müssen. Sie war sich sicher, dass andere Leute noch viel müder waren. Gestern war sie nur ganz kurz im Himmel gewesen. Danach hatte sie die Zeit zum Lernen genutzt. Bald standen schon wieder Prüfungen an … Wobei sie ja immer mitlernte und das meiste doch schon wusste – aber sie wollte kein Risiko eingehen. Und … wenn sie mit Ray zusammen war … wer wusste schon, wie abgelenkt sie dann sein würde? Sie hatte keine Ahnung, was genau sie dazu trieb, so zu denken. Ja, sie war davon überzeugt, dass sie sich ungünstigerweise in ihn verliebt hatte. Zu viel für ihn empfand. Aber Thi hatte völlig recht: Sie musste ihre Zeit mit ihm gut nutzen. Vor allem die Zeit, die er nicht mit Kylie verbrachte. … Auch wenn sie es schade für ihn fand, dass diese heute schon wieder nach Hause musste. Ob er wohl noch schlief? „Du wirkst wirklich sehr abgelenkt“, bemerkte John. Sie schaute ertappt auf ihre Füße. „Ach ja?“ „Liegt dir etwas auf dem Herzen, mein Kind?“, hakte er ruhig nach, „Ich bin Prediger – es ist meine Arbeit, dir bei deinem Seelenheil zu helfen.“ Ein Lächeln schlich sich auf Kyries Lippen. Ausrede. Er wollte nur als Vater wissen, was in ihr vorging. Er würde heute wohl noch von anderen Leuten genug zu hören bekommen. Aber … sie konnte es ihm nach wie vor nicht sagen … „Nein, es ist wirklich nichts“, beteuerte sie, „Nur ein paar … Gedanken eines Schulmädchens.“ „Ah“, machte er übertrieben lange, „Du bist aber Studentin.“ „Am Papier“, meinte sie dann. Irgendwie war sie wirklich wieder gut gelaunt. Die gedämpfte Stimmung, die sie schon die ganze Woche lang eingehüllt hatte, war … wie weggezaubert. Oder munterte ihr Vater sie nur auf? Oder die Gedanken an Ray? Oder dass sie Thi heute vielleicht von seinem Leid erlösen konnte? „Ich glaube einfach, dass heute ein schöner Tag ist.“ „Ja, die Sonne scheint heute scheinbar fünf Stunden lang“, entgegnete ihr Vater. Und dann brachen sie beide in Gelächter aus. Ray schlenderte nach draußen. Er sah das Auto, mit dem Liz gefahren war – Kims Wagen. Kim war zuhause geblieben, während Radiant zur Kirche gefahren war. Erst hatten sie vorgeschlagen, dass er mit Radiant zusammen fahren solle, da diese heute wieder im Südblock stattfand, aber er hatte abgelehnt. Und ehe er noch zu einem „Ich rufe einfach ein Taxi“ gekommen war, hatten sich Liz und Kylie gegen ihn verschworen gehabt und so war es gekommen, dass er am Rücksitz des Fahrzeugs gesessen hatte, während die beiden Damen sich vorne ausgetauscht hatten. Liz war fünfundzwanzig und hatte entsprechend schon eine Fahrberechtigung. Und mit der konnte sie wohl auch ganz gut alleine nach Hause fahren. … Er kannte sich in der Südstadt zwar nicht ganz so gut aus, aber heim finden würde er … oder mit etwas Glück konnte er auch die Kirche finden, in der sich vermutlich John befinden würde. … Und dann sah er vielleicht auch Kyrie. Irgendwie fühlte er sich schlecht dabei, die Gedanken an Kylie und den langen Abschied einfach so zur Seite zu werfen, um sich Kyrie zu widmen, aber … Kylie wäre damit einverstanden. Sie hatte es ihm selbst gesagt. … Wenn er den Kuchen dabei hätte, würde er es wohl glatt tun. Aber Kyrie würde sich wohl auch ohne Kuchen über ihn freuen, oder? … Er musste ziemlich planlos wirken, wie er einfach so vor dem Gebäude stand und darüber nachdachte, ob er es tun sollte oder nicht. Er warf einen Blick zum Auto. Liz saß darin und beobachtete ihn, winkte ihm sogar kurz zu, als glaubte sie, er würde den Wagen nicht erkennen. Er wandte sich um und ging in die andere Richtung. Er wollte jetzt Zeit mit Kyrie verbringen, nicht mit irgendeiner halbschwindlig erklärten Stiefschwester. Er brauchte keinen Kontakt zu ihr. Ray eilte den Gehsteig entlang, wollte so schnell weg kommen wie nur irgendwie möglich. Aber da erklang schon das Motorengeräusch und der dunkelblaue Wagen verfolgte ihn im Schritttempo. Die Scheibe der Beifahrertür wurde runtergelassen und Liz forderte: „Steig ein, kleiner Bruder.“ „Fahr nach Hause, ich habe zu tun“, meinte er, ohne sie anzusehen. „Du hast nicht ausreichend gefrühstückt“, keifte sie und hielt mit dem Wagen mit ihm schritt. Gehupe ertönte hinter ihr. Das schien sie kalt zu lassen. „Das geht dich nichts an“, fauchte er. Und er hatte gefrühstückt. „Komm jetzt, sei nicht so stur“, maulte sie weiter, „Meine Aufgabe lautet, dich wieder sicher nach Hause zu bringen.“ „Ich bin zwanzig und nicht zwei“, entgegnete er genervt. „So ein widerspenstiger Rüpel“, knurrte sie leise – er hatte es dennoch gehört, „Dass sich meine Mutter wirklich um so ein ungezogenes Kind wie dich bemüht …“ Plötzlich schloss sie das Fenster und fuhr vor. Triumph erklomm seine Gefühle. Er hatte sie weggeätzt! Hoffentlich würde sie es aufgeben, nett sein zu wollen. Er brauchte keine andere Schwester als Diane. Er schlenderte nun wieder. Jetzt, wo sie weg war, hatte er es nicht mehr eilig. Immerhin würde die Kirche noch andauern – und er hatte keine Lust, sich in das Gebäude zu begeben. … Ob Kyrie sich wohl freuen würde, ihn einfach so unvermittelt zu sehen? Er hoffte es inständig. Immerhin … musste er sie noch etwas fragen … und sich ordentlich für das Geschenk bedanken. Und sich für die Woche entschuldigen – auch wenn er besonders viel Spaß mit Kylie gehabt hatte … er fühlte sich schlecht, weil er Kyrie daran nicht hatte teilhaben lassen. Als er um eine Gebäudeecke bog, erkannte er, dass er die Kirche bereits erreicht hatte. Die war ja wirklich nah. Es wäre also durchaus Verschwendung gewesen, mit Radiant mitzufahren. Gerade, als er einen Schritt nach vorne gehen wollte, packte ihn etwas von hinten. Eine wuchtige Masse drückte sich an ihn, hielt seine Hände fest, sodass er sie nicht befreien konnte. Er spannte all seine Muskeln an, wollte sich losreißen – doch es funktionierte nicht. Panik stieg in ihm auf. Kim! Was hatte sie vor!? Entführung? Was wollten sie seinem Vater antun? War Liz die Komplizin? „Lasst mich los!“, rief er verzweifelt. Schwarzes Haar peitschte ihm ins Gesicht, als er einfach über die Schulter geworfen wurde, nicht in der Lage, sich zu rühren. Da bemerkte er, dass es wirklich Liz war. „Willst du mich umbringen!?“, fuhr er sie an, „Lass mich sofort runter!“ Sie ignorierte ihn. „Meine Schulter!“, beschwerte er sich übertrieben laut. Es tat nicht weh. Aber er hatte keine Ahnung, was er sonst sagen sollte! Sie … sie hatte ihn einfach hochgehoben, als wäre er ein kleines Nichts! Ein … Kind …! Wie Midas … der ihn auch einfach hochgehoben hatte … nicht auf ihn achtend … ihn vernichten wollend … Plötzlich fand er sich am Beifahrersitz des Wagens wieder. Liz war die Fahrerin und hatte die Kindersicherung eingeschaltet, was er feststellte, nachdem er sofort zu fliehen versucht hatte. „Willst du mich entführen?“, blaffte er ungelaunt, „Für mich bekommst du kein Lösegeld.“ „Ich will einfach mit dir reden“, erklärte sie lächelnd, „Während der Fahrt. Ich weiß ja nichts über dich.“ „Du hast mich entführt“, stellte er kalt fest, „Ich zeig dich an.“ „Wo?“, fragte sie spöttelnd, „In der Kirche?“ Er starrte stur geradeaus. Was bildete sie sich eigentlich ein? Glaubte sie, seine beste Freundin werden zu müssen?! Er hatte sein Leben auch ganz gut ohne sie hinbekommen – er brauchte sie auch jetzt nicht. „Ignorierst du mich jetzt?“, hakte sie nach. Sie klang höchst amüsiert. Er versuchte einfach, sie auszublenden und beobachtete dabei den Straßenrand, der an ihm vorbeizischte. … Sobald sie stehen blieb, würde er rausspringen. Und … wem genau sollte er dann erzählen, dass er sich von einer Frau hatte überwältigen lassen? „Ich will dir nichts tun“, setzte sie erneut an, „Ich will nur mehr über dich erfahren.“ „Leute zu entführen, ist dafür aber eine recht ungünstige Methode“, gab er zurück. Das konnte er sich nicht verkneifen. „Ja“, akzeptierte sie seine Behauptung, „Aber es ist auch nicht richtig, Familienmitglieder zu ignorieren, ohne ihnen eine Chance zu geben.“ „Läuft das jetzt auf ein ‚Wir haben beide Fehler gemacht, lass uns jetzt noch einmal von vorne anfangen!’-Gespräch hinaus?“ Er seufzte genervt. „Nein, danke.“ „Aber du gibst zu, dass deine Methode auch ungünstig ist“ Sie wollte sich also unbedingt einen Punkt holen, ja? Den konnte sie kriegen. „Und bei einigen Leuten auch berechtigt.“ Er schaute sie an, obwohl sie ihren Blick auf die Straße geheftet hielt. Sie war wirklich schön. Und was sie sich immer mit ihren Haaren antat – aber egal! „Ich wollte da raus. Ich wollte jemanden treffen.“ „Bestimmt das Zuckerpüppchen.“ Der Kommentar ließ ihn erschaudern. Also hatte Kylie ausgepackt? Sie war eine Verräterin. … Aber ihr verzieh er einfach. Weil sie Kylie war. Sie war eben so. Und genau das – na gut, vielleicht nicht ganz genau, aber so ziemlich genau – mochte er an ihr. Wieder schaute er hinaus – diesmal durch den Rückspiegel. Die Kirche war noch ganz klein hinten zu sehen. „Sie hatte wahrscheinlich sowieso noch keine Zeit“, gestand er sich leise ein. „Na ja, wenn sie so viel Zeit auf Gott verwendet, ist sie vermutlich die Falsche für dich“, kommentierte Liz. Diesmal wandte er sich überrascht zu ihr um. Und auch irgendwie erbost. „Was redest du da? Du hast dich nicht einzumischen“, fuhr er sie an. Er wusste nicht, woher diese plötzliche, aufsteigende Wut kam. Aber … er wollte sie nicht unterdrücken. Er wollte seiner so genannten Schwester einfach zeigen, wo der Hammer hing! Sie allerdings lachte nur laut los. „Oh, so verliebt.“ „Das geht dich nichts an“, knurrte er und beobachtete dabei wieder das Schloss. Noch immer zu. „Ich bin deine ältere Schwester. Natürlich kümmere ich mich darum“, meinte sie selbstverständlich, „Diane weiß das bestimmt auch.“ „Kylie kommt erst morgen an“, wies er sie schlecht gelaunt hin. Diese Petze! Hoffentlich fiel sie in ihren Kuchen. „Hat sie dich zu der Aktion angestiftet?“, forderte er zu wissen, „Sollst du jetzt die Aufgabe weiterführen?“ Ein „gerade du!“ unterdrückte er, um auch eine Antwort zu bekommen. Wer wusste schon, was sie in ihrer Verzweiflung alles anrichten würde. Liz kicherte. „Nein, sie hat mir nichts übermittelt. Ich wollte nur höflich sein.“ Plötzlich hielt sie an und entsicherte die Tür. „Und jetzt aussteigen. Wir sehen uns heute.“ Er starrte sie perplex an. „Ich bin nicht wie meine Mutter.“ Liz zwinkerte. „Mir entkommst du nicht so leicht.“ Ray erhob sich schnell und sprang aus dem Auto – erst dann realisierte er, dass er wieder bei der Kirche stand. Sie hatte ihn zurückgebracht. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht ganz nachvollziehen konnte, hielt er die Tür offen und schlug sie nicht einfach zu, um davonzurennen. „Mein Name ist Liz Peratan“, erklärte sie ihm lächelnd, „Ich bin 25, die Tochter von Kim und Dave Peratan und die Enkelin der Peratan und der Miraton. Alle meine Großeltern sind noch am Leben und ich arbeite in der Südlichen Hauptstadt als Kosmetikerin.“ Mit jedem Wort, das sie gesprochen hatte, verzog sich Rays Miene mehr zu einem großen Fragezeichen. Was wollte sie mit diesem Informationsschwall bezwecken? Antworten? Also bitte. „Danke, dass du Kylie hierher gebracht hast“, meinte er emotionslos, „Man sieht sich.“ Und bevor er die Tür zuschlug und damit das Gespräch unterbrach, bat Liz ihn: „Stell mir aber deine kleine Freundin einmal vor.“ Er wandte sich um und schaute zur Kirche. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)