Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Melinda? Sie interessiert dich wohl am meisten …“ Er lächelte entschuldigend. „Nun ja …“ Er machte eine kurze Pause, in welcher er bedauernd seufzte. „Sie war mein Fehler. Es tut mir leid, dass sie dich verletzen hatte können. Sie ist mir abhanden gekommen, als ich damit beschäftigt war, dem Rest dieser Meute meine Anwesenheit als Gefallen zu verkaufen. Sie ist wohl zu dem Schluss gekommen, dass ich sie zu wenig beachten würde.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Ernsthaft – was geht bloß im Kopf dieser Frauen vor? Bloß weil ich dich die ganze Zeit ansehe, muss das wohl nichts heißen, oder? Aber Hauptsache, ich darf den Anblick dieser Hohlnüsse genießen.“ Er verschränkte die Arme. „Die Hohlste davon war wohl eindeutig Melinda. Ich hatte einfach keine andere Möglichkeit, dich frühzeitig von ihr zu befreien … Ich wollte nicht, dass du noch so einen Klotz am Bein hast, nachdem ich weg bin, darum habe ich den Fehler gemacht, sie an deinem Geburtstag von dir wegzubringen … Ich hatte nicht geahnt, wie schmerzhaft das für dich sein würde …“ Er pausierte für einige Momente. In diesem Moment änderte sich der Ausdruck in seinen Augen und für wenige Sekunden war ein seltsames, ungewohntes Stirnrunzeln zu sehen, welches sein Gesicht nachdenklich, beinahe traurig wirken ließ – dann grinste er plötzlich wieder gewohnt keck und streckte ihr die Hand entgegen. „Übrigens – alles Gute zum Geburtstag! Zwanzig Jahre ist schon ein Erfolg! … Auch … wenn ich bereits einen Tag zu spät dran bin.“ Er lachte kurz laut auf. „Na ja – meine Verpeiltheit ist dann wohl ein Zeichen dafür, dass es schon reichlich spät ist?" Er brach kurz ab und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. "Früh." Er grinste. „Du solltest gehen. Du weißt jetzt ja, wie es geht, oder? Einfach die Treppe benutzen, die nach unten führt. Du kommst dann an am verlassenen Hochhaus in eurer Nachbarschaft raus – keiner wird sich fragen, was du dort machst. Versprochen.“ Er lächelte beruhigend. „Und am Nachmittag kommst du dann wieder denselben Weg hoch, okay? Das von gestern konnten wir nur zu zweit bewältigen – versuch es also lieber gar nicht erst.“ Er tätschelte ihre Schulter. „Schon in Ordnung – ich hätte es alleine auch nicht geschafft. Aber … morgen erzähle ich dir dann was über den Himmel, okay? Ach ja – magst du meine Freunde bereits morgen schon kennen lernen? Sie sind echt nett – ich werde ihnen heute wohl zwanzig Jahre der Rückblende vorführen müssen und sie mir.“ Er lachte erfreut. „Hach … Wenn du dann bereit für sie bist, sagst du es mir, okay? Keine Sorge – sie lieben Halbengel.“ Der Wecker klingelte und die Uhrzeit bedeutete ihr, dass sie aufzustehen hatte. Uni … Sie erhob sich leichtfüßig aus dem Bett. So gut hatte sie schon lange nicht mehr geschlafen … Hatte sie überhaupt geschlafen? Irgendetwas sagte ihr, dass sie etwas anderes getan hatte, als zu schlafen … Vielleicht war ihr Traum einfach so lebendig? Sie gähnte. Sie hatte geträumt, sie wäre ein Engel. Ein Engel! Mit Flügeln! Sie war im Himmel und er leuchtete so golden und schön … Und Nathan war bei ihr. Er war nett zu ihr. Er hatte ihr alles erklärt – er hatte sogar gesagt, dass er die Erde nicht mehr betreten wolle. Zumindest für das nächste Jahrhundert … Sie schüttelte ihren Kopf. Und ihre Eltern hatten davon gewusst. Sie hätten davon gewusst, dass sie ein Engel wäre! „Gehirn, du hast zu viel Fantasie“, redete sie sich ein. Dann lächelte sie. Und die Sache mit Melinda hatte er ihr auch erklärt … Wunschträume nannte man so etwas wohl … Aber sie sollte sich diesen jetzt nicht hingeben, sondern sich für die Uni fertig machen! Immerhin lernten sie heute etwas über die sieben Todsünden … Dabei fiel ihr ein, dass in ihrem Traum diese Sünden Gestalt angenommen hatten – Engel! Scheinbar freute sie sich mehr über dieses Thema, als sie geahnt hätte. Sie zog ihren Morgenmantel aus – warum auch immer sie mit dem eingeschlafen war – und dann ihr Nachthemd. Plötzlich bemerkte sie, dass sich in beiden Kleidungsstücken Löcher befanden. Stirnrunzelnd begutachtete sie diese – und erkannte, dass beide in etwa an derselben Stelle … Am Rücken … Dort, wo ihre Flügel wären. „Moment – es war doch ein Traum, oder?“, fragte sie geschockt. Irgendwie fühlte es sich schon sehr real an. Irgendwie glaubte sie, dass es doch Wirklichkeit war, aber … Das konnte doch nicht sein, oder? Sie konnte nicht wirklich ein Engel sein. Nicht wahr? Sie war Kyrie. Kyrie Kingston – Nachwuchstheologin. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich – fühlte in sich hinein. Ging die letzte Nacht durch – zu dem Moment, als die Todsünden ihr Licht entgegen geschleudert hatten … Sie schlug die Augen sofort überrascht auf, als sie in ihrem Körper eine Lichtquelle entdeckte. Wieso … Wieso war das dort?! Dieses Licht … Flügel. Und ehe sie sich versah, prangerte ein riesiges Flügelpaar aus ihrem Rücken. Ihre Augen weiteten sich geschockt und sie ließ sich zurück auf ihr Bett fallen, wobei sie die Flügel reflexartig wieder einzog – immerhin wollte sie sie auf der Erde nicht kaputt machen. Im Himmel würden sie zwar regenerieren, aber … Hastig sah sie sich in ihrem Zimmer um. Neben ihrem einfachen Bett stand ein kleines Holzregal, auf dem einige Souvenirs standen und sich lässig zur Schau stellten. Neben ihrem Bett befand sich ein kleines Nachtkästchen, auf das eine Lampe gestellt worden war. Unweit davon hatte sie einen kleinen Tisch mit zwei rot bepolsterten Stühlen platziert, die sie als Ablegefläche für ihre Bücher benutzte, welche ein wenig unordentlich auf Tisch und Stühlen verteilt waren. Sie hatte gestern nicht viel Zeit zum Aufräumen gehabt. Am anderen Ende des Raums stand ein Kleiderschrank. Er war geschlossen und doch wusste Kyrie genau, welche Kleider darin hingen. Sie mochte ihre Kleider. Einige davon hatte ihre Mutter extra für sie genäht, da diese ziemlich viel Fantasie hatte, was Kleidungsstücke anging – aus diesem Grund waren ihre Kleider auch etwas ausgefallen, aber das störte sie nicht. Ihr Zimmer wies zwei Fenster auf und eine Balkontüre verband sie mit der Holzveranda, die um ihr ganzes Haus herumführte und im Sommer sehr mit Blumen ausgeschmückt war, da ihre Mutter neben Hobbyschneiderin auch noch als Hobbygärtnerin tätig war. Doch was sich letzten Endes in ihr Gedächtnis einbrannte und ihre Augen nicht mehr loslassen wollten, war ein kleines Glaskästchen, dessen Deckel fehlte. In ihm lag eine große, weiße Feder, die an sich viel Glanz aufwies, aber kein Leuchten. Diese Feder, die sie neben ihr Bett auf den Boden gestellt hatte … Sie ging auf das Kästchen zu, duckte sich, um den Behälter aufzuheben und stellte sie auf das Holzregal. „Die soll Glück bringen, ja?“, fragte sie leise und ein wenig skeptisch, doch sie würde sich daran halten. Sie würde darauf aufpassen. Immerhin … Immerhin war das doch der Beweis, oder? Sie hatte soeben Flügel am Rücken gehabt. Sie hatte diese Nacht im Himmel verbracht. Und Nathan war ein Engel – genauso wie sie. Nein … Nein, sie war bloß ein Halbengel. Was auch immer der Unterschied sein mochte. Als sie realisierte, dass sie noch nichts Brauchbares getan hatte, kam sie in die Gänge und zog sich blitzschnell ein violettes Kleid an, dazu passende braune Stiefel, die man zuschnüren konnte. Nachdem sie sich auch im Badezimmer fertig gemacht hatte und ihre Haare wieder von gewöhnlicher Ordnung waren, aber langweilig nach unten fielen, machte sie sich auf in die Küche, wo ihre Eltern bereits am Frühstückstisch saßen. Ihre Tasche mit Schulzeug hatte sie in der Küche stehen lassen, da sie heute sowieso noch dieselben Unterlagen brauchte, wie sie sie gestern benötigt hatte. „Guten Morgen!“, begrüßte sie ihre Erziehungsberechtigten lächelnd. „Kyrie!“, rief ihr Vater erfreut aus, „Du bist tatsächlich zurück!“ Er wirkte sehr neugierig. „Und?“ „John!“, mahnte Magdalena ihn, „Lass sie jetzt erstmal essen!“ Dann grinste sie Kyrie wissend an. „Und während des Essens kann sie ja ein wenig darüber berichten?“ Kyrie lächelte. „Gerne!“ „Danke – bis später!“, verabschiedete sich seine Tochter fröhlich und hastete die lange Asphaltstraße entlang. John hatte sich angewöhnt, solange zu warten, bis er Kyrie nicht mehr sehen konnte, ehe er den Retourgang einlegte und zurückfuhr. Vielleicht brauchte sie ja doch noch etwas von ihnen? Als er zurück auf der Straße angelangt war, erstarb die Stille zwischen ihnen. „Erstaunlich, nicht wahr?“, flüsterte er ehrfürchtig, „Es war kein Traum damals …“ Magdalena nickte. „Ja … Es ist so wunderbar, dass sie angenommen hat – und doch habe ich Angst, dass sie sich von uns entfernt …“ „Wir haben uns zwanzig Jahre lang Gedanken darüber gemacht, wie sie sich entscheiden würde – und jetzt ist es geschehen. Ich bin ehrlich erleichtert“, gab er zu – wobei er erfreut lächelte, „Sie ist so ein tapferes Mädchen. Und fromm. Hast du ihr Gesicht gesehen, als dieser Engel Gott erwähnt hatte?“ Er lächelte. „Ich bin so stolz.“ „Mir geht es genauso, mein Liebling … Gestern Nacht konnte ich mein Glück einfach nicht in Worte fassen …“ Sie schüttelte abwesend den Kopf. Sie hatten noch keine Zeit gefunden, darüber zu reden, was sich gestern in ihren Fluren ereignet hatte. Und doch hatte es stattgefunden! Heute Morgen hatte er es für einen Traum gehalten – doch als Magdalena ihm dasselbe verriet, wusste er, dass es keiner sein konnte. Seine Tochter hatte sich entschieden. Vor zwanzig Jahren, als er noch mehr Haare am Kopf gehabt hatte, war er so froh gewesen, sein erstes Kind in den Armen zu halten. Magdalena und er waren sich sehr schnell über einen Namen einig gewesen: Kyrie. Ein heiliger Name für sein heiliges Kind. Man bemerkte wohl, dass er Theologie studiert hatte, jeden Sonntag die Kirche aufsuchte und neben seiner Arbeit als Religionslehrer an drei verschiedenen Schulen auch noch Vorleser in der Kirche war. Aber er hatte Gott sein Leben verschrieben – einst wollte er sogar zum Priester werden, doch als er Magdalena kennen lernen durfte, hatte sich das schlagartig geändert. Zwar hätte er durchaus heiraten dürfen, doch das Geld hätte für eine Familie dann wohl nicht gereicht. „Einem Priester reicht die Gnade Gottes“, sagte man im Volksmund – das bedeutete, dass ihr Lohn lachhaft und gerade genug für eine Person war. Darum gab es auch kaum Priesterfamilien. Als er auf die Autostraße abbog, beschleunigte er seine Geschwindigkeit. Als nächstes würde er Magdalena absetzen. Seine Frau arbeitete in einem Restaurant morgens als Frühstückshilfe und abends als Küchenhilfe, wenn man sie benötigte. Sie war zwar durchaus gebildet und hatte sogar einen höheren Schulabschluss, doch sie sagte, man müsse mit kleinen Gaben zufrieden sein. Ihr war ihre Freizeit sehr wichtig – und die hatte sie, obwohl sie jeden Tag arbeitete. Er selbst arbeitete fünf Tage die Woche und das immer sechs Stunden lang. Er liebte seine Arbeit – und er liebte sie noch mehr, wenn er abends zur Kirche gehen durfte, um den Menschen Gott näher zu bringen. Aber jetzt hatte er ja ein kleines Abbild Gottes bei sich zuhause. Seinen Engel – Kyrie. Stolz überkam ihn erneut. Er hatte sich wirklich sehr viele Sorgen gemacht. Ob es die richtige Entscheidung gewesen war, seinem Kind die Entscheidung zu überlassen. Ob er hätte einfach ablehnen sollen, als sie den frischgebackenen Vater einfach so drei Nächte nach Kyries Geburt überrascht hatten … Aber jetzt war er wirklich froh, es nicht getan zu haben. Dieses Lächeln, das sie ihnen geschenkt hatte … So glücklich hatte er sie schon sehr lange nicht mehr gesehen. „Woran denkst du?“, fragte Magdalena überrascht, „Du musst hier rechts abbiegen!“ Sofort realisierte er die Worte seiner Frau und lenkte das Fahrzeug in die richtige Seite – das war das praktische an kleinen Autos: Sie reagierten schnell, waren Platz sparend und flexibel! Magdalena kicherte amüsiert. „Oh, du lieber …“ Er lächelte entschuldigend. „Es tut mir Leid, Liebling. Ich versuche, dich heute Mittag nicht zu vergessen.“ Empört schaute seine Frau ihn an, doch dann stellte sie ihr gutmütiges Lächeln wieder zur Schau. „Das wäre sehr freundlich von dir.“ Als er am Parkplatz des Restaurants stehen blieb, küsste er seine Frau noch zum Abschied und sah ihr ebenfalls nach, bis sie verschwand. Dann machte er sich weiter zur Schule, an der er heute arbeiten durfte. Es war sehr praktisch – von der Universität, an der er Kyrie ablieferte, konnte er direkt ohne Umwege zum Arbeitsplatz seiner Frau fahren und von dort aus ohne Umschweife zu seinen drei Stellen. Es war wirklich ein ziemlich großer Zufall, dass es sich so ergab – doch er war froh darum. Andere Familien hatten nicht das Glück, sogar früh morgens zusammen fahren zu dürfen. Und das war das besondere an den Kingstons: Sie ließen sich nicht im Stich – komme, was wolle. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)