Vielfachfehler von Rainblue (Beitrag für Fingerspitzengefühl und Andersartigkeit) ================================================================================ Kapitel 1: Vielfachfehler ------------------------- Unkonzentriert. Unfokussiert. Unkonkret. Ein fliehender Punkt im verschwommenen Raum. „Dein Blick geht in jede Richtung, zu jeder Zeit, aber nie geradeaus, nie zum Ziel.“ Ich bin alles. Ein Bienenschwarm an Möglichkeiten. Niemals da, niemals anwesend. Niemals du selbst, du spielst jedem nur etwas vor. Du hältst uns alle zum Narren. Realitätsfern, driftend. Verklemmt, verschroben, ein schiefer Winkel. Was denkst du? Was bist du? Noch verloren, unvergessen, Einst behütet, nicht verblüht. Unbegleitet, tief gefallen, Verlangsamt, jeder Schritt zuviel. Jede Sekunde perlt an ihrer Wahrnehmung ab, wie die Regentropfen an der Scheibe, die sie ansieht ohne wirklich hinzusehen, denn ihre Gedanken sind weit weg. In irgendeinem fremden Universum, in dem sich Flüsse aus sinnleeren Worten um einen Planeten drehen, der zufällig ihren Namen trägt. „Ah, scheiß Wetter! War so klar, dass das jetzt zu regnen anfangen musste…“ Sie dreht den Kugelschreiber geistesabwesend in ihren Fingern, stellt sich seine Rotation bildlich, möglichst exakt vor, anstatt einen Blick zu riskieren. Ihr Pony senkt sich, infolge eines sanglosen Windzugs, über ihr Auge, kitzelt ihr Lid, doch sie bleibt unbewegt, lauscht dem Schlagen der Tropfen an der Fensterscheibe. Ein eselsohrgroßer Teil ihrer Gedanken ändert die Stromrichtung und lässt sie den Kugelschreiber in ihrer Hand vergessen, dessen Umlauf zeitgleich zum Stillstand kommt. Eine Farbe hat sich sanft in ihre haltlosen Gedanken gesponnen, violett wie im Herzen einer Pfauenfeder. Ein Lied, eigentlich mehr eine Melodie. Ein Soundtrack-Song, das sich langsam in ihrem Kopf beginnt zu entfalten. Sie erinnert sich nicht an das komplette Stück, nur an den Anfang und das Ende. Denn sie sind identisch. Ich liebe es, wenn Lieder enden wie sie anfangen. Unwillkürlich wendet sie den Blick wieder zum Fenster, wo die letzten Tropfen des plötzlichen Schauers den Erdboden berühren und formlos verschwinden. Regen. Regen hört auch immer so auf, wie er beginnt. „Sei nicht immer so vorsichtig! Sei doch mal ein bisschen aggressiver!“ Nicht. Nicht zu etwas, das lebt, das atmet, das Berührungen wahrnehmen kann. Vergiss es. Gewalt widerstrebt mir. In jeglicher Form. „Tut mir Leid… Ich versuch’s.“ Am Rande, wieder unentdeckt, Nicht gesehen, schnell verflogen. Zwölfter Schlag, so unbekannt, Niemals wieder, verfehlte Kraft. Der Ball trifft sie hart und für den Bruchteil einer Sekunde zieht sich ein lähmender Schmerz durch ihre ganze rechte Seite. Aber ihre Knie bleiben durchgedrückt, im nächsten Moment sprintet sie zur Linken und versucht den auf- und abspringenden roten Körper zu fassen zu kriegen. Sie verfehlt, er gleitet ihr aus der Hand, weil das stechende Pulsieren des frischen Schlags ihre Aufmerksamkeit um ein Zentimeter verrückte. Kollektives Aufstöhnen folgt, keiner sagt etwas, aber sie hört jeden Gedanken wie Schreie, die von allen Wänden zurückgeworfen werden. Nein, das ist nichts. Sie regen sich immer auf, egal, wer den Ball nicht fangen konnte. Wenn es ein Mädchen ist, ist es immer so. Es geht ihr auch nicht darum, es ist nicht das, was ihre Gedanken in ein Chaos verwandelt und unermüdlich weitergraben lässt, auf der Suche nach dem Grund, den sie schon längst kennt. Unkonzentriert. Der blaue Fleck an ihrer Hüfte. Schimmelfarben, als sie ihn am Abend schließlich in der Badewanne betrachtet. Genauso wie all die anderen auf ihrer Haut. Wie viele Hiebe noch, bis sie aufwacht? Dunkle Worte, stumme Tat, Einsame Gedanken, auf Glas. Nicht aufgeschlagen, ungeschrieben, Verlogen, in die Enge getrieben. Mach nichts falsch. Fehler sind nicht erlaubt. Sie versucht mit allen Kräften, im Hier und Jetzt zu bleiben, doch der Gedankenwirbel zieht sie in die Tiefe. Immer aufs Neue. Nichts falschmachen. Die Erwartungen sind wie dünne, schneidende Seile unter ihren Füßen. Eine verkehrte Bewegung und sie würden sie in Stücke trennen. Sie darf nicht an sie denken, also suchen sich ihre Gedanken eine andere Welt, eine ohne würfelgroße Realitätssplitter, die sie in die Augen treffen. „Du bist eine ganz schöne Träumerin.“ „Ich will nur diese rosa Wolke aus deinem Kopf vertreiben.“ Etwas in ihr mahnt sie, Widerspruch zu erheben. Kontra zu geben, den Leuten klar zu machen, dass das innere ihres Verstandes alles andere als pastellfarben und spielzeuggleich ist. Es ist kein schöner Ort, wenn er das wäre würde sie nicht versuchen, ihm zu entkommen. Aber dazu müsste sie sich erklären, sie müsste ihnen ihre Welt eröffnen, sie müsste sich öffnen. Und diese Verletzbarkeit darf sie nicht zulassen. Schweig. Sie können dir nichts. Ihre Worte verletzen dich, reißen etwas in dir kaputt, aber sie können dich nicht zwingen, dich ihnen zu öffnen. Stell dir einfach vor, arrogant zu sein, stell dir vor, sie würden es nicht verdienen, zu erfahren, was du wirklich bist. „Tut mir Leid. Du hast schon Recht.“ Unermüdlich, zwanghaft suchend, Erschöpft, zur Wahrheit nicht mehr fähig. Falsches Spiel, dünne Fäden, Verstrickt, schmerzhafte Frage. Haltlos wandelt sie über die blutverkrusteten Seile unter ihren Füßen. „Du musst anfangen, zu erkennen, was um dich herum ist.“ Das tut sie schon ihr ganzes Leben lang. Warum sonst fliehen ihre Augen, suchen in unpassendsten Momenten den Himmel ab oder streifen jeden Grashalm am Wegesrand? Jeder kennt einen anderen Teil von ihr, eine andere Seite, manchmal mit einem aufgesetzten Lächeln verziert, manchmal mit leidblau gesenkten Wimpern. Aber niemand kennt sie ganz. Denn niemand würde sie dann noch akzeptieren. Schleppend, Hoffnung verspielt, Eine Seite, für immer fort. Lieblos, längst zurückgewiesen, Schwarz verfärbt, ausgebleicht. Sie ist normal, solange sie nicht zeigt, was sie ist. Sie täuscht und narrt ihre Familie und Freunde. Sie liebt den kalten Regen, weil er sie daran erinnert, dass sie lebt. Ihre Gedanken sind tief und verwinkelt und voller ungelöster Rätsel. Und sie kann sie nicht vertreiben. Sie läuft im Kreis, mit den viel zu schnell fliegenden Zeigern der Uhr, außer Atem, weil ein normaler Mensch keine Zeit hat, sich keine Zeit nehmen kann. Stur. Sie weiß, dass sie stur ist. Wie sonst hätte sie alle solange an der Nase herumführen können? Aber mehr weiß sie nicht, nur was andere sagen, sie wäre es. Und das ist so unterschiedlich und undurchschaubar, dass sie nicht zwischen richtig und falsch zu unterscheiden weiß. Wer bin ich? Leere Augen, ein Albtraum, Zuflucht, kein Licht mehr. Am Anfang, wieder ziellos, Unsanftes Wort, Messerstich. Zu viele Gedanken. Zu viele Bilder und Töne. Der Schmerz löst nicht alles aus ihr heraus, er lockert nur auf, was sich auf dem Boden gesammelt hat, es fliegt durcheinander und sie kann es erkennen, aber es wird wieder aufkommen und sich stapeln. Immer höher. Ihr Kopf gewinnt an Gewicht. Sie weiß, dass ihre Gedanken um einen Schnittpunkt kreisen. Der Zentralplanet in ihrem Universum, von dem sie möglichst Abstand hält. Es ist ein glühender Feuerball mit Löwenaugen, der nur zerstören kann. Gerade das, was er lieben und beschützen sollte. Aber er spendet auch das Licht, dass sie die Wirklichkeit sehen lässt Er war der Riss in den Samthandschuhen, mit denen sie berührt wurde. Er war der Qualm, der die Watte schwärzte, in die sie eingepackt wurde. Er war der ungelenke Schritt, der das rohe Ei, als das sie behandelt wurde, vom Löffel warf. Er war der grausame Fetzen Realität in ihrem Spielzeughaus. Und dafür hasst sie ihn ebenso so sehr wie sie ihm dankbar ist. Aber du warst nicht immer so. Du hast geträumt, einst, vor viel zu vielen leeren Atemzügen. „Er hat aufgegeben.“ Ihre Augen ruhen in versunkenem Schweigen auf der Bleistiftzeichnung an der Wand. Es hängen viele Bilder an dieser Wand, Ölgemälde, perfekt in Komposition, in Schatten- und Lichtverhältnis. Und doch mit einer leisen, rebellisch abstrakten Note. Das seetanggrüne Schimmern auf der Haut eines Menschen, die leicht verdrehten Augen. Der erfrischende Hauch von Individualität. Sie kennt diese Bilder, seit sie denken kann. Auch das eine Bleistiftmotiv, doch es stößt sie stets vor den Kopf, denn es will nicht so ganz zum Rest passen. Nichtsdestotrotz gefällt es ihr am besten. Es zeigt nichts als einen Zylinder, unter dem ein paar lange, comichafte Schuhe hervorlugen, als verberge sich unter dem Hut ein sehr kleines Wesen. Ein weiteres Indiz dafür sind die großen, trotzig funkelnden Augen, die aus zwei Löchern oberhalb der Krempe herausschauen. Daneben liegt ein schwarzweiß getupfter Zauberstab, von dem Rauch aufsteigt, als wäre er eben erst benutzt worden. Es benötigte viele Jahre, ehe sie es wagte, nach der Entstehungsgeschichte der Bleistiftzeichnung zu fragen. Mittlerweile ist sie ein Täuschungskünstler, aber noch immer gefangen in der Endlosschleife ihrer Gedanken. Ihre Mutter erzählt ihr die Geschichte, beiläufig wie einen Wetterbericht. Aber ihr Fassungsvermögen nimmt es anders auf, unbewusst verwandelt sie die Worte in vielschattige Eindrücke. Es war einmal ein junger Mann, der davon träumte, Maler zu werden. Er wollte keinen Ruhm, er wollte keinen großen Bekanntheitsgrad, er wollte lediglich das ausleben, was für ihn Leben bedeutete. Er wollte seine unergründlichen Gedanken mithilfe von Farbe in etwas verwandeln, dass sie für ihn ordnen würden. So oft es nur ging. Wie wäre es, sein Leben damit füllen zu können, das Geschenk von Atem mit dem der Leidenschaft zu verbinden? Er folgte dem richtigen Weg. Er übte und fiel, lernte mit Rückschlägen umzugehen, suchte seine Inspiration und den Künstler in seiner Seele, grub und definierte, Bild für Bild, jeden Pinselstrich über kam er seinem schaffenden Ich näher. Und dann war es soweit, das Ziel lag in greifbarer Nähe, nur einige weitere Stiftschraffuren entfernt. Eine letzte Prüfung. „Malen Sie ein Bild zum Thema ‚der große Magier‘.“ Er hatte seine Seele erforscht, er kannte sich, er war er selbst mit aller seiner rebellischen Kraft, und dem abstrakten, dem quer denkenden Maler in ihm zeichnete er nichts weiter als einen Zylinder, einen benutzten Zauberstab und ein paar nachdenklicher Augäpfel auf das Blatt. Größe liegt im Auge des Betrachters und Zauberkraft hat immer einen Preis. Du kannst ein Genie nicht an seiner Nase erkennen, du wirst niemanden je begreifen, wenn du ihn für das hältst, was sein Äußeres dir zu verstehen gibt. Das ist es, was einen Künstler ausmacht, zwischen den Zeilen lesen zu können und zu erkennen, dass die Dinge anders sind. Dass wir alle anders sind. Seine Mitschüler lachten, als sein Bild neben erhabenen alten Männern mit wallenden Bärten, Blitze und Naturkatastrophen beschwörend, aufgehängt wurde. Und als es als ungenügend und mangelhaft, unkreativ und inhaltslos bewertet, in seine Hände zurückfiel und das einzige war, was er als Ergebnis mit sich nehmen würde. „Nicht bestanden, aus Ihnen wird kein Künstler.“ Und der junge Mann gab sich auf. Denn er war zerbrechlich und sein Geist sensibel. Man hatte zerstört, was er geliebt hatte, es ihm entfremdet und entfärbt. Nie wieder nahm er einen Stift zur Hand. Nie wieder zeigte er jemanden, was er tief in seinem Inneren wirklich war. Versunken, längst verschwunden, Ohne Mut, nachlässig. Letzter Gedanke, ein Atemzug, Nur schwach, so haltlos. Sie weint sich in dieser Nacht in den Schlaf. Denn sie hat erkannt, dass sie den Menschen, den sie mehr als alles andere auf der Welt hasst, liebt. Und dass sie Mitleid empfindet und anfängt, ihn zu verstehen. Ganz gleich, was er ihr angetan hat. Und ihre Gedanken kommen zum ersten Mal zur Ruhe, als sie einen Stift und einen Block greift und eine feine Linie auf das Weiß prägt. Doch sie stoppt in der Bewegung. Anstatt zu malen, führen ihre Finger die Stiftspitze in Buchstabenwinkel- und bögen. Sie schreibt. Ihr erstes Gedicht, schwer von Gedanken, ungelenk und oberflächlich. Aber es ist der Anfang einer langen Reise. Sie sitzt vor dem Laptop, ein Knie angezogen, wie so oft, einen Stift hinters Ohr geklemmt, im Hintergrund läuft regenschauerleise Klaviermusik. Sie atmet und denkt zurück an all die Tage und Nächte in ihrer sepiafarbenen Vergangenheit. Noch immer kreisen die Gedanken in ihrem Kopf wie ein wirres Flusssystem. Doch sie berührt die Tastatur, atmet durch und fängt an, sie in Worte zu transformieren. Sekündlich blättern sie mehr aus ihr heraus, legen den Grund frei und erlösen sie von der Schwere, die ihre Schultern und den Nacken verkrampft. Ihre Wangen glühen und ihr Gesicht spiegelt jede Emotion, die sie beschreibt, so lebendig fühlt sie sich nur in diesen Momenten. Aber sie hält inne, begutachtet den getippten Satz, dann fährt sie mit dem Mauszeiger hinein und verändert etwas, wechselt hier und da ein Wort aus, lässt den Satz eine andere Richtung einschlagen, markiert, was sie sich später noch einmal ansehen möchte. Es sind Feinschliffe, doch sie wird sich nicht betrügen. Wenn sie schreibt, eint sich ihr Innerstes und sie fühlt, wer sie ist. Sie hat geübt, ihre Wortwahl aufgearbeitet, ihren Stil geformt und ausgekundschaftet, ist in die Tiefen ihrer Seele vorgedrungen, um ihren Geschichten Leben einzuhauchen. Sie perfektioniert und bleibt offen. Sie weiß, dass man ihr sagen wird, nicht gut genug zu sein, weiß, dass es Leute geben wird, die ihre Kunst mit Füßen treten werden. Aber sie weiß auch, dass sie nicht aufgeben wird, wenn es geschieht. Sie will kämpfen. So wie sie schon immer gekämpft hat. Auf ihre Art. Wer Gedichte versteht, weiß, dass ihre Bedeutung vielschichtig und ungleichmäßig ist. Sie verändern sich in der Wahrnehmung ihres Lesers, genauso wie Gemälde in der ihrer Betrachter. Wenn sie schreibt, lässt sie ihre Gedanken los und es ist egal, wie diffus sie scheinen. Sie erschaffen etwas Undeutliches, da es für jeden anders aussieht. Es sind nur Worte, die mit einer Verneinung beginnen, aber sie haben eine andere Tragweite für sie, fern von dem, was sie für diejenigen bedeuten, die nur schwarz und weiß sehen. Regen hört auch immer so auf, wie er beginnt. Unkonzentriert. Unfokussiert. Unkonkret. Sie ist ein fliehender Punkt im verschwommenen Raum. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)