My hear will go on von Rubinkarfunkel95 ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Every night in my dreams I see you, I feel you That is how I know you go on. Far across the distance And spaces between us You have come to show you go on Near... Far... Wherever you are I believe that the heart does go on Once more... You open the door And you're here in my heart And my heart will go on and on“ Celine Dion; „My heart will go on“ Tick, tock, tick, tock – immer und immer wieder erklang dieses Geräusch, während sich der Sekundenzeiger auf der großen Küchenuhr an der Wand immer weiter vor bewegte. Es war das einzige Geräusch, welches im ganzen Haus zu hören war. Das einzige Geräusch, welches noch ein wenig Geborgenheit ausstrahlte. Die einst so lebendige Wohnung war nur noch ein Ort voller Kälte und Einsamkeit. Kein Ort, an dem man wohnen wollen würde. Denn egal, was man auch versuchen würde, jeder noch so kleine Winkel erzählte davon, dass sich hier einiges verändert hatte; dass nichts mehr so war, wie es eben einmal war. Egal wo man auch hinsah, waren die Spuren deutlich zu sehen. Hinweise und Zeichen, die ihm jedes Mal wie ein Messer tief ins Herz schnitten. Und dennoch bleibe ich hier... Der Blick des türkishaarigen jungen Mannes war gen Boden gerichtet. Er saß auf einem Stuhl in der Küche, hatte seine Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt und seine Hände miteinander verschränkt. Seine orange farbenen Augen zeigten keinerlei Gefühle. Es waren stumpfe Augen, aus denen jegliches Leben erloschen zu sein schien. Er wunderte sich selber, wieso er überhaupt noch hier lebte; in dieser Wohnung, die ihm jedes Mal aufs Neue zeigte, dass er das wichtigste in seinem Leben verloren hatte. Vielleicht, weil diese Einsamkeit genau das ist, was ich fühle... Vielleicht hielt er es nur deswegen hier aus. Jehu konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal gelacht hatte; wann er zum letzten Mal richtig glücklich gewesen war. Oder zumindest wollte er sich nicht allzu genau erinnern, da er wusste, dass die Erinnerung ihn nur zu Boden drücken würde; die Erinnerung und die damit verbundenen Schmerzen. Es hieß doch, die Zeit heilte Wunden, doch für Jehu waren das nur leere Worte. Auch die Theorie, dass der Mensch ja ein anpassungsfähiges Wesen sei und deswegen ja nur lernen würde mit dem Schmerz klar zu kommen, konnte er nicht belegen. Der Schmerz, der in seiner Brust wie glühend heiße Glut immer wieder aufs neue aufloderte, würde noch lange nicht erlöschen. Seit Jahren trug er diesen Schmerz mit sich und in keinen der letzten vergangenen Jahre war er auch nur irgendwie abgestumpft. Im Gegenteil, es scheint, als würde es mit jedem Jahr, das vorüber geht, nur schlimmer werden... Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Denn noch Niemand hatte die Zeitreisen erfunden, sodass er nicht in die Vergangenheit reisen konnte, um die Vergangenheit zu ändern. Dabei war das sein größter Wunsch: das, was vor drei Jahren passierte, ungeschehen zu machen. Um die Person, die für ihn das wichtigste auf der Welt war, noch einmal im Arm halten zu können. ~*~drei Jahre zuvor | 20. Oktober 2010~*~ „Los, Jehu, beeil' dich!“ Er konnte nur den Kopf schütteln, während er seinem kleinen Bruder nach sah, der lachend über das Deck des Schiffs zum Heck rannte und sich dort an der Reling abstützte. An sich war es verrückt, dass er Jesse als kleinen Bruder bezeichnete. Sie waren beide gerade einmal vier Minuten auseinander. Und dennoch behandelte Jehu den Jüngeren so, als würden Jahre zwischen ihnen liegen. Nicht, weil er Jesse ärgern wollte, sondern weil er sich einfach nur verantwortlich fühlte und eben jenen wie einen großen Bruder beschützen wollte. Und Jesse? Den schien es nicht zu stören, dass ihm die Rolle des 'kleinen Bruders' gehörte – im Gegenteil. Es war einfach schon immer so gewesen, dass sie nur einander gehabt hatten, da ihre Eltern geschäftlich viel unterwegs waren. Und in den ganzen letzten achtzehn Jahren hatte Jehu nun einmal, mehr oder weniger, die Rolle des Erziehers für Jesse übernommen. Es spielte keine Rolle, dass sie Zwillinge waren und nur ein paar Minuten zwischen ihnen lagen. Es war einfach die Art, wie sie miteinander umgingen. So sehr Jehu seinen kleinen Bruder versuchte zu beschützen, so sehr gab Jesse ihm Geborgenheit und Nähe; ebenso spielte er liebend gerne Hausfrau. So oder so ähnlich zumindest. Denn wenn einer dafür sorgte, dass die kleine Wohnung immer in Schuss und der Kühlschrank gefüllt war, dann war das Jesse. Auch war er dafür zuständig, dass immer etwas Warmes zu Essen auf dem Tisch bei den Anderson-Zwillingen stand. Und Jesse tat das gerne. Es war Jehu wirklich ein Rätsel, mit welcher Hingabe sein Bruder ihn versorgte, doch solange er das Strahlen in dessen smaragdgrünen Augen sah, würde er ihn sicherlich nicht davon abhalten es weiter zu tun. „Wo bleibst du denn nun?“ Jesses Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Ein breites Grinsen umspielte seine Lippen, als er nun endlich seinem Bruder folgte und sich neben diesem an die Reling lehnte. Der Wind schlug ihnen ins Gesicht, doch Jehu störte es herzlich wenig. Er liebte das Gefühl, mit dem Schiff über das weite offene Meer zu fahren. Es war fast wie fliegen, vermittelte einem das Gefühl von Freiheit. Aus den Augenwinkeln beobachtete er seinen Bruder. Jesse hatte die Augen geschlossen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, während der Wind mit seinen Haaren spielte. Sie waren nun schon seit gut einer Woche auf diesem Schiff und würden in zwei Tagen wieder am Heimathafen in Akita anlegen. Sie hatten diese Reise gebucht, um endlich mal sich einen großen Urlaub zu gönnen. Natürlich war diese Kreuzfahrt nicht billig, aber da sie alle zusammen gelegt hatten, kam im Endeffekt genug Geld zusammen um einmal dieses besondere Erlebnis zu genießen. Mit 'alle' waren Jesse, dessen bester Freund Jaden, Jadens Bruder Haou und Jehu selber gemeint. Allerdings waren nur drei von ihnen an Bord. Jaden hatte sich kurz vor der Abreise den Arm gebrochen und war deswegen lieber Zuhause geblieben, wo er von seinen und Haous Eltern versorgt wurde. Natürlich war ihm diese Entscheidung schwer gefallen, doch er hatte den anderen dreien diesen Urlaub nicht verderben wollen, sodass er beim Abschied ihnen sogar mit einem Lächeln nachgewunken hatte; mit der gesunden Hand und dem gesunden Arm verstand sich. „Wo ist Haou eigentlich?“ „Ich weiß es nicht.“ Jehu zuckte mit den Schultern, machte er sich darüber keine Gedanken. Sein bester Freund war kein kleines Kind mehr, sodass er sich nicht dafür verantwortlich fühlte auf Haou aufzupassen. Lieber hatte er ein Auge auf seinen Bruder. Nicht, dass Jesse jemals etwas verbotenes anstellen würde. Dennoch fühlte Jehu selbst sich einfach wohler, wenn er nahe bei seinem Zwilling war. Vor allem die letzten Tage war das Bedürfnis, Jesse nahe bei sich zu haben, stärker als sonst gewesen. So, als würde bald etwas schreckliches passieren, schoss es ihm durch den Kopf. Natürlich war dieser Gedanke total verrückt, doch dieses unwohle Gefühl wollte ihn einfach nicht los lassen. Auch jetzt nicht, während er mit Jesse zusammen den Anblick genoss, der sich ihnen bot. Die Sonne neigte sich langsam schon dem Horizont entgegen, sodass der Himmel wirkte, als würde er in einem leicht orange-rötlichen Ton angemalt worden sein. Es wirkte alles so friedlich, so ruhig. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt...nur was kann das sein? Jesse würde er nicht fragen. Er wollte seinen kleinen Bruder nicht beunruhigen, der von diesem schlechten Gefühl nichts zu bemerken schien. Er wirkte eher gerade so, als würde er wieder ein Kind sein und eine ganz neue Welt erkunden. Jesse war glücklich und zufrieden; diesen Zustand wollte Jehu ihm nicht nehmen. „Wir sollte langsam wieder rein gehen, meinst du nicht? Es gibt bald essen...“ „Aber wir waren doch noch nicht lange draußen...“ Jehu konnte nicht anders als aufzulachen. Der Gesichtsausdruck seines Bruders war einfach nur ein Bild für die Götter. Jesse hatte sich ihm zugewendet und die Lippen zu einem Schmollmund verzogen. Gleichzeitig hatte er das Kinn leicht angehoben und die Arme vor der Brust verschränkt. Extra für diese Pose war er von der Reling geklettert und lehnte nun mit dem Rücken dagegen. Immer noch lachend streckte Jehu die Arme nach seinem jüngeren Zwilling aus. „Ach, Kleiner...“, war alles, was er zwischen ein paar Atemzügen über die Lippen brachte, ehe wieder ein leichtes Lachen seiner Kehle entwicht. Ein Lachen, welches sich wohl auf Jesse übertrug. Dessen schmollende Geste löste sich langsam auf und ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. „Du bist bescheuert, Bruderherz...“, murmelte er leise, während er langsam auf seinen Bruder zuging. Dieser antwortete nicht, sondern schloss seinen Kleinen einfach in seine Arme. Es dauerte nicht lange, bis Jesse auch die Arme um ihn legte und die Umarmung damit erwiderte. „Lass uns gehen, Kleiner, bitte...“ Dieses Mal wehrte Jesse sich nicht, widersprach nicht. Mit einem zufriedenen Lächeln löste Jehu sich langsam von seinem Bruder, nahm dessen Hand. Ihre Finger verschränkte er miteinander – eine Geste, die er schon früher getan hatte. Eine Geste, welche die Vertrautheit zwischen den beiden Geschwistern widerspiegeln sollte. Gerade, als Jehu sich auf den Weg sich auf dem Weg machen wollte, mit seinem Bruder unter Deck zu gehen, erschütterte ein starker Ruck das gesamte Schiff. Was hat das denn nun zu bedeuten?! Noch während dieses Gedankengangs erklang eine laute Sirene und zerriss damit die Illusion einer ruhigen und friedlichen Atmosphäre. „Was hat das zu bedeuten? Jehu!“ Doch er konnte seinem Bruder keine Antwort geben. Stattdessen hielt Jehu Jesses Hand noch fester, zog ihn hinter sich her zum Bug des Schiffes, wo er hoffte eine Antwort zu finden. Wieso habe ich das Gefühl im Film 'Titanic' gefangen zu sein? Und das lag nicht daran, dass eben jedes Schiff, auf welchem sie sich befanden, eben jene Namen dieses Schiffes trug. Die 'Akaya' hatte namentlich nun rein gar nichts mit dem große Kreuzfahrtschiff zu tun. Es war etwas anderes, was Jehu dazu veranlasst hatte diesen Gedanken eben zu denken. Vor ihnen erstreckte sich eine Klippe. Groß genug, dass man sie eigentlich hätte sehen können. Natürlich nicht unter dem Meeresspiegel, aber alleine die majestätische Pracht, die über dem Meeresspiegel zu sehen war, konnte so Angst einflößend genug sein. Nein, er verstand nicht, wieso ihr Kapitän diesen Felsen nicht gesehen hatte. „Vielleicht ist dem Kapitän etwas passiert – könnte doch möglich sein, oder?“ Jehu konnte seinem Bruder anhören, dass es Jesse schwer fiel eine ruhige Stimme zu bewahren. Auch er selber kämpfte mit der großen Angst. Die Erschütterung, die das gesamte Schiff erfasst hatte, musste etwas mit diesem Felsen zu tun haben. Bitte, sag mir nicht, dass wir untergehen werden... Als hätten seine Gedanken einen Knopf für die gesamte Situation gedrückt, erklang plötzlich um sie herum lautes Geschrei. Menschen stürmten aus ihren Kabinen und aufs Deck. Sie alle schienen die Situation langsam zu erfassen. Doch was musste jetzt passieren? Was sollten sie jetzt tun? Kurz holte Jehu tief Luft, ehe er sich zu seinem Bruder umdrehte. „Ich werde dich retten, Kleiner. Ich lasse dich nicht sterben.“ Nein, er würde seinen Bruder retten, das schwor Jehu sich. Das letzte, was er dann sah, war Jesses Lächeln. Trotz dieser kritischen Situation lächelte sein kleiner Bruder. Mit seiner freien Hand berührte dieser die Wange seines älteren Bruders, strich sanft darüber. „Ich weiß, Jehu... Ich weiß doch.“ Er wollte Jesses Lächeln erwidern, wollte ihn in seine Arme ziehen, ihn nahe bei sich wissen. Doch ehe er sich versah, spürte er die Hand seines Bruders nicht mehr. Jehus Augen weiteten sich, als ihm klar wurde, dass man ihn von seinem Bruder getrennt hatte. Nicht bewusst, bestimmt nicht. Die panischen Menschenmassen um ihn herum mussten Jesse mitgezogen haben; so, wie sie ihn jetzt auch mitzogen. Er versuchte sich zu wehren, sich gegen den Strom zu stellen, der sich den Rettungsboten näherte, doch er war zu schwach. „JESSE! WO BIST DU KLEINER?!“ Panik überkam ihn. Hatte er seinen Bruder nun ganz verloren? Würde er mit diesem Schiff untergehen? Nein, das durfte einfach nicht passieren! „JESSE!“ Verzweifelt versuchte er in der großen Menge die vertrauten türkisen Haare zu erblicken – vergebens. Dass es da ja auch noch seinen besten Freund gab, vergaß Jehu für diesen Moment völlig. Es war nicht so, dass Haou ihm nichts bedeutete – im Gegenteil. Doch sein Beschützerinstinkt Jesse gegenüber, war nun einmal größer als die tiefe Freundschaft, die er zu seinem besten Freund empfand. Ohne sich wehren zu können wurde Jehu immer weiter in Richtung der Reling gedrängt, wo er irgendwie wohl halb rüber gehoben wurde, denn am Rande nahm er wahr, wie er mit ein paar anderen Leuten zusammen in einem kleinen Rettungsboot saß und ins Wasser gelassen wurde. Alles in ihm war unfähig, sich zu bewegen, obwohl sein Ziel jetzt war, seinen kleinen Bruder zu finden. Wo bist du nur, Kleiner? Ihm wurde klar, dass er jetzt nichts mehr für seinen Bruder würde tun können und einfach darauf hoffen musste, dass auch Jesse von der Menge zu einem anderen Rettungsboot gedrängt wurde Denn dann bestand die Chance, dass sie sich wiedersehen könnten. Ihm gefiel der Gedanke nicht, dass sein Bruder irgendwo alleine unter den ganzen anderen Passagieren war. Vor ein paar Minuten hatte er ihm noch versprochen ihn zu retten, ihn nicht sterben zu lassen. Und nun sitze ich hier in diesem Rettungsboot und weiß nicht wo du bist.. Es blieb ihm nichts anders übrig als zu hoffen und zu beten, dass Jesse nicht mehr unter den Menschen war, die schreiend vom Schiff fielen, welches sich langsam senkrecht aufrichtete und immer weiter von Wasser umgeben wurde, bis es endgültig in den Tiefen der weiten Meere versank. „KLEINER?! WO BIST DU?! KLEINER!“ Verzweifel sah Jehu sich um. Es war erschreckend, wie wenig Passagiere dieses Unglück überlebt hatten und wie viele ihr Leben hatten lassen müssen. Und doch waren es noch genügend, sodass man die eigenen geliebten Personen nicht gleich ausfindig machen konnte – sollten sie unter den überlebenden Personen sein. Es hatte Stunden gedauert, bis ein anderes Schiff zufällig die kleinen Rettungsboote entdeckt hatte. Für Jehu hatte sich das Warten wie eine Ewigkeit angefühlt, in der er unzählige kleine Tode gestorben war. Keiner hätte sagen können, ob ein 'SOS' gesendet worden war. Auch war noch nicht geklärt, wie das Unglück überhaupt hatte passieren können. Doch im Grunde war es Jehu selber egal. Er wollte nur seinen Bruder finden. Er wollte Jesse im Arm halten, sich selbst davon überzeugen, dass er überlebt hatte. Jesse durfte einfach nicht gestorben sein, das wäre nicht fair. „KLEINER!“ Immer wieder wiederholte er den Versuch. Immer und immer wieder rief er nach seinem Bruder – Erfolglos. Jesse war nicht aufzufinden, doch noch wollte er die Hoffnung nicht aufgeben. Noch konnte er rufen und schreien. Und noch wollte er einfach nicht akzeptieren, dass er schon unzählige Male alle Ecken des Schiffes abgeklappert hatte – ohne eine Spur von Jesse. „Jehu!“ Eine Stimme direkt hinter ihm ließ ihn erschrocken herum wirbeln. „Haou...“ Für einen kurzen Moment verdrängte er jeglichen Gedanken an seinen kleinen Bruder, schloss stattdessen seinen besten Freund in seine Arme. Er konnte den Herzschlag des Braunhaarigen spüren, dessen Körperwärme die ihm gerade nur mehr als recht war. Haou lebte – er lebte! „Ich bin so froh, dass ich wenigstens einen von euch gefunden habe...“ Einen von uns... Also wusste Haou anscheinend auch nicht, ob Jesse lebte oder nicht. Langsam löste Jehu sich von seinem besten Freund, versuchte dessen Blick seiner goldenen Augen festzuhalten. „Du hast Jesse also auch nicht gefunden.“ „Ich dachte, er wäre bei dir...“ „Nicht mehr...“ Für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen beiden. Keiner sprach es auch, doch sie wussten beide, was das alles zu bedeuten hatte. Dass sie Jesse zwischen den ganzen anderen Menschen nicht gefunden hatten, er auf keinen Ruf reagierte – weder auf das 'Kleiner', noch auf seinen Namen. Zitternd sank Jehu auf die Knie. Tränen brannten in seinen Augen, liefen seine Wange hinab. Er hatte sein Versprechen gebrochen, hatte es nicht halten können. Nur am Rande nahm er wahr, wie Haou sich zu ihm kniete, die Arme um ihn legte. Auch spürte er kaum, wie die Tränen seines besten Freundes seine eigene Kleidung benetzten.Der Schmerz in seiner Brust lähmte ihn, machte ihn unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Für einen Moment blieb es noch stumm, doch dann schrie Jehu auf. Es war ein Schmerzensschrei, der kaum ausdrücken konnte, was in seinen Inneren vor sich ging. Dabei half es auch nicht, dass Haou ihn an sich drückte. Denn auch die Nähe zu seinem besten Freund würde ihm seinen Bruder nicht mehr wiedergeben. Jesse war tot. Jehu wusste nicht, wie genau er gestorben war und am liebsten wollte er es auch gar nicht wissen. Er wollte sich nicht vorstellen, wie sein Bruder vielleicht noch gelitten hatte. Wer wusste denn schon, ob der Tod ihn schnell zu sich geholt hatte. Was, wenn er qualvoll ertrunken war? Oder erfroren? Allzu warm war das Wasser ja nun auch nicht. Es ist egal, ich habe mein Versprechen nicht halten können. Es tut mir leid, Kleiner... Und wie es ihm leid tat. Doch egal, wie sehr er dies auch beteuern würde. Jesse würde er dadurch auch nicht mehr wiederbekommen. Sein kleiner Bruder war verloren – für immer. ~*~20. Oktober 2013~*~ „Es tut mir so leid, Kleiner...“ Seine Stimme war nur ein leises Flüstern, wurde sie doch von den Tränen erstickt, die seine Wange hinab liefen. In seiner Kehle hatte sich ein Kloß gebildet, der es ihn nicht gestattete richtig zu schlucken oder gar zu reden. In seinen Träumen erlebte er diesen Tag immer wieder. Und jedes Mal wachte er mit dem gleichen Schmerzensschrei, den er damals ausgestoßen hatte. Und es würde wohl die nächsten Jahre nicht anders sein, denn niemals würde er vergessen, dass er seinen Bruder verloren hatte. Noch Tage nach dem Unglück hatten Suchtruppen das Gebiet rund um die Felsen abgesucht – vergebens. Es waren keine weiteren Überleben gefunden worden. Und dennoch wünsche ich mir immer noch, du würdest eines Tages vor der Tür stehen und mich anlächeln. Mir wäre es egal, wo du die ganzen letzten Jahre gesteckt hättest. Ich will dich einfach nur bei mir wissen, Kleiner – das ist alles, was ich will.. Und obwohl er genau wusste, dass dieser Wunsch niemals in Erfüllung gehen würde, hielt Jehu daran fest. Es war wie der verzweifelte Griff nach einem Strohhalm, der ihm dabei half, nicht zu fallen; wie ein Rettungsring der ihn davor bewahrte zu ertrinken. Langsam erhob Jehu sich. Es wurde langsam Zeit. Er musste gehen. Heute war es wieder soweit, er durfte keine Zeit verlieren. So ging er in den Flur, zog sich seine Jacke über die er von der Garderobe nahm und zog sich seine Schuhe an; Bewegungen, die er schon mehr intuitiv machte, als wirklich darüber nachzudenken. Ebenso der Griff nach dem Schlüssel, der auf dem kleinen Schrank lag, den Jesse und er in den Flur gestellt hatten – alles rein intuitiv. Kurz sah er sich um, ob er auch alles soweit hatte, dass er gehen konnte – Fenster zu, überall Licht aus – ehe er sich dann auf machte um ein weiteres Ritual auszuführen, welches ihm einen gewissen Halt noch im Leben gab. „Da bist du ja endlich!“ „Hast du lange auf mich gewartet?“ Anstelle einer Antwort schüttelte Haou den Kopf. Sie hatten sich beide am Spielplatz verabredet, der nicht weit von der kleinen Wohnung entfernt lag, die Jehu mit seinem Bruder bewohnt hatte und in der er nun nur noch die Einsamkeit vorfand. Seit dem Tag vor drei Jahren war es zwischen den beiden zu einem Ritual geworden, sich jeden Sonntag zu einem kleinen Spaziergang zu treffen. Es war nichts aufregendes, nichts weltbewegendes. Und doch war es für beide eine Stütze, die sie sich gegenseitig gaben. Denn genauso wie Jehu, war auch Haou noch lange nicht über den Verlust des besten Freundes seines Bruders hinweg. Natürlich war das nicht mit dem zu vergleichen, was für einen Schmerz sein eigener bester Freund empfinden musste, doch auch ihm war Jesse wichtig gewesen. Er hatte ihn damals geliebt – und tat es immer noch. Heute allerdings würde ihr Spaziergang nicht die übliche Route sein, die sie sonst nahmen. Durch die Stadt und Richtung Hafen. Nein, heute hatten sie ein ganz anderes Ziel vor Augen: den Stadtfriedhof. Schweigend gingen beide nebeneinander her, hielten jeweils die Hand des Anderen. Sie waren kein Paar, sondern nur Freunde, die sich auch so gegenseitig Halt geben wollten. Jehu war es gewohnt, dass sie nicht miteinander sprachen. Worte waren meistens fehl am Platz. Doch heute erhob Haou das Worte und bekam damit die ganze Aufmerksamkeit seines besten Freundes. Jehu hatte den Kopf zur Seite gedreht, als neben ihm ein leises Schluchzen erklang. „Haou?“ „Weißt du was mir gerade auffällt?“ „Nein, was denn?“ Wieder erklang ein leises Schluchzen. „Jesse wäre jetzt immer noch ein wenig größer gewesen als ich.“ Er versuchte zu lachen, doch es misslang ihm gänzlich, da das Schluchzen den Versuch sofort im Keim erstickte. Jehu antwortete nicht, sondern drückte nur die Hand seines besten Freundes fester, während sie weiter de Weg entlang gingen, der sie zu Stadtfriedhof bringen würde. Diese Route war ihnen nur mehr als vertraut, sodass sie schon bald vor Jesses Grab standen. Es war kein großes Grab und doch umgab es eine besondere Aura. Du warst ja auch etwas besonderes, Kleiner! Jehu kniete sich vor das Grab seines kleinen Bruders. Auf dem Grabstein standen alle Daten, die wichtig waren. Jesse Anderson * 23. Juni 1992 ╬ 20. Oktober 2010 Zudem war ein kleines Bild in den Stein eingebracht, auf dem Jesse ihnen beiden entgegen lächelte. Wie gerne würde ich dich noch einmal lächeln sehen oder dein Lachen hören... Er bemerkte, wie Haou sich neben ihn kniete und ein leises Gebet vor sich hin sprach. Er selber sagte kein Wort, sondern starrte eine Weile nur das Bild seines Zwillings an. Erst, als Haou schon länger verstummt war und sich eine Stille über sie beide gelegt hatte, erhob Jehu das Wort. „Es tut mir so leid, Kleiner, dass ich mein Versprechen nicht gehalten habe. Ich wollte dich doch retten, dich nicht sterben lassen... Ich liebe dich, Kleiner.“ Jedes Jahr waren es dieselben Worte, die er unter Tränen, die schon wieder seine Wange hinab liefen, gerade so gemurmelt über seine Lippen brachte. Mehr traute er seiner Stimme nicht zu, die schon bei den kleinen Sätzen mehr als nur stark zitterte. Und jedes Jahr wehte der Wind leicht durch die Bäume um sie herum, so als würde Jesse ihm antworten. „Ich weiß, Bruderherz, ich weiß...“ „You're here There's nothing I fear We'll stay Forever this way You are safe in my heart And my heart will go on and on“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)