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Amnesia

Wenn die Erinnerung streikt
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leserinnen und Leser!

Es freut mich sehr, dass ihr euch auf meine FF verirrt habt und wünsche euch viel Spaß beim Lesen.
Die Story ist weitgehenst an die Realität gehalten, was die Bandgeschichte angeht. Es würde mich interessieren wie viele wahre Dinge ihr pro Kapitel findet ;)
JFI: Jeden Sonntag wird ein neues Kapitel hochgestellt.

LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo und herzlich willkommen zum zweiten Kapitel
Ich hoffe es gefällt euch Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo liebe Leserinnen und Leser!

Ich wünsche euch viel Spaß beim dritten Kapitel.
Eine Herzensangelegenheit möchte ich allerdings gerne vorbringen:
Ich setze mich auch an die Story und tippe sie, also würde ich mich wirklich über Kommentare von euch freuen.
Es ist zwar nett Favouriteneinträge zu bekommen, aber es würde mich auch interessieren, was ihr von der Story haltet.
Eigentlich bin ich nicht der Typ der nach Kommentaren bettelt, aber es ist echt nicht schön absolut nichts von euch zu hören.
Also macht mir doch bitte die Freude und hinterlasst mir eine kurze Nachricht, ja?

Liebe Grüße Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo alle zusammen!
Die Geschichte geht weiter! Vielen Dank an TheNamelessLiberty für dein Kommentar - die Antwort findest du darunter =)
Und jetzt viel Spaß mit dem neuen Kapitel Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallöchen alle zusammen!

Danke an meine beiden Kommischreiber! Es hat mich sehr gefreut zu lesen, dass es euch gefällt.
Hier das versprochene neue Kapitel!

LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo alle zusammen!

Vielen lieben Dank an meine ganzen Kommischreiber und Favouritennehmer =)
Jetzt geht es endlich weiter - viel Spaß mit dem neuen Kapitel.

LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hi Leute!

Endlich est es so weit - mal ein Kapitel aus Aois Sicht.
Falls ihr es noch nicht gesehen habt: Es gibt eine Umfrage für die Charas für eine neue Story.
Wenn ihr Lust habt, könnt ihr gerne abstimmen: http://animexx.onlinewelten.com/umfragen/90142/

LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben!

Wow jetzt sind wir schon beim 10ten Kapitel O.o
Wirklich die Zeit vergeht sooo wahnsinnig schnell.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich beinahe vergessen hätte das neue Kapitel hochzuladen.
Aber Gott sei Dank wurde ich daran erinnert - also viel Spaß damit! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo alle zusammen!

Und wieder ist eine Woche vorbei.
Viel Spaß mit dem neuen Kapitelchen.
Es würde mich freuen, wenn ihr mir ein Kommi da lasst.

Lg dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Schönen Abend alle zusammen!

Nein, ich habe euch nicht vergessen!
Viel Spaß mit dem neuen Kapitel.

LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Herzlich willkommen zum neuen Kapitel! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo liebe Leserinnen und Leser!

Vielen Dank an meine Kommischreiber für die lieben Worte!
Es tut mir leid, dass ich das Kapitel erst heute rauflade, aber leider hatte ich gestern Probleme mit meinem PC.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo alle zusammen!

Ich wünsche euch viel Spaß beim neuen Kapitel!

LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo!

Danke sehr meinen beiden Kommischreibern für die lieben Kommentare!
Auch danke an meine Favouritennehmer! Es freut mich stets, dass es immer mehr werden ;)

Viel Spaß mit dem neuen Kapitel

LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo alle zusammen!

Ich darf euch mitteilen, dass wir heute ein kleines Jubiläum feiern - wir befinden uns bei der Hälfte der Story!
Viel Spaß mit dem neuen Kapitelchen!

LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo meine lieben Leserinnen und Leser!
Einen schönen 4. Advent wünsche ich euch und viel Spaß beim Lesen.
LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo meine lieben Leser!

Da heute Weihnachten ist, dachte ich mir, ich mache euch ein kleines Geschenk in Form eines vorgezogenen Kapitels. Lustigerweise war es wirklich das nächste Kapitel, weshalb ich (auch aufgrund der folgenden Kapitel) dachte, es würde euch gefallen und euch eine Freude machen.

Ich wünsche euch allen ein frohes, besinnliches Fest im Kreise eurer Lieben.

LG dani Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo und herzlich willkommen =)
Ich hoffe ihr seid gut ins Jahr 2016 gestartet!
Ich wünsche euch nachträglich viel Gesundheit und Glück in diesem Jahr
Viel Spaß nun mit dem neuen Kapitel!
LG Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo!

Erstmal vielen herzlichen Dank für die ganzen Favouriteneinträge und die Kommentare!
Ich freu mich immer wieder riesig darüber, wenn ich sehe, dass so viele Leute meine FF verfolgen.
Da ihr in den letzten Wochen so fleißig kommentiert habt und doch einige Schläge hinnehmen musstet, wird es euch sicher freuen zu lesen, dass heute aufgelöst wird, wer diese misteriöse Frau ist und was genau sie mit Aoi zu tun hat.
Ich wünsche euch viel Spaß dabei!

LG Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So meine lieben Leserinnen und Leser!
Herzlich willkommen zum letzten Kapitel.
Es folgt nur noch ein Epilog, dann ist die Story vorbei.
Vielen Dank an die Leute, die fleißig kommentiert haben und die, die meine Story mitverfolgt haben.
Das letzte Kapitel gibt euch ziemlich viele Einblicke und schließt den Kreis wieder. Es gibt die Antwort auf ein paar - noch - ungeklärte Fragen und zeigt auch kleine Details auf, die am Anfang der Story vorgekommen sind, die man vielleicht sonst überlesen hat, die aber nun Sinn ergeben. Vielleicht findet ihr ja welche beim Lesen.
Ich wünsche euch viel Spaß und frohe Ostern.
LG dani Komplett anzeigen

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Kapitel 1

~Uruha POV~
 

Warme, weiche Lippen strichen zärtlich über meine Wange, küssten sich über mein Kinn und verweilten am Hals. Das war der Moment, in dem ich endgültig wach wurde. Meine Augen blieben trotzdem geschlossen. Ich genoss das leichte Prickeln gefolgt von einem angenehmen Schauer, den seine Lippen in mir auslösten. Sein heißer Atem traf auf meine nackte Haut, als er seine Lippen leicht wie eine Feder über meine Schulter streichen ließ. Mein Innerstes zog sich in freudiger Erwartung zusammen. Mein Herz begann schneller zu pochen und das Blut rauschte in meinen Ohren. „Uruha …“ Seine sinnliche Stimme ließ mich erbeben. Die Spitzen seiner Haare kitzelten mich, als er sich erneut über mich beugte und mir einen Kuss auf die Lippen hauchte. „Komm schon, du Schlafmütze!“ Es war wundervoll so geweckt zu werden. Nach und nach verzogen sich meine Lippen zu einem müden Lächeln, was mir erneut sein leises, dunkles Lachen einbrachte. Gott ... dieses dunkle Lachen. Dabei wurde mir immer so verdammt heiß. Auch jetzt strömte die Hitze, wie eine Lavawelle durch mich hindurch, durchdrang jede Pore und stärkte mein Verlangen auf mehr. Schlaftrunken öffnete ich nun doch meine Augen und blinzle träge. Mein Schatz saß auf der Bettkante und lächelte schon wieder dieses Lächeln, das meistens das Ausschalten meines Hirns zur Folge hatte, da alles Blut in tiefere Regionen strömte.
 

„Morgen“, murrte ich leise und unwillig, während ich mich in die Kissen kuschelte. Im Zimmer war es bereits hell - er hatte schon die Jalousien hochgezogen. Die Bestätigung holte ich mir, indem ich aus dem Fenster in den trüben, wolkenverhangenen Himmel blickte. Es regnete in Strömen. Einige vereinzelte Tropfen waren auch auf die Fensterscheibe gefallen und zogen ihre Spuren nach unten, als die Schwerkraft sie gen Erde zog. Ein leises Seufzen kam über meine Lippen und ich verkroch mich tiefer unter der warmen Bettdecke, was ihn natürlich wieder zum Lachen brachte. Dabei wusste er doch ganz genau wie sehr ich solches Wetter hasste! Doch das Wetter war Nebensache, als er sich über mich beugte, die Decke wegzerrte und mich in einen sanften Guten-Morgen-Kuss zog. „Hast du gut geschlafen?“ In seinen Augen blitzte Freude auf, als ich meinen Arm ausstreckte und ihn am T-Shirt zu mir zog, damit ich ihn erneut küssen konnte. Mein Körper begann heftig zu kribbeln, als unsere Lippen aufeinander trafen. Weich. Warm. Er stöhnte leise und leckte über meine Unterlippe, was mich dazu ermunterte den Kuss hitziger werden zu lassen. Hart ließ ich meine Zunge über die seine gleiten und umspielte sie anschließend zärtlich. Er schmeckte nach Kaffee. Aoi drückte mich mit seinem Gewicht auf die Matratze, als er sich weiter über mich beugte. Seine Fingerkuppen streichelten liebevoll über meine Wange und ließen mich erneut erbeben. Doch mit einem Mal löste er sich von mir und setzte sich wieder auf. Mit dem verruchten Blick, den, vom Küssen, kirschroten Lippen und den schulterlangen, dunklen Haaren, sah er aus wie ein griechischer Gott. MEIN griechischer Gott! „Komm wieder ins Bett!“, verlangte ich. Da gab es ein, zwei Dinge, die ich noch machen wollte, bevor wir heute in diesen Tag starteten.
 

„So sehr ich auch möchte, aber das geht nicht. Wir müssen in ca. 40 Minuten los! Du wolltest noch duschen und frühstücken“, kam es bedauernd von ihm als er sich wieder von mir löste. Ich haschte noch einmal nach seinen Lippen und holte mir einen sanften Kuss. Dann setzte ich mich auf, streckte mich und gähnte müde. Nicht, dass ich schlecht geschlafen hätte (Neben ihm schlief ich nie schlecht - außer wir hatten Streit. Ansonsten liebte ich es von ihm im Arm gehalten zu werden und einzuschlafen.), aber ich war eben einfach kein Morgenmensch. Aoi selbst mochte es zwar länger liegen zu bleiben (vor allem liebte er es zu kuscheln), aber er hatte keine Probleme damit in der Früh aus den Federn zu kriechen – ganz im Gegensatz zu mir! Schließlich schaffte ich es aufzustehen und im Badezimmer zu verschwinden, wo ich mich leise summend in die Duschkabine stellte. Das warme Wasser tat gut und ließ mich langsam immer mehr entspannen. Eine Weile blieb ich unter dem Strahl stehen und träumte noch ein bisschen vor mich hin. Erst dann wusch ich die Haare und griff nach dem Duschgel. Die Kälte begrüßte mich wieder, als ich das Wasser abstellte. Zitternd nahm ich das Badetuch von der Heizung und wickelte mich darin ein. Ich griff nach dem Föhn, begann meine Haare zu trocknen und putzte mir die Zähne, während ich im Badezimmer auf und ab ging. Als wir zusammen gezogen waren mussten wir beide eine größere Wohnung suchen, da weder seine noch meine für eine weitere Person geeignet war. Das Angenehme daran: Wir konnten uns unsere Traumwohnung mieten, mit einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer, einer Küche, einem Bad und sogar ein eigens geplantes Musikzimmer, dessen Wände schalldicht waren. Wir konnten uns komplett austoben und alles zusammen einrichten. Ich war wirklich überrascht, dass er damals so viel Eigeninitiative ergriffen hatte. Eigentlich war Aoi mehr fürs ‚Große Ganze‘ zuständig (mit Ausnahme der Musik natürlich) und mochte es nicht sich mit den Kleinigkeiten auseinander zu setzen. Das traf sich gut, weil das vor allem mein Bereich war. Obwohl er nicht unbedingt der Typ war, der sich für Farben und Muster interessierte, hatte er sehr wohl Freude daran gehabt die Farben der Fließen (Cremefarben) und der Wände (ein helles Braun) auszusuchen, die perfekt mit der Einrichtung aus hellem Holz harmonierten. Die Dusche und die Badewanne (oh ja eine große Badewanne mit genug Platz für ein Bad zu zweit) waren beide weiß. Er hatte mich überrascht, als er an einem Nachmittag den Spiegel angeschleppt hatte, der nun über dem Waschbecken hing – ein großer Spiegel und mit kleinen Lämpchen am Rand, die man extra einschalten konnte, was ich jetzt auch tat, als ich die Zahnseide zur Hand nahm.
 

Weitere zehn Minuten später verließ ich dann fix und fertig das Badezimmer und tappte in Socken, einer dunkelgrünen Stoffhose und einem schwarzen Shirt (lange Ärmel –draußen war es kalt) in die Küche, aus der der wundervolle Duft von Kaffee kam. Aoi saß bereits wieder am Tisch, hatte die Zeitung in der Hand, in der er versunken las, und eine Tasse Kaffee vor sich stehen (vermutlich schon der Dritte an diesem Morgen). In der hautengen, schwarzen Jeans und dem weißen, mit schwarzen Schnallen und Bändern versehenen Oberteil sah er verdammt heiß aus. Mein Blick ging zur Uhr – ich hatte nur 25 Minuten gebraucht und lag damit hervorragend in der Zeit. Ich schenkte mir großzügig Kaffee in meine Tasse und lehnte mich gegen die Küchenzeile um ihn zu beobachten. Obwohl wir schon seit drei Jahren zusammen waren, betrachtete ich ihn immer wieder gerne. Warum auch nicht? Er war ein schöner Mann. Unbewusst spielte er mit seinem Piercing – zog es zwischen die Lippen, drehte es mit der Zunge, ließ es wieder los und begann wieder von vorne. Das machte er immer, wenn er nachdachte. Kurz fragte ich mich, was wohl in seinem hübschen Köpfchen vor sich ging, entschied mich dann aber dafür doch nicht nachzufragen. Wenn er es für nötig empfand, würde er es mir sagen. In diesem Punkt vertraute ich ihm, obwohl er in letzter Zeit auffallend oft in seine Gedankenwelt abdriftete. Fürs Erste ließ ich ihn mit seinen Gedanken alleine und aß ein Joghurt mit Früchten drin.
 

„Wir sollten los!“, durchbrach ich schließlich die Stille und schenkte mir noch in ein Glas Orangensaft ein, den ich dann sofort gierig hinunterstürzte. Die Packung fand wieder ihren Platz im Kühlschrank. Mein Freund erwachte aus seiner Trance. Sein Blick glitt zuerst auf die Zeitung, dann auf mich und schlussendlich zur Uhr. „Oh … schon so spät?“ Anscheinend hatte er nicht bemerkt, dass ich schon lange hier bei ihm in der Küche stand, was mir ein Lächeln entlockte. Ich legte meine Arme um ihn und schmiegte meine Brust an seinen Rücken. „Was ist denn nur los mit dir, hmm? Du bist so abwesend in letzter Zeit. Ist alles in Ordnung?“ So viel zum Thema nicht neugierig zu sein. Meine guten Vorsätze gingen wieder mal über Bord. Seine Hand legte sich zärtlich auf meinen Unterarm. Dann lehnte er sich zurück. „Ja, alles in Ordnung. Ich hab nur über den neuen Song nachgedacht!“ Er trank seinen Kaffee aus und half mir anschließend dabei den Tisch abzuräumen. „Bereit für die Aufnahmen?“, fragte er und seine Augen blitzen auf. Ich musste schmunzeln. Aoi hatte nicht lange gebraucht um mitzubekommen, dass ich Morgenmuffel es hasste auf solche Themen angesprochen zu werden, bis ich zumindest aus der Dusche gekommen war und daran hielt er sich auch. Es gab oft Tage an denen wir in der Früh kein Wort wechselten, jedoch auf dem Weg zum Studio begannen uns zu unterhalten. Jeder hat so seine Macken, nicht? Und das war eben meine. Er kannte sie jedoch und konnte damit leben. Meistens erwischte er sowieso immer genau den Moment, an dem ich wieder so weit war mich meinem Tag zu stellen.
 

„Es wird ziemlich anstrengend. Ich meine … du hast das Pensum gesehen, das die heute durchbekommen wollen. Aber ich freue mich drauf wieder mal im Studio zu sitzen.“

Er schnalzte mit der Zunge und nickte zustimmend, während er mir in den Hausflur folgte. „Hmm … hab ich. Ich bin fürs Erste froh, dass wir die Tour hinter uns haben und uns auf das Album konzentrieren können.“ Aoi war ein Arbeitstier. Er hängte sich in die Arbeit, bis er zu 100% zufrieden mit dem Ergebnis war. Davor hörte er nicht auf. Einerseits bewunderte ich ihn dafür. Es war eine Seite, die mir an ihm besonders gut gefiel. Man wurde von seinem Enthusiasmus einfach angesteckt und wollte selbst sein Bestes geben um mit ihm mithalten zu können. Andererseits war es auch die Seite, wegen der ich ihn gleichzeitig auch vor Wut schütteln konnte. Dieser Perfektionismus war hin und wieder einfach nur übertrieben. Auch wenn wir Menschen waren, die oft genug im Rampenlicht standen, hieß es nicht, dass wir keine Fehler machen durften. Die Fans liebten uns so wie wir waren. Das machte den Charme der Band aus. Sonst hätte man genausogut auch Roboter auf die Bühne stellen können. Er band sich die Schuhe zu, tastete seine Jacke nach dem Schlüssel ab und verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen, weil er ihn nicht fand. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir heute überhaupt aufnehmen werden. Immerhin steht der eine Song noch nicht wirklich. Sieh mal in der Obstschüssel nach!“ Aois Augenbrauen hoben sich elegant. Die Frage in seinen Augen war unmissverständlich: Warum zum Teufel glaubst du ich hätte meinen Schlüssel in die Obstschale gelegt? „Ich denke du hast gestern Äpfel hochgetragen …“ Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Aois Motto war grundsätzlich: ‚Das Genie beherrscht das Chaos.‘ So sah es auch meistens aus, obwohl es sich schon um einiges verbessert hatte, seitdem wir beide zusammengezogen waren. Da er es nie schaffte seine Schlüssel am selben Ort abzulegen, war es keine Seltenheit, dass wir kurz vor dem Aufbruch auf Schlüsselsuche gingen. Nur gut, dass die nicht weit kommen konnten. Und da ich sozusagen einen sechsten Sinn dafür hatte seine Schlüssel zu finden, drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und ging auch dieses Mal nachsehen. In der Zwischenzeit schloss ich die Knöpfe meines Mantels und suchte meine Strickmütze, die aus der Tasche gerutscht war.
 

„Meinst du, ...“, kam es gedämpft aus der Küche, begleitet von einem leisen Klong, als er vermutlich die Obstschale durchsuchte. „… dass wir es heute ausdiskutieren können? Ruki will ihn gerne mit drauf packen.“ Ich verdrehte die Augen. Nichts gegen unseren Sänger, aber Ruki wollte generell viel! Anscheinend kompensierte er den letzten Beziehungsreinfall mit Arbeit, weshalb er im Moment ein richtiger Teufel war, wenn es ums Texten ging. Das Problem entstand aber, wenn er bereits eine Melodie im Kopf hatte und von uns erwartete sie umzusetzen. Auch wenn er es in Texten immer auf den Punkt brachte, gab er uns oft genug nur recht vage Anweisungen, was die musikalische Umsetzung betraf. „Ich weiß es nicht, Aoi. Im Moment ist es recht schwierig und Kai hat in einem Punkt wirklich Recht! Er klingt zu…“ Ich suchte nach dem passenden Wort.

„…leer? Ohne Substanz? Lasch? Ha, hab ich dich!“ Ja, genau das war das Wort gewesen. Unsere Musik wurde immer nach dem Motto ‚Nur Musik, die von Herzen kommt, geht zu Herzen.‘ gemacht. Im Moment kam sie zwar von Herzen, aber vermutlich würde sie niemanden erreichen, weil wir es einfach nicht schafften den Song etwas aufzumöbeln. Vor allem im Mittelteil hing es gewaltig. Schwierigkeiten machte uns dabei weniger der Text sondern die Musik. Nachdem mein Liebster es endlich geschafft hatte die Tür aufzusperren, und ich ihn noch mal deswegen geneckt hatte, stiefelten wir die Treppe nach unten zum Auto, wo ich mich auf den Beifahrersitz fallen ließ und die Tür zuzog.
 

Dreißig Minuten später (alles nur wegen dem scheiß Verkehr – es hatte wieder mal einen Stau gegeben, sonst brauchten wir nur 15 Minuten) betraten wir mit fünf Kaffeebechern, vom Starbucks nebenan, den Probenraum. Es war ein großer Raum, der in zwei Hälften geteilt wurde. Zirka ¾ des Raumes nahmen verschiedene Verstärkerboxen und Instrumente ein – darunter jene, die wir jeden Tag verwendeten, aber auch ein Keyboard, eine E-Geige (die an der Wand in einer Halterung hing), mehrere Rasseln, Trommeln und sonstiges Zeug für Kai und noch einige Instrumente, mit denen wir ein bisschen was versuchten (hin und wieder passte es ganz gut dazu auch was anderes mit einzubauen). Das restliche Viertel bestand aus einer gemütlichen Sitzecke und einem Tisch auf den wir nun die Becher stellten. Außerdem gab es eine Kaffeemaschine (die aus irgendeinem Grund den Geist aufgegeben hatte), einen Kühlschrank und einen weiteren Schrank für Krimskrams. Der Schrank für die ganzen Notenblätter, Songs, etc. stand zusammen mit noch zwei Keyboards, Gitarren, Bässen, Schlagzeugkomponenten, Mikrofonen, Verstärkern, Kabelsalat (eine ganze Schublade voll), Plektrons (auch eine Menge) und Instrumenten- und Notenständern in einem angrenzenden ‚Lagerraum’, wenn man den so nennen wollte. Eigentlich war es ja mehr eine Besenkammer.
 

Ruki, der bereits auf dem Sofa saß, hob nur kurz den Blick vom Laptop, bedankte sich für den Kaffee und legte dann wieder die Hände auf die großen Kopfhörer, mit denen er sich vermutlich noch einmal die Songs anhörte, die er während der Probe aufgezeichnet hatte. Oder er komponierte gerade mit dem neuen Programm, das wir ihm letztens zum Geburtstag geschenkt hatten. Darauf konnte man die Melodien selbst eingeben und sich vorspielen lassen, mixen und noch einige andere Dinge, die ihm offensichtlich viel Spaß machten. Er hatte sich sehr darüber gefreut und saß gerne vor seinem Laptop um ein bisschen herumzuspielen und Neues auszuprobieren. Seine Lippen bewegten sich, als er stumm den Text mitsang. Die Augen hielt er wieder geschlossen um sich besser darauf konzentrieren zu können. Dann runzelte er die Stirn, öffnete seine Augen wieder und begann aufs Neue zu tippen. Reita und Kai waren noch nicht hier, was aber rein gar nichts zu bedeuten hatte. Die beiden waren sicher irgendwo im Gebäude. Auch wenn man gerne mit der ‚Pünktlichkeit’ von Prominenten herumwitzelte – keiner von uns war unpünktlich (meistens zumindest). Aoi begann zu grinsen und ließ sich auf das Sofa fallen. „Meinst du er schreibt gerade unseren Mittelteil um? Wäre super, dann wüsste ich wenigstens endlich, was ihm beim Aktuellen nicht gefällt!“ Ruki schien das gar nicht wahrgenommen zu haben, denn er nippte an seinem Kaffee und starrte weiterhin auf den Bildschirm. Ich warf Aoi einen mahnenden Blick zu und schüttelte den Kopf. „Lass ihn das ja nicht hören! Im Moment reagiert er generell sehr sensibel auf Kritik!“, murmelte ich leise. Allerdings wusste Aoi das wohl am besten. Als Rukis bester Freund war er es gewesen, der zuerst von der gescheiterten Beziehung erfahren hatte. An dem Abend war er nach einem kurzen Telefongespräch wie der Teufel durch die Wohnung geschossen, hatte seine Sachen zusammengesucht und nach einer knappen Erklärung war er auch schon zu Ruki gefahren. Was die beiden genau gemacht hatten, wusste ich nicht, aber Ruki schien am nächsten Tag schon wieder der Alte zu sein – mal davon abgesehen, dass er noch wortkarger war als sonst und eine große Sonnenbrille trug, obwohl es draußen regnete. Dass es ihm mehr zusetzte, als er durchblicken ließ, sah man allerdings an der Fülle von neuen Songs, die er im Moment zu Papier brachte.
 

Ich setzte mich neben Aoi aufs Sofa und streckte meine Beine aus. Nachdenklich wanderte mein Blick nach draußen in den trüben Wolkenhimmel. Blödes Wetter! Genüsslich schlürfte ich meinen heißen Kaffee und wärmte meine Fingerspitzen an dem Becher. Aoi nahm schließlich seine Gitarre auf den Schoß und ließ das Plektron über die Saiten tanzen. Ich erkannte die Melodie erst etwas verspätet: Cassis! An diesem alten Song hatte er wohl einen Narren gefressen. Den Grund konnte ich mir denken. Die Gitarrenstimmen hatten wir beide zusammen entwickelt. Wir hatten nächtelang unser ganzes Herzblut in den Song gesteckt und waren verdammt stolz auf das, was herausgekommen war. Es erinnerte ihn immer wieder daran, wie wundervoll wir beide harmonierten. Dabei waren wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zusammen gewesen. Mit einem leisen Seufzen lehnte ich mich an ihn und schloss die Augen. Ich liebte es, ihm beim Spielen zuzuhören. Wie ein Bildhauer den Stein zu einer Skulptur formte, formte Aoi mit Klängen ein Gebilde, das mein Herz berührte. Obwohl ich die Leadgitarre spielte, hatte ich oft genug das Gefühl, dass er in Wahrheit der bessere Gitarrist von uns beiden war. Jedoch hatten wir es noch nie auf ein Battle angelegt. Er war zufrieden mit den Parts, die er spielte. Aoi mochte es den Rhythmus zu untermauern, zu stärken und voranzutreiben. Die Einwürfe und Gegenmelodien waren mein Part. Er brannte für Solis, wobei nicht er derjenige sein musste, der sie auf der Bühne spielte. Er überließ sie auch gerne mir, solange er daran mitfeilen durfte.
 

Ich zuckte zusammen, als die Tür mit einem Ruck geöffnet wurde und Reita und Kai den Proberaum betraten. Ohne Umschweife setzten sie sich zu uns an den Tisch. „Kaffee!“, freute sich unser Leader, griff nach einem Becher und trank seufzend ein paar Schlucke. Aoi war zwar nahe dran der Koffeinsucht zu verfallen, doch Kai war vollkommen verloren. Was erwartete man sich bei seinem Job? Dabei steckte er den Stress, der durch die Doppelbelastung entstand, verdammt gut weg. „Klar immer wieder gerne!“, hörte ich Aoi sagen, der die Gitarre nun zur Seite stellte und sich nach vorne beugte. Kai hatte einen Ordner dabei, den er aufschlug um uns den Terminplan für die heutige Session zu zeigen. Nachdem wir genau abgesprochen hatten, wer wann welche Aufnahmen machte, unterrichtete uns Kai auch darüber, was in den nächsten Wochen anstand – was nicht viel war, zum Glück. Schon die Aufnahmen am Album würden kräfteraubend sein. So sehr ich unsere Fans auch liebte – ich konnte währenddessen nicht auch noch am laufenden Band Konzerte und Interviews geben.

Kapitel 2

~Aoi POV~
 

„Verdammt straffer Zeitplan“, dachte ich mir nur, als Kai uns diesen vorlegte. Es war alles mit Farben markiert und haargenau aufgeteilt, damit auch ja keine Sekunde verloren gehen konnte. Dabei wusste er genau, dass jeder in seinem eigenen Tempo arbeitete.

Es gab Tage, an denen funktionierte alles! Man spielte seinen Part zwei, drei Mal und er war perfekt, man war stolz auf die Leistung und konnte voller Elan an weitere Arbeiten gehen. Kai machte uns zwar den Leader, was aber nicht hieß, dass wir ihn mit dem ganzen Zeug versauern ließen. Ich half ihm gerne, wenn er mich darum bat. Uruha war auch sehr hilfsbereit, immerhin wusste er aus eigener Erfahrung, was dieser Posten mit sich brachte. Als wir die Band gegründet hatten, war er so etwas wie der Leader gewesen. Nur hatten wir damals niemanden wirklich explizit auf diesen Posten gewählt. Aber es war immer er gewesen, der alles im Griff zu haben schien und uns laufend ermunterte unsere Träume niemals aufzugeben, auch wenn es noch so schlecht lief. Es kam öfter vor, dass wir sogar im Bus für die Instrumente schlafen mussten, weil wir kein Geld für ein Hotelzimmer hatten. Und auch hier hatte er nur gemeint, dass wir eines Tages daran zurückdenken werden, wenn wir in Luxussuiten wohnten. Tatsächlich war es so gekommen. Im Nachhinein war ich überzeugt davon, dass man nur etwas erreichen kann, wenn man sich hohe Maßstäbe setzt und versucht darauf hinzuarbeiten. Manchmal dauert es lange bis man dort ankommt, aber mit einem Ziel vor Augen kommt man dort an.

Und dann gab es Tage, die waren einfach nur mies. So, als würde sich das Schicksal mit all seiner Macht gegen einen stellen. Man hatte verschlafen, hatte Rückenschmerzen, verpasste den Bus, wurde gestraft, weil man sich das falsche Ticket ausgedruckt hat und kam zu spät zur Arbeit. Man war nicht zufrieden mit sich selbst, mit dem Rhythmus, mit der Melodie. Nichts schien zusammen zu passen. Das waren die Tage an denen Kopfschmerzen auf dem Programm standen. Tage an denen man genervt nach Hause ging und sich darauf freute endlich dem Alltag zu entkommen. Meistens waren es auch die Tage an denen ich mich mit Uruha stritt. Einfach weil wir beide müde waren und er sehr wohl ein Biest sein konnte. Es waren Tage, an denen man einfach besser im Bett bleiben und weiterschlafen hätte sollen.
 

Dieser Tag war einer der Dreckstage an denen ich nichts auf die Reihe bekam. Selbst das Solo, das ich sonst ohne Probleme spielte, machte mir extreme Schwierigkeiten. Immer wieder baute ich Fehler ein, vergaß Töne, den Rhythmus oder meine Finger waren zu langsam. Mit jedem Fehlversuch brodelte die Wut immer mehr in mir. Vor allem, weil ich abbrechen und alles von vorne spielen musste. Nach beinahe fünf Stunden im Studio (Reita hatte einen guten Tag und ich war früher dran), musste Kai mich nach draußen zerren, damit ich einsah, dass es für heute einfach reichte. Hey, ich bin Perfektionist! „Lass es mich noch ein Mal probieren, bitte!!“, flehte ich unseren Drummer an und fächerte mir Luft zu. Im Proberaum war es heiß wie in einer Sauna. Ich war knapp davor der Versuchung zu unterliegen mich bis auf die Shorts auszuziehen. Er warf mir nur einen kurzen, musternden Blick zu und schüttelte den Kopf. „Das hast du vor deinen letzten beiden Versuchen auch schon gesagt!“ „Kai, komm schon. Ein Mal! Wenn es nicht klappt, lass ich es wirklich!“ Er stöhnte leise und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. Dann stemmte er seine Hände in die Seiten und erwiderte meinen Blick ernst. „Denkst du immer noch, dass es was wird? Aoi, du versuchst dich schon das hundertste Mal am Solo. Wirklich, fünf Stunden hintereinander ist zu viel! Das weißt du selbst. Du kannst dich immer weniger konzentrieren und machst dich verrückt, weil du glaubst, dass es das nächste Mal besser wird! Setz dich hin, leg die Beine hoch, trink einen Kaffee und versuch‘s morgen wieder!“ Leader-sama hatte gesprochen und das war, der Tonlage nach, definitiv sein letztes Wort. Vermutlich weil er wusste wie es enden konnte, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte und es nicht funktionierte. Außerdem hatte ich bereits Kopfschmerzen und stand knapp vor der Explosion. „Uruha! Dein Mann braucht seelische Unterstützung! Mach was!“
 

Etwas leidend verzog ich das Gesicht und sah erst auf, als Uruha mir die Gitarre aus den Händen nahm und sie in den dafür vorgesehenen Ständer stellte. Kai wandte sich ab – offensichtlich froh darüber, dass Uruha sich um mich kümmerte. Er hauchte mir einfach einen Kuss auf die Lippen und streichelte genüsslich über meine Brust. Seine Finger hakten sich in die Schnallen und Bänder an der Seite des Shirts. Nachdrücklich zog er mich daran an sich heran, sodass sich unsere Brustkörbe berührten. „Weißt du eigentlich wie heiß du in diesem Shirt aussiehst?“, fragte er. Ein deprimierter Seufzer entkam mir. Doch ich schlang meine Arme um ihn und zog ihn fester an mich, was ihn zum Grinsen brachte. „Sei nicht sauer“, flüsterte seine melodische Stimme, als er sich wieder von mir löste und mich lächelnd ansah. Er selbst musste erst morgen aufnehmen – sein Glück. „Komm schon … jeder hat mal einen schlechten Tag!“ „Ja aber warum muss ich der Einzige sein, der heute seinen schlechten Tag hat?“, motzte ich und folgte ihm in den Proberaum. Der Blick, den er mir zuwarf wirkte verletzt. Ach verdammt. Jetzt hatte ich es auch noch geschafft Uruha sauer zu machen. „Entschuldigung! Ich wollte dich nicht so anfahren!“ Warum sollte ich ihm die kalte Schulter zeigen und sauer sein, wenn er doch absolut gar nichts dafür konnte? „Ist schon gut. Ich versteh es ja! Wir sind im Moment alle etwas gestresst.“ Ich grummelte leise, ließ mich aber von ihm noch einmal küssen und lümmelte mich dann aufs Sofa. Er drückte mir einen Kaffeebecher in die Hand (woher der kam wusste ich nicht, immerhin war unsere Kaffeemaschine hinüber) und setzte sich dann so, dass ich mich an ihn lehnen konnte. Das Schöne an unserer Beziehung war, dass sie sehr ausgeglichen war. Wir ergänzten uns in einigen Dingen wunderbar und gerade in solchen Momenten konnte ich mich einfach an ihn lehnen und meinen Frust im Kaffee ertränken. „Wenn das alles vorbei ist, können wir ja einen Onsen besuchen“, schlug er dann nachdenklich vor. „So dringend brauche ich die Erholung nun auch wieder nicht!“ Er hob seine Augenbrauen. „Warum? Was hast du denn dagegen?“ Ich warf ihm einen Blick zu, der deutlich besagte, dass er sich das selbst ausrechnen konnte. „Erstens sitzen da nur alte Kerle herum, die einen Gesprächspartner für ihre Altersgebrechen suchen und die ich anscheinend jedes Mal wie ein Magnet anziehe. Bei aller Liebe Uruha, da komme ich mit Sicherheit nicht mit!“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Und Zweitens?“ Ich runzelte die Stirn. „Zweitens mag ich es nicht mit fremden Leuten nackt in einer Quelle herumzuplanschen.“ „Und wenn nur wir beide gehen?“ „Uruha, lass es sein! Ich will in keinen Onsen!“ Damit war für mich das Thema auch erledigt. „Wir könnten auch nach Kyoto fahren oder zu deinen Eltern!“ Ich schüttelte nur lächelnd den Kopf und ließ ihn weiterhin seinen Urlaubsträumen nachhängen.
 

Ruki saß immer noch am Laptop, hatte sich dieses Mal allerdings ein Keyboard dazu geschaltet und ging ein paar Akkorde durch. Leise begann er zu summen und nickte zufrieden. Anscheinend hatte er gerade auch einen seiner guten Tage. Verflucht! Uruha zupfte an meinen Haaren und begann meinen Nacken zu massieren. Dieser Bastard wusste ganz genau wie er mich dazu brachte zu entspannen. Das wussten alle anderen auch, weshalb immer Uruha geholt wurde, wenn ich sauer wurde (was nicht oft war). Sie verglichen mich nur gerne mit einem Vulkan. Der war auch sehr lange ruhig, aber wenn er mal loslegte hinterließ er eine Spur der Zerstörung. Ich schloss die Augen und hörte Ruki dabei zu, wie er hin und wieder ein paar Töne mitsang und dann wieder auf dem Laptop herumtippte. Die Stille war … angenehm und da Uruha mich eine Weile durchknetete besserten sich meine Kopfschmerzen und meine Laune merklich – wobei mir da gleich noch mehr Dinge in den Kopf kamen, die mir Spaß machen würden (zusammen mit ihm natürlich). Lächelnd hatte ich damit begonnen über seinen Hals zu küssen und leckte ihm über die Lippen, als er sich zu mir beugte um sich einen Kuss abzuholen, der etwas ausartete. Ruki lehnte sich zurück und sah uns nachdenklich an. „Könnt ihr mal eine Gitarre holen? Mir ist da was eingefallen, was unseren Problemsong angeht“, forderte er uns auf. Nun wie war das mit meiner guten Laune? Aber ok. Immerhin sollten wir arbeiten und die anderen waren eigentlich sehr tolerant, was Uruha und mich betraf. Daher erhob ich mich um meine Gitarre zu holen – inklusive Kabel, versteht sich. Ruki verband sie durch einen Adapter mit dem Laptop, zog die Kopfhörer aus dem Kopfhörereingang und steckte die großen Boxen an. Ich begann zu grinsen. Ja das gab mit Sicherheit einen guten Sound. Der Sänger sah uns abwartend an und drückte dann auf die Play-Taste. Gleich darauf erklangen die ersten Takte des Songs. „Ist das dein Part oder die Melodie zu deinem Part?“, fragte ich schließlich und Uruha rutschte näher heran um auf den Bildschirm sehen zu können, während ich versuchte den Teil mitzuspielen. „Moment!“ Ruki tippte wieder etwas ein und schon legten sich weitere Stimmen über die Erste. „Das ist mein Part“, sagte er und tippte auf die Zeile. „Und das die Melodie, wie ich sie mir ungefähr vorstelle!“ Sein Finger zeigte auf die unteren Zeilen. Verstehend nickte ich und grinste leicht – die Melodie ging ins Ohr. Sehr schön! Uruha begann auf seinem und meinem Schoß mitzuklopfen und lachte leise auf. „Ich sollte Schlagzeuger werden!“ „Finger weg, das ist mein Job!“, kam es von Kai. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass er durch die Tür geschlüpft war. Dementsprechend überrascht reagierte ich auch. Der Drummer schmiss gerade sein zusammengeknülltes, verschwitztes T-Shirt in die Richtung seiner Tasche und setzte sich an seine Drums.
 

„Ah, gut dass du wieder hier bist. Warst du gerade bei den Aufnahmen dran?“, fragte Ruki nach und drehte die Boxen lauter, damit Kai mithören konnte. Er griff Uruhas Rhythmus auf und begann zu spielen. „Ja … und ich hatte Glück, dass ich bei dem Song nicht so hart arbeiten muss! Da unten ist es heiß, wie in einer Sauna. Kein Wunder, dass du so fertig warst, Aoi!“ Ich wusste genau, was er mit Sauna meinte. Irgendein Idiot hatte die Heizung bis zum Anschlag hochgedreht! Blöderweise konnte man während der Aufnahmen kein Fenster öffnen und so was wie eine Klimaanlage gab es leider auch nicht. „Ich hatte auch Anwandlungen von einem Bad Day“, meinte der Drummer etwas verspätet und zuckte mit den Schultern, während er auf das Becken eindrosch. Ha! Also schien er sich auch abreagieren zu müssen. Wenigstens war ich nicht der Einzige. Meine Finger glitten immer noch über die Saiten der Gitarre, während ich Kai zuhörte. „Naja ich denke weniger, dass es am Schlagzeug liegt. Vielleicht sollte man mal ein Bass-Solo einbauen. Möglich wäre es auch den Solopart mit den Gitarren aufzugreifen“, erklärte ich schließlich, nachdem ich mir den Teil das dritte Mal angehört hatte. Uruha nickte zustimmend und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare um sie nach hinten zu streichen und dann mit einem Haargummi zusammenzubinden.
 

„Die Stelle da wäre perfekt für einen Wechsel“, sagte Reita dann und deutete darauf. Ruki nickte nur bedächtig. „Was haltet ihr davon hier Triolen einzubauen? Das würde dem Ganzen ein bisschen mehr Schwung geben!“ Wir tüftelten weitere zwei Stunden an diesem Teil herum, bis wir endlich halbwegs zufrieden waren. Vor allem auch Ruki, der endlich meinte der Song hätte Seele. „Wir werden noch ein bisschen daran feilen müssen, aber so können wir ihn erstmal stehen lassen!“, meinte der Vocal und streckte sich leicht. Wir waren gerade dabei unsere Taschen zu packen, als unser Manager etwas zerknirscht in den Raum lugte. „Leute es tut mir wirklich leid, aber ich sollte euch noch zum Meeting abholen!“ Ruki hob die Augenbrauen. „Wir haben heute ein Meeting?“ Unser Manager schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Ich hatte eines mit den ganz großen Bossen, wegen des Albums.“ Kai schüttelte den Kopf. „Davon wusste ich gar nichts. Ist es nötig, dass alle mitkommen, oder reicht es, wenn ich da bleibe?“ Das war einer der Momente, in dem ich dafür dankbar war, dass Kai eine so verdammt gute Seele hatte. Ich wollte nur noch nach Hause. Kein bescheuertes Meeting mit versnobten Idioten, die meinten generell alles besser zu wissen. Dass sich unser Leader hier anbot, damit wir schneller nach Hause kamen war klasse und eigentlich nichts Neues. Er würde morgen von mir als Danke definitiv noch einen Kaffee bekommen. Doch unser Manager machte die Hoffnungen zunichte indem er den Kopf schüttelte und meinte, dass alle antanzen mussten. „Wer ist denn alles da?“, fragte Ruki etwas genervt. „Nur Morishita-san und Sotooka-san!” Bei der Nennung des letzten Namens wurde mir flau im Magen. Ich konnte diesen Kerl absolut nicht leiden. Er mischte sich überall ein, hatte aber keine Ahnung vom Geschäft. Seine Interessen schienen sich mit den unseren nie zu decken und wenn er etwas zu bemängeln hatte trug er es immer auf der persönlichen und nicht auf der Sachebene aus. „Na klasse. Vom Regen in die Traufe!“, entkam es mir, was mir von meinen Bandkollegen amüsierte Blicke einbrachte. Sie wussten ja alle, wie ich zu Sotooka-san stand. Allerdings beruhte das auf Gegenseitigkeit. Er konnte mich wohl genauso wenig ausstehen.
 

Traufe beschrieb es auch ganz gut. Zuerst wurde ewig über die Songauswahl des Albums diskutiert. Wenigstens war Ruki hierbei stur genug um sich nicht ins Handwerk pfuschen zu lassen, sodass ich mich hier nicht groß einzuschalten brauchte. Anschließend debattierten sie ewig über die nächsten Termine, weil Uruha angemerkt hatte, dass es zu Terminkollisionen kam, da man uns plötzlich mehrere Interviews dazwischen schieben wollte, die anscheinend sehr wichtig waren. Den zusätzlichen Fototermin konnte Kai ihnen gerade noch ausreden. Das war der Grund, warum er der Leader war. Ich wäre vermutlich explodiert nach diesem Tag. Er brachte nur sachdienliche Anmerkungen und die kamen von selbst drauf, dass es für uns nicht machbar sein würde. Uruha hatte seine Hand auf meinem Oberschenkel geparkt und streichelte immer wieder darüber, was mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Zwar war ich zu müde um das Wort Sex auch nur zu denken, allerdings hieß das ja nicht, dass man nicht genießen konnte, was einem so gegeben wurde, oder? Wenigstens passte er auf was gesprochen wurde. Zur Halbzeit hatte ich mich bereits aus dem Gespräch ausgeklinkt, nickte ab und an, wenn die anderen nickten und brachte ab und zu etwas Nichtssagendes in das Gespräch ein. Man hätte genauso gut über den Untergang der Welt, oder eine Kochsendung sprechen können – meine Kommentare hätten überall dazu gepasst. Ich war sogar so weggetreten, dass ich erst bemerkte, dass mir jemand ein Glas Wasser hingestellt hatte, nachdem ich es bereits leer getrunken hatte. Sotooka-sans hämisches Grinsen ignorierte ich. Sollte er sich ruhig darüber freuen, dass ich ausnahmsweise müdigkeitsbedingt die Klappe hielt. Dafür würde er das nächste Mal für jeden dämlichen Kommentar eine passende Antwort bekommen.
 

Glücklicherweise konnten wir nach dem Meeting endlich nach Hause fahren. Es war bereits 10 Uhr am Abend und ich wollte nur noch mein Bett und meine Ruhe – na ja und vielleicht ein Bad zusammen mit Uruha. Immerhin brauchte ich Entspannung. Ich schnappte mir gerade meine Tasche, als Sotooka-san mich aufhielt. „Ich habe Ihnen heute zugehört …“, begann er und ich wusste in diesem Moment, dass ich noch einen Dämpfer bekommen würde. So war es auch – ein mächtiger Dämpfer. Und es brachte auch nichts, dass unser Manager sich einzuwerfen traute, dass es sich bei gefühlten 100 Grad schlecht spielen ließ und dass jeder mal einen schlechten Tag haben konnte. Ja, das war meiner gewesen und es war weder eine 4 noch eine 9 im Datum vorhanden. In den westlichen Kulturen gab es das Phänomen des Freitag des 13ten. Tja wir hatten auch keinen Freitag und auch keinen 13ten. Ich musste mir wohl was anderes einfallen lassen. Mit stoischer Miene ließ ich das Donnerwetter über mich ergehen, drehte mich dann einfach um und folgte Uruha zum Parkplatz hinunter.
 

Auf dem Weg zum Auto machte ich meinem Unmut Luft. Uruha, der neben mir ging, öffnete stumm den Kofferraum und ließ mich einfach schimpfen und fluchen, während er mir meine Tasche abnahm und sie hinein verfrachtete. Besser so, sonst hätte er den Rest abbekommen und das obwohl ich ihn ja eigentlich nicht treffen wollte. „Sehen Sie zu, dass Sie sich das nächste Mal besser konzentrieren ... Das kostet alles Geld … blabla …. Sie sind Profi, da gibt es keine schlechten Tage …“, äffte ich den Kerl nach und setzte mich auf den Fahrersitz. Der Motor sprang wenigstens mit einem leisen Schnurren an und ich fuhr rückwärts aus der Einfahrt. Es regnete immer noch in Strömen, aber es war mir egal. In 15 Minuten wären wir zu Hause und konnten den Abend genießen, so wie es sich auch gehörte. Ich wartete bis sich eine Lücke im Verkehr auftat, rammte den Gang hinein, schaffte es noch rechtzeitig abzubiegen und motzte weiter. „Was bildet der sich eigentlich ein!? Ich sage ihm doch auch nicht, wie er seinen Job zu machen hat! Der ist auch Profi und macht was? Er legt uns noch Interviews an Tagen, an denen wir die Aufnahmen machen müssen!“ Der Ärger kam wieder hoch – vor allem, weil meine Kopfschmerzen schlimmer geworden waren. Zu Hause musste ich mir unbedingt eine Tablette einwerfen, sonst hatte ich morgen eine schlimme Migräne. „Und warum hackt der nur auf diesem verdammten Solo herum!? Dabei haben wir doch endlich unser Problemkind fertig. Er soll sich nicht so anstellen!“ Uruha sah auf die Straße und zuckte zusammen, als ein LKW neben uns vorbeiraste und ein Wasserschwall gegen das Fenster spritzte, aus dem er gerade gesehen hatte.
 

Lange ging meine Schimpftirade sowieso nicht, was übrigens nicht daran lag, dass mir die Schimpfwörter oder das Thema ausgegangen wären. Ich hatte jedoch gewaltige Kopfschmerzen und mir fielen dauernd die Augen zu. Dazu kam, dass es extrem schwierig war zu fahren. Durch den heftigen Regen konnte das Wasser nicht mehr richtig abfließen und staute sich hin und wieder. Das grelle Licht der Straßenlaternen und Neonröhren spiegelte sich in den Pfützen und tat in meinen Augen weh, was meine Kopfschmerzen nur dazu anstachelte noch schlimmer zu werden. Mir entging nicht, dass Uruha einen ernsten Blick auf mich richtete, als ich meinen Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel presste. Er selbst wirkte müde und blass im schwachen Licht, das die Straßenlaternen ins Innere des Autos warfen. „Alles in Ordnung?“, fragte er ruhig. Ich nickte leicht und seufzte. „Kopfweh …“ Aber das hatte er schon gewusst. Der Verkehr floss an uns vorbei, schien langsamer zu werden als wir durch die Unterführung fuhren, damit wir nicht den langen Weg oben rum nehmen mussten. Sie führte unter einem Kreisverkehr durch, auf dem vorwiegend LKWs verkehrten, die durch ihre Größe die Unterführung nicht benutzen konnten. Die orangen Lampen, die hin und wieder an den Tunnelwänden angebracht waren, spendeten nur wenig Licht. Mein Blick verschwamm und ich presste kurz die Augen zusammen. Als ich sie öffnete blendeten mich die Scheinwerfer des entgegenkommenden Autos. „Verdammter Trottel, schalt das Fernlicht aus!!“, hörte ich Uruha fauchen, während in meinem Kopf ein wahres Feuerwerk explodierte. Ich konnte meine Augen nicht länger offen halten, presste sie reflexartig zusammen und hob meinen Unterarm an um mich vor dem Licht abzuschirmen. „YUU BREMSEN!!!“, hörte ich Uruha neben mir schreien. Die Panik in seiner Stimme war kaum zu überhören. Ohne nachzudenken sprang ich auf die Bremse und drückte das Pedal voll durch. Augenblicklich blockierten die Reifen. Das Kreischen der Bremsen tat weh in meinen Ohren und endlich sah ich wieder genug um erkennen zu können was los war: Die Unterführung machte einen Bogen und wir rasten direkt auf die Tunnelwand zu.
 

Mit einem Mal lief alles wie in Zeitlupe. So als spielte man einen Film Bild für Bild ab. Ich hörte Uruha neben mir schreien – entsetzt, voller Panik. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor als er sich am Türgriff festklammerte und sich in den Sitz drückte. Die Augen waren geweitet und starr vor Angst. Die Tunnelwand kam immer näher und ich spürte, dass wir plötzlich nicht mehr bremsten, sondern direkt weiter auf die Wand zuschossen. Ich konnte nichts tun. Hilflosigkeit erfasste mich, als ich mit Grauen feststellte, dass die Reifen auf dem Wasser rutschten und keinen Kontakt mehr zum Boden hatten – Aquaplaning. Zuerst zersplitterte der rechte Scheinwerfer. Das Kreischen des Metalls, das an der Wand entlangschrammte übertönte unsere Schreckensschreie. Ich wurde nach vorne geschleudert und im gleichen Moment ging der Airbag auf - auf Uruhas Seite, nicht jedoch auf meiner. Mein Kopf prallte gegen das Lenkrad. Ein lautes Knacken hallte in meinen Ohren nach. Plötzlich verschwanden alle Geräusche um mich herum. Ich rutschte vor, hatte das Gefühl aus dem Sitz zu fliegen und dann war da plötzlich ein Ruck. Der Gurt hielt mich im Sitz und riss mich wieder zurück. Mein Schrei erstarb und wich einem Keuchen im Kampf meiner Lungen um Luft! Ich konnte nicht atmen! Mein Kopf knallte gegen die Kopfstütze und dann gegen den Karosserierahmen. Das Gefühl der Schwerelosigkeit überwältigte mich, als der Wagen zur Seite kippte. Der letzte Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, bevor alle Lichter ausgingen war: Oh mein Gott, ich hab Kouyou umgebracht!

Kapitel 3

~Uruha POV~
 

Das Quietschen und Rucken des Metalls ging durch meinen Körper, brachte ihn zum Beben, als der Wagen auf der Fahrerseite aufschlug, sich aufs Dach drehte und auf dem Asphalt weiterschlidderte. Dieses Geräusch würde ich nie mehr wieder vergessen. Meine Zähne schlugen aufeinander und mein Kopf krachte gegen die Kopfstütze. Der Gurt schnitt in meine Brust, hielt mich aber im Sitz, sodass ich nicht rausgeschleudert wurde, während das Auto beinahe ungebremst weiterrutschte. Entsetzt schrie ich auf, als wir gegen den Vorderbau eines entgegenkommenden Kastenwagens prallten. Das Glas des Seitenfensters zerbarst und regnete ins Innere des Wagens. Das Auto begann sich durch den Aufprall zu drehen und rutschte auf die gegenüberliegende Tunnelwand zu. Ich verlor die Orientierung. Alles sah gleich aus. Verschwommene Bilder. Orange Lichter. Graue Wände. Schwarzer Asphalt. Meine Fingerknöchel traten vor Anstrengung hervor, als ich mich am Sitz festklammerte. Der metallische Geschmack von Blut breitete sich in meinem Mund aus. Adrenalin pumpte durch meine Venen. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst gehabt. Mein Herz raste. Ich hörte nicht einmal mehr unsere Schreie. Die Rutschpartie hörte abrupt auf, als der Wagen mit einem lauten Krachen mit der Tunnelwand kollidierte. Mit einem stöhnenden, grellen Geräusch kratzte das Metall der Karosserie über die Tunnelwand und den Asphalt. Ich sah, wie einzelne Autoteile am Fenster vorbei flogen und plötzlich kippte der Wagen wieder auf die Fahrerseite, wo er mit einem letzten Ächzen des verbogenen Metalls liegen blieb. Stille. Nur das Blut rauschte in meinen Ohren. Laut. Viel zu laut!
 

Die Sekunden verrannen, wurden zu Minuten, dann zu Stunden, oder kam es mir nur so vor? Die plötzliche Stille nach dem Lärm hallte ohrenbetäubend in mir wieder. Sie war schlimmer zu ertragen, als das grässliche Quietschen des Metalls. Mein eigenes Atmen erschreckte mich – es war viel zu laut, viel zu hastig und viel zu unregelmäßig. Ich bekam kaum Luft, konnte nicht tief genug einatmen. Aber es war mir egal. Etwas Anderes war viel wichtiger.

„Aoi?“ Flehend! Hoffnungsvoll! Meine Stimme war heißer vom Schreien. Wieder schwappte eine Angstwelle über mich hinweg. „Aoi!? AOI!!!“ Meine Finger kratzten über die Gurtschnalle, als ich mit zitternden Händen versuchte mich abzuschnallen. Dass der Gurt das Einzige war, das mich im Sitz hielt ignorierte ich. „YUU! Schatz! Sag was! Bitte!!“ Mein Atem wurde keuchend, panisch vor Angst, weil er sich nicht meldete. Kein Wort, kein Keuchen, nichts! Ich atmete zischend ein. Zu wenig Luft. „YUU! Alles ok? Ist dir was passiert!? Antworte doch!! Bitte ….“ Meine Finger rissen am Gurt, begannen zu bluten. Vergebens. Es war vergebens! Ich konnte mich nicht befreien. Meine Stimme überschlug sich, als ich immer wieder seinen Namen rief. Ich versuchte meinen Kopf zu drehen um zu sehen ob er ok war. Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Blut. Mein Gott, so viel Blut!! Von ihm!? Lieber Gott bitte nicht von ihm! Nicht Aoi! Mir wurde übel. Ich würgte, zappelte. Ich musste raus, musste zu ihm! Musste … nach Hause! Wir brauchten Schlaf. Morgen waren doch wieder Aufnahmen! „YUU!!“
 

Hände griffen nach mir, hielten mich fest und befreiten mich von dem Gurt. Ich wehrte mich, versuchte durch das Auto zu Aoi zu kriechen, doch ich wurde mit sanfter Gewalt aus dem Wagen gezogen. Seit wann waren die Frontscheibe und die Tür weg!? „Nein! NEIN! Yuu!“ Sie hielten mich fester, drängten mich zu Boden, als ich mich weiter wehrte. Es war nass. Das ganze Wasser vom Regen hatte sich hier gesammelt. „Bitte! Ich will … Yuu!!“

Wie magnetisch wurde mein Blick vom Wagen angezogen. Viel war davon nicht mehr übrig geblieben. Wieder versuchte ich los zu kommen, doch sie hielten mich erbarmungslos fest und einer der Männer verstellte mir das Sichtfeld, was mich noch mehr ausflippen ließ. „NEIN! NICHT! Jemand muss … Bitte, helfen Sie ihm!!“ Sie drückten mich sanft aber bestimmt auf den Boden, bis die Sanitäter kamen und versuchten mich zu beruhigen. Zwar sah ich, dass sich ihre Lippen bewegten, aber ich verstand sie nicht. Plötzlich herrschte Stille um mich herum. Ich bettelte weiter, wollte ihnen klar machen, dass Aoi dringender Hilfe brauchte als ich. Aber sie verstanden mich nicht! Ich wollte doch nur zu ihm! Ich musste wissen, wie es ihm ging, ob alles in Ordnung war. Ich wollte nach Hause, schlafen und morgen wieder aufstehen und ihn lächeln sehen.
 

Ein Schatten kniete sich neben mich und stellte etwas ab. „Hallo ich bin Oshi-hakase! Ich bin Notarzt“, begrüßte er mich. Als würde es mich interessieren wie dieser Kerl hieß. „Wie heißen Sie?“ Ich bedachte ihn mit einem bösen Blick, der wohl eindeutig jedem sagte, dass er die Klappe halten sollte, doch der Kerl schien sich nicht davon beeindrucken zu lassen, sondern zog sich Plastikhandschuhe über. „Wie alt sind Sie? Wohnen Sie hier?“ Er beschäftigte sich kurz mit dem Ding, das er zuvor abgestellt hatte. Mein Blick glitt desinteressiert darüber. Eine Notfalltasche?! Warum kam mir das so lächerlich vor? Was wollten sie damit? Mir ging es gut! Ich war ok! Ich wollte nur zu meinem Liebsten! Dahin sollten sie mich lassen und nicht mit einem lächerlichen Verband ankommen. Ich hörte ein Geräusch, das sich wie das zerschneiden von Stoff anhörte. Meine Jacke war plötzlich weg. Mir war kalt. Es war so kalt hier! Meine Brust fühlte sich nass und klebrig an. Ein Pieksen an meinem Arm. Dann wurde die Nadel festgeklebt.

„Tut Ihnen was weh? Können Sie mir sagen, ob Sie ihre Arme und Beine bewegen können?“ Wieder bedachte ich ihn mit einem wütenden Blick. „Mir geht’s gut ich … ich will zu Yuu! Bitte! Ich bin ok! Wirklich!“ Er verzog das Gesicht, schien mir nicht zu glauben. Vorsichtig begann er meine Arme und Beine abzutasten. Als er jedoch seine Hand auf meinen Bauch legte schrie ich gellend auf. Herrgott noch Mal. Welcher Idiot hatte den zum Arzt gemacht!? Die Schmerzen zogen sich durch meinen ganzen Körper. Zitternd sah ich zu, wie der Arzt dem Sanitäter Anweisungen gab, woraufhin ihm eine Spritze gereicht wurde. Er öffnete ein Zäpfchen an der Kanüle und schon wurde mir das Mittel verabreicht. Mein Kopf begann zu pochen, so als hätte er nur auf ein Zeichen gewartet damit anfangen zu können.
 

Mein Widerstand war sofort weniger geworden. Die Kraft, die mir mein Körper Dank des Adrenalins gegeben hatte, verschwand schnell wieder und bald hatte ich das Gefühl nicht einmal mehr den Kleinen Finger heben zu können. Das Atmen fiel mir schwer. Mir wurde schwindelig, obwohl ich bereits lag. Vor meinen Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen, welche verschwanden, als ich heftig blinzelte. Ich wurde hochgehoben und auf etwas Weichem abgelegt. Eine Trage? Das Blaulicht der beiden Krankenwagen flackerte immer wieder auf und verlosch anschließend. Diese verdammten orangen Lampen im Tunnel machten mich krank! Jemand wurde gerufen. Schreie. Lärm. Der Mann, der mir die Sicht verstellt hatte rannte zum Wrack hinüber. Ein Polizist lief vorbei. Zu viel Lärm. Zu viel Trubel. Meine Augen hefteten sich wieder auf das Auto. Ich konnte nicht wegsehen, aber gleichzeitig war ich so müde. Es war Aoi, der mich davon abhielt einzuschlafen. Ich musste mir sicher sein, dass es ihm gut ging. Die Männer versuchten zu ihm zu gelangen, was sich als schwierig erwies, da das Auto auf der Fahrerseite lag. Da die Decke zu niedrig war konnte man auch keinen Kranwagen oder Ähnliches zur Hilfe nehmen. Ein Scheppern ertönte, als ein Feuerwehrmann den Seitenspiegel wegtrat, der ihm im Weg lag und sich dann wieder gegen den Wagen stemmte.
 

Mir entkam ein leises, schmerzhaftes Röcheln, als ich nach Luft schnappte. Die anfangs heftigen Schmerzen wurden zu einem dauerhaften Stechen. Ächzend stieß ich die Luft aus und atmete japsend wieder ein. Ich nahm es gar nicht wahr, sondern begann wieder damit mich aufzurichten und versuchte die Nadel rauszuziehen. Sie nervte mich. Ich wollte nicht liegen bleiben! Ich musste … musste einfach was anderes machen. Warum konnte ich den Gedanken nicht zu Ende denken? Meine Bewegungen waren langsam, so als wäre ich unter Wasser. Jemand fing meine Hand ab noch bevor ich die Nadel erreichte. Wieder wurde ich hinuntergedrückt und dieses Mal schnallte man mich auf der Barre fest. „NEIN!!“, stöhnte ich. „Yuu bitte! Sie müssen …“ „Sie sind schon dabei! Beruhigen Sie sich. Schh~ … ganz ruhig.“ Woher kam diese Stimme? Meine Sicht verschwamm, was mich ärgerte. Eine Rettungsdecke wurde über mich gebreitet und eine Frau erschien neben mir um den Infusionsbeutel zu halten. Auch sie versuchte mich zu beruhigen, redete leise auf mich ein und legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter.
 

Mit einem lauten Stöhnen drehte sich das Wrack wieder auf die Räder. Die Federungen ächzten, die Achse brach und der Wagen sank ab. Sofort kamen zwei Feuerwehrmänner mit Bergescheren angelaufen und begannen das Metall zu zerschneiden. Mein Magen drehte sich. Aoi! Oh mein Gott! Zwei Sanitäter robbten in das Auto – einer von hinten, der zweite auf der Beifahrerseite. Ein Puffen ertönte – der Airbag? Wieder verschwamm meine Sicht, doch ich kämpfte darum weiter hinsehen zu können. Sie drehten den Sitz nach hinten, versuchten ihn zurück zu schieben, gaben aber nach einer kleinen Ewigkeit auf, in der ich meine Luft angehalten und so meine Lungen aufs Äußerste strapaziert hatte. Einer der Sanitäter erschien wieder in meinem Blickfeld und nahm der Frau den Infusionsbeutel ab. Panik erfasste mich wieder, mein Puls erhöhte sich und ich zerrte an den Gurten herum, was mir natürlich nichts brachte außer, dass ich wieder in Atemnot geriet. Sie durften mich nicht wegbringen! Ich wollte nicht weg von hier! Warum wollten sie mich nicht zusehen lassen!? Warum verstellten sie mir immer die Sicht!? Ich spürte, wie die Trage angehoben wurde. NEIN! Aoi! Eine bittere Angstwelle brandete über mich hinweg. Er war nicht tot! Er durfte nicht tot sein! Nein! Nicht Aoi. Bitte nicht er! Ich bekam keine Luft mehr, kämpfte darum wieder ein bisschen in die Lungen zu bekommen, stöhnte. Die besorgten Blicke der Ärzte ignorierte ich, als ich weiterkämpfte.

„Bitte! Beruhigen Sie sich! Die Aufregung ist nicht gut in ihrem Zustand!“ Scheiß auf meinen Zustand! Ich brauchte ihn! Ich musste mich davon überzeugen, dass es ihm gut ging!
 

Die Blicke, die die Sanitäter tauschten, hätten mich warnen sollen - taten sie aber nicht. Gleich darauf bekam ich eine weiße Flüssigkeit gespritzt, die meine gesamte Gegenwehr recht schnell zusammenbrechen ließ. Während sie mich in das Rettungsauto schoben, sah ich, wie die Helfer zusammen das Dach des Wracks anhoben und wegbrachten. Ein weiterer Sanitäter trug eine Trage heran. Doch anstatt Aoi endlich aus dem Wagen zu bergen, schienen sie immer noch herumspielen zu wollen. Wäre ich von dieser blöden Liege losgekommen … ich hätte … ich wäre … ich …. Mein Kopf sank müde zur Seite, als das Medikament zu wirken begann. Meine Gedanken hörten auf in meinem Kopf herumzuwirbeln, wurden klarer. Der Notarzt setzte sich zu mir. Sein Blick war ruhig, ernst. Er wusste, was er tat. Selbst wenn ich nicht genau wusste, was überhaupt los war. Der Sanitäter schloss die Hecktüren des Krankenwagens und stieg vorne beim Fahrer ein, was ich durch das Zuschlagen der Tür mitbekam. Das Martinshorn ertönte und der Krankenwagen schoss los. Mir wurde bei den vielen Drehungen und Wendungen schlecht. Weiß Gott wohin dieser Idiot mit mir fuhr, aber musste er immer im Kreis fahren!? Zumindest fühlte es sich so an, wenn man da hinten drin lag. Ich hörte das Rauschen des Funkgerätes im vorderen Bereich des Rettungswagens und wie der Fahrer mit dem anderen sprach. Ob es ein Mann oder eine Frau war, konnte ich nicht erkennen. Dazu klang die Stimme viel zu verzehrt. Die Hälfte bekam ich nicht mit. Dazu war ich nun doch zu müde und angeschlagen. Aber ich glaubte herauszuhören, dass er mit dem Krankenhaus in Kontakt stand und die darauf vorbereitete, dass wir bald ankommen würden. Der Arzt neben mir hielt mir eine Atemmaske an Mund und Nase. Mein Blick musste deutlich Verwirrung gezeigt haben, denn er begann mit mir zu sprechen und erklärte mir, dass es nur zu meinem Besten war. Jetzt wo der Adrenalinspiegel wieder sank und die Erschöpfung sich breit machte begannen auch die Schmerzen heftiger einzusetzen. Sie raubten mir den Atem und kurze Zeit später herrschte Dunkelheit um mich herum.

Kapitel 4

~Uruha POV~
 

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Leise, angestrengte Atemzüge. Ansonsten herrschte Stille um mich herum. Wieder Ausatmen. Einatmen. Mein Atem war unregelmäßig. Kurzes Einatmen, langes Ausatmen. Mein Bewusstsein trieb immer noch in einem halbwachen Dämmerzustand umher. Doch langsam wurde ich immer klarer. Mir war warm und meine Finger berührten etwas Weiches. Eine Decke? Irgendwo über mir summte es. Es klang wie das elektrische Knistern einer Deckenlampe. Aber unsere Lampe zu Hause knisterte nicht. Moment - wir hatten doch nicht einmal eine Deckenlampe im Schlafzimmer. Obwohl ich versuchte zu blinzeln, blieben meine Augen geschlossen. Ich nahm es einfach hin. Vermutlich war es mitten in der Nacht. Mein Körper war müde, abgekämpft, aber mein Geist war rastlos und irrte umher. Wieder einzuschlafen war dabei kaum möglich. Meine Finger zuckten leicht, als ich versuchte über den Stoff zu streicheln. Ich hatte mich getäuscht. Es war nicht die glatte, kühle Seidenbettwäsche, die wir zu Hause hatten. Der Stoff wirkte im Gegensatz dazu kratzig und uneben. Auch das Kissen war flach und hart. Wieder ein kurzes Einatmen.
 

Ich fühlte mich erschöpft – todmüde um genau zu sein. Ich wollte gerne weiterschlafen, aber das Bett war nicht bequem. Außerdem fehlte Aoi neben mir. Die Wärme, die sein Körper sonst abstrahlte war nicht da und auch seinen Geruch vermisste ich. Generell war der Duft im Raum sehr seltsam. Er hatte etwas Steriles, Klinisches. Ausatmen.

Langsam begann die Erinnerung wieder einzusetzen, wie Aoi mich weckte, sein Lächeln, die Arbeit, die Aufnahmen. Er war sauer gewesen, weil der Chef ihn runtergeputzt hatte. War das der Grund, weshalb meine Gedanken nicht zur Ruhe kamen? Einatmen. Ich rümpfte die Nase. Irgendetwas klebte an meinen Wangen und unter meiner Nase fest. Der Strudel der Erinnerungsfetzen zog mich tiefer. Es hatte geregnet. Die Fahrbahn war nass. Dann ein Wasserschwall, der gegen das Fenster prasselte, als der LKW durch eine Pfütze fuhr. Endlich! Meine Augen öffneten sich flatternd. Licht. Mein Kopf begann zu hämmern und ich schloss die Lider wieder. Ich versuchte es noch einmal und dieses Mal war es schon besser. Mein Blick war unscharf, aber ich erkannte eine weiße Wand mir gegenüber und ein Bild mit ... sollten das Mohnblumen sein? Ich blinzelte träge und ließ meinen Blick weiter durch diesen Raum wandern. Zu meiner Linken befand sich eine Fensterfront. Die Sonne ging gerade unter, weshalb es im Raum langsam dunkel wurde. Jetzt erst bemerkte ich den Schatten am Fenster. Jemand stand dort und sah nach draußen. Ich musste wohl einen Laut von mir gegeben haben, denn die Person drehte sich um und kam mit einem erleichterten Lächeln auf mich zu.
 

„Hey … da bist du ja wieder. Wie geht es dir?“ Kai! Etwas genervt von dieser Begrüßung verzog ich das Gesicht. Na wo sollte ich denn sonst sein!? Wieder bemerkte ich, dass an meiner Wange etwas festgeklebt sein musste. Er setzte sich neben dem Bett auf einen Sessel und sah zu, wie ich meinen zitternden Arm langsam hob und meine Wange abtastete um das Ding wegzumachen. Noch bevor ich etwas tun konnte, nahm er meine Hand sanft in seine und drückte sie wieder weg. „Lass das. Das Ding hilft dir beim Atmen!“, sagte er dann ruhig. Hä? Ich brauchte kein Ding, das mir beim Atmen half. Das konnte ich auch selbst. Sein Blick wirkte aber so besorgt, dass ich mich meinem Schicksal ergab und es in Ruhe ließ. „Deine Eltern sind gerade vor ein paar Minuten raus gegangen, um etwas zu essen…“ Meine Eltern!? Warum waren meine Eltern hier? Er hielt meine Hand weiterhin in seiner. Vorsichtig. Beinahe so als hätte er Angst sie zu zerbrechen. Jetzt erst erkannte ich, dass dort immer noch eine Kanüle festgeklebt war und ein durchsichtiger Schlauch zu einem Infusionsbeutel ging, der auf einem silbernen Gestell neben mir hing. „Was ist passiert?“, brachte ich nach einer kurzen Pause heißer heraus. Kai beugte sich über mich und angelte nach einer Fernbedienung, die über meinen Kopf baumelte. Das ‚Wo bin ich?‘ verkniff ich mir gerade. Es war offensichtlich, wo ich war. Ich wusste nur nicht warum und wozu. Allerdings merkte ich wirklich, dass meine Brust wehtat, wenn ich atmete. Außerdem hatte ich Probleme genug Luft zu bekommen. Da war ein Druck auf meiner Brust, der nicht weg ging. Er strich mir ein paar Strähnen aus der Stirn. Sein Lächeln hatte sich verflüchtigt. Dann ging im Zimmer das Licht an und plötzlich saß ich wieder im Auto. Dieses grelle Licht. „Verdammter Trottel, schalt das Fernlicht aus!!“ Meine Stimme. Die Tunnelwand, Aois Entsetzensschreie, das viele Blut. Der Unfall!
 

Panik schnürte meine Kehle zu. Mein Herz begann zu rasen. Ich schnappte nach Luft. „… ~uha … Uruha …. KOUYOU!!!“ Ich landete wieder im Jetzt, keuchte heftig und spürte, wie meine Finger sich in der Decke verkrampften. „Der Unfall … Yuu!“ Kai hielt mich an den Schultern fest und drückte mich in die Kissen. „Uruha nicht! Du darfst dich nicht so sehr bewegen!“ „Kai, wo ist er!? Was ist mit ihm!? Geht es ihm gut!?“ Meine Stimme schnappte über vor Angst. Ich verschluckte mich, begann zu keuchen und stöhnte im selben Moment auf. Scheiße! Meine Brust tat weh. Ich wurde zwangsläufig ruhiger, konzentrierte mich darauf zu atmen, was eher ein leises Japsen war. Nicht genug Luft. Kai hielt mich immer noch fest und streichelte durch meine Haare. „Schh ganz ruhig, ok? Wenn du so weitermachst, kannst du ihn gar nicht besuchen!“ Mein Ächzen wurde weniger, meine Gegenwehr auch. Besuchen? Das hieß es ging ihm gut? Er war hier? Er war doch hier, oder? Kai schien die Fragen zu sehen, die sich in mir zusammenbrauten. „Er wurde auch verletzt und ist ein paar Zimmer weiter … beruhig dich jetzt.“ Mahnend!
 

Mein Atem ging immer noch pfeifend, als ich mich wieder etwas entspannte und Kai sich traute mich loszulassen. Er seufzte und setzte sich in den Sessel zurück. Er murmelte etwas was nach ‚Was machst du denn für Sachen?’ klang. Jetzt fiel mir auf, wie müde und blass er aussah. „Wie lange…“ Ich konnte meine Frage nicht zu Ende formulieren, ich hatte keine Stimme mehr. Doch er schien zu verstehen, was ich fragen wollte. „Der Unfall ist vier Tage her“, erklärte er dann und musterte mich, als ich mit einem heißeren Stöhnen die Augen schloss. Die Tür ging mit einem leisen Klicken auf und eine Schwester kam hinein. „Er ist aufgewacht?“, fragte sie, als sie sah wie ich blinzelte. „Sehr schön. Ich gehe den Arzt holen.“ Ihre Stimme war dunkel für eine Frau. Sie hatte kurze, schwarze Haare, die wirr vom Kopf abstanden und einen zarten Körper. Sie sah viel zu zerbrechlich aus für diese Art von Job. Die Tür schloss sich wieder und ich starrte an die Decke. Das Atmen fiel mir nach wie vor schwer. Die Stille dehnte sich aus, bis die Tür sich ein weiteres Mal öffnete und ein Arzt das Zimmer betrat.
 

Ab jetzt war es vorbei mit der Ruhe. Ich wurde für weitere Untersuchungen in einen anderen Raum gebracht. Allein schon wie auf einem Präsentierteller durch die Gänge geschoben zu werden gefiel mir gar nicht. Aber fürs Erste versuchte ich mich nicht aufzuregen. Ich hatte immer noch Schmerzen beim Atmen, dank des letzten Versuchs. Die Untersuchungen dauerten beinahe drei Stunden – und das obwohl ich wohl VIP-Patient war. Das merkte ich vor allem daran, dass ich überall recht schnell dran war und sich alle um mich kümmerten. Eigentlich hatte ich auch keine Lust darauf Untersuchungen mitzumachen. Ich wollte zu Aoi und nach ihm sehen. Doch fürs Erste ergab ich mich meinem Schicksal und machte mit, da sie sich alle um mich bemühten und ich zu kraftlos war um mich ernsthaft durchzusetzen. Außerdem hatte mich der Unfall doch schlimmer mitgenommen als ich gedacht hatte. Ich hatte ein gebrochenes Bein, ein leichtes Schleudertrauma, Abschürfungen und Prellungen am ganzen Körper, vier gebrochene Rippen (weshalb ich auch kaum Luft bekam) und eine Milzruptur. Ich hatte mehrere Stunden im OP verbracht, wie mir mitgeteilt wurde. Im Großen und Ganzen war ich jedoch verdammt glimpflich davongekommen. Die nächsten Wochen musste ich ruhig angehen und noch mindestens drei davon zur Beobachtung hier im Krankenhaus bleiben.
 

Als sie mich schlussendlich wieder ins Zimmer brachten war ich fix und fertig und wollte nur noch schlafen. Ich bekam noch ein Schmerzmittel, meine Funktionen wurden ein weiteres Mal überprüft und eine Schwester brachte noch etwas zu Essen (Suppe). Hunger hatte ich nun wirklich keinen, aber Kai setzte seinen Kopf durch und brachte mich dazu zumindest ein bisschen was runter zu würgen, obwohl mir davon schlecht wurde. Ich zupfte an der Decke und schloss meine Augen, als er das Tablett weg stellte und sich dann wieder auf den Sessel setzte. „Du musst nicht hier bleiben, weißt du? Ich werde einfach schlafen“, nuschelte ich, benommen von dem Schmerzmittel, das langsam Wirkung zeigte und die Schmerzen weniger werden ließ. „Ich weiß“, war seine Antwort. „Aber ich bleib noch ein bisschen hier…“ Den Rest hörte ich schon nicht mehr.

Kapitel 5

~Uruha POV~
 

Die Zeit verging viel zu langsam. Zuerst musste ich im Bett bleiben um mich zu schonen. Dann durfte Aoi das Bett nicht verlassen und brauchte Ruhe – er schlief jedes Mal, wenn ich wach war. Ich hatte ihn ganze 3 ½ Wochen nicht sehen dürfen und die Sehnsucht nach ihm brachte mich beinahe um. Sowohl die Ärzte als auch Kai waren da sehr streng und ich körperlich nicht fit genug um mich durchzusetzen. Allerdings machte ich bereits Fortschritte und meine Verletzungen waren bisher recht gut verheilt, sodass ich morgen mit einem Begleiter dieses mir verhasste Krankenhaus endlich verlassen konnte. (Kai hatte sich dafür bereit erklärt auf mich aufzupassen, da Reita im Moment seine Schwester bei sich wohnen ließ. Sonst wäre ich wohl bei meinem besten Freund untergekommen.) Ich würde zwar zur Kontrolle noch ein paar Mal hier her müssen, aber ich war froh endlich raus zu kommen. Meine Abneigung gegen Krankenhäuser besserte sich durch diesen unfreiwilligen Besuch keinesfalls. Der Vormittag bestand wieder aus einem Untersuchungsmarathon, weshalb ich am Nachmittag müde und dösend in meinem Bett lag. Kai war wieder hier um mich zu besuchen, was er bisher jeden Tag getan hatte. Teilweise saß er sogar mit 100 Ordnern auf meinem Zimmerboden, bis man ihm einen Tisch reingestellt hatte, auf dem er arbeiten konnte. Auch Ruki und Reita hatten in den letzten Wochen immer regelmäßig vorbei gesehen. Heute hatten sie zu zweit ein Interview und würden vermutlich nicht mehr vorbeikommen. Während der Besuche waren beide recht ruhig, erzählten von der Pressekonferenz, von den Reaktionen der Presse und den Genesungswünschen der Fans. Das war auch der einzige Kontakt den ich nach draußen hatte. Um ehrlich zu sein hatte ich mir ein Mal einen Bericht in den Nachrichten angeguckt. Ein Bild des Unfallautos hatte mich so aus der Bahn geworfen, dass ich mich nicht mehr traute den Fernseher einzuschalten. Ich wundere mich heute noch, wie wir da lebend rausgekommen waren.
 

Kai hatte den Fernseher eingeschaltet und zappte durch die Kanäle. Ich hatte meine Augen geschlossen, während er die Nachrichten verfolgte – allerdings im Stummmodus und mit Untertitel für Gehörlose, damit ich nicht zwangsläufig alles mitbekam, denn anscheinend wurde immer noch über den Unfall spekuliert. Unser Manager kümmerte sich um alle Anfragen und Meldungen gegenüber der Presse. Auch Ruki, Kai und Reita hatten bereits Stellungnahmen dazu abgegeben. Aber die Spekulationen über den Unfall hörten nicht auf, wurden teilweise sogar noch schlimmer. Anscheinend hatte eine Zeitung verlauten lassen, dass Aoi und ich stark alkoholisiert von einer Party nachhause gefahren waren. Wer auch immer das geschrieben hatte, hatte im Moment wohl ein kleines Problemchen mit unseren Anwälten – oder eher die Zeitung. Ich selbst machte mir nicht viel aus den Pressemeldungen. Dort wurde sehr schnell mal was getippt. Allerdings hatten solche Aussagen auch negative Auswirkungen auf die Band, weshalb unser Manager auch dort sofort eingeschritten war und Anwälte eingeschaltet hatte. Außerdem versuchten immer wieder Journalisten unsere Zimmer zu betreten und Fotos zu machen, oder einen von uns zu einem Interview zu bekommen, weshalb die Sicherheitsmaßnahmen auf den Fluren drastisch verschärft worden waren.
 

Der Duft verschiedener Blumen stieg mir in die Nase. Gott sei Dank roch es nicht mehr so extrem nach Krankenhaus in meinem Zimmer. Die Blumen waren von unseren Chefs, Kollegen, Freunden und Bekannten gekommen. Die Anteilnahme hatte mich wirklich gefreut. Meine Eltern waren auch oft hier, obwohl wir eigentlich vor dem Unfall nicht so viel Kontakt gehabt hatten. Nicht, weil ich etwa mit Aoi zusammen lebte. Sie akzeptierten ihn als meinen festen Freund und hatten ihn mit offenen Armen in der Familie willkommen geheißen. Jedoch ließ unser Terminplan nicht wirklich viele Treffen zu, wobei es mit meinen Eltern besser war als mit Aois. Diese lebten in Mie, was eine Autofahrt von 4-5 Stunden bedeutete. Wenn wir sie besuchten, dann nur in den Ferien. Ich mochte es bei seiner Familie zu sein. Seine Eltern hatten damals nur gemeint, dass sie es schon hatten kommen sehen – immerhin hatte er mich als Einzigen aus der Band öfters mit nach Mie genommen. Sie hatten sich gefreut, weil sie mich mochten. Seine Mutter zog mich gern als Einrichtungsberater heran, sein Vater liebte es über Sport (Fußball und Basketball) und Musik zu reden. Ich hatte einmal gehört, wie Aois Vater zu ihm sagte: „Das ist der erste passende Kerl, den du je mitgebracht hast.“ Es hatte mich stolz gemacht. Selbst Aois Eltern waren den ganzen Weg her gekommen und besuchten mich oft, seine Geschwister waren in Mie geblieben, riefen aber ab und zu an um zu fragen, wie es ihm und mir ging.
 

Ein leises Klicken zeugte davon, dass die Tür geöffnet wurde. „Hallo“, kam es müde von unserem blonden Vocal, als dieser ins Zimmer trat und die Tür hinter sich schloss. Ich konnte Kais Lächeln beinahe sehen. „Grins nicht so. Das Interview war der reinste Horror! Die warten wie die Aasgeier darauf endlich irgendwelche widersprüchliche Antworten zu bekommen“, stöhnte Ruki und ließ sich auf einen Sessel fallen. Es raschelte, als er die Jacke auszog und sie über die Stuhllehne hängte. Dann war es eine Weile ruhig. Vermutlich verfolgte auch er die Nachrichten. „Schläft er?“ Ich konnte Rukis Blick auf mir spüren. Da ich allerdings zu müde war um zu reagieren, ließ ich es bleiben. „Sieht wohl so aus“, antwortete Kai dann und seufzte verhalten. Rukis Stuhl knarrte leise, als er sich in den Sessel fläzte und die Beine ausstreckte. Wieder schwiegen die beiden, bis der Vocal ein vernehmbares Zischen ausstieß.
 

„Verdammte Scheiße! Wenn ich das Auto sehe wird mir jedes Mal eiskalt! Die beiden müssen wirklich einen Schutzengel gehabt haben, der sie lebendig aus dem Schrotthaufen rausgebracht hat.“

Kais Stimme klang dumpf, als er antwortete: „Einen? Das waren mehrere für jeden!“ Hier konnte ich nur zustimmen. Von dem Auto war nicht mehr viel übrig geblieben. Die Teile hatten eine Spur quer über die gesamte Fahrbahn gezogen. „Uruha darf morgen nach Hause, nicht wahr? Du nimmst ihn mit zu dir?“ Kai nickte wohl, sagte dann aber: „Erstens soll er sich ausruhen und das geht nicht, wenn er selbst für sich sorgen muss und zweitens will ich ihm die eigene Wohnung im Moment nicht zumuten.“ Der Vocal schien zu verstehen. „Du meinst, weil Aoi nicht da ist? Hast du mit ihm darüber gesprochen?“ Ein abgrundtiefer Seufzer kam von Kais Seite. Wieder ein Knarren von Rukis Stuhl und seine Stimme kam näher. Vermutlich hatte er sich vorgelehnt. „Kai?“ Dann Stille. „Du hast es ihm nicht gesagt?“ Kai sagte immer noch nichts. „Was denkst du, wie er reagieren wird, wenn er fragt, ob er ihn besuchen kann? Du glaubst doch nicht, dass er sich immer mit einem ‚Er schläft gerade.’ abfinden wird? Es wundert mich, dass er bisher so klein beigegeben hat!“ Mein Magen sackte plötzlich ab und fuhr einen Looping. Mir wurde schlecht und eiskalt. Meine Atmung beschleunigte sich und ich musste mich zusammenreißen um weiter den Schlafenden zu mimen. Was sollte das schon wieder heißen!?

„Mach mir keine Vorwürfe, Ruki! Die Ärzte haben Aufregung verboten. Was meinst du denn, wie er reagieren wird, wenn ich ihm sage, dass es Aoi schlechter geht, als wir ihm bisher erzählt haben!?“

„Was meinst du, wie er reagiert, wenn wir ihm die Wahrheit länger verschweigen!?“, gab Ruki prompt zurück.
 

Ich öffnete meine Augen und sah unseren Sänger zusammenzucken, als er erkannte, dass ich nicht schlief. Kai fluchte leise und musterte mich, so als hoffte er, ich hätte es nicht gehört. „Ihr habt mich angelogen?!“ Die Fassungslosigkeit in meiner Stimme überraschte sogar mich selbst. Ich wusste gerade nicht, was ich zuerst tun sollte: Den beiden den Kragen umdrehen oder zu Aois Zimmer laufen, um die Wahrheit zu erfahren? Ich hasste Lügen und noch mehr hasste ich es von Leuten belogen zu werden, die zu meinen engsten Vertrauten zählten. Doch eigentlich hätte ich damit rechnen müssen. Kai hätte alles getan um zu vermeiden, dass ich mich irgendwie übernahm. In seinen Augen war das wohl richtig gewesen. Das hieß aber nicht, dass es sich für mich richtig anfühlte! Ich hatte ihnen vertraut! Rukis Stuhl schrammte über den Boden, als er sich erhob und sich zu mir aufs Bett setzte. Er griff nach meiner Hand und drückte sie, während ich immer noch mit meiner Selbstbeherrschung kämpfte. „Uruha! Atmen!“ Ich zog zischend Luft in meine Lungen. „Was heißt ihm geht es schlechter? Was ist mit ihm? Ich will zu ihm!“ Ruki sah zu Kai, der sich durch die Haare fuhr und hilflos mit den Schultern zuckte. Ich würde meinen Willen bekommen, das wusste ich, als die beiden unschlüssige Blicke tauschten. Vermutlich hätten sie es mir so oder so gesagt, wenn ich wach geworden wäre. Also nun doch früher als später. „Warum habt ihr mich angelogen? Ihr habt gesagt er schläft ein paar Zimmer weiter!“ Ich verstand den Sinn dahinter immer noch nicht und war verletzt. Sie wussten, wie ich zu Lügen stand. Klar ich hätte mich aufgeregt, aber ich regte mich auch jetzt darüber auf. Ich zitterte vor Angst. Was hieß schlecht? War das der Grund gewesen, warum ich nie zu ihm durfte? Mein Magen zog sich bei den Gedanken, die mir dazu kamen, schmerzhaft zusammen. Ich musste damit aufhören! Ruki räusperte sich und tätschelte meine Hand. „Wir haben dich nicht angelogen.“
 

Nein, das hatten sie nicht. Sie hatten nur vergessen zu erwähnen, dass sich dieses Zimmer auf der Intensivstation befand und Aoi seit dem Unfall in einem künstlichen Koma lag. Auf mein Drängen hin hatten sie mich in einen Rollstuhl verfrachtet (alleine laufen ging ja nicht – ich durfte mich nicht anstrengen und mit Gips lief es sich schlecht) und mich zu Aois Zimmer gebracht. Nun drückte ich meine Hand gegen die kühle Glasscheibe und kämpfte darum nicht die Fassung zu verlieren. Aois Zimmer war, so wie meines, ein Einzelzimmer. Mehrere Geräte standen um ihn herum und überwachten seine Werte. Immer wieder blinkten Anzeigen auf und verloschen dann wieder. Aber sie konnten nichts Schlechtes bedeuten, sonst wären sicher Ärzte hier, oder? Schläuche führten von seinem Arm zu Infusionsbeuteln, die in dem silbernen, dafür vorgesehenen Ständer hingen. Ich fühlte mich so verdammt hilflos. Kai begann zu sprechen, bevor ich fragen konnte: „Der Airbag ist nicht aufgegangen und er ist mit voller Wucht gegen das Lenkrad geschleudert worden. Die Ärzte können nicht genau sagen, wann er wieder wach werden wird. Er hat einige schlimme Verletzungen. Unter anderem einen Schädelbasisbruch und ein Schädel-Hirn-Trauma …“ Kai sprach weiter, doch ich konnte ihm nicht folgen. Schon wieder hatte ich das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Schädelbasisbruch? Schädelhirntrauma? Ich wusste zwar, dass beides schlecht war, aber wie schlecht? Und welche Folgen hatte das für ihn!? Sein Brustkorb hob sich im Takt, den die Beatmungsmaschine vorgab. Ich schluckte trocken. Das Ding sorgte nicht gerade dafür, dass meine Anspannung nachließ. Ein Arzt trat ins Zimmer und ich verspannte mich noch mehr. Doch er nahm nur ein Klemmbrett von einem Haken und kontrollierte die Werte.
 

Als hätte Ruki meine Gedanken gehört antwortete er: „Das hier ist Standartprozedur bei schweren Kopfverletzungen.“ Ich fragte nicht weiter nach. Es war schlimm genug zu sehen, wie er in diesem Bett lag, mit Geräten um sich herum, die ihn am Leben hielten. Meine Hände zitterten und mir war ganz elend. „Dieser verdammte Unfall! Dieses vermaledeite Arschloch, das das verfluchte Fernlicht nicht ausgeschalten hat!!“ Meine beiden Begleiter sahen sich aus großen Augen an, dann wanderte ihr Blick zu mir. „Was?“, fauchte ich. Bebend atmete ich ein und versuchte mich nach diesem Ausbruch etwas zu beruhigen. Fehlanzeige. Irgendwie verspürte ich das Verlangen auf irgendetwas einzuschlagen, nur um meine Wut und die Hilflosigkeit abzuschütteln. So kannte ich mich selbst nicht. Ich war normalerweise nicht gewalttätig! Mir war eiskalt, als ich meine Hand von der Glasscheibe zurückzog, an meine Lippen presste und hart schluckte um die Tränen zurückzuhalten, die langsam hochkamen. Gerne wollte ich zu ihm gehen, doch ich traute mich nicht. Ich hätte ihm alles abgenommen, aber auch das war keine Option. „Kai? Wie schlimm ist es wirklich?“, fragte ich heißer. Der Arzt kam wieder aus dem Zimmer, schloss leise die Tür und blieb bei uns stehen. Er hatte den letzten Teil unseres Gesprächs mitbekommen. Ich kannte ihn von irgendwoher. Vermutlich hatte er auch mich zwischenzeitlich behandelt. „Seine Kopfverletzungen sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Nach einem schweren Sturz oder eben einem Unfall mit Kopfbeteiligung, schwillt das Gehirn ebenso an wie andere Körperteile es tun, denken Sie zum Beispiel an einen Armbruch …“ Na ganz toll! Ich war eh schon in Panik und dann musste er mir das erzählen!? Der Arzt wartete mein Nicken ab und erklärte weiter: „Das Problem entsteht dadurch, dass es dafür unter der Schädeldecke keinen Platz gibt. Das ist gefährlich, weil durch den Druck Blutgefäße eingeklemmt werden, die für die Sauerstoffversorgung wichtig sind. Ohne Sauerstoff sterben Zellen ab und das ist ein hohes Risiko für Folgeschäden.“ Ich zuckte zusammen und starrte wieder auf Aoi. Mir wurde wieder übel und meine Finger verkrampften sich in die Decke, die ich auf meinem Schoß hatte, damit mir nicht zu kalt wurde. Wie schlimm stand es um ihn?
 

Der Arzt folgte meinem Blick. „Bei gravierenden Verletzungen nach Unfällen ist es der beste Weg den Körper zu entlasten, wenn man den Patienten in ein künstliches Koma versetzt. Dadurch wird das Gehirn in einen stabileren Zustand versetzt, indem die Funktion zwar gedrosselt wird, dadurch besteht aber auch weniger Bedarf an Durchblutung und Nährstoffen. Außerdem vermindert das Aufregungen seitens des Patienten und Schmerzen“, erklärte der Arzt dann. Ich hob den Kopf und musterte ihn. Wollte er mich beruhigen!? Ich schüttelte den Kopf und sah wieder in das Zimmer. „Ich bin kein Mediziner, aber ich weiß, dass es nicht gut ist, wenn man in einem Koma liegt!“ Der Arzt nickte bedächtig. „In einem normalen Koma nicht, nein. Aber das hier ist kein wirkliches Koma. Tatsächlich versetzt man den Patienten mithilfe von Medikamenten in einen Zustand tiefer Bewusstlosigkeit. Schmerz und Bewusstsein werden mithilfe von Narkose- und Schmerzmitteln gezielt und dauerhaft ausgeschaltet und wir Ärzte kontrollieren seine Grundfunktionen mehrmals am Tag.“ Das sollte also heißen, dass sie es im Griff hatten, oder nicht? Es erleichterte mich, dass Aoi anscheinend keine Schmerzen hatte. „Wofür braucht er dann dieses Beatmungsgerät?“ Ich hatte so viele Fragen, war mir nicht sicher, was das alles hieß. „Sehen Sie die blaue Decke?“ Ich setzte mich im Rollstuhl auf und mein Blick folgte dem Fingerzeig des Mannes. Dann nickte ich. „Für was ist die gut?“ „Wie schon gesagt versuchen wir zu vermeiden, dass Folgeschäden entstehen. Daher wird in so einem Fall der Körper auf 32 bis 34 Grad Celsius gekühlt. Das verlangsamt den Stoffwechsel und das Gehirn braucht weniger Sauerstoff.“ Ich sah ihn verwirrt an. Und was hatte das nun mit meiner Frage zu tun? Er ließ es nicht dazu kommen, dass ich nachfragen musste. „Diese niedrige Körpertemperatur lässt sich nur im künstlichen Koma aushalten. Beides, Kühlen und künstliches Koma, dient dazu, möglichst schwerwiegende Folgeschäden im Gehirn zu vermeiden. Da aber im Koma die gesamten Körperfunktionen sozusagen heruntergefahren werden, setzt auch die Atmung aus und die Patienten müssen künstlich beatmet werden.“ Aha, daher also der Schlauch…
 

„Und wann können Sie ihn wieder aufwecken?“ Der Arzt runzelte die Stirn und sah durch die Scheibe in das Krankenzimmer. „Das können wir leider nicht so genau sagen. Jeder Patient ist anders. Wir überprüfen seine Werte laufend. Sobald wir davon ausgehen können, dass die kritische Phase der Drucksteigerung im Schädel von Shiroyama-san beendet ist, werden wir die Narkosemittel allmählich reduzieren und ihn langsam aus dem Koma holen. Sollte der Druck jedoch wieder zunehmen, müssen wir ihn wieder in den Ursprungszustand zurückversetzen. Leider kann man nie genau sagen, wie schnell die Patienten auf die Reduktion der Narkosemittel reagieren. Es kann schnell gehen, aber auch sehr langsam. Das hängt alles davon ab, wie tief die Narkose war, vom Alter, von der Befindlichkeit des Patienten, von der Schnelligkeit in der der Körper die Medikamente abbauen kann, von den eingesetzten Medikamenten …“ Er wollte gerade Luft holen um fortzufahren, als Kai sich räusperte. Der Arzt stieß die Luft wieder aus. „ … kurzum, es hat mehrere Faktoren.“ Plötzlich setzte ein durchdringendes Piepsen ein. „Entschuldigen Sie mich. Ein Notfall!“ Und schon hastete der Arzt den Gang hinunter, während ich mich wieder Aoi zuwandte. Ich wusste nicht so genau, ob ich nun beunruhigt oder erleichtert darüber sein sollte. Aber die Ärzte schienen hier alles im Griff zu haben.

Ruki legte seine Hand auf meine Schulter und strich mir über den Rücken. „Er ist soweit stabil Kouyou. Die Ärzte tun alles, damit er wieder aufwacht.“ Kai legte mir seine Jacke um und ging neben mir in die Knie um mir in die Augen sehen zu können. Erst jetzt merkte ich, dass ich zitterte. Mir war kalt. Aber ich war mir nicht ganz sicher, ob es generell kalt war, oder ob diese Kälte aus meinem Inneren kam. „Er ist verdammt zäh. Du weißt, dass er dich hier niemals freiwillig allein zurücklassen würde, oder? Aoi kämpft. Und du musst nun auch an ihn glauben und für ihn da sein.“

Kapitel 6

~Uruha POV~
 

Ich zog die Träger der grünen Plastikschürze über den Kopf und machte hinter meinem Rücken einen Knoten. Die diensthabenden Schwestern hatten offenbar gerade mit einem Computerproblem zu kämpfen, weshalb ich einfach am Schwesternzimmer vorbei gegangen war, ohne nach den Untersuchungsergebnissen zu fragen. Ich drückte den Knopf des Desinfektionsmittelspenders und verrieb das Desinfektionsmittel in meinen Händen. Erst dann öffnete ich die Tür und schlüpfte in Aois Zimmer. Die Tür schloss sich automatisch mit einem leisen Klicken hinter mir, während ich auf das Bett zuging und mich auf einen der Sessel setzte, die dort für Besucher bereit standen. Ich stellte die Krücken, die noch immer meine Begleiter waren, zur Seite und strich ihm kurz über die Wange. „Hallo Schatz!“, begrüßte ich ihn, doch meine Stimme versagte. Obwohl ich ihn seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus vor einer Woche bisher jeden Tag besucht hatte, schockierten mich die ganzen Geräte und Schläuche immer noch. Aoi war in diesem riesigen Bett kaum zu sehen. Es tat mir weh, wie verletzlich und blass er aussah. Nichts, war von dem strahlenden Mann zu sehen, der mein Herz im Sturm erobert hatte. Die Verbände bedeckten den Großteil seines Gesichts und seiner Arme. Der Rest seines Körpers wirkte schmächtig, geradezu verloren in diesem Krankenhausbett.
 

Zärtlich griff ich nach seiner Hand. Seine Fingerspitzen waren eiskalt. Ich erschauderte kurz und atmete tief durch, während ich die Zähne heftig zusammen biss. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, während ich versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Ich hielt das nicht aus! Ich wünschte mir so sehr, dass er aufwachte. Ich war kein sonderlich gläubiger Mensch, aber ich hatte mich in letzter Zeit oft dabei erwischt, wie ich Gebete murmelte, wie ich jemanden anflehte, er möge mir meinen Partner zurückgeben. Ich suchte Aois Nähe, wie die Motten das Licht. Ich brauchte sie. Ihn zu sehen, gab mir die Sicherheit ihn nicht verloren zu haben. Er war immer noch am Leben. Er kämpfte. Rang jeden Tag mit dem Tod darum hier bleiben zu können, so wie Kai es mir versprochen hatte. Aoi war schon immer ein Kämpfer gewesen. Er würde auch jetzt nicht aufgeben, davon war ich überzeugt. Deshalb verbrachte ich die meiste Zeit hier! Ich wollte ihm beistehen. Ich wollte ihm zeigen, dass er nicht alleine war. Hätte ich gekonnt, ich hätte ihm alles abgenommen. Ich wäre für ihn in den Ring gestiegen und hätte gekämpft. Doch das Schicksal hatte ihn dazu auserkoren hier zu liegen und nicht mich. Aber ich konnte ihm immer noch zur Seite stehen. Ich hoffte nur, dass er das auch spürte.
 

Seufzend rieb ich über meine tränenden Augen und gähnte leise. Nachts konnte ich nur sehr schlecht schlafen. Mich plagten schreckliche Alpträume. Grelles Licht. Aois vor Panik geweitete Augen. Unsere Schreie. Das Krachen und Quietschen des Metalls. Selbst jetzt konnte ich es noch hören. Das Schlimmste war das viele Blut! Rot, lief es über meine Hände und tropfte ungehört zu Boden. Jede Nacht wachte ich schreiend auf und mein erster Blick galt dem leeren Platz neben mir, was mich jedes Mal erneut aus der Fassung brachte. Am Anfang war Kai immer ins Zimmer gestürmt und hat versucht mich zu beruhigen. Doch mittlerweile schien es beinahe Normalität geworden zu sein. Er kam nur hin und wieder in die Küche, wenn ich mich nach draußen schlich um mir zur Beruhigung einen Tee zu machen (meistens nach sehr heftigen Alpträumen). Der einzige Ort, an dem ich seltsamerweise Ruhe fand, war hier, an seinem Krankenbett. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich hier einschlief, nur um dann beim Gehen ein schlechtes Gewissen zu haben, nicht die ganze Zeit ausgenutzt zu haben, die ich hier verbringen durfte.
 

„Ich sollte dir schöne Grüße von Ruki, Kai und Reita ausrichten. Sie machen sich große Sorgen um dich und hoffen, dass du bald wieder wach wirst. Es ist nicht dasselbe ohne dich.“ Ich streichelte über seinen Handrücken, passte aber darauf auf, dass ich der Kanüle nicht zu nahe kam über die Aoi gegebenenfalls Medikamente, Flüssigkeit und Nährstoffe bekam. Immerhin aß er ja nicht. „Schade, dass wir kein Fenster aufmachen können. Draußen blühen die Kirschbäume. Das hast du doch immer so gerne gesehen, nicht wahr?“ Leider waren Blumen in der Intensivstation aus Hygienegründen nicht gestattet. Dabei hätte ich ihm gerne einen Zweig abgebrochen und ihn hier ins Zimmer gestellt. Aoi war sonst eigentlich kein Pflanzennarr und einen Grünen Daumen hatte er erst recht nicht. Das Einzige, das man ihm gefahrlos an Pflanzen schenken konnte, waren Kakteen. Die waren es nämlich gewohnt nicht gegossen zu werden. Aber er liebte es, wenn im Frühling die Kirschbäume zu blühen begannen. Er hatte mich immer in den Shinjuku Gyoen National Garden geschleppt, damit wir uns die Kirschbäume ansehen konnten. Und obwohl ich immer aus Spaß ein bisschen gemault hatte, war es jedes Mal ein schöner Tag geworden. Ich bemerkte erst, dass ich weinte, als die Tropfen auf die Bettdecke unter mir fielen. Ich stülpte den Ärmel über meinen Handballen und wischte mir über die Augen. Gut, dass ich kein Make-up trug, aber ich war auch klüger geworden. Ich wusste, dass ich nicht anders konnte, wenn ich hier bei ihm war.
 

Die Tür wurde leise geöffnet. Ich hob den Kopf und begegnete dem Blick einer Krankenschwester. Sie sah mich voller Mitgefühl an und versuchte ein tröstendes Lächeln. „Es tut mir so leid, Takashima-san“, sagte sie dann leise. Das Mitleid in ihrer Stimme war noch schwerer zu ertragen als ihr Blick. Ich verstand nicht. Warum entschuldigte sie sich bei mir? Sie musste meine Verwirrung gesehen haben, denn ihr Gesicht wurde lang. „Sie haben noch nicht mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?“, fragte sie mich dann. Ich runzelte die Stirn. Sie? „Shiroyama-sans Eltern?“, half sie mir dann auf die Sprünge. Nein. Ich hatte weder gestern noch heute mit ihnen gesprochen. Aber wozu? „Ich verstehe nicht. Warum sollte ich mit ihnen sprechen? Ist etwas passiert?“, fragte ich, während sich ein eisiger Klumpen in meiner Brust bildete. Wären es gute Nachrichten, würde sie mich nicht so ansehen, oder? Sie würde sich nicht bei mir entschuldigen! „Wirklich, es wäre mir lieber, wenn Sie zuerst mit ihnen sprechen würden.“ Ich hielt Aois Hand fest und wollte gerade weiter bohren, als die Tür erneut geöffnet wurde. Dr. Ishida, sein behandelnder Arzt, betrat den Raum. Er war es auch gewesen, der mir damals erklärt hatte, was mit meinem Freund los war und wie das mit dem künstlichen Koma funktionierte. Ein freundlicher, hilfsbereiter Mann, dem die Verwandten und Bekannten der Opfer genauso am Herzen lagen, wie die Patienten selbst. Als er mich sah, nickte er mir nur zu. Doch heute schien auch er ernster zu sein. Durch die zufallende Tür, konnte ich Aois Eltern im Gang stehen sehen. Seine Mutter weinte, während sein Vater sie an sich zog und sie fest an seine Brust drückte. Dann fiel die Tür wieder ins Schloss.
 

Ich wusste, dass ich bei den Untersuchungen nicht dabei sein durfte, weshalb ich mich erhob, nach meinen Krücken griff und das Zimmer verließ. Das leise Schluchzen von Aois Mutter empfing mich, als ich nach draußen auf den Gang trat. Sein Vater hob den Blick und ich sah, dass sie nicht die Einzige war, die weinte. Mein Inneres zog sich schmerzhaft zusammen. Der Eisklumpen strahlte eine Kälte aus, die nun meinen ganzen Körper erfasste, weshalb ich zu zittern begann. Oh Gott was war hier los!? Ich schluckte trocken und verbeugte mich kurz vor seinen Eltern, als ich sie begrüßte. Sein Vater tat es mir gleich, doch seine Mutter legte ihre Hand an meine Wange und strich darüber. „Oh Kouyou-san“, weinte sie leise und flüchtete sich wieder in die Arme von Hiroki-san, der sie zu den Stühlen dirigierte und sie sanft auf einen der gepolsterten Sitze drückte. Eine Krankenschwester brachte ein Glas Wasser vorbei, das sie ihr in die zitternden Hände drückte. Auch wenn ich sie nicht weiter aufregen wollte, konnte ich meine Frage nicht zurückhalten. „Was ist passiert? Was ist hier los!?“ Hiroki-san wurde kurz blass doch dann schien er sich wieder zu fangen und legte seine Hand auf ihre Schulter und streichelte sanft darüber.
 

„Hast du dir die Untersuchungsergebnisse der letzten Woche angesehen?“ Ich runzelte die Stirn, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein. Die Schwestern hatten heute ein Computerproblem, weshalb ich nicht nachgefragt habe. Was ist damit?“ Was war denn passiert? Aois Vater atmete tief durch, während Miyuki-san einen kleinen Schluck trank und dann wieder in Tränen ausbrach. „Die Werte haben sich drastisch verschlechtert, Kouyou-san.“ Mir wurde schwindelig. Verschlechtert? „Wie?“ Hiroki-san hielt mich am Oberarm fest und dirigierte mich ebenfalls auf einen Sessel, da meine Beine drohten nachzugeben. Obwohl ich seine Worte verstanden hatte, ergaben sie für mich keinen Sinn. Mein Kopf war plötzlich wie leergefegt, während sich meine Brust anfühlte, als hätte mir jemand ein Messer in den Brustkorb gerammt. „Was heißt schlecht? Hiroki-san, bitte!“ Stille breitete sich zwischen uns aus. Er schien sich erst fangen zu müssen. Doch je länger mir niemand etwas sagte, desto panischer wurde ich. Was war mit ihm? Was bedeutete das für ihn? Für uns? „Wir hatten gestern eine lange Besprechung mit den Ärzten. Vor ein paar Tagen gab es noch Hoffnung. Hoffnung … dass er … es schaffen könnte. Doch die letzten Untersuchungen …“ Seine Stimme brach. „Er lebt nur durch die Maschinen. Yuu ist schon lange ganz weit weg.“ Auch seinem Vater liefen nun Tränen über die Wangen. „Wenn es nur ein Zeichen der Hoffnung gäbe, dann hätte man uns nicht vor die Wahl gestellt, Kouyou-san …“ Langsam drang die Erkenntnis zu mir durch. Ich begann zu verstehen. „Wir haben uns dazu entschlossen die Maschinen abstellen zu lassen.“ Der Satz schlug ein, wie eine Bombe, obwohl ich ihn vorhergesehen hatte. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Heftiges Zittern erfasste mich. Das konnten sie nicht machen!!! Wieder begannen warme Tränen über meine Wangen zu laufen. „Nein!“, flüsterte ich. Ich konnte es nicht glauben! Panik schnürte mir die Kehle zu. „Wir können ihn nicht aufgeben! Wir dürfen ihn nicht aufgeben!“ Ich schüttelte heftig den Kopf. „Aoi ist ein Kämpfer. Er wird wieder gesund werden! Er …“
 

„Kouyou-san!“ Seine Stimme ließ mich erstarren. Sie klang abgekämpft, müde, trostlos. „Es gibt Situationen im Leben, in denen müssen Entscheidungen gefällt werden! Die Werte sind so schlecht, es müsste ein Wunder geschehen, damit er wieder wach wird. Und dann müsste ein Weiteres geschehen, damit er gesund wach wird! Willst du ihm das antun? Willst du wirklich, dass er sein restliches Leben als Pflegefall verbringen muss?“ Ich schluckte trocken, versuchte etwas zu erwidern, doch Shiroyama-san schnitt mir das Wort ab. „Willst du dich um einen geistig behinderten Menschen kümmern, der mehr Aufwendung, Pflege und Liebe braucht, als du ihm geben kannst? Willst du dein Leben dafür aufgeben? Und wie lange sollte das gehen? Bis er dir eines Tages nur noch zur Last fällt? Er wird nicht mehr der Selbe sein! Er wird anders sein! Nicht mehr der Yuu, den du kennst! Nicht mehr der Yuu, den du liebst! Und dann? Kannst du das verantworten, Kouyou-san, nur weil du ihn jetzt nicht gehen lassen willst!?“ Ich presste meine Lippen aufeinander, während ich erfolglos versuchte die Tränen wegzuwischen. Leise schluchzte ich auf. „Ich weiß, wie sehr du ihn liebst, wie sehr er dich geliebt hat. Aber glaubst du er würde so weiterleben wollen? Glaubst du denn, er würde dir zur Last fallen wollen?“ Ich schüttelte den Kopf. Ja zu sagen wäre falsch gewesen, dazu kannte ich ihn zu gut. Er hätte gewollt, dass ich sein Lächeln in Erinnerung behielt, die schönen Zeiten, die wir miteinander gehabt hatten. Aoi hätte nicht gewollt, dass ich mein Leben aufgab um mich um ihn zu kümmern. Er hätte gewollt, dass die Maschinen abgestellt werden würden, wenn es jemals so weit war. Doch ich konnte das nicht akzeptieren. Es war mir egal, was er gewollt hätte. Ich wollte es nicht. Solange es nur einen Funken Hoffnung gab, nur ein einziges Prozent, dass er sich wieder erholen würde, würde ich es nicht zulassen, dass er ging.
 

„Wann?“, flüsterte ich heißer. „Wann werden sie die Maschinen abstellen!?“ Als Aois Mutter den Blick hob und auf die Tür zu Aois Krankenzimmer starrte, fiel bei mir der Groschen. „NEIN!!!“ Meine Stimme überschlug sich. „Nein! Nein! NEIN!“ Das war zu früh! Das durften sie nicht! Ich hatte mich doch nicht einmal richtig von ihm verabschiedet! Noch bevor ich selbst verstand, was ich tat, war ich aufgesprungen und zur Tür gelaufen. Ich riss sie auf und stürmte in den Raum. „Fassen Sie ihn nicht an!!!“ Der Arzt fuhr zurück und sah mich überrascht an, während ich wieder auf den Sessel neben Aois Bett sank und nach seiner Hand griff. „Bitte … bitte noch nicht!“, flehte ich, während meine zitternden Finger über seine Wange streichelten. Aois Vater erschien neben mir und legte mir seine Hand auf die Schulter. „Kouyou-san…“ Ich schüttelte seine Hand ab und schüttelte verzweifelt den Kopf. Aois Gesicht verschwamm vor meinen Augen. „Bitte … ein Tag!“ Mein Atem zitterte heftig, als ich Luft holte. „Bitte gebt uns noch einen Tag!“ Der Griff an meiner Schulter verstärkte sich. „Kouyou-san, hör auf dich zu quälen.“ „Einen einzigen Tag! Bitte!“, bettelte ich weiter. Der Arzt sah Hiroki-san fragend an. Doch es war nicht er, der die Entscheidung fällte, sondern Miyuki-san.
 

Ich konnte mich nicht daran erinnern jemals so aufgelöst gewesen zu sein. Meine Tränen versiegten erst Stunden später. Nicht etwa, weil ich mich beruhigte, sondern weil ich einfach nicht mehr weinen konnte. Ich begann ihn wieder zu streicheln, fuhr die sanften Konturen seiner Wangen nach und erhob mich, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Ich hatte es immer geliebt ihn zu berühren und das tat ich selbst jetzt. Stundenlang sprach ich mit ihm, versuchte ihm ein Lebenszeichen zu entlocken, doch er zeigte nach wie vor keine Reaktion. Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, war es vier Uhr in der Früh. Sie hatten zugelassen, dass ich bei ihm blieb. Die Nachtschwester hatte mir nur einen Tee und Kekse vorbeigebracht und war dann wieder gegangen. Beides stand immer noch unberührt auf dem kleinen Tisch. Ich war müde, mein Kopf schmerzte und meine Augen tränten. „Schatz … wir haben nicht mehr viel Zeit. Wenn wir sie nicht überzeugen können, werden sie morgen die Maschinen abstellen. Ich kann sie nicht alleine umstimmen. Dazu brauche ich deine Hilfe. Wenn du mich hören kannst … bitte gib mir irgendein Zeichen …“ Ich hatte eigentlich nicht erwartet, dass etwas geschah und doch merkte ich, wie die Enttäuschung sich in mir breit machte. Ich hielt seine Hand fest und hob sie an meine Lippen um seine kühlen Finger zu küssen. Vielleicht war es ein bisschen zu unspezifisch gewesen irgendein Zeichen zu verlangen. „Yuu … Schatz … bitte … gib nicht auf! Gib jetzt bloß nicht auf! Wir haben so viel überstanden. Wir sind so weit gekommen. Ich will dich nicht verlieren! Yuu, wenn du mich hören kannst, wenn du mich verstehen kannst, drück meine Hand … bitte!“ Ich streichelte ihn weiter, presste meine Lippen wieder auf seine kühle Haut. „Aoi … ich bitte dich!“

Doch egal wie sehr ich flehte, seine Finger blieben genauso regungslos wie der Rest seines Körpers.

Kapitel 7

~Uruha POV~
 

Ich wachte auf, als jemand eine Decke über mich legte. Am liebsten hätte ich geschrien. Nun war ich schon wieder an seinem Krankenbett eingeschlafen und das obwohl wir kaum mehr Zeit miteinander hatten. Ich verfluchte mich dafür. Zu schlafen, war das Letzte, das ich nun tun sollte! „Hey“, kam es leise von dem Sitzplatz neben mir, als ich meinen Kopf hob. Reita saß auf einem Stuhl und sah mich besorgt an. Ich wusste noch, dass ich ihnen gestern allen eine SMS geschrieben hatte. Sie hatten das Recht sich auch von ihm zu verabschieden! Dazu waren wir lange genug befreundet gewesen. „Wie geht es dir?“ Wieder schnürten mir die Tränen die Kehle zu, während ich meinen Kopf schüttelte. Reita verstand auch so, was damit gemeint war. Wie sollte es mir auch sonst gehen. Ich hatte nicht einmal mehr 5 Stunden und Aois Zustand hatte sich nicht verbessert, das hatte ich von der Schwester erfahren, die mir heute Morgen etwas zu trinken vorbeigebracht hatte. Reitas Hand legte sich auf meine Schulter. Er drückte kurz zu und streichelte dann über meinen Rücken. „Uruha gönn dir bitte eine Pause. Du sitzt seit Stunden hier an seinem Bett. Iss etwas, trink etwas und dann setzen wir uns wieder hier her, in Ordnung?“ Krampfhaft schüttelte ich meinen Kopf. Ich konnte nicht! Ich durfte ihn nicht alleine lassen. Nicht, wenn ich ihn in ein paar Stunden verlieren würde. Die Zeit verstrich viel zu schnell. Sie gab uns keinen Aufschub mehr. Jede Sekunde, die ich nicht bei ihm war, wäre eine Sekunde zu viel.
 

Reita blieb eine Weile neben mir sitzen, doch dann erhob er sich und zog mich auf die Beine. Ich versuchte mich zu wehren, doch er war unerbittlich. „Uruha du brauchst eine Pause! Nur ein paar Minuten! In der Zwischenzeit werden Kai und Ruki bei ihm bleiben, in Ordnung?“, fragte er mich und stützte mich, während er mich mit sanfter Gewalt aus dem Krankenzimmer zog. Kai, der am Fenster stand, drehte sich augenblicklich zu uns um, als die Tür sich hinter uns schloss. Seine Augen glitzerten verdächtig. Dennoch versuchte er ein Lächeln, das ziemlich verrutschte. Er legte mir nur seine Hand auf die Schulter, doch diese einfache Geste spendete mir genauso viel Trost, wie die Umarmung, die Ruki mir zukommen ließ. Auch unser Sänger war verdächtig blass. Sie fragten beide nicht, wie es mir ging. Auch sie konnte es sich denken. Aber es bedeutete mir viel, dass sie einfach da waren. Sie unterstützten mich damit mehr, als sie vielleicht selbst ahnten. „Uruha und ich gehen ein bisschen an die frische Luft“, ließ Reita sich vernehmen und drückte mir meine Krücken in die Hand. Obwohl mich alles dazu drängte wieder zu Aoi ins Zimmer zu gehen, nahm ich meine Gehhilfen entgegen und folgte Reita über den Flur, während Ruki und Kai das Krankenzimmer betraten.
 

Die Liftfahrt nach unten verlief schweigend. Vielleicht, weil wir beide nicht wussten, was wir sagen sollten. In meinem Kopf herrschte Chaos. Als sich die Türen öffneten, legte Reita seine Hand auf meinen Rücken und führte mich auf ein kleines Café zu, das zum Krankenhaus gehörte. Ich hatte keinen Hunger, aber er würde mich nicht wieder nach oben lassen, solange ich nicht irgendetwas aß. Als ich mein Spiegelbild in der gläsernen Auslage erblickte verschwand die Angst, ein Fan könnte uns entdecken. Meine Augen waren rot gerändert vom vielen weinen. Ich war blass und hatte dunkle Augenringe, doch obwohl mich das früher erschreckt hätte, interessierte es mich nicht. Reita selbst sah zwar besser aus, aber ohne Make-up, ohne das Nasenband und mit verstrubbelten Haaren würde ihn sowieso keiner erkennen. Wir setzten uns nach draußen – in eine kleine, private Nische. Die frische Luft tat wirklich gut. Ich konnte zum ersten Mal wieder richtig durchatmen. Reita stellte das Tablett vor mir ab und schob mir die Miso-Suppe zu. „Iss!“, verlangte er dann. Zögernd griff ich nach dem Suppenlöffel und begann die Suppe runterzuwürgen. Er schien zufrieden zu sein, lehnte sich zurück und nippte an seinem Kaffee. Ich kannte Reita lange genug um zu sehen, dass er keinesfalls so locker drauf war, wie er sich gab. Seine Schultern waren ein bisschen zu angespannt und sein Gesichtsausdruck zu ernst. „Vielleicht würde Musik helfen“, sagte er dann plötzlich. Überrascht sah ich auf. „Für was?“ Reita zuckte mit den Schultern. „Er war … ist Musiker! Er liebt die Musik doch! Vielleicht hilft sie ihm wieder zu uns zurück zu kommen?“ Ich war erstaunt. Niemand hier hatte mir geglaubt, dass Aoi noch irgendwelche Chancen hatte. Aber Reita schien genauso zu denken wie ich. „Aber … warum?“, flüsterte ich dann. Reitas Lächeln war traurig. „Aoi würde doch niemals einfach so aufgeben! Dazu ist er viel zu dickköpfig. Vielleicht muss man ihm einfach den richtigen Anreiz geben um zurück zu finden?“
 

Obwohl ich einfach nur wieder zurück zu Aoi wollte, ließ ich mich von Reita noch dazu überreden eine Runde um den Block zu laufen. Sehnsüchtig betrachtete ich die Kirschblüten und zuckte zusammen, als Reita mit einen kleinen Ast voller wunderschöner, rosafarbener Knospen hinhielt. „Nimm ihn mit! Aoi mochte sie doch!“ Wieder zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Ich bekam kaum Luft. Das Gefühl zusammenzubrechen übernahm überhand. Zu wissen, dass es bald vorbei sein würde machte mich ganz krank. Ich fühlte mich so hilflos, so nutzlos. Ein Gefühl, das ich nicht ertrug! „Blumen dürfen nicht ins Krankenzimmer mitgenommen werden!“, widersprach ich ihm dann, doch er wank einfach nur ab. „Und daran hindert uns was genau?“ Ich runzelte die Stirn. „Das ist wegen den Keimen, damit der Patient nicht noch irgendwie krank wird!“ Und im selben Moment verstand ich Reitas Frage. Was interessierte uns das? Sie würden die Maschinen in 4 Stunden abstellen. Was sollten denn Keime da noch ausrichten? Obwohl meine Finger zitterten griff ich nach dem Ast und nickte leicht. Er hatte Recht.
 

„Hey Schatz! Ich war gerade mit Reita ein bisschen Luft schnappen und hab dir was mitgebracht!“ Ich war wieder alleine in seinem Krankenzimmer. Sanft nahm ich seine Hand, die auf seinem Bauch lag, und legte seine Finger um den Kirschblütenzweig. Dann gab ich ihm noch einen Kuss auf die Stirn und setzte mich wieder an sein Bett. Erneut bemerkte ich, dass ich gehofft hatte es würde ihm besser gehen, wenn ich zurück kam. Ich wartete auf ein Wunder. Dabei wusste doch jeder, dass es keine Wunder gab. Reitas Vorschlag mit der Musik kam mir gar nicht so dumm vor. Daher zog ich mein Handy heraus und wählte eines unserer Alben aus. Die Musik stellte ich so leise, dass sie im Hintergrund zu hören war. Selbst wenn sie ihm nicht helfen würde, beruhigte sie mich ein wenig. Ich umschloss seine Hand wieder mit meinen Fingern und hielt sie fest, während auch ich der Musik lauschte. Ich küsste seine kalten Finger wieder und begann leise mit ihm zu sprechen. Doch mit jeder Minute, die verrann, versiegte auch gleichzeitig die Hoffnung, dass sich sein Zustand doch noch verbessern würde. Ich hatte um einen Tag Aufschub gebettelt. Doch mir wurde immer klarer, dass dieser eine Tag niemals reichen würde. Ich konnte mich nicht von ihm verabschieden. Dazu liebte ich ihn viel zu sehr. Ich konnte nicht auf Wiedersehen sagen, wenn er doch hier war. „Er lebt nur durch die Maschinen. Yuu ist schon lange ganz weit weg.“ Die Worte seines Vaters kamen mir wieder in den Sinn und erneut begannen meine Tränen zu fließen. Dabei hatte ich doch geglaubt, sie wären endgültig versiegt.
 

Als schließlich die Tür geöffnet wurde und nacheinander mehrere Leute ins Zimmer kamen, zuckte ich heftig zusammen. Ich hatte meine Arme am Bett aufgestützt und hielt seine Hand in meinen Händen fest, während ich meine Lippen auf seine kühlen Fingerspitzen presste. Es war vorbei. Die Zeit war abgelaufen, die Gnadenfrist verstrichen. Reita, Kai und Ruki stellten sich hinter mich. Ich spürte, wie sie ihre Hände auf meine Schultern legten um mir zu zeigen, dass sie da waren. Mein Atem bebte, als ich ausatmete, genauso wie der der anderen. Kai schniefte leise. Seine Hand zitterte. Aois Mutter war auf der anderen Seite des Bettes zusammengesunken und hatte ihre Hand an seine Hand gelegt, die den Kirschblütenzweig umschloss, während sein Vater seine Hand auf Aois Schulter legte. Ich schloss meine Augen und verkrampfte mich erneut, als der Arzt den Raum betrat. „Aoi … bitte!“ Meine Stimme war nur ein leises, zitterndes Flüstern, während ich weiter nach vorne sank und meinen Kopf an seine Schulter lehnte. „Oh Aoi, es tut mir so verdammt leid!“, flüsterte ich heißer, während ich versuchte die Tränen zu stoppen, die über meine Wangen perlten und vom Überzug der Bettdecke aufgefangen wurden. Hätte ich mich ausnahmsweise einmal nicht nur um meine, sondern um seine Bedürfnisse gekümmert, dann wäre es nie zu dem Unfall gekommen. Aber ich war ja müde gewesen und wollte nicht fahren! „Es ist alles meine Schuld! Wenn ich nicht … wenn ich nicht so ein ignoranter Idiot wäre, dann würdest du das nicht durchmachen müssen. Bitte verzeih mir … bitte wach wieder auf! Bitte!“ Meine Stimme brach. Leises Schluchzen war neben dem Geräusch des Beatmungsgeräts lange Zeit das Einzige, das die Stille durchbrach. „Ich hätte dich niemals fahren lassen dürfen“, flüsterte ich heißer, als ich mir sicher war, dass ich meiner Stimme erneut trauen konnte. Schuldgefühle waren das Einzige, das ich im Moment neben der Sorge und Angst um ihn spürte und sie fraßen mich auf. „Ich wusste doch, dass du Kopfschmerzen hast. Ich wusste doch, dass du dich über Sotooka-san aufregen würdest. Ich hätte fahren sollen! Ich sollte hier liegen und nicht du!“ Ich versuchte nicht einmal meine Tränen zurückzuhalten. Es hatte keinen Sinn. Ich konnte sie nicht aufhalten. „Aoi … Yuu bitte komm zu mir zurück. Bitte verlass mich nicht! Wir brauchen dich! Ich brauche dich. Ich warte auf dich! Bitte!“ Meine Brust schmerzte. Es war als würde mein Herz in tausend Scherben zerspringen. Ich durfte ihn nicht verlieren! Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte ohne ihn! Ich blieb so bei ihm liegen, küsste ihn immer wieder, versuchte zu ihm durchzudringen. „Yuu! Wir haben keine Zeit mehr! Hilf mir doch bitte! Lass mich nicht alleine!“ Aber er erhörte mein Flehen nicht. Sanfte Hände streichelten über meine Schultern, versuchten mich zu beruhigen. Jemand sagte meinen Namen, aber ich verstand nicht, was noch gesagt wurde.
 

„Schatz bitte tu mir das nicht an! Aoi lass mich nicht alleine zurück. Du hast mir doch immer versprochen für uns zu kämpfen. Wenn du mich liebst, dann beweise es mir jetzt! Kämpfe, verdammt noch Mal!“ Ich schniefte leise, während die Tränen über meine Wangen liefen. Sie fielen auf seine Verbände, versickerten ungesehen darin. Ich fühlte mich so verletzlich, so angreifbar. Niemals hatte ich meine Gefühle so Preis gegeben. Nicht einmal ihm gegenüber. Jetzt standen diese ganzen Leute um mich herum und es war mir egal. Alles was ich wollte war, ein Wunder! „Yuu wenn du mich hörst, drück meine Hand! Bitte!!“ Meine Stimme wurde immer leiser, der Schmerz immer gegenwärtiger. Ich würde ihn verlieren! Er würde nie mehr wieder lachen. Nie mehr würde ich in seinen dunklen Augen versinken. Nie wieder würde ich spüren, wie seine warmen Finger über meine Haut streichelten. Ich würde nie wieder über seine Witze lachen können oder mit ihm zusammen Gitarre spielen. Wir würden unsere Träume niemals zusammen erreichen, kein gemeinsames Leben führen können. „Drück meine Hand, Aoi… wir haben keine Zeit mehr … bitte, drück meine Hand“, hauchte ich leise. Meine Finger verkrampften sich. Ich klammerte mich an ihm fest, so als würde es nur davon abhängig sein ihn doch bei mir behalten zu können. Seine Hand lag immer noch in meiner. Kalt. Bewegungslos. Der Arzt legte seine Finger auf den Schalter und wartete – wartete darauf, dass ihm jemand ein Zeichen gab. „Yuu! Komm zu mir zurück! Bitte kämpfe weiter! Du musst kämpfen! Du darfst nicht sterben. Du darfst mich nicht verlassen! Ich brauche dich …“ Ein Nicken von Aois Vater und meine Welt blieb stehen. Ein unkontrolliertes Zittern erfasste mich, während ich kraftlos zurück auf den Stuhl sank, nicht gewillt seine Hand los zu lassen. „YUU!!!“, schrie ich gequält, während ich spürte, wie die anderen versuchten mich aufzufangen. Ich presste seine Finger wieder an meine Lippen und schluchzte hemmungslos auf. „Yuu, verlass mich nicht! Bitte … ich liebe dich!!!“ Die Anzeigen blinkten ein letztes Mal auf. Dann verloschen sie. Mein Herz schien mit ihnen auszusetzen. Ich bekam keine Luft mehr. Der Schmerz raubte mir alle Empfindungen. Der Raum begann sich zu drehen. Die Farben verloren ihre Leuchtkraft, bis sie nur noch schwarzweiß waren. Ich schwankte, spürte wie mich jemand festhielt und dann …

„Schalten Sie die Maschine wieder an!!!“ Rukis Stimme hallte wie ein Pistolenschuss durch den Raum.

… dann spürte ich wie sich Aois Finger schwach und zuckend um meine eigenen schlossen.

Kapitel 8

~Uruha POV~
 

Es waren beinahe vier Monate vergangen, in denen ich ausnahmslos jeden Tag an seinem Bett saß und darauf wartete, dass sein Zustand sich veränderte. Es gab Tage, an denen sah ich voller Hoffnung in die Zukunft und es gab Tage, an denen verzweifelte ich beinahe.

Trotz meiner Verzweiflung hatte Aoi tolle Fortschritte gemacht, seitdem er uns allen gezeigt hatte, dass sein Überlebenswille ungebrochen war. Natürlich wurden die Maschinen wieder eingeschaltet und die Ärzte versuchten ihn bestmöglich zu betreuen. Auch für sie war es ein Schock gewesen. Sie hatten mir die Testergebnisse gezeigt. Einstimmig hatte es geheißen, dass Aoi niemals dazu hätte in der Lage sein können sich verständlich zu machen. Aber er hatte es getan! Allerdings war das seit vier Monaten das einzige Zeichen gewesen, das er mir hat zukommen lassen. Da konnte ich betteln, so viel ich wollte. Ich wusste nicht wie viel Kraft es ihn damals gekostet hatte auf mein Flehen zu antworten, doch ich war mir sicher, dass er die Dringlichkeit der Situation verstanden hatte. Seine Verletzungen waren soweit recht gut abgeheilt, wobei sein Kopf immer noch beobachtet wurde – zur Vorsicht. Aber die Rippenbrüche, der mehrfache Armbruch und die Knieverletzungen waren nach mehreren Operationen alle wunderbar verheilt. Der für mich wichtigste Punkt aber war, dass man bereits begonnen hatte die Aufwachphase einzuleiten. Bisher war alles reibungslos verlaufen. Seit einer Woche atmete er auch wieder selbstständig. Natürlich hatte er noch eine Atemmaske auf, aber das war das kleinste Übel, denn durch die wundervollen Fortschritte konnte er von der Intensivstation auf die allgemeine Station verlegt werden. Das größere Übel war allerdings, dass man auch jetzt noch nicht sagen konnte, wann und ob er überhaupt aufwachen würde. Dazu kam, dass man keine Diagnose über Folgeschäden des Unfalls stellen konnte, solange er nicht bei Bewusstsein war.
 

Seine Eltern waren bereits wieder in Mie – sie mussten immerhin arbeiten, jedoch kamen sie mindestens zwei bis drei Mal im Monat nach Tokyo um nach Aoi zu sehen. Sie hatten eine Verfügung erstellt, nach der die Ärzte alle Neuigkeiten an mich weitergeben mussten, worüber ich auch extrem froh war. So war ich immer auf dem laufenden Stand und musste unsere Beziehung zueinander nicht an die große Glocke hängen, obwohl bereits einige der Ärzte und Schwestern wussten, wie nahe wir uns tatsächlich standen. Allerdings mussten sie eine Verschwiegenheitsvereinbarung unterschreiben. Es wäre nämlich ein gefundenes Fressen für die Presse gewesen. Des Weiteren war ich dank Aois Eltern auch befugt Entscheidungen zu treffen, die Aois Gesundheit betrafen, wenn sie schnell gefällt werden mussten. Ich war ihnen sehr dankbar für das entgegengebrachte Vertrauen. Sie wussten, wie sehr ich ihn liebte und das schien ihnen zu reichen. Allerdings lag mir die Verantwortung auch schwer im Magen. Bei einer Fehlentscheidung würde ich mir niemals vergeben können. Auch seine Geschwister wechselten sich mit den Besuchen ab und meine Eltern und meine Schwestern kamen auch hin und wieder für ein paar Stunden. Die beiden Jungs, meine Neffen, blieben zu Hause. Immerhin war das nichts für Kinder und sie hätten sowieso nicht verstanden, warum Onkel Aoi nur schlief und sich nicht um sie kümmerte. Da die beiden ihn anbeteten, brachte es niemand übers Herz ihnen zu sagen, was wirklich Sache war. Vermutlich hätten sie es eh nicht verstanden.
 

Am Häufigsten besuchten ihn außer mir vor allem Ruki, Kai und Reita. Sie redeten mit ihm und spielten ihm sogar unsere Aufnahmen vor. Ruki sang auch ab und an für ihn, wenn er gerade Lust dazu hatte und auch ich hatte schon mehrmals meine Gitarre dabei – die Akustikgitarre wohlgemerkt, da ich hoffte, dass er vielleicht irgendwie darauf reagieren würde. »Musik ist die Sprache der Leidenschaft.« Das war Aois Lieblingszitat. Es war auch viel Wahres dran und ich hoffte, dass ich so zu ihm durchdringen konnte. Auch unser Manager ließ sich ab und an blicken und brachte Blumen, Bänder, auf denen kunstvoll Gebete aufgemalt oder sogar gestickt waren, und Pralinen mit (wobei ich eher vermutete, dass er die Pralinen für mich brachte, da er mich meistens dazu ermunterte zumindest eine zu essen).
 

Kai hatte die ganze Zeit in der ich nun aus dem Krankenhaus entlassen worden war um mich gekümmert und mir geholfen wieder auf die Beine zu kommen, was gar nicht so einfach war. Ich musste mehrere Wochen Reha über mich ergehen lassen und war froh, als ich endlich ohne Krücken stehen und gehen konnte.

Um genau zu sein wohnte ich immer noch bei unserem Drummer. Er schien auch nichts dagegen zu haben, dass ich mich bei ihm zu Hause breit machte. Zwar wollte ich eigentlich schon längst wieder in unsere Wohnung ziehen, doch ich ertrug die Leere dort nicht. Vor allem konnte mich dort nichts davon ablenken, dass Aoi noch nicht zu Hause war. Im Gegenteil: Es wurde mir noch viel bewusster. Kai schaffte es immer recht gut mich abzulenken indem er mich in seine Arbeiten mit einbezog – hauptsächlich im Haushalt oder für die anfallenden Arbeiten als Leader der Band. Diese hatte im Moment ein ziemliches Tief. Das Album war, bis auf Aois Parts, bereits aufgenommen und eigentlich wollten wir mit der Veröffentlichung gerne warten, bis er wieder so weit war. Da aber niemand wusste wann Aoi wieder aufwachte oder … ob er überhaupt aufwachte (dieses ob kam für mich nicht ein einziges Mal in Frage. Er würde aufwachen), hatte es bereits einige unschöne Unterredungen mit den großen Bossen gegeben. Wenigstens hielten Kai, Ruki und Reita zu mir und weigerten sich fürs Erste große Aktionen zu setzen und wollten noch warten. Allerdings konnte es nicht so weiter gehen, das wussten wir alle, weshalb wir bereits am Überlegen waren ob ich Aois Parts noch einspielen oder ob man wirklich jemanden dazu holen sollte. Letzteres gefiel keinem von uns. Es wäre, als würden wir Aoi aufgeben und das hatte keiner vor. Keine Frage, unsere Fans waren großartig und es trafen immer noch Genesungswünsche an Aoi gerichtet ein. Ich selbst hatte schon wieder an zwei Interviews teilgenommen, welche sich für mich extrem schwer gestalteten. Jedes Interview war eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle und es gab ziemlich lange Diskussionen, ob ich daran teilnehmen sollte, oder nicht.
 

Auch heute machte ich mich nach einer Sitzung mit den Managern auf den Weg ins Krankenhaus. Es war ein sonniger Tag und er passte so gar nicht zu der Stimmung, die mich immer befiel, wenn ich ein Krankenhaus betrat. Meine Abneigung war immer noch nicht weg und ich musste mich immer wieder überwinden die langen, düsteren Flure hinunter zu gehen. Es gab durchaus auch erfreuliche Sachen in Krankenhäusern: Wenn jemand nach langer Krankheit wieder gesund wurde oder das Ertönen eines Kinderlachens, wenn die Ärzte wieder als Clowns auftraten (jeden Dienstagnachmittag) oder wenn eine Mutter ihr neugeborenes Baby in die Arme nehmen konnte. Aber es gab auch genug Dinge, die mir immer wieder zeigten wie unfair das Schicksal war: Unfalltode, todkranke Menschen, die sich durch die Flure schleppten, Kinder, die Krebs hatten und denen es richtig schlecht ging. Das Leid in Krankenhäusern war unfassbar groß und so greifbar. Wenn Dämonen sich an Schmerzen laben wollten, müssten sie sich nur ein Mal mitten in ein Krankenhaus setzen. Sie hätten genug für Jahre. Ich hatte meine Haare unter einer schwarzen Mütze versteckt und trug eine große Sonnenbrille, als ich durch den Eingang der Notaufnahme schlüpfte. Normalerweise sollte man den Vordereingang benutzen. Da man aber Angst hatte, dass mich jemand erkannte (und das tat man eher, wenn viele Leute um einen herum waren, die Zeit hatten sich die Ankommenden genau anzusehen), durfte ich diesen Eingang benutzen (wo jeder mit sich selbst beschäftigt war). Der Pförtner nickte mir grüßend zu und deutete auf die Gitarre, die ich in der Tasche auf meinem Rücken trug. „Spielen Sie heute wieder?“, fragte er dann. Ich begann zu lächeln und nickte. „Er hat seine Gitarre geliebt und ich hoffe immer noch, dass es Wirkung zeigt.“ Irgendwie mochte ich den Mann. Er war recht klein, kleiner als Ruki und sprengte mit seinen Maßen beinahe die Knöpfe seiner Uniform. Aber sein Lächeln war jedes Mal ehrlich und er behandelte mich auch nie anders nur weil mein Name in den Medien öfters vorkam. „Wo Leben ist, ist Hoffnung, hat meine Oma immer gesagt“, antwortete er und ich musste lächeln. Ja, da hatte er Recht. Und Aoi lebte! Also konnte ich weiterhin hoffen, dass er bald aufwachen würde. „Danke. Ich habe sie noch nicht aufgegeben!“
 

Er nickte zustimmend und öffnete das Fensterchen der Kabine. Eine Papierrolle schob sich hinaus, was mich überrascht die Augenbrauen heben ließ.

„Ich hab lange überlegt, ob ich Ihnen das geben sollte. Meine Tochter ist ein großer Fan von Ihnen und hofft Sie damit aufzuheitern“, sagte er. Ich stockte, griff schließlich aber doch nach der Rolle. Er hatte mich noch nie anders behandelt und auch jetzt war es ihm sichtlich unangenehm. Langsam öffnete ich das rote, seidene Band, das das Mädchen um die Rolle geknüpft hatte und öffnete sie. Beim Anblick des Bildes musste ich heftig blinzeln und schluckte die Tränen hinunter, die aufsteigen wollten. Eine detailgetreue Zeichnung von mir und Aoi. Rücken an Rücken standen wir auf der Bühne und hatten unsere Gitarren in den Händen. Wir mussten gerade auseinander gehen, denn unsere Körper waren einander zugeneigt, doch die Haare schwangen schon in einer Vorwärtsbewegung nach vorne. Während Aoi zurück zu mir sah, sah ich zu ihm und schien in seinen Augen zu versinken. Sein Lächeln versetzte mir einen Stich. Selbst das Glitzern seiner Augen hatte sie eingefangen. Zitternd streichelte ich über die feinen Bleistiftlinien, rollte die Zeichnung dann wieder zusammen und flocht das Band wieder herum. „Wie heißt Ihre Tochter?“ Er schien überrascht, dass ich solches Interesse zeigte, antwortete aber gleich. „Akemi… sie heißt Akemi.“ Ich nickte leicht. „Sie ist sehr begabt!“ Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht, doch dann zog er die Augenbrauen zusammen und seufzte. „Sie wollte auf die Kunstschule gehen. Sie hat wahrlich genug Talent dazu, aber sie wird kein Stipendium bekommen“, erzählte er dann. Ich wusste, was das bedeutete. Ihr Traum würde sterben. Ein Pförtner in einem Krankenhaus verdiente nicht so viel um das Schulgeld dieser Schule bezahlen zu können. „Richten Sie ihr meinen Dank aus. Es ist wunderschön“, sagte ich zu ihm, versuchte ein Lächeln (das vermutlich ziemlich verrutschte), und verschwand dann auch gleich im Lift um nach oben zu fahren, damit niemand die Emotionen sehen konnte, die zweifellos in meinem Gesicht zu lesen waren.
 

Die Ärzte und Schwestern hier auf dieser Station kannten mich bereits. Sie meinten es sei schön, dass ich Aoi nicht vergaß und ihn immer wieder besuchte. Auch heute wurde ich begrüßt, als ich den Gang hinunterging, um dann in Aois Zimmer zu verschwinden. Meine Schritte lenkten mich zum Bett hinüber. Ich beugte mich über ihn, zog die Atemmaske weg und hauchte ihm einen Kuss auf die spröden Lippen. „Hallo mein Schatz, da bin ich wieder!“, begrüßte ich ihn fröhlich. Ich war überzeugt davon, dass Patienten es sehr wohl mitbekamen, wie die Gefühle des Gegenübers aussahen. Sonst hätte er niemals auf mich reagiert. Also versuchte ich mich in seiner Nähe immer etwas sorglos und glücklich zu geben, wobei ich ihm aber auch meine Sorgen anvertraute, was zum Beispiel die Band anging. Ich setzte die Atemmaske wieder über seine Nase und Mund und lehnte die Gitarre gegen den Nachttisch, auf dem sich noch ein paar Blumenvasen, die Gebetsbänder und Pralinen befanden. „Was würdest du zu einem Bisschen frischer Luft sagen?“, fragte ich und kippte das Fenster.
 

Dann hob ich eine der Blumenvasen hoch. „Kai kocht heute Abend, hat er mir versprochen, und nach dem Essen werden wir uns vermutlich noch einen Film ansehen. Es kommt eine Dokumentation über die Edo-Zeit“, erzählte ich, während ich das Wasser aus der Vase ins Waschbecken rinnen ließ, neues nachfüllte und die Blumen wieder in die Vase steckte. Meine Schritte waren leise, als ich die Blumenvase wieder auf den Tisch stellte und die Prozedur mit den anderen Blumen wiederholte. Akemis Zeichnung hatte ich auch auf den Nachttisch gelegt – zu den Bändern, welche ich schnell glatt strich. Dann setzte ich mich auf den Sessel und erzählte ein bisschen, was ich gestern Abend gemacht hatte und wie die Besprechung heute gelaufen war. Ich hatte ihn gestern immerhin schon vorgewarnt, dass das heute wohl eine wichtige Sache war. „Weißt du, niemand will, dass du ersetzt wirst. Daher werde ich deine fehlenden Parts einspielen, damit wir das Album fertig machen können. Das wird allerdings verdammt viel Arbeit werden und ich werde voraussichtlich immer etwas später kommen. Aber ich verspreche, dass ich vorbeikommen werde.“ Ich hatte seine Hand genommen und streichelte sie zärtlich, passte jedoch auf, keinen der Schläuche anzufassen.
 

„Ach ja und ich hab seit einer Woche eine neue Melodie im Kopf. Das ist dein Werk!“ Immerhin hatte er da begonnen selbstständig zu atmen. „Lieber wäre es mir allerdings, wenn du mir dabei ein bisschen helfen könntest. Noch klingt sie nicht sonderlich gut. Aber ich spiel sie dir trotzdem vor!“ Damit ließ ich seine Hand los, legte sie wieder zurück aufs Bett und griff nach der Gitarrentasche. Mit einem leisen Zurren öffnete sich der Reißverschluss und ich holte die Akustikgitarre heraus. Ich schlug ein paar Töne an und unterbrach dann. „Kennst du den Klang? Das ist deine! Ich hab sie von zu Hause mitgebracht.“ Dann begann ich ihm die Melodie vorzuspielen. Treffsicher landeten meine Finger auf den Saiten und Bünden und ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Während der Zeit im Krankenhaus hatte ich neben Aoi noch eine Sache extrem vermisst und das war das Gitarrespiel gewesen.
 

„Wie gesagt, noch klingt es etwas eigen. Aber ich feile schon ein bisschen daran herum.“ Etwas wehmütig dachte ich an die Zeit, in der er sich einfach neben mich auf die Couch gesetzt und mit mir gemeinsam Ideen erarbeitet hatte. Es schien so lange her zu sein. Eine Ewigkeit. In Gedanken versunken begann ich etwas Anderes zu spielen. Es war einer der neueren Songs. Auch hier war die rhythmische Begleitung noch nicht so wirklich das Wahre. Dafür hatte immer Aoi ein Händchen gehabt. Das ‚Große Ganze’. Ohne ihn klangen auch die Songs leerer und das war nicht nur mir aufgefallen. Mein Blick glitt über sein blasses Gesicht und seine dunkle Mähne. Er war immer noch wunderschön, nur viel zu regungslos. Die Verbände, waren bereits vor zwei Monaten abgemacht worden. Trotz der schweren Verletzungen hatte er zu meiner Erleichterung nicht eine Narbe im Gesicht zurückbehalten. Nicht, dass es mich gestört hätte, aber ihn hätte es immer an den Unfall erinnert, sobald er in den Spiegel sah. Das Licht im Zimmer veränderte sich, während ich weiterhin Melodien spielte, die mir gerade in den Sinn kamen. Immer wieder Teile aus Songs, die auch er kannte, aber auch unbekannte Passagen, bei denen wir selbst noch am Tüfteln und Feilen waren. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht einmal mitbekam, wie die Zeit verging. Als ich auf die Uhr sah, war es bereits früher Abend. Lange würde ich wohl nicht mehr bleiben dürfen. „Ach ja … ich hab dir noch etwas mitgebracht. Allerdings denke ich nicht, dass du im Moment etwas davon hast, wenn ich dir die Notenblätter von Cassis einfach hinlege. Ich versuchs zu spielen, aber sei nicht zu streng mit mir!“
 

Ich beugte mich zu der Gitarrentasche hinunter und holte die Notenblätter heraus. Ich konnte zwar meinen Teil ohne Probleme spielen. Seiner war mir aber fremd. Selbst beim Komponieren hatte immer nur er diesen Eingang gespielt – war ja immerhin auch seine Idee gewesen. Ich hatte die Noten gestern beim Aufräumen im Proberaum gefunden und eingesteckt, in der Hoffnung ich könnte sie ihm vorspielen. Ich legte meine Fingerspitzen wieder auf die Saiten und drückte sie hinunter. Leise, perlend erklangen die ersten Töne der Ballade, während ich Rukis Stimme mitsummte – so klang es familiärer für mich. Vor Aois Schlusssolo brach ich ab. Das würde ich mir noch ein Mal genauer ansehen müssen. „Naja für das Erste Mal war es ja nicht schlecht, oder?“, fragte ich ihn und streichelte über seine Wange. „Ich weiß, du würdest sagen ich muss mich mehr dahinter klemmen, was?“, fragte ich dann, lehnte mich etwas zurück, sodass ich besser spielen konnte und begann die Melodie wieder von vorne zu spielen. Dieses Mal sang ich aber wirklich mit. Immerhin kannte ich den Text zur Genüge. Nur war ich nicht so tongenau und treffsicher wie Ruki, wenn es um meine Stimme ging.
 

„Weißt du … ich hab es dir eigentlich nie gesagt, aber ich denke Cassis wird immer mehr und mehr zu meiner Lieblingsballade. Es hängen sehr schöne Erinnerungen daran.“ Meine Stimme war ein leises Murmeln, als ich wieder den Bildern der Vergangenheit verfiel, die sich bei dem Song vor mir abspielten. Aoi, wie er auf dem Sofa lag, den Arm über den Augen – lachend. Ich hatte gerade einen Witz gemacht, das wusste ich noch. Seine blitzenden Augen, als wir endlich den Eingang des Songs zusammen fixiert hatten. Beinahe konnte ich spüren, wie er seinen Kopf an meine Schulter lehnte und leise mit meinem Part mitsummte, seine Gitarre lag auf dem Boden und er sah müde aus. Aois Blick, als ich nach zweieinhalb Stunden harter Arbeit etwas zu Essen ins Wohnzimmer brachte. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass ich gegangen war um zu kochen. Er war zuerst verwirrt gewesen, doch das Lächeln, als ich ihm die Platte gab, hatte mir einfach den Atem geraubt.

Ich gelangte wieder beim Refrain an und hob meinen Kopf. Ich bemerkte gar nicht wie die Gitarre aus meinen Händen rutschte, hörte den gequälten Laut nicht, den sie ausstieß, als sie auf dem Boden aufschlug. Das Einzige, das ich sah, waren wunderschöne, dunkelbraune Augen und ein Lächeln, das mir den Boden unter den Füßen wegzog, obwohl es unter der Atemmaske nur angedeutet war.
 

Wäre ich nicht gesessen, täte ich es mit Sicherheit jetzt. Meine Beine fühlten sich an als wären sie aus Pudding. Ich kann nicht beschreiben, was in diesem Moment für Gefühle durch mich hindurchfluteten. Überraschung, Glück, Unglaube, Erleichterung, Angst, Hoffnung und Liebe. Liebe zu dem Mann, der als Einziger für mich in Frage kam, der mich aus müden Augen ansah und lächelte. Ich griff nach seiner Hand, zog sie in meine und hielt sie fest. „Oh Gott Aoi … Yuu …“ Ich beugte mich über ihn und drückte meine Lippen auf seine Stirn und atmete dann zitternd aus. „Du bist wach … du bist endlich aufgewacht!“ Ich wich zurück und wischte überrascht über meine Wangen. Sie waren nass. Sein Blick blieb weiterhin auf mich geheftet. Misstrauisch. Distanziert. Seine Lippen bewegten sich. Ich zog die Atemmaske weg und hielt ihm einen Strohhalm an die Lippen. Er trank – gierig. Jedoch zog ich nach ein paar Schlucken das Wasser weg. Sonst würde er sich übergeben müssen. Sein Magen war es nicht mehr gewohnt zu arbeiten.

Sein Blick richtete sich wieder auf mich. Vorsichtig. Abwartend.

„Aoi?“, fragte ich und er runzelte die Stirn. Er leckte sich über die Lippen. Dann kamen die heißeren Worte, die meine Welt erneut ins Wanken brachten: „Wer sind Sie?“

Kapitel 9

Kapitel 9
 

~Aoi POV~
 

Mein Atem ging keuchend, als ich die Treppe des Hochhauses hinauftaumelte. Rennen tat ich schon seit dem siebzehnten Stockwerk nicht mehr. Schweiß lief über meine Stirn und meinen Rücken. Eine große 69 im Treppenhaus zeigte mir, dass ich noch 6 Stockwerke hinter mich bringen musste, um aufs Dach zu kommen. Ich stolperte. Automatisch griff ich nach dem Geländer, doch es war schon zu spät. Mein Schreckensschrei hallte durch das Treppenhaus. Ich knallte auf die Stufen und stürzte die Treppe nach unten. Benommen blieb ich liegen. Atmen. Ich musste weiteratmen. Zischend strömte die abgestandene, heiße Luft in meine Lungen, die darum kämpften wieder genug Sauerstoff aufzunehmen. Schritte. Ruhige, gemessene Schritte. Irgendwo unter mir. Mein Puls beschleunigte sich wieder. Angst brachte meinen Körper zum Beben. Er folgte mir. Natürlich. Unter Schmerzen kam ich auf die Knie. Ich krallte mich am Geländer fest, stemmte ich mich hoch und zwang mich die nächsten Stufen zu erklimmen. Weiter. Immer weiter nach oben. Ich musste aufs Dach. Meine Beine zitterten vor Anstrengung. Ich bekam keine Luft mehr. Seine Schritte hatten sich nicht verändert. Immer noch ruhig, doch er war viel näher. Er durfte mich nicht einholen. Schwarze Punkte begannen in meinem Sichtfeld aufzutauchen. Wenn ich nun aufgab, hatte ich verloren. Ich musste weiter laufen. Das Ultimatum, das er mir gestellt hatte, war noch nicht erreicht.
 

Meine Lunge brannte, als ich einatmete. Die Treppen sahen mit einem mal so steil aus. Meine Beine gaben nach. Ich sackte auf den Boden und lehnte mich schwer atmend gegen die kühlen Eisenstangen des Geländers. Die große 74, die an der Wand angebracht war, verhöhnte mich. Wie hatte ich nur geglaubt ihm entkommen zu können? Wieso war ich darauf eingegangen? Hätte ich es akzeptiert, wäre der Kampf bereits vorbei! Verzweiflung übermannte mich. Ich war alleine in dieser verdammten Dunkelheit. Und ich wusste, dass der Tod nicht mehr weit war. Er würde mich so und so einholen. Wozu noch kämpfen? Die Gestalt eines Engels tauchte am Absatz der Treppe auf. Dunkle Augen und schwarze Haare mit blonden Akzenten. Seine Gestalt war mit einer weißen Robe verhüllt, ließ aber erahnen, dass er wunderschön war. Er sah mich nur an – traurig. Seine Lippen bewegten sich. „Kämpfe!“, forderte mich seine melodische Stimme auf. „Nicht aufgeben! Bitte gib nicht auf!“ Ich streckte meine zitternde Hand nach ihm aus. Wie konnte etwas nur so wunderschön sein? Meine Sicht wurde wieder etwas klarer. Sein Strahlen gab mir Mut. Er war das einzige Licht in dieser Dunkelheit.
 

Ich hatte noch nie aufgegeben. Ich hatte immer gekämpft. Warum sollte es jetzt anders sein? Jetzt, wo es um mein Leben ging? Die Schritte verstummten kurz und ich warf einen Blick nach unten. Mein Atem stockte. Er war viel zu nahe. Sein Gesicht war unter einer dunklen Kapuze versteckt, aber ich hatte es gesehen. Eine grausame Maske, die seine Lust zu töten nicht verbergen konnte. „Stell dich deinem Schicksal, Yuu. Gib auf! Hör auf zu kämpfen! Es ist sinnlos!“ Seine Stimme, ein dunkler Bariton, der gleichzeitig so eiskalt war, dass man glaubte in seiner Nähe erfrieren zu müssen. Ohne Emotionen, genau wie seine weißen, eisigen Augen. Ein heißeres Stöhnen entkam mir, als ich mich wieder auf die Beine kämpfte. Mein Körper fühlte sich an, wie eine einzige Prellung, als ich die Stufen erklomm. Ich zog mich am Geländer hoch. Ein Schritt nach dem anderen. Weiter! Ich durfte nicht aufhören. Die Schritte erklangen wieder unter mir - schneller dieses Mal. Meine Beine gaben nach. Er lachte. „Ich hab es dir gesagt! Du verlierst!“ Nein. Nein! Ich durfte nicht verlieren. Es gab etwas, weshalb ich kämpfen musste. Jemand, der auf mich wartete.
 

Meine Hand legte sich auf die nächste Stufe. Meine Finger klammerten sich an die Eisenstangen. Ich hatte die Kontrolle über meinen Körper verloren. Aber mein Geist kämpfte. Auf Händen und Knien kroch ich die Stufen hinauf. Meine Muskeln zitterten vor Anstrengung. Es war, als würden sich Glasscherben durch meine Haut bohren. Meine Atemzüge wurden flacher, unregelmäßiger. Die schwarzen Punkte kamen zurück. Bitte nicht! Noch ein bisschen.

„Ich muss zugeben, dass ich selten jemanden gesehen habe, der so um sein Leben kämpft. Nur vereinzelte Menschen klammern sich so daran fest.“ Seine Stimme klang nicht mehr kalt. Sie war amüsiert! Es machte ihm Spaß mir zuzusehen und er genoss es die Fäden in der Hand zu halten. Er wusste, dass er trotz meiner Gegenwehr gewinnen würde. So kurz vor dem Ziel. Nur noch ein paar Stufen. Meine Sicht kippte. Ich sank auf den Stufen zusammen und spürte, wie die Dunkelheit nach mir griff. Mein Engel erschien vor mir. Er streckte mir seine Hand entgegen. „Drück meine Hand! Komm zu mir zurück, Yuu! Ich brauche dich! Ich warte auf dich!“ Ich versuchte nach ihm zu greifen. Meine Kraft verließ mich. Ich würde ihn nicht erreichen! Doch dann spürte ich, wie seine Hand mein Handgelenk umschloss. Eine wundervolle Woge der Wärme und Zuneigung durchflutete mich, während ich den Druck erwiderte. Dann wurde ich hoch gezogen, genau in dem Moment, in dem der Tod nach mir griff. Sein Wutschrei brachte mich wieder zurück in die Gegenwart. Mein Engel war verschwunden. Ich stand am Absatz des fünfundsiebzigsten Stockwerkes und sah zu ihm hinunter. Gewonnen! Ich hatte gewonnen! Wut war in den weißen Augen zu lesen.
 

„Du hast betrogen. Dafür stirbst du!“ Seine dunkle Gestalt schoss die Treppe nach oben. Panik schnürte mir die Kehle zu. Ich wirbelte herum. Meine Finger trafen auf kühles Metall. Ich zerrte am Griff. Quietschend sprang die Tür zum Dach auf. Kühle Luft traf auf meine erhitzte Haut. Ich taumelte nach draußen. Er bekam meine Schulter zu fassen, zerrte mich herum. Ich fiel. Mein Gesicht und meine Arme schrammten über den harten Boden. Den Schmerz nahm ich nicht wahr. Nur seine vor Wut verzerrte Fratze. „Es hat Spaß gemacht mit dir zu spielen. Du wirst hervorragend in meine Sammlung passen. Und ich gebe ehrlich zu, dass ich deinen Mut bewundere.“ Selbstgefällig sah er auf mich hinunter. Meine Nägel kratzten über den Boden, als ich mich nach hinten schob. Er folgte mir, mit einem erheiterten Ausdruck auf seinem Gesicht. Mein Rücken stieß gegen die niedrige Begrenzungsmauer. Gefangen. Ich saß in der Falle. „Und nun? Was gedenkst du zu tun, Yuu?“ „Ich habe gewonnen! Du hast versprochen mich gehen zu lassen, wenn ich gewinne!“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Du hast betrogen. Auch wenn ich noch nicht genau weiß wie du das geschafft hast!“ Er hatte den Engel also nicht gesehen?
 

„Was denkst du, was du da machst?“, fragte er mich vergnügt, als ich auf die Begrenzungsmauer kletterte um mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Mein Blick ging nach unten. Die Straße sah von hier oben aus, wie ein dunkler Fluss. Die Lichter der Straßenlaternen waren kleine, weiße Punkte in der Dunkelheit. Die Höhe ließ mich schlucken. Ich drehte mich um ihn anzusehen. Erschrocken zuckte ich zurück. Wo war die Sense hergekommen?! Er lachte leise. „Bekommst du Angst?“, fragte er mich und streckte seinen Arm aus. „Bitte … nicht!“ Nur ein Flüstern. Doch er hatte es gehört. Er wollte mich betteln hören, nur um meine Verzweiflung besser auskosten zu können. Er griff nach meinem Hals. „Lass dich fallen! Ich werde dich immer auffangen!“ Die Stimme des Engels. Ich zögerte keine Sekunde. Ich vertraute ihm mein Leben an, als ich mich zurücklehnte. Die knochigen Finger schlossen sich um die Stelle, an der sich bis vor wenigen Sekunden noch meine Kehle befunden hatte. Ich sah, wie er seine Augen aufriss, hörte seinen Wutschrei, als meine Sohlen sich von der Mauer lösten und ich nach hinten kippte. Und dann kam der Boden rasend schnell auf mich zu.
 

Das Szenario wechselte plötzlich. Ich fiel nicht mehr, sondern stand barfuß, in kurzem T-Shirt und Shorts am Strand. Es war mitten in der Nacht. Der Mond stand hell und groß am Himmel und sein fahles Licht brachte die Gischt der Wellen zum Glitzern. Am Himmel wogten dunkle Wolken – ein Sturm zog auf. Die Wolken verdeckten den Mond und brachten die Dunkelheit heran. Angst befiel mich. Ich wollte nicht alleine im Dunkeln sein. Ich brauchte ein Licht. Etwas, das mich führte, auf das ich mich verlassen konnte. Die Dunkelheit war beängstigend. Es begann zu regnen. Ein Orkan kam auf und das Wasser begann zu tosen. Obwohl es mir auch Angst machte, konnte ich meinen Blick nicht davon wenden. Die Schönheit der puren Gewalt der Natur, zog meinen Blick wie hypnotisiert auf sich. Draußen auf dem Meer erschien ein Licht. Eine wunderschöne, leuchtende Gestalt inmitten von dunklen Gewitterwolken. Sie schwebte regungslos über dem, vom Sturm aufgepeitschten Meer. Der Engel strahlte eine unglaubliche Ruhe und Sicherheit aus. Selbst der Orkan, der in seine Nähe kam, wurde zur schwachen Brise und das schwarze, tobende Wasser, wurde zu einem wunderschönen Azurblau. „Danke!“, rief ich dem Engel zu. Er hob seinen Kopf und sah mich an. „Kämpfe! Komm zu mir zurück!“ Seine Lippen hatten sich nicht bewegt, aber ich hörte seine Stimme klar und deutlich in meinem Kopf.
 

Und ich hörte noch etwas. Eine sanfte, weiche Melodie drang an meine Ohren. Das Tosen des Meeres wurde leiser, fügte sich in die Melodie ein und erzeugte dunkle Vibrationen. Sie klang seltsam vertraut und dennoch wusste ich nicht, in welchen Zusammenhang ich sie schon einmal gehört hatte. Jemand begann leise zu singen. Eine wunderschöne, reine Stimme, die meinen Körper zum Summen brachte. Die Stimme meines Engels. Immer noch stand er inmitten der Wolken. Doch nun zeigte er nach oben. Die Wolken lichteten sich und das sanfte Licht der Sonne strahlte auf mich herab. Wärme umgab mich. Der Geruch von blühenden Blumen drang an meine Nase. Irgendwo zwitscherten Vögel und ein leichter Wind brachte die Blätter der Bäume zum Rauschen.
 

Meine Lider waren schwer, doch ich wollte sehen, woher diese Melodie kam. Sie durchdrang meinen Körper und brachte mich immer mehr und mehr in die Gegenwart. Gleißend helles Licht begrüßte mich, als sich meine Lider flatternd öffneten. Mein Kopf explodierte vor Schmerz. Das Licht tat weh in meinen Augen. Immer wieder musste ich sie schließen, da ich es anders nicht ertrug. Dabei wollte ich die Helligkeit nach der langen Zeit im Dunkeln willkommen heißen. Ich blinzelte, versuchte meinen Blick zu fokussieren, doch immer wieder irrte er wirr durch den Raum. Ich konnte keine Einzelheiten erkennen, nur schwache Umrisse. Die Melodie perlte weiter vor sich her. Nicht aufhören. Bitte.

Nach und nach konnte ich immer mehr Konturen erkennen. Der Raum, in dem ich lag, kam mir in keiner Weise bekannt vor. Weiße Wände, seltsame Geräte und ein sehr komischer Geruch – er gefiel mir nicht. Mein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt, was einen klaren Gedanken unmöglich machte. Was war passiert? Wo war ich? Warum war ich hier? Fürs Erste interessierte mich diese wunderschöne Melodie mehr. Langsam gelang es mir meinen Kopf etwas in die Richtung zu drehen aus der sie kam.
 

Bei dem sich bietenden Anblick stockte mir der Atem. Ein junger Mann saß neben meinem Bett auf einem Sessel. Schwarze Haare mit blonden Akzenten, ein konzentrierter, aber dennoch sehr weicher Blick und Lippen, die zum Küssen einluden. Die orangegoldenen Strahlen der Sonne, die gerade am Horizont verschwand um der Nacht zu weichen, umspielten seine Gestalt, sodass es aussah, als würde er strahlen. Mein Herz machte einen Satz und begann schneller zu pochen. So … wunderschön. Wie der Engel aus meinem Traum. In meinem Magen begann ein sonderbares Ziehen. Sehnsucht? Seine langen, eleganten Finger streichelten über die Saiten der Akustikgitarre, die er in den Händen hielt und entlockten ihr diese wunderschöne Melodie. Etwas ungeduldig pustete er sich in einer Gesangspause eine vorwitzige Strähne aus der Stirn und schüttelte den Kopf, während er eine Phrase noch einmal wiederholte. Dann begannen seine Lippen sich wieder zu bewegen. Dieses Mal sang er nicht. Doch seine Stimme war genauso schön anzuhören, als er zu sprechen begann: „Weißt du … ich hab es dir eigentlich nie gesagt, aber ich denke Cassis wird immer mehr und mehr zu meiner Lieblingsballade. Es hängen sehr schöne Erinnerungen daran.“ Irgendwo in meinem Kopf ging ein Lämpchen an. Cassis. Aber obwohl ich versuchte eine Verbindung herzustellen konnte ich sie nicht greifen. Ich wusste, dass sie da war, aber ich konnte den Deckel der Box nicht öffnen, in der sie verborgen war.
 

Er spielte weiter und ich verfiel seinem Anblick. Plötzlich hob er seinen Blick und ich versank in wundervollen braunen Augen, die mir eine Wärme entgegenbrachten, von der ich gar nicht wusste, dass sie existierte. Nur nebenbei bemerkte ich, wie die Gitarre aus seinen Fingern rutschte und auf dem Boden aufkam. Doch weder er, noch ich reagierten darauf. Emotionen brandeten in ihm auf und spiegelten sich, für die ganze Welt sichtbar, in seiner Miene wieder. Er rutschte nach vorne und zärtliche Hände legten sich auf meinen Arm. Sie strahlten Wärme ab, ließen mich erschaudern. Seine Augen glänzten. Einzelne Tränen lösten sich und kullerten, strahlend wie Diamanten über seine Wangen. Etwas überrascht zuckte ich zusammen, als er sich über mich beugte und seine Lippen auf meine Stirn presste. Was sollte das!? Ich beobachtete ihn weiterhin als er sich die Tränen von den Wangen wischte. Er schien überrascht zu sein. Hatte er denn nicht bemerkt, dass er weinte? Immer mehr Fragen drängten an die Oberfläche. Ich verstand nicht, was ich hier machte. Wer war er? Warum war er hier? Wo war hier? Meine Lippen bewegten sich, doch meine Kehle war so trocken, dass ich keinen Ton herausbekam. Er zog das Ding weg, das sich über meinem Mund und meiner Nase befunden hatte. Es dauerte etwas, bis mein benebeltes Hirn das Ding erkannte: Eine Atemmaske. Er hielt mir ein Wasserglas mit einem Strohhalm an die Lippen. Wasser! Kaum benetzte es meine Lippen begann ich gierig zu trinken. Der Durst überwältigte mich und mir wurde schwindelig. Doch er zog das Glas wieder weg, ließ mich nicht fertig trinken. Er sah mich abwartend an. „Aoi?“ Ich runzelte die Stirn. Sprach er mit mir!? Noch ein Mal musterte ich ihn. Ich leckte mir über die Lippen und stellte schließlich die Frage, die mir auf der Zunge lag: „Wer sind Sie?“
 

Seine Gesichtszüge entgleisten. Sein Blick wurde mit einem Mal düster und Schmerz spiegelte sich in den dunklen Augen wider, als er mich sprachlos anstarrte. Das Wasserglas hatte er Gott sei Dank schon abgestellt, sonst hätte es mit Sicherheit den Weg auf den Boden gefunden. Ungläubig schüttelte er den Kopf, ließ mich jedoch nicht aus den Augen. Er atmete zitternd aus, während sein Blick hilflos über mich und dann quer durch den Raum glitt. Ich folgte seinem Blick. Doch ich verstand nicht, nach was er Ausschau hielt. Er schluckte hart, schien sich dann aber wieder zu besinnen und versuchte ein ziemlich missglücktes Lächeln. „Ich hole deinen Arzt.“ Das war das Einzige, was er sagte. Dabei wollte ich doch nur seinen Namen wissen. Ich musste ihn wissen! Etwas verwirrt sah ich ihm hinterher, als er zur Tür lief, sie öffnete und nach draußen verschwand. Beinahe als wäre er auf der Flucht. Ein leises Seufzen kam über meine Lippen. Was hatte er denn nur? Mein Blick fiel auf die, am Boden liegende Gitarre. Ich hatte das dumme Gefühl, dass irgendetwas gerade mächtig schief gelaufen war.

Kapitel 10

~Uruha POV~
 

„Wer sind Sie?“ Von allen Fragen, die er hätte stellen können, war das diejenige, die mich am meisten verletzte und mich bis in die Grundfesten erschütterte. Ich hatte mir sein Aufwachen so oft vorgestellt, hatte davon geträumt wie es sein würde, wenn er endlich wieder aus dem Koma erwachte. Aber kein einziges Mal hatte ich daran gedacht, dass er mich nicht mehr kennen würde. Die Abweisung in seinen Augen zu sehen, während ich ihm doch eigentlich nur nahe sein, ihn lieben wollte, tat schrecklich weh. Er hatte mich vergessen, hatte auch unsere Liebe vergessen. Nach den letzten Monaten war das zu viel für mich. Ich hatte die Tür geschlossen und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand, unfähig auch nur einen Schritt weiter zu gehen und seinen Arzt zu holen, so wie ich es ihm gesagt hatte. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich zuckte erschrocken zusammen und sah auf. Doktor Ishida stand vor mir und runzelte die Stirn. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Ich nickte wie mechanisch. „Ich wollte … Sie holen gehen. Yuu ist aufgewacht“, sprudelte es aus mir heraus. Er nickte bedächtig und musterte mich weiterhin. Eigentlich hatte ich ja erwartet, dass er sofort in den Raum stürmte. Aber er blieb hier. Wenigstens fragte er nicht, warum ich so dämlich hier im Gang herumstand, wenn ich ihn holen wollte. „Das ist doch schön!“
 

Ich hob den Kopf. „Er erkennt mich nicht mehr!“ Ich erschrak selbst über die Entrüstung in meiner Stimme, doch er lächelte nur nachsichtig. „Das kann vorkommen, wenn Patienten aus dem künstlichen Koma erwachen. Recht oft haben Menschen, die längere Zeit im künstlichen Koma verbracht haben, nach dem Aufwachen ein paar Probleme: Ihr Kreislauf kann verrückt spielen, sie können Schlafstörungen und Alpträume haben, stark schwitzen, verwirrt oder sogar aggressiv sein. Es gibt auch welche, die Halluzinationen und Wahnvorstellungen haben, oder welche, die, wie in Shiroyama-sans Fall, andere Personen nicht erkennen. Das wird unter Medizinern als Durchgangssyndrom bezeichnet. Dieser Zustand hält in der Regel aber nicht so lange an. Aber da Shiroyama-san gerade erst aufgewacht ist, ist es kaum verwunderlich, wenn er im Moment keinen klaren Gedanken fassen kann. Geben Sie ihm Zeit.“ Ich war wieder ruhiger geworden, während der Arzt mir erklärt hatte, was mit ihm los war. Ich schien einfach Erklärungen zu brauchen. Wenn ich verstand was los war, dann war es in Ordnung. Aber so einfach ins kalte Wasser geschmissen zu werden, hatte bei mir meistens einen Herzstillstand zur Folge, anstatt schwimmen zu lernen. Erklärte man mir aber, wie das Schwimmen funktionierte und dass ich dazu ins kalte Wasser musste, verlief es ohne Probleme.
 

„Wollen wir rein gehen?“ Er drückte die Klinke hinunter und trat in den Raum. Ich folgte ihm und schloss die Tür hinter mir. „Sind Sie sicher, dass er wach war?“, fragte der Arzt. Aoi hatte die Augen wieder geschlossen und lag regungslos im Bett. Ein Traum? Hatte ich geträumt? Oder halluziniert!? Dr. Ishida nahm eines der Klemmbretter, auf denen die Notizzettel mit Aois Werten geklemmt waren und checkte ihn durch. „Haben Sie die Atemmaske entfernt?“, fragte er mich dann, während er diese in die Hand nahm und nachdenklich drauf sah. „Ich hab ihm ein bisschen was zu trinken gegeben. Nur ein paar Schlucke.“ Dr. Ishidas Augenbrauen gingen nach oben. Er legte die Atemmaske wieder über Aois Mund und Nase und nahm das Band um es über seinen Kopf zu ziehen und sie so zu fixieren. Aoi murrte leise und drehte den Kopf weg. Dr. Ishidas ernster Gesichtsausdruck wich einem Lächeln, als er die Atemmaske wieder fixierte.
 

Er legte Aoi eine Hand an die Schulter und übte leichten Druck aus. Aois Augenlider zuckten. „Shiroyama-san!“ Eindringlich. Doch Aoi reagierte nicht. „Yuu?“ Flatternd öffneten sich seine Augen. Orientierungslos irrte sein Blick durch den Raum. Er schien ihn nicht fokussieren zu können und hatte sichtlich Schwierigkeiten wach zu bleiben. „Können Sie ihre linke Hand zur Faust ballen?“ Ich glaubte eher weniger daran, dass Aoi in diesem Zustand verstand, was er machen sollte. Doch seine Finger ballten sich langsam zu einer Faust – zwar nicht fest, aber merklich. Der Arzt schnipste neben seinem Ohr. Aoi zuckte leicht zusammen, presste die Lider wieder aufeinander und drehte seinen Kopf weg. Kurz darauf atmete er wieder ruhig. Er war wieder eingeschlafen. Ich sah von ihm auf und bemerkte erst jetzt, dass sich sein Arzt bereits wieder Notizen machte. „Geht es ihm gut?“, fragte ich dann besorgt. Doktor Ishida sah auf und hängte das Klemmbrett wieder an seinen Platz. „Bisher kann ich nicht viel sagen. Fürs Erste sieht es ganz gut aus. Seine Werte sind alle stabil und diese Desorientierung ist normal. Er ist müde und braucht Ruhe und Schlaf. Man glaubt es kaum, aber das Wachwerden ist in diesem Zustand schon ein einziger Kraftakt.“ Ich biss auf meine Unterlippe und sah wieder auf Aois schlafendes Gesicht. „Er wird nicht wieder ins Koma fallen, oder?“ Das war meine größte Angst. „Es ist eher so, dass er im Moment sehr viel Kraft braucht, die er nicht hat. Daher wird er fürs Erste viel schlafen, auch wenn er gerade aus einem tiefen Schlaf aufgewacht ist. Er reagiert auf Berührungen und Geräusche, was sehr gut ist. Außerdem hat er verstanden, um was ich ihn gebeten habe und er hat es auch versucht durchzuführen. Soweit ist das ein sehr gutes Zeichen. Alle anderen Untersuchungen werde ich ansetzen, sobald er wieder wach wird. Dann können wir feststellen ob irgendwelche Folgeschäden entstanden sind und wie es ihm geht. Allerdings wird das wohl erst morgen der Fall sein.“

Er sah auf die Uhr. Die Besuchszeit war vorüber und ich wusste, dass ich gehen musste. Aoi war hier gut aufgehoben, so wie auch in den letzten Monaten. Ich bedankte mich noch einmal bei seinem Arzt, packte meine Sachen zusammen und beugte mich über ihn, um ihm noch einen Kuss auf die Stirn zu geben. „Schlaf gut, Schatz. Ich komm morgen wieder vorbei.“
 

Auf dem Rückweg vom Krankenhaus (ich nahm das Taxi), informierte ich Aois Eltern über seinen Zustand. Die Erleichterung und Freude war ihnen selbst über das Telefon anzuhören, was mich zum Lächeln brachte. Sie versicherten mir, dass sie demnächst wieder nach Tokyo kommen würden um nach ihm zu sehen.

Kai öffnete die Tür nachdem ich geklingelt hatte und ließ mich hinein. Er hob seine Augenbrauen und lehnte sich an die Wand, als ich meine Schuhe von den Füßen kickte. „Ok … spucks aus!“, kam es von unserem Leader. Ich hängte meine Jacke auf den dafür vorgesehenen Kleiderbügel und drehte mich zu ihm um. „Er ist aufgewacht!“ Ein einfacher Satz, doch er schlug bei Kai ein, wie eine Bombe. „Wann? Jetzt gerade?“, fragte er und hatte schon das Handy in der Hand um eine SMS zu tippen. Er sagte nicht explizit an wen diese verschickt werden sollte, aber ich ahnte, dass Reita und Ruki die Empfänger waren. „Ja, als ich bei ihm war“, sagte ich und lehnte die Gitarrentasche an die Kommode. „Wie geht es ihm?“ Ich folgte Kai in die Küche – immerhin war er gerade beim Kochen – und setzte mich an den Tisch. Meine Stimmung war umgeschlagen. Kai bemerkte es sofort. „Was ist …“ Das Telefon klingelte. Der Drummer verzog das Gesicht, ging aber gleich dran. „Hallo Ruki … hmm … ja ist gerade vom Krankenhaus gekommen … ja, ich denke schon …“
 

Weiter bekam ich das Gespräch nicht mit, denn nun klingelte mein Handy. Reita. „Ich wette Ruki hängt bei Kai in der Leitung, was?“, kam es von unserem Bassisten. Also hatte er wohl erst nach Ruki versucht anzurufen und war in der Warteschleife gelandet. Ich gab nur einen zustimmenden Laut von mir und musste grinsen, als Kai sich mit einem Zischen umdrehte und mit kritischem Blick die Pfanne mit den Gyozas musterte. „Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! Wie geht es ihm? Was hat er gesagt?“, fragte Reita. Kai deutete auf das Essen und dann auf das Handy, während er laut ins Telefon sagte: „Ich weiß es doch auch noch nicht. Du musst Uruha fragen … warte, ich denke es ist besser, wenn wir ein Gruppentelefonat machen. Ruf bei Uruha durch, da hängt Reita gerade an der Strippe.“ Damit schmiss er Ruki aus der Leitung, legte das Telefon auf den Tisch und zog die Pfanne vom Herd. „Phu…“, machte er nur leise. „Uruha? Bist du noch dran?“ Ich löste mich aus der Starre und bejahte. „Warte kurz … Ruki will mithören“, erklärte ich dann, schaltete auf Lautsprecher und nahm Rukis Anruf an, als das Telefon klingelte.
 

„Ok schieß los!“, forderte Reita mich auf, als Ruki mir einen schönen Abend gewünscht hatte. Ich räusperte mich. „Naja viel kann ich nicht sagen. Ich war heute Nachmittag bei ihm, hab ihm etwas vorgespielt und mit ihm geredet, wie üblich“, sagte ich dann und zuckte mit den Schultern. „Mir ist beinahe das Herz stehen geblieben, als ich merkte, dass er wach war.“ Ruki schnaubte leise. „Na mir wäre es auch nicht anders gegangen.“ Von Reita und Kai kam nichts, wobei unser Drummer gerade zwei Schalen auf die Theke stellte und sich dann zu mir umdrehte. „Ich hab seinen Arzt geholt. Immerhin meinten die ja, dass wir sofort jemanden verständigen müssen. Und als wir wieder ins Zimmer kamen, hat er geschlafen.“ Reita seufzte enttäuscht auf. „Was sagt der Doc?“, fragte er dann. „Seine Werte sind gut, er reagiert auf Geräusche und Berührung, was wohl auch gut ist und braucht Ruhe und Schlaf“, wiederholte ich Dr. Ishidas Worte. Kai musterte mich immer noch ernst, fragte aber nicht. Dennoch sah ich ihm an, dass er sich zurückhielt. „Denkst du, wir können ihm morgen einen Besuch abstatten?“ „Ich weiß nicht, Ruki. Es wäre vielleicht besser, wenn wir das ein paar Tage verschieben. Der Arzt meint, dass er jetzt viel Ruhe braucht und nicht viele Leute um sich herum haben sollte. Außerdem wollten sie morgen noch Untersuchungen durchführen, soweit ich verstanden habe.“ Der Vocal schnalzte nur mit der Zunge. „War das schon alles?“, fragte Reita dann und im Hintergrund konnte man das Klingeln der Türglocke hören. „Ah ja … unsere Pizza!“ „Ich geh schon Akira!!“, hörte ich die Stimme seiner Schwester durch den Hörer. „Naja, ich weiß dazu leider auch nicht mehr. Sobald er wach ist werden morgen die Untersuchungen gemacht und erst dann kann man Genaueres sagen.“ „Halte uns einfach auf dem Laufenden und sag ihm schöne Grüße von mir!“, sagte Ruki. Reita schloss sich ihm an und kurz darauf legte ich auf. Mehr gab es ja nicht zu erzählen, immerhin hatten wir uns heute Vormittag alle gesehen.
 

Kai stellte mir eine Suppenschale unter die Nase und setzte sich an den Tisch. Ich bedankte mich und begann schweigend zu essen. Der Drummer überließ mich fürs Erste meinen Gedanken, doch als er schließlich die Gyozas auf den Tisch stellte rutschte er etwas vor und sah mich an. Ich verstand die Aufforderung als solche. „Er hat mich nicht mehr erkannt!“ Immer noch verletzte mich diese Tatsache am Meisten. „Der Arzt meinte, dass das normal wäre. Es würde irgendwann weg gehen. Irgendein … Syndrom …“ Kais Blick lag nach wie vor auf mir. „Aber was ist, wenn er mich wirklich vergessen hat? Wenn er sich an gar nichts mehr erinnert, was mit uns zu tun hat?! Was ist, wenn es nicht besser wird!?“ Meine Schultern zitterten, was ich erst merkte, als Kai mich sanft berührte. „Beruhig dich Uruha! Ich weiß, dass es nicht einfach ist. Wir haben uns das auch anders vorgestellt. Aber im Moment müssen wir das so hinnehmen, verstehst du? Wenn der Arzt sagt, dass es nur vorübergehend ist, dann ist das auch so. Er kennt sich immerhin damit aus. Außerdem war das noch keine richtige Untersuchung und besonders besorgt hat er ja nicht geklungen, oder?“ Ich atmete ein, schüttelte den Kopf und fuhr mit gespreizten Fingern durch meine Haare. Ich war so müde. Ausgelaugt nach all den Wochen des Wartens und Bangens. Allerdings wusste ich nur zu genau, dass sich das alles auch ändern konnte. Man hatte noch keine genaueren Untersuchungen gemacht und ich hatte Angst vor deren Ergebnis.
 

„Lass das einfach ruhig auf dich zukommen und mach dich um Himmels Willen nicht verrückt. Diese Was-wäre-wenn-Fragen solltest du dir gar nicht stellen. Zum Schluss kommt es gar nicht so weit und du hast dir umsonst den Kopf zerbrochen. Gib dir und ihm Zeit, sei für ihn da und hilf ihm durch die Zeit, die jetzt auf ihn zukommt.“ Ich nickte leicht. Ja er hatte Recht. Ich sollte aufhören im Selbstmitleid zu versinken und mich zusammenreißen. Es ging weniger um mich, sondern viel mehr um Aoi. Er musste gesund werden. Alles andere würde noch warten können, auch wenn mein Herz sich bei dem Gedanken verkrampfte. „Sieh mal. Es ist ein großer Fortschritt, dass er wach ist.“ Ich nickte wieder. „Ja, ich weiß. Ich freu mich auch darüber. Es ist nur …“ „… du hast es dir anders vorgestellt, ja. Aber so ist es nun mal nicht gekommen und jetzt ist es wichtig weiterzumachen, ok?“ Ich nickte wieder und nahm die Stäbchen. „Danke!“ Kai zuckte mit den Schultern und grinste spitzbübisch. „Wofür?“

Kapitel 11

~Aoi POV~
 

Als ich am Morgen wach wurde, kam ein Mann ins Zimmer. Oder war er schon immer hier gewesen? Ich hatte Probleme ihn genau zu sehen, erinnerte mich nur an den weißen, langen Kittel und schwarze Haare. Er lächelte, als er die Tür schloss und sich dann einen Stuhl heranzog und sich verkehrt darauf setzte, sodass er seine Arme auf der Rückenlehne ablegen konnte. Er musterte mich zuerst und als ich seinen Blick erwiderte nickte er zufrieden. Ich wusste zwar nicht genau warum, aber er hatte sicher seine Gründe.
 

„Guten Morgen. Mein Name ist Dr. Ishida und ich bin Ihr behandelnder Arzt. Sie sind…?“ Ich sah ihn überrascht an, besann mich aber wieder und antwortete. „Ihnen auch einen guten Morgen. Ich heiße …“ Hier stockte ich und überlegte. Ich hieß … Mein Name war … Verwirrt runzelte ich die Stirn. Verdammt warum fühlte sich mein Kopf so voll und gleichzeitig so leer an? Ich bin … „Yuu … Ich heiße Yuu Shiroyama“, beendete ich den Satz schließlich. Er nickte leicht und machte sich Notizen. „Wie alt sind Sie?“ „Ich …“ Wieder wusste ich nicht weiter. Ich zermarterte mir das Hirn, um an eine Information zu kommen, doch sie schien nicht auftauchen zu wollen. Der Mann nickte nur leicht. „Es ist ok. Machen Sie langsam. Wir gehen in Ihrem Tempo vor.“ Das entspannte ich mich etwas. Er fragte mich viele Dinge, wie zum Beispiel wo ich wohnte, ob ich die Namen meiner Eltern kannte, wie meine Freunde hießen, was ich gerne machte, was ich gerne aß oder was mein Beruf war. Ich bemühte mich sie alle zu beantworten. Doch jedes Mal wenn ich versuchte meine Erinnerungen zu mobilisieren, kamen heftige Kopfschmerzen, welche schließlich dauerhaft einzusetzen drohten. Außerdem war es entmutigend. Bei jeder Frage konnte ich zum Schluss nur ‚Ich weiß es nicht.’ antworten. Es beruhigte mich jedoch, dass er darüber nicht wütend wurde oder enttäuscht aussah.
 

Dann änderte er die Art der Fragen. Sie waren viel allgemeiner: Was die Hauptstadt von Japan war oder irgendwelche Rechenaufgaben. Allerdings war ich auch hier zu KO um wirklich ernsthaft darüber nachzudenken. Der einzige Unterschied zu den Fragen davor war, dass ab und zu Wörter, Bilder oder Zahlen in meinem Kopf auftauchten. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich sie bewusst herholte, aber Dr. Ishida bestätigte mir die Richtigkeit meiner Antworten. Doch als die Fragen wieder persönlicher wurden setzten heftige Kopfschmerzen ein. Ich versuchte sie dennoch zu beantworten. Leise stöhnte ich auf und presste meine Handflächen auf die Schläfen, während ich versuchte die letzte Frage zu beantworten. „Stopp! Ist schon in Ordnung!“ Unschlüssig sah ich den Arzt an, bereit mehr Kopfschmerzen in Kauf zu nehmen um die Frage beantworten zu können. Ich hatte das Gefühl, dass sie wichtig war. „Versuchen Sie nicht sich mit Gewalt zu erinnern. Für heute machen wir Schluss.“
 

Jemand löste die Bremsen des Bettes und ich wurde zu den Untersuchungsräumen gebracht. Die Untersuchungen dauerten ewig. Irgendwelche Bilder mussten gemacht werden. Ich glaube der zuständige Arzt nannte es Röntgenbilder. Er hatte mir erklärt, dass er mit diesem Gerät direkt meine Knochen sehen konnte. Ich musste mich nur auf eine kalte Platte legen (er hat mir dabei geholfen) und dann war ab und zu ein Piepsen und ein Klicken zu hören. Anschließend wurde in einem angenehm abgedunkelten Raum ein EEG gemacht. Im Zuge dieser Untersuchung registriert man an der Schädeloberfläche Spannungsschwankungen. Diese elektrischen Signale werden durch die Aktivität der Nervenzellen in der äußersten Schicht des Gehirns - der sogenannten Hirnrinde - verursacht. Die Ärztin drückte viele kleine Dinger auf meinen Kopf - Elektroden. Zuerst durfte ich die Augen geschlossen halten, dann musste ich sie öffnen, sollte meine Finger bewegen, oder meine Hand zur Faust ballen. Ich kämpfte um die Kontrolle über meinen Körper, doch im Grunde genommen ging das sogar recht gut, auch wenn ich mich sehr steif fühlte und es mich anstrengte. Am Ende des Untersuchungsmarathons wurde ich in einen Raum gebracht. Darin befand sich nur ein längliches, rundes Ding – fast so wie ein Tunnel, nur kleiner. Der Arzt nannte es Röhre oder MRT. So ganz sicher war ich mir nicht. Er hob mich einfach auf eine Liege. Mein Kopf wurde auf ein Kissen gebettet und mir wurden Kopfhörer aufgesetzt. Dann wurde die Liege langsam in dieses Röhrending geschoben. Ich schloss die Augen als die Musik einsetzte. Sie war laut. Doch als das Klopfen der Maschine einsetzte, war es beinahe angenehm. Es dauerte recht lange, bis ich wieder raus durfte, wobei ich fast eingeschlafen war.
 

Ich war froh, als ich nach den ganzen Untersuchungen wieder in mein Zimmer gebracht wurde. Sie hatten mich erschöpft und ich wollte ein bisschen Ruhe haben. Doch da hatte ich mich wohl zu früh gefreut. Der Arzt war wieder hier und setzte sich. „Wie geht es Ihnen?“ Ich reagierte zuerst nicht, konnte es nicht. Er runzelte die Stirn. „Bin müde“, nuschelte ich schließlich, was ihn aber anscheinend zufrieden stellte. „Sie sollten versuchen etwas zu Essen und dann schlafen.“ Gerne hätte ich protestiert. Ich hatte keinen Hunger! Ein Pfleger brachte mir eine Suppe. Er hatte mir gezeigt, dass sich das Bett elektrisch verstellen ließ – mit der Fernbedienung. Er hielt es wieder an, als ich in der entsprechenden Position war und zeigte mir welche Knöpfe ich drücken musste, damit ich wieder liegen konnte. Lustige Spielerei! Ich tat mich schwer damit den Löffel zu halten. Meine Finger und Arme zitterten vor Anstrengung und mein Magen fuhr einen Looping nach dem anderen. Außerdem war es ekelig. Ich mochte das Essen nicht. Daher ließ ich es auch nach ein paar Löffeln und schloss die Augen. Gott war ich müde!
 

Ich wurde von einem leisen Klicken geweckt. „…haben heute die Untersuchungen durchgeführt. Die Ergebnisse muss ich mir aber erst noch ansehen. Sie wissen ja, dass ich das immer abends mache“, sagte eine Stimme. Die Tür wurde aufgehalten und Dr. Ishida trat ein. Mein Blick wurde neugierig, als hinter ihm der junge Gitarrist von gestern eintrat und die Tür schloss. Doch während Dr. Ishida zu mir kam und den Infusionsbeutel austauschte, ging der Mann quer durchs Zimmer und stellte sich an die Fensterfront. Sein Blick ging starr nach draußen. Ich blinzelte träge. „Ah gut. Sie sind wach!“, hörte ich die Stimme des Arztes. „Wie geht es Ihnen?“ Mein Kopf schien wieder auf Urlaub zu sein, denn ich verstand nicht, was er von mir wollte. Ich musste wohl verwirrt aussehen, denn der Arzt rückte seine Brille zurecht und runzelte die Stirn. „Shiroyama-san? Mein Blick wanderte von dem Mann am Fenster zurück zu ihm. „Hmm?“, kam es etwas verspätet von mir. „Sind Sie müde?“ Wieder verstand ich nicht so recht, was das heißen sollte. Ich schloss meine Augen und seufzte leise. Ich hörte den Arzt mit dem Mann reden, verstand aber nicht mehr um was es ging.
 

Wieder öffnete ich träge meine Augen und starrte zur Fensterfront hinüber um den Mann ansehen zu können. Sein Blick war immer noch nach draußen gerichtet, doch seine Haltung war angespannt. „Darf ich … bitte, wie heißen Sie?“, fragte ich dann in die Stille. Er reagierte zuerst nicht und ich glaubte schon keine Antwort mehr zu bekommen, da drehte er sich um. Ein Blickaustausch mit Dr. Ishida, dann kam er zu mir hinüber und setzte sich wieder auf einen Sessel. Seine Hand griff

nach meiner und hielt sie fest. Der Kontakt war mir unangenehm. Warum wollte der mich dauernd anfassen? Ich entzog ihm meine Hand wieder und musterte ihn. Der verletzte Gesichtsausdruck entging mir nicht, aber ich konnte ihn nicht verstehen. „Ich heiße Kouyou, Kouyou Takashima. Die Meisten nennen mich aber Uruha.“ Er sah mich abwartend an, doch obwohl ich das Gefühl hatte, dass ich ihn kennen müsste, dass der Name mir etwas sagen müsste und mein Herz anfing wie irre zu klopfen, war da nur Leere. Nur ein Name, aber keine Erinnerung an irgendetwas, das mit ihm zu tun hatte. Ich schüttelte leicht den Kopf. Vermutlich sah ich sehr zerknirscht dabei aus.
 

„Es tut mir Leid. Ich … ich kenne Sie nicht.“ Er schien betroffen zu sein. Nur so konnte ich den Ausdruck auf seinem Gesicht deuten. Sein Blick ging wieder zum Arzt, welcher nickte und ihm bedeutete fortzufahren, während er die Tür hinter sich schloss. Nun waren wir alleine im Raum. „Wir kennen uns schon sehr lange. Wir spielen zusammen in einer Band, Aoi.“ Ich runzelte die Stirn. „Warum nennst du mich dauernd so?“, fragte ich, während ich versuchte einen Hinweis auf den Namen Aoi zu bekommen, doch auch damit konnte ich nichts anfangen, was mich langsam aber sicher zum Verzweifeln brachte. „Das ist dein Künstlername. Du magst es nicht mit Yuu angesprochen zu werden, zumindest nicht bei Leuten, die dich nicht sehr gut kennen. Aoi ist dir lieber.“ Ahh … ja. Was sollte man darauf noch antworten? „Also … arbeite ich mit dir zusammen.“ Oder ich hatte mit ihm zusammen gearbeitet? Er atmete tief ein, nickte und schüttelte dann den Kopf. „Ja. Nein. Nicht nur…“ Ich sah ihn nur weiter an, was er wohl als Aufforderung auffasste um weiterzusprechen. „Wir sind ein Paar, Yuu. Du und ich, wir sind seit drei … nein mittlerweile vier Jahren zusammen.“ Ein Paar? Mein Freund? Vier Jahre!? Und wieder hatte ich das Gefühl hilflos zu sein. Es waren Worte, Erklärungen, aber ich konnte nicht sagen, ob sie stimmten. Ich musste mich ganz darauf verlassen, dass er mir die Wahrheit erzählte. Allerdings kam mir die Art, wie er mich ansah und wie er mit mir sprach, vertraut vor. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mich anlog. Dennoch fühlte ich mich so unsicher. Ich war hier, hier in diesem Bett und sonst, war da nichts. In diesem Zustand, konnte er mir viel erzählen und ich würde es glauben müssen, ohne wirklich nachprüfen zu können, ob es stimmte. Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. Falsche Bewegung! Sehr falsch.
 

„Alles in Ordnung?“ Er sah mich an. War das Besorgnis in seinen Augen? Ich konnte die Gefühle nicht lesen. Plötzlich durchzuckte mich heiße Wut. Was glaubte der denn eigentlich!? „In Ordnung!? Nein nichts ist in Ordnung! Ich wache hier auf und ich weiß nicht was passiert ist! Ich weiß nicht, wer ich bin, wer du bist! Und du versuchst mir zu erklären, wer ich zu sein habe, verdammt noch mal!“ Nun war er bestürzt. Er schüttelte den Kopf. Seine vollen Lippen presste er zu einem schmalen Strich zusammen. Abwehrend hob er seine Hände. „Aber … Yuu. Ich…“

Ich verstand mich selbst nicht. Was war denn in mich gefahren? Warum fuhr ich ihn so an? Warum tickte ich so aus? Er hatte mir doch absolut keinen Grund gegeben. Er hatte mir doch nur die Fragen beantwortet, die ich hatte. Wo war diese Wut hergekommen. Warum so plötzlich? „Es tut mir leid“, unterbrach ich ihn kleinlaut. Er griff wieder nach meiner Hand, drückte sie zärtlich und streichelte über meinen Handrücken. „Schon gut. Wir werden das schon hinbekommen. Ich werde dir helfen, so gut ich kann.“ Obwohl ich mich unwohl fühlte, dass ein Fremder mich einfach so antatschte, zog ich meine Hand nicht weg. Dieses Mal nicht.

Kapitel 12

~Uruha POV~
 

Im Laufe der nächsten Wochen kamen immer wieder Leute vorbei um Aoi zu besuchen – seine Eltern, Ruki, Reita und Kai, unser Manager, Freunde und Bekannte. Allerdings wusste ich, dass er sich nicht wohl fühlte. Oftmals war ein gequälter Ausdruck auf seinem Gesicht zu lesen. Er konnte sich an niemanden erinnern, wusste nicht, wie er mit den Anwesenden umgehen sollte und fühlte sich fehl am Platz. Er flippte öfters ohne Grund aus, was der Arzt allerdings auch als normal betitelt hatte. Aoi hatte im Moment keine Macht über seine Gefühle. Sie brachen einfach aus ihm heraus ohne, dass er es irgendwie steuern konnte. Es machte ihn verrückt nicht zu wissen, wer er war oder von was Leute teilweise sprachen. Aoi versuchte sich krampfhaft an irgendetwas zu erinnern, was häufig für heftige Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit sorgte. Ich merkte auch immer mehr, wie schlecht es ihm in dieser Situation ging. Oft wirkte er teilnahmslos und kalt, wenn er mit den Leuten sprach, doch ich verstand, dass es aus dem Grund heraus entstand, dass er nicht wusste, wie er mit ihnen umgehen sollte. Während wir den Aoi vermissten, der er einmal war, versuchte er sich selbst kennen zu lernen, stellte viele Fragen, versuchte Dinge wieder zu erkennen und probierte einige Sachen auch selbst aus (Kai hatte ihm ein Bento mitgebracht und er hatte es geliebt – nun wenigstens veränderten sich einige Sachen nicht). Es störte ihn aber, dass die Leute ihm immer versuchten zu sagen, wer er gewesen war, wie er auf bestimmte Dinge reagiert hatte, was er gut fand und was schlecht und auch noch erwarteten, dass er das so machte!
 

Das Schlimmste für mich war allerdings, dass er mich nicht mehr an sich heranließ. Ich konnte ihn sehen, konnte ihn hören und durfte ihn dennoch nicht berühren und ihm nahe sein. Er verspannte sich jedes Mal, wenn ich ihm näher kam. Ich hatte ein Mal gewagt ihn zu küssen. Die Reaktion darauf war sehr ernüchternd gewesen: Er hatte mich an den Schultern festgehalten und mich wütend angefunkelt. „Was soll das!?“, hatte er gefaucht und meine Hoffnung zunichte gemacht, dass es so weitergehen könnte, wie es gewesen war. Seitdem hatte ich es nicht mehr versucht. Die Distanz, die sich zwischen uns aufgetan hatte, tat mir furchtbar weh. Ich war überfordert, hätte ihm so gerne geholfen, wollte ihn wieder haben, meinen Partner, meinen Liebsten. Doch ich wusste auch, dass er sich immer weiter distanzieren würde, je mehr ich ihn dazu drängte in diese Richtung zu gehen. Ich hatte ihm Fotos gezeigt und Geschichten dazu erzählt. Bilder auf denen wir uns küssten, kuschelten, lachten. Er hatte sie in die Hände genommen, sanft darüber gestreichelt. Sein Blick war traurig und verzweifelt gewesen. Das war sein Leben vor dem Unfall und obwohl er versuchte sich zu erinnern, konnte er es nicht. Aoi war daraufhin sehr nachdenklich geworden, doch unser Verhältnis zueinander hatte sich nicht gebessert.
 

Dr. Ishida hatte auch einige Tests veranlasst. Aoi selbst hatte alles ohne Folgeschäden überstanden, wenn man den Gedächtnisverlust nicht dazuzählte. Zuerst war man immer davon ausgegangen, dass die Erinnerungen bald kommen würden und schrieb den Gedächtnisverlust der Aufwachphase und diesem Durchgangssyndrom zu. Doch mittlerweile hatte Aois Arzt eine retrograde Amnesie diagnostiziert, die durch das Schädelhirntrauma ausgelöst worden war. Aoi konnte sich an Dinge erinnern, die das Allgemeinwissen betrafen (allerdings auch nicht an alles) und auch Handlungsroutinen hatte er nicht vergessen. Doch alles, was seine Person betraf lag für ihn im Dunkeln. Dr. Ishida hatte es so erklärt: „Sein Gedächtnis ist hinter einer dicken, verschlossenen Tür, zu der der Schlüssel verschwunden ist. Aber jedes Wort, jedes Bild, jeder Klang, alles könnte diese Tür wieder öffnen und sein Gedächtnis zurückbringen.“ An diese Worte klammerte ich mich. Daher hatten wir auch, auf Initiative des Arztes hin, damit begonnen ihm Bilder, Songs und auch Videos ect. zu zeigen, von denen ich wusste, dass sie ihm viel bedeutet hatten. Auch Cassis spielte ich ihm vor. Doch leider hatte das bisher nichts gebracht.
 

Aoi hatte allerdings fantastische Fortschritte gemacht, wenn es um alles andere ging. Er musste wieder lernen seine Muskeln zu beanspruchen, da er so lange im Bett gelegen hatte, weshalb er eine Rehabilitationstherapie über sich ergehen lassen musste (was ihm weniger gefiel, da sie sehr anstrengend und auch schmerzhaft war). Wenn ich am späten Nachmittag vorbeikam, war er meistens ziemlich KO. An diesem Nachmittag war es anders. Er durfte endlich nach Hause. Wir hatten lange darüber diskutiert, wie wir das angehen sollten. Da er sich in meiner Nähe nicht wohl zu fühlen schien, hatten wir überlegt, dass er für einige Zeit nach Mie zu seinen Eltern fahren sollte. Doch daraus war nichts geworden. Auch wenn es ihm besser ging brauchte er jemanden, der sich um ihn kümmern konnte. Da sie beide berufstätig waren, konnten sie nicht so einfach Zeit mit ihm verbringen. Ruki und Reita fielen aus, da sie beide für eine weitere Person keinen Platz hatten und Kai hätte es zwar gemacht, wenn es unbedingt hätte sein müssen, doch da Dr. Ishida glaubte, dass es besser wäre, wenn er in eine Umgebung kam, in der er sich wohl gefühlt hatte und ich ihn bei mir haben wollte, hatte er nach längerer Diskussion nachgegeben und beschlossen sich unser Zuhause zumindest anzusehen. Jedoch wusste ich, dass ich mir keinen Fehler mit ihm erlauben durfte. Er würde seine Sachen packen und gehen.
 

Aoi saß auf dem Bett und ließ seine Beine baumeln, als ich den Raum betrat. Er sah aus dem Fenster auf die Stadt hinaus – nachdenklich. Seine Tasche stand gepackt neben der Tür. „Hey, da bin ich!“, begrüßte ich ihn. Er drehte sich zu mir um und begann zu lächeln, als er mich sah. „Hallo Uruha! Ich habe schon alles fertig gepackt!“ Ich musste schmunzeln und nickte zustimmend. „Ich seh’s“, antwortete ich dann. „Können wir los? Sind die Untersuchungen schon vorbei?“ Ein leichtes Nicken. „Hmhm … und die Reha auch.“ Er nahm seine Krücken (ohne ging es leider noch nicht, aber wenn er so weiter machte wie bisher, dann war er bald wieder ohne unterwegs) und rutschte vom Bett, während ich seine Tasche nahm und ihm die Tür öffnete. Seine Augen blitzten unternehmungslustig auf – er war extrem gespannt darauf hier raus zu kommen. Genau das war der Mann in den ich mich verliebt hatte. Ich bemerkte erst, dass ich starrte, als er schon auf dem Gang stand und mich grinsend ansah. „Du guckst mir dauernd auf den Hintern!“, sagte er dann urplötzlich und ich verschluckte mich beinahe. Mit so einem Kommentar hatte ich einfach nicht gerechnet. Dann begann ich leise zu lachen. „Erstens habe ich dich beobachtet und zweitens mag ich deinen Arsch!“ Aoi wandte verlegen den Blick ab und lief hochrot an. Ohh! Das hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Am Anfang unserer Beziehung war er recht schüchtern gewesen, was solche Sprüche anging. Irgendwann aber war das gekippt und die wirklichen Hammer-Sprüche waren von ihm gekommen.
 

Ich ging langsam mit ihm den Gang hinunter zur Anmeldung. Dort musste er noch ein paar Papiere unterschreiben und Dr. Ishida kam noch einmal zu uns. Ich bedankte mich für die Unterstützung, die wir durch ihn bekommen hatten, während Aoi immer noch mit den Formularen beschäftigt war. Lesen war ab und an auch ein Problem. Die Zeichen verschwammen vor seinen Augen, weshalb er länger brauchte. Aber das war nicht so schlimm. Es würde wieder besser werden. „Versuchen Sie es langsam anzugehen und bitte hindern Sie ihn daran sich mit Gewalt an etwas erinnern zu wollen. Wir haben ihm extra keine Einzelheiten des Unfalls erzählt, damit er sich nicht übernimmt. Es können immer noch starke Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Schwindel sowie Licht- und Geräuschempfindlichkeit auftreten. Am besten Sie behalten ihn weiterhin im Auge!“ Ich nickte dem Arzt ernst zu und verbeugte mich dann kurz vor ihm. Aoi war fertig und auch er bedankte sich noch ein Mal.
 

Aoi atmete tief durch, als er über die Schwelle trat und endlich vor dem Krankenhaus stand. Der Wind zerzauste seine Haare und wirbelte sie nach hinten, während er die Augen schloss und die wieder gewonnene Freiheit begrüßte. Ich ließ ihm die Zeit, die er brauchte und sagte kein Wort, bis er die Augen wieder öffnete und sich zu mir drehte.

„Können wir?“ Er begann zu lächeln und folgte mir zum Auto. „Habe ich einen Führerschein und ein Auto?“, fragte er urplötzlich. Ich sah auf und überlegte. Nun ja … das war bereits verschrottet worden. „Das hier gehört mir, aber wir fahren beide damit. Ich schlage jedoch vor, dass du das erst angehst, wenn du dein Gedächtnis wieder bekommen hast, oder zumindest weißt, wie man fährt…“ Ich würden den Teufel tun und ihn in diesem Zustand fahren lassen! Neugierig sah er zu, wie ich den Kofferraum öffnete und seine Tasche hinein verfrachtete. Es hatte mich einige Überwindung gekostet überhaupt wieder zu fahren. Aber man musste seine Ängste besiegen und ohne Auto waren wir ziemlich aufgeschmissen. Ich öffnete ihm die Beifahrertür und erkannte erst jetzt, dass er stehen geblieben war und mit sich zu kämpfen schien. „Aoi?“ Er mochte den Namen, weshalb es uns erlaubt war ihn auch so anzusprechen. „Ich … ich weiß nicht … ich kann nicht!“ Sein Blick hatte sich verändert. Er war nicht mehr neugierig. Ablehnung stand in seinen dunklen Augen und er kam keinen Schritt näher. Das Gegenteil war der Fall. Er sah aus, als würde er jeden Moment umdrehen und weglaufen. „Ich verstehe das nicht! Ich habe plötzlich so ein … seltsames Gefühl.“ Er schluckte trocken. Ich sah es in seinen Augen: Er hatte Angst!
 

Langsam löste ich mich vom Wagen und kam auf ihn zu. „Kannst du dich an etwas erinnern?“ Er überlegte, schüttelte aber den Kopf. „Nein. Aber ich mag nicht einsteigen. Mein Körper sagt, ich soll nicht einsteigen!“ Oh ja das sagte er allzu deutlich, denn Aoi zitterte. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, weil er die Griffe der Krücken so heftig umklammerte. Ich berührte sanft seinen Oberarm, ignorierte gekonnt, dass er sich deswegen weiter anspannte und sah ihn an. Anscheinend schien er sich doch irgendwie an den Unfall zu erinnern. Woher sonst sollte diese plötzliche Angst vor dem Auto kommen? Wir hatten nichts Genaues zum Unfall gesagt. Auch nichts vom Auto oder dass er der Lenker gewesen war. Also musste ihm doch irgendetwas sagen, dass Autos gefährlich waren. Ich konnte es ihm nicht verdenken, immerhin war es mir am Anfang genauso ergangen. „Denkst du, du könntest dich mal auf den Beifahrersitz setzen? Es kann gar nichts passieren!“, redete ich ihm zu und nach ein paar langen Sekunden nickte er und setzte sich widerstrebend auf den Sitz. Ich lehnte mich an die Tür, während er sich im Auto umsah und sich dann weiter in den Sitz sinken ließ. Ich nahm ihm die Krücken ab und legte sie zu seiner Tasche in den Kofferraum, welchen ich dann schloss. „Geht’s?“ Er sah zwar nicht glücklich und vor allem steif aus, aber ich durfte die Tür schließen und setzte mich dann auf den Fahrersitz. Allerdings hütete ich mich davor den Motor gleich zu starten. Wenn er schon Panik davor hatte sich überhaupt nur ins Auto zu setzen, würde er mir glatt auf die Straße springen, wenn ich den Motor anließ! Daher schaltete ich das Radio an und Musik erfüllte das Innere des Wagens. Aoi sah mir dabei zu und ging dann die Liste der Songs durch, um sich einen auszusuchen, der ihm gefiel. „Schnallst du dich bitte an?“ Er hob den Kopf und sah mich fragend an. Ohne Gurt würde weder ich noch sonst jemand in meinem Auto mitfahren. Das Ding hatte uns beiden das Leben gerettet. Ohne würden wir ohne Zweifel in der Band der himmlischen Heerscharen spielen – sofern die eine Band hatten. Ich deutete auf den Gurt, den ich mir bereits umgelegt hatte und schmunzelte, als Aoi eine Weile mit seinem herumspielte, bis er verstand, wie es funktionierte. „Nicht erschrecken ja?“, sagte ich dann und startete doch den Motor, während ich ihn im Auge behielt. Er wurde sofort kalkweiß und klammerte sich in seinen Sitz. „Alles ok?“ Er biss die Zähne zusammen und nickte knapp.
 

Die Fahrt war alles andere als angenehm. Aois Haltung änderte sich kein bisschen – wenn es möglich war, verspannte er sich sogar noch mehr. Es war ihm unheimlich andere Autos um sich zu haben. Jedes Mal, wenn wir auf eine Kreuzung zufuhren zuckte er zusammen und ich sah, dass er sich nur mit Mühe beherrschte. Ich wagte es nicht durch irgendwelche Unterführungen oder Tunnels zu fahren. Das hätte ihn vermutlich nur noch mehr verschreckt, als es das eh schon tat. Allerdings fuhren wir dadurch fast 20 Minuten länger, was ihm auch nicht gut tat. Kaum hatte ich eingeparkt befreite er sich vom Gurt, riss die Tür auf, stolperte aus dem Auto und ließ sich erschöpft auf die Treppe zum Eingang unseres Hauses nieder. Seine Atmung ging noch schnell und er war immer noch blass. Ich holte seine Tasche und die Krücken aus dem Wagen und ging dann vor ihm in die Knie, um meine Hand auf seinen Oberschenkel zu legen. Zuerst reagierte er überhaupt nicht, zuckte dann aber zusammen und sah mich an. „Geht’s wieder?“, fragte ich besorgt. „Ich mag Autofahren nicht!“ Ja … das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Ich wusste auch nicht wirklich, was ich darauf erwidern sollte. Immerhin konnte ich ihn ja nicht zwingen mitzufahren. Aber andererseits musste er sich wieder daran gewöhnen. Ich hielt ihm die Hand hin, die er nach kurzem Zögern ergriff, und zog ihn wieder auf die Beine. Glücklicherweise führte ein Lift ins dritte Stockwerk, was es für uns leichter machte. Oben angekommen sperrte ich die Tür auf und hielt sie ihm auf. „Herzlich willkommen zu Hause, Aoi!“

Kapitel 13

~Aoi POV~
 

Gott, war ich froh endlich aus diesem fahrenden Ungetüm auf vier Rädern zu kommen. Als der Motor unter mir erwacht war und alles zu beben begonnen hatte, war mir entsetzlich übel geworden. Es hatte gar nichts genutzt, dass Uruha meinte, dass nichts passieren konnte. Es mochte zwar sein, dass man damit schneller irgendwo hinkam, aber ich würde mir das nie mehr wieder antun! Das war ja lebensgefährlich. Zwar schien Uruha gut Autofahren zu können (immerhin war er in diese kleine Parklücke gekommen) aber das Wissen half kein bisschen um meinen Körper zu beruhigen. Ich keuchte leise, mein Herz raste und meine Hände waren eiskalt. Meine Beine zitterten immer noch, als Uruha mir die Hand hinhielt und mich hoch zog. Seltsamerweise schien er mein Verhalten aber nicht komisch zu finden. Er sah mich nur verständnisvoll an und fuhr im Lift mit mir nach oben. „Drittes Stockwerk“, schnarrte es aus dem Lautsprecher und die Türen öffneten sich mit einem leisen, rumpelnden Geräusch. Uruha führte mich quer über den Flur und blieb schließlich vor einer Tür stehen. Er holte einen Schlüsselbund heraus, breitete ihn fächerförmig aus und suchte sich den passenden Schlüssel heraus. Seltsamerweise kam mir diese Geste sehr vertraut vor. Er schob den Schlüssel ins Schlüsselloch und mit einem leisen Klacken schloss er die Tür auf. Seine Hand, blieb auf der Klinke liegen und öffnete die Tür. „Herzlich willkommen zu Hause, Aoi!“ Ich brauchte ihn nicht einmal anzusehen – seine Stimme klang, als würde er lächeln.
 

Durch diese Horrorfahrt war ich noch nicht dazugekommen mir darüber Gedanken zu machen, wie das hier alles ablaufen würde. Ich war neugierig darauf, wie ich gelebt hatte, bevor dieser Unfall geschehen war. Allerdings hatte ich auch Angst vor der Offenbarung. Würde ich den Menschen mögen, der ich gewesen war? Es war schon seltsam genug wach zu werden und einen Freund zu haben, an den man sich nicht erinnern konnte. Es machte mir Angst nicht zu wissen, welche Erwartungen er an mich hatte. Konnte ich sie denn überhaupt erfüllen? Uruha und ich hatten sehr viel miteinander gesprochen. Er war mir eine große Hilfe – schon die ganze Zeit. Er schien nichts dafür verlangen zu wollen. Ich wusste, dass wir ein Paar gewesen waren und … ich wusste nicht wie ich dazu stehen sollte. Er war ein schöner Mann. Ein sehr schöner Mann, um genau zu sein. Aber ich konnte meine Gefühle für ihn nicht entschlüsseln. Ich hatte keine Erinnerung daran, was wir einmal geteilt hatten. Alles lag hinter dieser Wand, die mir nicht den kleinsten Blick dahinter gewährte. Auch seine Berührungen waren mir unangenehm. Weniger aus dem Grund, weil es Körperkontakt war. Eher deshalb, weil ich Angst hatte, dass er mehr wollen würde. Ich konnte es ihm nicht geben. Aber bisher war er immer nur nett gewesen und hatte mich nie bedrängt. Aus diesem Grund hatte ich auch beschlossen mit ihm ‚nach Hause’ zu gehen. Außerdem war es wohl besser in eine Umgebung zu kommen, die meine Erinnerungen wieder wecken könnte. Des Weiteren wollte mein Arzt, dass jemand ein Auge auf mich hatte, falls etwas sein sollte (was immer das auch war). Die Option, zu meinen Eltern zu gehen, hatte ich auf jeden Fall ausgeschlagen. Von Erzählungen wusste ich, dass ich hier die meiste Zeit verbracht hatte. Meine Eltern hatten wir nur ab und an besucht. Außerdem konnten sie kein Auge auf mich haben, weil sie arbeiten mussten. Es wäre einfach für beide Seiten nicht passend.
 

Zuerst hatte ich ein seltsames Gefühl gehabt in ‚unsere’ Wohnung zu kommen. Doch eigentlich hatte mir die Idee mit der Zeit immer mehr und mehr gefallen. Es würde dort vermutlich viele Eindrücke geben, die mir weiterhelfen konnten. Uruha musste zwar ab und an Aufnahmen machen, aber in dieser Zeit konnte ich mitkommen und mir meinen ehemaligen Arbeitsplatz ansehen oder ihm zuhören, wie er mir versichert hatte. Na gut. Anscheinend machte ich mich im Moment sehr von ihm abhängig und irgendwie gefiel mir das nicht. Aus irgendeinem Grund wusste er das auch, denn er hatte mir auch angeboten die anderen drei zu fragen, ob jemand mit mir mal etwas machen wollte. Ich hatte ihn nur skeptisch angesehen, doch die drei schienen begeistert zu sein mich wieder um sich zu haben.
 

Als ich jetzt so auf der Türschwelle stand hatte ich plötzlich Angst hinein zu gehen. Angst davor, was ich vorfinden würde, doch schließlich machte ich den Schritt. Zurück in mein Leben vor dem Unfall. Uruha folgte mir, ohne ein Wort zu sagen und das Licht ging an. Ich war überrascht. Der Flur war wie ein großes L geschnitten. Die linke, lange Wand war in einem warmen Orangeton gestrichen, während eine Einbaugarderobe aus hellem Holz, die gesamte rechte, kleinere Längsseite einnahm. Kleine, in die Garderobe eingebaute Lampen sorgten für das Licht im Flur, was ihn etwas dämmrig wirken ließ. Eine große Deckenlampe gab es nicht. Die untere Hälfte der Garderobe diente als Schuhschrank, wie sich herausstellte als Uruha ein Türchen öffnete, seine Schuhe hineinstellte und wartete, bis ich es ihm gleich tat, bevor er das Türchen wieder schloss. Er hängte seine Jacke auf einen Haken und marschierte am mannshohen Spiegel vorbei auf eine geschlossene Tür zu. „Sieh dich ruhig um, ich bringe nur deine Tasche ins Schlafzimmer.“ Ich hängte meine Jacke neben seine und ließ meine Fingerspitzen über den Stoff der anderen Jacken streicheln, die bereits dort hingen. Von der Haustür aus konnte man auch direkt nach rechts in die helle Küche sehen. Die Wände waren hier nicht geschlossen und es gab keine Tür, sodass man einfach hineingehen konnte. Auf der kurzen L-Seite, rechts neben dem Eingang, war ein weiterer kleiner Raum: Das WC.
 

Ich lenkte meine Schritte zur Tür, die mir am nächsten war, gegenüber der Garderobe. Kein Geräusch war zu hören, als ich sie öffnete. Ich tappte nach dem Lichtschalter und sah überrascht auf, als ich spürte, dass Uruha hinter mir stand. Sein Körper verglühte mich beinahe. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten einen erschrockenen Satz nach vorne zu machen – es hätte ihn verletzt. „Der Lichtschalter ist hier draußen“, sagte er und deutete darauf. „Das ist das Badezimmer.“ Das Licht ging an und ich staunte nicht schlecht. Hier gab es zwar eine große Deckenlampe, aber viele kleinere Lämpchen, die in einem Deckenverbau aus hellem Holz, über der Dusche und der Badewanne, eingelassen waren (Für romantische Stunden?). Der große Spiegel zog meinen Blick wie magnetisch auf sich. Uruha schien es zu bemerken. „Das war ein Geschenk von dir“, sagte er dann und zeigte mir, dass man auch hier kleine Lämpchen einschalten konnte.
 

Durch eine Tür links neben dem Eingang kam man in ein L-förmiges Zimmer. Die vordere Wand, war auch gleichzeitig die Rückwand des Badezimmers.

„Wir haben ein Musikzimmer!?“, fragte ich ihn überrascht. Uruha nickte zustimmend. „Als wir zusammen gezogen sind mussten wir beide unsere Wohnungen räumen. Sie waren beide zu klein für eine weitere Person. Wir haben uns extra eine ausgesucht, die groß und hell ist und die wir nach unseren Wünschen einrichten konnten. Das Musikzimmer stand sowohl auf deiner, als auch auf meiner Wunschliste. Es ist sogar schallgedämpft, damit wir auch die Verstärker aufdrehen können, wenn wir spielen. Das Einzige, was nicht so schön ist, ist dann der Klang der Gitarren hier drinnen. Aber was soll’s?“ Ich war wirklich sprachlos.

In der Ecke des Zimmers befanden sich eine gemütliche rote Couch und ein kleiner, weißer Tisch. Es gab einige Notenständer, Gitarrenhalter und Gitarren. „Woher haben wir die ganzen Instrumente?“ Ich strich über eine Gitarre mit zwei Hälsen. Gott wer konnte so ein Ding nur spielen? Dazu brauchte es wohl Können und Übung. Er zuckte nur mit den Schultern. „Um ehrlich zu sein kommt es doch recht oft vor, dass für bestimmte Musikvideos, Lives, DVDs, Fotoshootings und so weiter eigene Gitarren angefertigt und verwendet werden. Außerdem stimmen wir sie hin und wieder anders, damit sie besser zu den Stücken passen. Und sonst kaufen wir auch regelmäßig neue Gitarren. Du hast noch andere, im Proberaum.“ Was!? Noch mehr Gitarren!? Und warum sagte er das mit dem Kaufen so selbstverständlich!? Was machte Man(n) denn mit so vielen Gitarren? Man konnte sie doch eh nicht alle gleichzeitig spielen! Er lächelte leicht, als er meinem entgeisterten Blick begegnete. „Und was ist das da hinten?“ Die lange Seite des Ls war ungefähr bei der Hälfte durch eine Glaswand abgeteilt. Uruha ging voraus und öffnete die Glastür um mich eintreten zu lassen. Es war ein Büro. Hunderte Zettel, angefangene Songtexte sowie Melodien, Entwürfe für etwas, das ich nicht erkannte und zwei Laptops standen auf dem Schreibtisch. Dahinter befand sich eine große Anlage, die mich wieder ungläubig blinzeln ließ. Scheiße … wie viel Kohle hatten wir, dass wir uns so ein Ding anschaffen konnten? Dass wir uns so eine Wohnung leisten konnten!? Generell wirkte alles recht teuer, wenn auch schlicht und gemütlich. Uruha erzählte ein bisschen etwas, auch zu den Bildern, die an der Wand hingen. Wir hatten sie von irgendeinem Herrn (ich hab den Namen sofort wieder vergessen) geschenkt bekommen und beschlossen sie hier aufzuhängen.
 

Er folgte mir wieder zurück in das Zimmer mit den gefühlten 100 Gitarren und ich setzte mich aufs Sofa um das alles etwas auf mich wirken zu lassen. Es war so … fremd. Immer noch kam mir nichts bekannt vor. Aber wenn ich Uruha Glauben schenken konnte, schien ich sehr viel Zeit hier zu verbringen. Ich beugte mich vor und beäugte die Doppelhalsgitarre. Uruha beobachtete mich und ließ sich dann neben mich auf das Sofa fallen. „Die gehört dir!“ Mit einem Ruck drehte ich mich zu ihm um und musste ziemlich verdattert dreinschauen, denn er begann zu lachen. „Guck nicht so schockiert. Du bist wirklich gut!“ Damit griff er nach einer schwarzen Gitarre und drückte sie mir in die Hand. „Versuchs mal!“ Ich hielt das Ding fest, als würde ich gleich jemanden damit erschlagen wollen und starrte ihn an. „Ich kann das nicht!“ „Quatsch! Versuch es einfach einmal!“, forderte er mich prompt auf und lehnte sich zurück. Unsicher zog ich die Gitarre auf meinen Schoß und wollte gerade anfangen, als … „Gitarrengurt … leg ihn um, dann geht’s leichter!“, sagte er. Ich tat, wie mir geheißen und verkrampfte mich genauso wie zuvor. Ich hatte Angst das Ding fallen zu lassen. Entgegen meiner Erwartung war das Teil nämlich schwer! Unsicher sah ich ihn an, während ich mit meinen Fingerspitzen über die Stahlsaiten streichelte. Es fühlte sich seltsam vertraut und gleichzeitig so ungewohnt an. „Hier!“ Er hielt mir ein kleines, dünnes, dreieckiges Ding in Schwarz hin und hob die Augenbrauen, als ich das Teil nur verwirrt anstarrte. Was zum Teufel war das schon wieder? Wenn das der Tag der Überforderungen war, dann waren wir mal wieder Mal mitten drin! „Ein Plektron.“ Seine Stimme klang, als wollte er mir auf die Sprünge helfen. „Das ist zum Anschlagen der Saiten!“ Ah … ja.
 

Uruhas Blick war wachsam und verunsicherte mich. Was hatte er erwartet? Dass ich begann zu spielen, wie ein Profi? Oh … Moment … ich war ein Profi, oder? Nur leider wusste ich nicht, was ich mit dem Instrument in meinen Händen anfangen sollte. Er schien das auch zu realisieren und nahm dann eine Gitarre mit hellblauem Körper. Er schlug ein paar Saiten an. „G-Dur!“ Dann wechselte er den Griff. „C-Dur!“ Seine Finger drückten wieder andere Saiten hinunter. „E-Moll!“ Na super! Was hieß das schon wieder!? Ich versuchte es. Ich bemühte mich wirklich! Allerdings bekam ich es kein einziges Mal so hin, wie er es mir vorzeigte. Er versuchte es noch ein paar Mal – sehr geduldig. Doch nach weiteren 10 Minuten gab ich es auf und wollte diese verdammte Gitarre einfach nur loswerden! Ich stellte sie etwas abrupt zurück in den Halter und schüttelte ernüchtert den Kopf. Ich hatte nicht erwartet in mein altes Leben einsteigen zu können, als wäre nichts passiert. Aber ich hatte zumindest gehofft, dass die Dinge, die ich sonst auch getan hatte funktionierten. Ich spürte, wie er vorsichtig seinen Arm um mich legte. Dieses Mal verspannte ich mich nicht, sondern ließ zu, dass er mich an seine Brust zog. Ich war müde und diese Sache hatte mich ziemlich auf den Boden der Realität zurückgeholt. „Mach dir keine Vorwürfe Aoi. Vielleicht war das einfach noch ein bisschen zu früh. Wir haben zu viel gewollt. Gib dir Zeit, ok?“ Seine Stimme beruhigte mich etwas. Er schien es mir nicht übel zu nehmen oder enttäuscht zu sein. Als ich es wagte ihm ins Gesicht zu sehen, sah ich nur ein aufmunterndes Lächeln.
 

Wir blieben eine Weile auf dem Sofa sitzen und dann zeigte er mir die restlichen Räume. Das Wohnzimmer war fantastisch. Es war groß und sehr ‚luftig’ eingerichtet. Wir hatten eine Fernsehecke mit einer großen Couch, die man ausklappen konnte (falls mal Besuch hier war, hatte Uruha gemeint, als ich ihn danach fragte), eine HiFi- Anlage und eine Anlage für Videospiele. Die restliche hintere Wand nahm ein Regal ein, das vom Boden bis zur Decke mit Büchern, DVDs und Videospielen gefüllt war. Ich fühlte mich sofort wohl in diesem Raum und nahm mir vor nachher noch einen Film mit Uruha anzusehen (was übrigens seine Idee gewesen war, als er meinen sehnsüchtigen Blick zum Fernseher gesehen hatte). Auch hatte ich lange die Fotos angesehen, die in Rahmen auf den Regalen standen oder an der Wand hingen. Es gab Fotos von uns beiden, Fotos von der Band, Fotos von Auftritten, Familienfotos und in einer Kiste, die ich aus dem Regal zog, waren weitere, sehr private Fotos von uns beiden. Die würde ich mir nachher vor dem Fernseher noch genauer ansehen!
 

Durch eine Tür hier im Wohnzimmer, kam man schließlich in den letzten Raum: Das Schlafzimmer. „Wir haben was gegen Deckenlampen, oder?“, fragte ich ihn dann und Uruha begann zu lachen. Er hatte ein nettes Lachen. Halt! Stopp! Was dachte ich da schon wieder? „Naja du fandest es immer gemütlicher, wenn das Licht nicht so grell ist. Und hier brauchen wir im Grunde genommen nicht mehr!“ Ach so? Also war ich dieser Romantik-Freak? Im Zimmer herrschten vor allem drei Farben: Weiß, Grau und ein angenehmes Violett. Es war dunkel genug um nicht tuntig auszusehen und hell genug um die Stimmung im Raum nicht in Trauer kippen zu lassen. Eine schöne Farbe! Die Wand neben dem Bett war in dieser Farbe gestrichen, jedoch nahmen weiße Kleiderschränke den Platz davor ein, sodass man nicht die gesamte Wand sehen konnte. Die Wand, gegen die das Kopfende des Bettes gestellt war, besaß eine rechteckige, Einbuchtung, die als Nachttisch diente. Auch diese war in Violett gehalten. Kleine Lampen waren an der Decke der Einbuchtung montiert und spendeten warmes Licht. Auch hier sammelten sich wieder Fotos und Bücher. Gegenüber vom Bett stand eine Kommode, auf der ein CD-Player stand und daneben waren Kerzen verteilt. Auch gab es einen silbernen Kerzenhalter im Raum, der mich erstaunt die Augenbrauen heben ließ. Das Bettgestell selbst war in weiß gehalten, wobei die Bettwäsche in einem seidigen Violett leuchtete, die Zierkissen aber waren grau, genauso wie der Teppich, der vor dem Bett lag.
 

„Wir haben einen Ordnungsfimmel, oder?“, fragte ich dann nach. Nichts lag herum, alles war schön aufgeräumt und alles war sehr genau aufeinander abgestimmt. Es überraschte mich, obwohl ich nicht sagen konnte, was ich mir sonst erwartet hatte. Uruha zuckte nur mit den Schultern. „Ich hab aufgeräumt, bevor du gekommen bist“, sagte er dann nur. Er hatte für mich aufgeräumt? Er überraschte mich heute immer wieder. Irgendwie waren seine Gesten ja richtig nett. Sehr nett sogar. „Danke!“ Er machte nur eine wegwerfende Handbewegung und zeigte ins Wohnzimmer. „Das hätte ich so und so machen müssen. Bis vor drei Tagen habe ich noch bei Kai gewohnt. Daher benötigte unsere Wohnung einen Generalputz! Du kannst dir einen Film aussuchen und ich mache uns Abendessen.“ War er etwa rot geworden? War ihm das etwa peinlich? Ich sah ihn neugierig an, konnte aber nicht feststellen, ob ich mit meiner Vermutung richtig lag, denn Uruha war schnell aus dem Schlafzimmer verschwunden.
 

Ich ließ mich aufs Bett sinken und legte meine Krücken auf den Boden. Ich fühlte mich erledigt. So viel wie ich heute herumgelaufen war durfte mich das auch nicht wundern. Ich ließ mich nach hinten in die Kissen fallen und sah mich noch ein Mal im Zimmer um. Es war wirklich schön und ich mochte den Geschmack mit dem die ganze Wohnung hier eingerichtet war. Obwohl Uruha oft gesagt hatte, was ich dazu beigetragen hatte, konnte ich mir sehr gut vorstellen, dass viele Details von ihm kamen. Als ich mich unbeobachtet fühlte, hob ich eine Schachtel vom Boden auf. Was da wohl drinnen war? Es gab ein Zahlenschloss, was mich dazu brachte enttäuscht aufzustöhnen. Verdammt! Vorsichtig stellte ich die Schachtel wieder auf den Boden und ließ mich wieder in die Kissen fallen. Ich blieb in diesem Raum, bis Uruha das Essen ins Wohnzimmer brachte. Obwohl ich versucht hatte meine Erinnerungen zu mobilisieren kam nichts dabei heraus. Es war frustrierend. Außerdem hatte ich wieder Kopfweh, was ich natürlich versuchte zu verbergen. Immerhin würde er sich nur wieder dafür verantwortlich fühlen. Der restliche Abend war eigentlich ganz in Ordnung. Er kochte super und das Essen schmeckte auch 1000 Mal besser als dieser Krankenhausfraß. Anschließend durfte ich einen Film aussuchen, während Uruha Popcorn machte. Er zeigte mir was ich tun musste um mir eine DVD anzugucken und setzte sich dann neben mich – in gebührendem Abstand, was mich etwas erleichterte. Wenigstens bedrängte er mich nicht. Dass es ihm schwer fiel und er traurig war, das konnte ich ihm sehr wohl ansehen.

Kapitel 14

~Uruha POV~
 

Während Aoi die Nacht, wie in den letzten beiden Wochen auch, auf dem ausgeklappten Sofa und zwischen hunderten von Kissen verbrachte, schlief ich alleine in unserem gemeinsamen Bett. Das Einschlafen fiel mir seit dem Unfall sehr schwer, da seine Nähe fehlte. Deshalb hatte ich mich auch diese Nacht lange von einer Seite auf die andere gewälzt. Ich hatte die Tür offen gelassen, falls Aoi etwas brauchte, weshalb ich bemerkte, dass er recht schnell eingeschlafen war. Wenigstens musste ich mir keine Sorgen darüber machen, dass er Rückenschmerzen bekommen könnte. Das Sofa war ein angenehmer Schlafplatz. Als ich aufwachte, lag meine Hand auf seiner leeren Seite und streichelte über das kühle Laken, das sonst immer warm gewesen war. Ich vermisste ihn so sehr! Er war doch nur einen Raum weiter, aber dennoch so weit weg! Es fühlte sich alles so seltsam an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass alles wieder normal wurde, sobald er wach war. Aber ich hatte irgendwie gehofft, dass es sich einpendeln würde. Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Dieser verfluchte Unfall! Seitdem war alles anders! Seitdem hatte sich mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt. Ich war so glücklich gewesen, hatte alles gehabt, was ich je gewollt hatte. Und nun? Nun sah es so aus, als würde mir alles, wie Wasser, durch die Finger rinnen.
 

Ich kämpfte die hochsteigenden Tränen hinunter, wie so oft in der letzten Zeit und setzte mich auf. Es war erst halb 7 in der Früh. Kein Wunder also, dass ich mich wie gerädert fühlte. Doch seitdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war ich anscheinend zum Frühaufsteher mutiert. Zwar fühlte ich mich wie erschlagen, aber ich konnte einfach nicht mehr einschlafen. Allerdings kannte ich auch den Grund: Aoi! Und dann kamen diese Gedanken und Erinnerungen und spielten sich vor meinen Augen ab. Ich schob die leichte Decke zur Seite und erhob mich. Leise tapste ich zum Schrank hinüber und holte frische Klamotten raus. Ich schlich durch das Wohnzimmer ins Badezimmer und stellte mich unter die Dusche, wo ich ganze 20 Minuten blieb. Aber egal wie heiß ich das Wasser auch einstellte, die Kälte in meinem Inneren ließ sich nicht vertreiben. Aoi schlief immer noch, als ich wieder aus dem Badezimmer kam und einen kurzen Blick ins Wohnzimmer warf, während ich meine nassen Haare zurück band. Er sah so friedlich aus. Er kuschelte mit einem Kissen und lächelte leicht im Schlaf. Na hoffentlich hatte er auch gute Träume. Ich wünschte sie ihm, nach all dem. Ich schloss die Tür leise hinter mir, damit ich ihn nicht aufweckte, wenn ich in der Küche herumwerkelte, und begann das Frühstück vorzubereiten.
 

Dummerweise passierte auch das beinahe automatisch und meine Gedanken hatten wieder Zeit sich zu verselbstständigen. Meine größte Angst war es, ihn zu verlieren. Ich liebte ihn so sehr und ich wusste, dass auch er mich liebte. Jedoch konnte er sich nicht daran erinnern. Die anderen hatten ihm zwar bestätigt, dass wir ein Paar waren, er hatte Fotos und auch Videos von uns beiden gesehen, aber das half ihm auch nicht weiter. Er blockte mich ab, ließ mich nicht mehr an sich heran und teilweise ertrug er es nicht einmal, wenn ich ihn berührte. Warum das nur bei mir so war, und nicht bei Kai, Ruki oder Reita verstand ich nicht. Aber es verletzte mich sehr. Ich konnte ihm nicht die Schuld geben. Das alles war schwer für ihn, nicht nur, weil er seine Umgebung nicht mehr verstand. Aber es tat dennoch weh bei dem Menschen zu sein, den man über alles liebte, und ihm doch nicht nahe sein zu können.
 

Es gab also drei Möglichkeiten. Erstens: Er würde mich weiterhin nur als einen Arbeitskollegen ansehen, der nichts mit ihm zu tun hatte und unsere Beziehung ging in die Brüche. Zweitens: Er erinnerte sich wieder an alles. Und Drittens: Ich brachte ihn wieder dazu sich in mich zu verlieben. Für mich war ersteres keine Option. Ich konnte nicht zulassen, dass der Mann, den ich liebte, wie nichts anderes auf dieser Welt, sich von mir abwandte. Wir hatten bisher immer alles überstanden. Es war nicht so einfach gewesen zusammen zu bleiben. Unsere Manager waren nicht begeistert gewesen, als wir unsere Beziehung zumindest im Arbeitsalltag nicht mehr geheim hielten (mit Ausnahme der Bühne natürlich). Sie hatten Angst, dass ein Streit unsere Arbeit behindern könnte. Doch sowohl Aoi als auch ich schafften es sehr gut Berufliches und Privates zu trennen. Als sie merkten, dass es nicht nur eine Laune von uns beiden war und wir das tatsächlich auch im Griff hatten, beließen sie es dabei. Und ja, wir hatten heftige Streitereien gehabt. Nie wegen Kleinigkeiten – dazu waren wir beide nicht der Typ. Aber ich war am Anfang recht eifersüchtig gewesen und es hatte ihn extrem genervt, dass ich ihm nicht vertraute, sondern eifersüchtig wurde, sobald er sich mit einem anderen Kerl unterhielt (unsere Arbeitskollegen ausgenommen). Im Nachhinein war ich erstaunt über mich selbst. Ich war ein freiheitsliebender Mensch und hätte Probleme damit gehabt, wenn er mich so eingeengt hätte. Und dann machte ich das bei ihm.

Ich hatte gelernt ihm zu vertrauen und Aoi hatte mir auch nie einen Grund gegeben, dieses Vertrauen wieder über Bord zu werfen. Dieser liebevolle Ausdruck, der immer in seinen Augen zu lesen war, wenn er mich ansah, war sonst für keinen anderen bestimmt. Das hatte mich immer beruhigt. Jetzt aber war dieser Ausdruck verschwunden und ich war mir bei gar nichts mehr sicher. Genau genommen konnte Aoi auch einfach seine Sachen packen und gehen. Ich würde ihn nicht aufhalten oder umstimmen können (Nun vielleicht am Anfang schon noch, wenn ich sagte, dass der Arzt einen Aufpasser angeordnet hatte und er sonst ins Krankenhaus zurück müsste).
 

Option zwei, war auch so eine Sache: Zuerst hatte man nur geglaubt, dass die Erinnerung wieder kommen würde und er nur verwirrt war, als er aus dem Koma erwachte. Um ehrlich zu sein, hatte ich genau auf das gehofft, auch wenn es seltsam war zuzusehen, wie er einen Bleistift in den Mund nahm und meinte, er würde eine Zigarette rauchen oder als er sich Rasierschaum auf einen Keks gesprüht hatte, weil er glaubte es wäre Sahne. Allerdings hatte sich diese Verwirrung doch recht schnell gelegt. Die Erinnerung aber, kam nicht wieder. Daraufhin gab es weitere Tests. Aoi war ein angenehmer Patient – er ertrug alles mit einer Engelsgeduld. Zwar wusste man nun, dass er an einer Form der Amnesie litt, aber niemand konnte mit Sicherheit sagen, wann und ob er sich wirklich wieder erinnern würde. Also blieb nur Option drei. Ich hatte es ein Mal geschafft und ich würde es noch ein Mal schaffen, dass er sich in mich verliebte. Nur weil die Erinnerungen weg waren, hieß das doch nicht, dass die Gefühle auch verschwunden waren, oder?
 

„Guten Morgen!“ Da war ja der Traum meiner schlaflosen Nächte. Ich sah auf und zwang mich zu einem fröhlichen Lächeln. „Guten Morgen! Na, hast du gut geschlafen?“ Verdammt! Warum sah dieser Kerl mit dem verschlafenen Gesichtsausdruck, den verwuschelten Haaren und dem, etwas zu großen, T-Shirt, so verdammt heiß aus? Mein Magen zog sich vor Verlangen zusammen, als ich ihn so musterte. Mir wurde heiß. Mein Herz begann wie verrückt zu pochen, drehte durch, während ich versuchte mich am Riemen zu reißen und ihn nicht an mich zu ziehen und zu küssen, wie ich es sonst getan hätte. Die Sehnsucht nach ihm machte mich krank, brachte mich dazu durchzudrehen. Er begann zu lächeln und nickte. „Oh ja, danke! Es ist ein ganz anderes Gefühl nicht mehr im Krankenhaus zu sein“, sagte er und kam langsam in die Küche. Das Gefühl der Freiheit kannte ich. Mir war es doch genau gleich gegangen, als ich endlich aus dem Krankenhaus raus war. Die Krücken lehnte er an den Tisch und setzte sich auf den Sessel. Dieses verdammte Lächeln! Ich liebte es einfach. Zitternd ballte ich meine Hände zu Fäusten um ihn nicht einfach zu packen und ihn zu küssen. Meine Hose wurde unangenehm eng. Verflucht. Wenn er das mitbekam, dann war‘s das! Ich stellte ihm eilig die Kaffeetasse hin und setzte mich auf meinen Platz. Er trank einen Schluck von seinem Kaffee und seufzte leise. „Oh der ist gut!“ Natürlich. Ich wusste ja auch, wie er ihn sonst trank. Er öffnete seine Augen wieder, die er genüsslich geschlossen hatte und sah sich in der Küche um. Ich wusste, dass er vor Neugierde platzte. Er hatte schon gestern die ganzen Schubladen und Schränke geöffnet und geschaut, was darin zu finden war. Er hatte sich Fotos angesehen und am liebsten hätte er auch alle DVDs und Videos durchgesehen, die es von uns gab. Aber ich konnte ihn dazu überreden es etwas langsamer anzugehen. Auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als dass er sich endlich wieder an alles erinnern konnte, wusste ich doch noch, was sein Arzt gesagt hatte.
 

Es tat ihm nicht gut, wenn er sich so hineinsteigerte. Zwar meinten die Ärzte, dass die Erinnerungen eher kamen, wenn er sich Bilder ansah, Lieder anhörte, selbst spielte (was im Moment eher nicht funktionierte, da er sich nicht einmal daran erinnern konnte, wie man einfache Akkorde spielte), aber dennoch sollte er sich nicht überfordern und Aoi war in diesem Punkt wie immer: Sehr streng zu sich selbst und wollte bereits wieder Berge versetzen. Dass das natürlich nicht einfach so funktionierte wollte er nicht akzeptieren. Aber ich war froh, dass er ein paar seiner Eigenschaften nicht verloren hatte, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte. Selbst jetzt spielte er wieder mit seinem Piercing herum, wie er es sonst immer getan hatte. Stille breitete sich zwischen uns aus. Er sah nur nachdenklich auf seine Tasse, die er in seinen Händen hielt. Seine Gedanken hatten ihn wieder eingeholt. In diesen Momenten musste man ihn einfach alleine lassen. Ich wusste zwar nicht, was in seinem hübschen Köpfchen so vor sich ging, aber er brauchte die Zeit für sich selbst und ich wollte sie ihm lassen. Er würde sich schon melden, wenn er etwas brauchte. Auch wenn mir das extrem schwer fiel, da ich ihn einfach gerne in die Arme genommen und ihn getröstet hätte. Doch das hätte er vermutlich auch falsch verstanden. Ich wollte nicht, dass er sich noch mehr von mir zurückzog. Ich ertrug es nicht, wenn er es tat.
 

„Hast du was dagegen, wenn ich mir dann ein paar Fotos und DVDs angucke?“, fragte er, schien mit seinen Gedanken aber immer noch sehr weit weg zu sein. Ich schüttelte den Kopf. Im Grunde genommen gehörte ihm alles, so wie es mir gehörte. Er konnte sich gerne angucken, was er angucken wollte. Ich hatte auch nicht wirklich eine Idee, was ich mit ihm machen sollte. Er war noch nicht fit genug um mit nach draußen zu kommen. Zwar könnte ich Ruki, Kai und Reita zum Essen einladen, aber vermutlich wurde ihm das dann recht schnell wieder zu viel. Er ertrug es nicht mit vielen Leuten im Raum zu sein. Vor allem, weil das Gesprächsthema immer mit einem ‚Ich weiß es nicht!’ von Aoi endete. Ich konnte ihn auch nicht mit zu meinen Eltern nehmen. Sie sahen ihn immer noch als Aoi, meinen Partner. Natürlich verstanden sie, was die Amnesie für ihn, aber auch für mich, bedeutete und hielten sich zurück, aber ich hatte Angst, dass Aoi meinte irgendwelche Erwartungen erfüllen zu müssen und sich deshalb selbst unter Druck setzte und sich wohlmöglich noch unwohl fühlte.

Also war es vermutlich auch das Beste, wenn ich ihn selbst entscheiden ließ was er machen wollte und mich dementsprechend anpasste. Dann würde es heute bei Fotos und DVDs gucken bleiben.

Kapitel 15

Kapitel 15
 

~Aoi POV~
 

Ich hatte schon gemerkt, dass Uruha in der Früh nicht der große Redner war. Er trank seinen Tee, aß sein Joghurt und schien wohl einige Zeit brauchen um wirklich wach zu werden. Ich selbst fühlte mich nicht müde, nur erschöpft. Es laugte mich aus herumzulaufen. Zwar war ich bereits zur Physiotherapie zwangsverpflichtet worden und ich hatte auch bereits an mehreren Sitzungen teilgenommen, aber ich erholte mich nicht so schnell, wie ich es mir wünschte. Sie meinten alle, dass ich einfach zu ungeduldig war, aber es nervte mich einfach – diese Krücken nervten mich. Ich nahm sie wieder und erhob mich, während Uruha das Geschirr abräumte und alles in die Spülmaschine stellte. Ich kämpfte mich durch den Flur, zurück ins Wohnzimmer und verzog mich aufs Sofa. Eigentlich wollte ich nur kurz verschnaufen, doch Uruha schien zu ahnen, dass ich Probleme damit haben würde alles zu holen, was ich wollte. Er tauchte im Türrahmen auf, grinste mich an und wollte wissen, was er mir bringen konnte. Dieser Kerl war einfach extrem hilfsbereit. Er brachte mir mehrere Fotoalben und – ohne, dass ich ihn darum gebeten hatte – einen ganzen Stapel DVDs. Dann setzte er sich zu mir aufs Sofa und reichte mir eines der Fotoalben.
 

„Es macht dir doch nichts aus, wenn ich uns etwas Musik anmache, oder? Es ist nur so verdammt still“, sagte er und schaltete, nach meinem Nicken, den Fernseher ein. Zwar blieb der Bildschirm schwarz, aber leise Musik schallte durch die Lautsprecher und schuf eine angenehmere Atmosphäre. Erst jetzt bemerkte ich, dass mich die Stille etwas unruhig gemacht hatte. Ich nahm das Album entgegen und schlug es auf. Das erste Foto zeigte die Band. Ruki, Reita, Uruha, mich und … „Das ist Yune. Er war in den Anfängen der Band unser Schlagzeuger. Für zirka ein Jahr. Ungefähr ein Monat nachdem er gegangen war, stieß Kai zu uns. Und seitdem spielen wir immer in der gleichen Besetzung. Daher wollte auch niemand, dass wir deine Parts von einem Fremden einspielen lassen. Es würde nicht mehr nach uns klingen“, erklärte Uruha mir dann. Ich sah mir das Foto genauer an. Es war in irgendeinem Proberaum gemacht worden und wir sahen recht jung darauf aus. Dennoch erkannte man zweifellos, dass wir es waren. Ich blätterte um und musste lächeln. ‚Umzug in den neuen Proberaum’ stand dort in einer wunderschönen Handschrift. Uruha begann breiter zu grinsen und zeigte auf eines der Fotos. „Wir hatten damals in der angemieteten Garage von Reitas Großeltern unsere Instrumente untergestellt. Als es dann etwas konkreter wurde und wir ab und zu bei Gigs ein bisschen Kohle bekamen, konnten wir uns endlich einen eigenen Proberaum anmieten und haben unsere ganzen Sachen dorthin verfrachtet.“ Uruha hatte zu allen Bildern einen kurzen Kommentar oder ein Zitat geschrieben und erzählte recht lebhaft, was damals passiert war. Viele der Bilder brachten mich zum Lächeln, auch wenn sie mir nichts sagten.
 

Das nächste Album folgte. Ich hatte angenommen, dass Uruha es einfach so rausgenommen hatte. Doch ich wurde eines Besseren belehrt. Laut Datum ging es mit diesem hier weiter. Eine Dokumentation der Bandgeschichte, meiner Geschichte. Auch hier blätterte ich langsam weiter, sah mir die Fotos an und hörte Uruhas Erzählungen zu. „Oh ja da das Fotoshooting zu Zetsu! Das war damals noch kein so großes Ding. Nichts im Vergleich zu Fotoshootings, die wir heute haben. Allerdings weiß ich jetzt noch, wie bescheuert dieser Fotograf war. Reita hat ihn in den Wahnsinn getrieben und immer das Gegenteil von dem gemacht, was er hätte machen sollen. Der Typ meinte, dass er Künstler wäre und daher auch kunstvolle Fotos machen wollte. Als Fotograf war er deutlich ungeeignet.“ Ich schmunzelte nur leicht. Seit meinem Aufwachen hatte ich ja die Gelegenheit gehabt meine Kollegen kennen zu lernen. Uruha und auch Kai waren beide eher die ruhigeren Typen, wobei Uruha auch loslegen konnte, wenn er so richtig warm wurde. Kai hingegen war immer sehr bedacht und hielt sich zurück. Er war … vernünftig. Ruki drehte zwar auf der Bühne total auf, doch auch er war eher jemand, der sich auf die Arbeit konzentrierte und sehr diszipliniert war. Aber er hatte immer einen frechen Spruch auf den Lippen. Reita hingegen war jemand, der gerne im Mittelpunkt stand. Wenn ihn etwas nervte, dann sagte er das auch, genauso wie er es sagte, wenn er etwas gut fand. Ich schätzte seine Ehrlichkeit und auch die Tatsache, dass er kein Blatt vor den Mund nahm. Man wusste woran man war. Dass er also auch damals schon so reagiert hatte zeigte nur seine starke Persönlichkeit. Auch dieses Album blätterten wir durch. Überrascht stellte ich fest, dass es bereits früher Nachmittag war. Uruha erhob sich und holte uns was zu trinken, während ich bereits das dritte Fotoalbum aufschlug und etwas darin herumblätterte.

Uruha stellte die Gläser und den Wasserkrug auf den Tisch und holte dann auch noch eine Schale mit Sushi- und Makistückchen. Ich griff nach den Stäbchen, steckte mir ein Maki in den Mund und kaute darauf herum, während ich ein Foto betrachtete, auf dem ich stolz eine Gitarre in die Höhe reckte. Meine Fingerspitzen streichelten beinahe zärtlich über das Instrument auf dem Foto. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass das so absurd wäre, hätte ich gewettet, die Stahlseiten unter meinen Fingerkuppen spüren zu können.
 

„Du solltest versuchen wieder zu spielen“, sagte er plötzlich und mir fiel beinahe ein, in Sojasoße getauchtes, Maki in die Box zurück. Da ich Zeit für eine Antwort brauchte stopfte ich es mir hastig in den Mund und kaute genüsslich darauf herum. Es war nicht so, dass ich das nicht selbst wusste. Irgendwann würde ich damit anfangen müssen. Warum ich im Moment eine solche Abneigung dagegen verspürte war mir selbst nicht klar. Uruha hatte mir bereits mehrmals etwas vorgespielt – Melodien, die bereits in einigen von unseren Songs vorkamen sowie Melodien, die noch nicht wirklich ausgereift waren. Er fragte nach meiner Meinung und ab und an konnte ich ihm auch sagen, dass es mir gefiel, oder dass ich das Gefühl hatte etwas würde noch fehlen. Und ich mochte es! Ich mochte es ihm zuzusehen. Er sah dabei immer so zufrieden aus – richtig glücklich. Das war es, was er gerne machte und das schien auch mich zu freuen. Doch jedes Mal, wenn er mir eine Gitarre aufschwatzen wollte hielt ich sie nur verkrampft fest und wusste nicht weiter. Dabei hielt ich sie wirklich gerne. Es war ein vertrautes Gefühl. Doch sobald ich meine Fingerspitzen auf die Saiten legte fühlte ich mich wie ein Hochstapler. Ich hatte versucht mehrere Akkordreihen durchzugehen. Er hatte sie mir vorher natürlich gezeigt. Uruha war ein geduldiger Lehrer. Ich hatte es versucht, hatte mir wirklich Mühe gegeben. Dennoch hatte Uruha mich verzweifelt angesehen und sein ehrliches aber vernichtendes Kommentar dazu war: „Du spielst wie ein Anfänger!“
 

„Ich verspreche dir, dass ich es versuchen werde, in Ordnung?“, fragte ich ihn dann. „Ich kann es mir ja selbst nicht erklären. Schuhebinden geht doch auch, warum kann ich dann nicht einfach Gitarrespielen? Das habe ich doch die ganze Zeit über gemacht!“ Mir entkam ein frustrierter Seufzer und Uruhas Stäbchen blieben auf halbem Wege zu seinem Mund in der Luft hängen. Dann senkte er seinen Arm wieder und sah mich durchdringend an. „Du machst dir zu viel Druck! Niemand von uns erwartet, dass du dir die Gitarre umhängst und sofort deine Soli aus dem Ärmel schüttelst oder, dass du gleich die ganzen Songs auf Lager hast! Aber du scheinst das Gefühl zu haben, dass es genau so sein muss. Du verkrampfst dich sobald du eine Gitarre in die Finger bekommst, dabei musst du locker sein, wenn du spielst, sonst funktioniert es nicht!“ Er begann leicht zu lächeln und zuckte dann mit den Schultern. „Wirklich Yuu … mach dir bitte nicht selbst so einen Druck, wenn es dafür keinen Grund gibt!“ Pha er hatte ja leicht reden! Er konnte ja noch Gitarre spielen. Und im Grunde genommen…. „Yuu!“ Mahnend. „Wo bist du wieder mit deinen Gedanken!?“ Ich räusperte mich leicht und meine Stäbchen schlossen sich um ein Lachssushi. Mittlerweile hatte ich schon mitbekommen, dass er mich nur Yuu nannte, wenn er wirklich etwas ernst meinte. „Nein so gesehen macht mir niemand Druck. Aber wenn ich es nicht auf die Reihe bringe, wird das Folgen haben. Und je länger ich es nicht kann, desto schwieriger wird es für die Band. Ich hab zwar ein paar Dinge vergessen, aber ich bin nicht dämlich!“ Uruha sah mich erschrocken an und hob die Hände hoch, so als wollte er etwas abwehren. „Das habe ich niemals behauptet! Und doch musst du versuchen es langsamer anzugehen. Zuerst einfach nur ein paar Akkorde, bis du sicherer geworden bist. Wenn das klappt, können wir uns ein Soli vornehmen!“ Ich gab auf. Er war unerbittlich wenn es um das Gitarrespielen ging. Und damit lag er mir schon länger in den Ohren. Also würde ich es zumindest mal versuchen. „In Ordnung. Aber bitte nicht mehr heute, ja?“ Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und obwohl ich ihm gerne die Krätze an den Hals gewünscht hätte, sah er damit einfach nur … unglaublich gut aus.
 

Wir nahmen uns das nächste Fotoalbum vor. „Hat es hier angefangen?“, fragte ich ihn dann, als ich bemerkte, dass die Fotos sich veränderten. Er hob die Augenbrauen und sah mich fragend an. „Die Bilder“, erklärte ich ihm. „Es gibt immer weniger von der gesamten Band, dafür aber mehr von uns beiden.“ Oder eher von mir. Sein Blick war überrascht, als er nun auf die Bilder sah. „Das ist mir so noch nie aufgefallen. Aber ja … ich denke das war so die Zeit, als ich mich in dich verliebt habe.“ Ich konnte mir nicht helfen, aber das Thema war für mich unangenehm. Ich wollte nicht darüber sprechen. Nicht darüber, dass ich eigentlich sein Freund war. Nicht über die Erwartungen, die er an mich hatte. Und am allerwenigsten darüber, dass wir eigentlich beide Kerle waren. Auch wenn ich nicht mehr viel wusste, aber dass das nicht die Norm war, war mir sehr wohl klar! Außerdem spürte ich die Spannung, die sich zwischen uns aufbaute. Auch Uruha fühlte sich nicht wohl dabei das Thema anzusprechen. Doch vermutlich war es nun Zeit dafür. Wir waren seit meinem Aufwachen herumgeschlichen, hatten nicht miteinander geredet, sondern uns stumm aufs Abwarten geeinigt. Doch die Spannung, die sich immer mehr zwischen uns aufbaute, die Wand, die ich immer weiter zwischen uns hochzog wurde immer undurchdringlicher und drohte Dinge zu zerstören, die mir scheinbar ein Mal wichtig gewesen waren. Daher war es vielleicht besser darüber zu sprechen. Wenn es mir nicht gefiel, wenn ich nicht mit ihm klar kommen würde, dann konnte ich es immer noch abbrechen. Aber auch meine Beziehung zu Uruha war ein Teil meiner Vergangenheit und wenn ich schon alles wissen wollte, dann sollte ich mich auch für die letzten drei Jahre interessieren, für das Leben, das ich vor dem Unfall geführt hatte. Angst vor den Folgen des Gesprächs durfte mich nicht davon abhalten die Wahrheit zu erfahren.
 

Er begann leise zu lachen und riss mich aus meinen Gedanken. „Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, Aoi. Ich hab dich immer schon hübsch gefunden, auch damals. Doch nach und nach habe ich mich in dein Lächeln verliebt, in die Art, wie du in die Musik versinkst, wenn du spielst, das Blitzen deiner Augen, wenn wir miteinander herumgeblödelt haben. Aber es hat lange gedauert, bis ich erkannte, dass das zwischen uns mehr ist als nur Freundschaft. Die anderen gingen davon aus, dass wir einfach recht gute Freunde waren. Wir haben immer mehr Zeit miteinander verbracht …“ Er stockte, wollte aufhören, doch ich schüttelte den Kopf. „Erzähl es mir! Bitte.“ Obwohl ich dieses Thema bisher immer gemieden hatte, wollte ich es jetzt wissen. Wie war das alles zustande gekommen? Warum wir? Meine Neugierde wurde immer größer. Er musterte mich nur, nickte dann aber. „Wir sind eines Abends ungeplant miteinander im Bett gelandet – nach einer kleinen internen Feier. Ich glaube ich hab dir auch 1000 Mal gesagt, dass ich mich in dich verliebt hatte, während wir miteinander geschlafen hatten.“ Er schnaubte leise. „Gott, am nächsten Morgen konnte ich dir kaum in die Augen sehen, so verwirrt und nervös war ich. Du hast mich nur angesehen und deine einzige Frage war: ‚Hast du das gestern ernst gemeint?’ Gott sei Dank hab ich ja gesagt.“ Uruhas Blick lag auf dem nächsten Foto. Beinahe zärtlich strich er darüber und sah mich dann ruhig an. „Wir waren uns einig, dass wir es zumindest miteinander versuchen konnten, haben es am Anfang aber geheim gehalten. Wir gingen nie miteinander nach Hause, kamen nie gleichzeitig in die Arbeit, obwohl wir beieinander schliefen und niemand hat wirklich gemerkt, dass wir beide mehr teilten, als die Arbeit und unsere Freundschaft. Dann hat Reita uns auf dem Balkon erwischt, als wir rumgeknutscht hatten und obwohl er dichtgehalten hätte, haben wir beschlossen uns zu outen und die Beziehung zumindest unseren Bekannten nicht mehr vorzuenthalten.“ Es klang einfach, als er es so erzählte, doch ich erkannte den dunklen Schatten in seinen Augen. Es schien nicht so einfach gewesen zu sein, wie er es mich glauben lassen wollte. Doch ich fragte nicht. Mit dieser Geschichte hatte ich genug Stoff zum Nachdenken.
 

Irgendetwas musste er haben, was mich zu ihm gezogen hatte. Ansonsten hätten wir kaum 3 Jahre lang eine Beziehung geführt. Und diese war auch nur unterbrochen worden, weil ich im Krankenhaus gelandet war und mich nun nicht mehr an ihn erinnern konnte. Doch wenn ich davon ausging, dass alles stimmte, was er mir bisher erzählt hatte, und davon ging ich stark aus – er log mich nie an - dann hatten wir sehr viel miteinander durchgestanden. Ich konnte es ja vor mir zugeben. Er war ein hübscher Mann und dass er mich hübsch fand, brachte meinen Magen ziemlich in Aufruhr. Aber wer hörte so was nicht gerne? Außerdem gefiel mir seine Art. Er war recht ruhig und handelte immer bedacht, nie impulsiv und diese Ruhe gab mir im Moment einfach sehr viel Halt. „Uruha“, begann ich dann doch. „Wie würdest du unsere Beziehung beschreiben?“ Ich wagte mich hier auf sehr dünnes Eis. Aber meine innere Stimme drängte mich dazu. Ich musste eine Antwort auf diese Frage haben. Lange war es ruhig und Uruha schien zu überlegen, was er nun wohl am besten sagte, oder wie er es verpackte. „Ich würde sie als harmonisch beschreiben. Natürlich hatten wir unsere Differenzen, so wie es in jeder Beziehung Differenzen gibt. Zu sagen, es gäbe keine, wäre eine Lüge und ich würde dich niemals anlügen. Das haben wir uns schon am Anfang geschworen. Ich hasse es angelogen zu werden. Vor allem von Menschen, denen ich vertraue. Und ich vertraue dir.“ Ein warmes Gefühl machte sich in meinem Bauch breit und dehnte sich immer weiter aus. Er vertraute mir? Es war nur so ein kleines Wort, aber Vertrauen war hart erarbeitet! „Du bist alles für mich Aoi! Ich kann mich immer auf dich verlassen und wir haben bis jetzt sehr viel miteinander durchgestanden. Ich bin glücklich, dass ich dich habe“, sagte er dann leise. Ich sah ihn nur an. Darauf konnte ich nichts sagen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Er war wirklich gnadenlos ehrlich und ich nahm mir vor das auch bei ihm zu sein. Aber diese Liebesbekundungen in dieser Situation zu hören brachte mich ganz durcheinander.
 

Ich fuhr mir durch die Haare und zuckte leicht zusammen, als er seine Hand auf meinen Oberschenkel legte. „Oh … tut mir leid“, kam es heißer von ihm. Verdammt. Nun hatte ich ihn doch verletzt – wieder einmal. „Nein! Uruha es ist nur … du hast mich erschreckt. Ich war in Gedanken …“ War es tatsächlich nicht mehr? Er sah mich nur an, sagte aber nichts. Sein Blick war, wie oft in letzter Zeit, traurig, betrübt.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll!“, platzte es dann aus mir heraus. Erstaunt wandte er sich wieder mir zu. „Ich weiß nicht, wie ich mit dir umgehen soll! Ich kann mich nicht an die Beziehung erinnern. Ich kann dich nicht in den Arm nehmen. Ich kann dich nicht berühren. Ich kann dich nicht küssen. Ich kann nicht mit dir schlafen! Ich … ich kann deine Erwartungen alle nicht erfüllen!“ Doch je mehr ich sprach, desto ernster wurde er. Dann schüttelte er einfach den Kopf.
 

„Das ist es also.“ Seine Stimme war leise, aber nicht wütend. „Hör Mal! Ich habe im Moment keine Erwartungen an dich. Ich verstehe, dass du nicht einfach da weitermachen kannst, wo es aufgehört hat. Und darum bitte ich dich auch nicht. Wir hatten zwar eine Beziehung und ich bitte dich auch, dass du sie nicht einfach so beendest, auch wenn wir sie im Moment nicht weiterführen können, wie ich sie kenne. Natürlich verstehe ich, dass du nicht bereit bist einen Fremden zu küssen oder mit ihm Sex zu haben…“ Ich wollte protestieren, doch er hob nur die Hand und sprach weiter. „Ich bin für dich ein Fremder, auch wenn du mich seit Jahren kennst. Im Moment bin ich jemand, zu dem du kein Vertrauen hast. Unsere Beziehung basiert auf Vertrauen. Alles, was wir miteinander machten und hatten, basierte auf Vertrauen. Ich werde dich nie zu etwas zwingen, zu dem du nicht bereit bist.“ Ich hörte beinahe, wie die ganze Felswand von meinem Herzen rutschte und auf dem Boden zerschellte. „Lass uns fürs Erste einfach Freunde sein, in Ordnung?“ Es fühlte sich plötzlich alles so leicht an. Es war das Einfachste, was er zu mir sagen konnte und gleichzeitig auch das, was die Wand, die ich zwischen uns aufgebaut hatte zum Einstürzen brachte. Die Erleichterung schien mir anzusehen zu sein, denn Uruha begann zu lächeln. „Dummerchen! Ich würde nie etwas von dir verlangen, zu dem du nicht bereit bist. Das habe ich noch nie und das werde ich auch nie!“
 

Wieder breitete sich Stille zwischen uns aus. Ich war erleichtert, wusste aber nicht, was ich jetzt sagen sollte. Wochenlang hatte ich Angst vor seinen Erwartungen mir gegenüber gehabt. Was er haben wollte, wenn ich hier bei ihm einzog, wobei es genauso gut auch meine Wohnung war. Ich hatte Angst vor seinen Berührungen gehabt, weil ich mich davor fürchtete, dass es nicht bei einer freundschaftlichen Berührung bleiben würde. Und dann war er einfach so verständnisvoll und stellte sich selbst wieder hinten an. Eigentlich hätte ich mir das auch denken können. Uruha beendete das Schweigen, indem er das letzte Album heranzog und es zwischen uns legte. Wir blätterten es zusammen durch und ich war erleichtert, dass die Spannung zwischen uns mit einem Mal verschwunden war. Wir hatten beide die Fronten geklärt, wussten, woran wir waren und dieses Gespräch hatte uns wirklich sehr viel weiter gebracht.

Kapitel 16

~Uruha POV~
 

Ich fläzte mich auf einem Sessel und wartete schon seit geschlagenen 55 Minuten darauf, dass Aoi endlich wieder aus diesem verdammten Untersuchungszimmer kam. Natürlich hatte ich nicht mit hinein dürfen und im Grunde genommen war Aoi auch alt genug, dass er das alleine schaffte. Dennoch nervte es mich nur diese dämliche, grüne Tür anzustarren, die sich gegenüber von meinem Sitzplatz befand. Aoi hatte heute Nachmittag das letzte Mal eine Therapiestunde gehabt. In der letzten Woche hatte er es geschafft die Krücken komplett weg zu lassen. Zwar musste er sich zwischendurch hinsetzen und verschnaufen, aber er konnte schon längere Strecken ohne die Dinger zurücklegen. Die Ärzte waren sich einig, dass er den Rest auch hinbekam ohne alle zwei Tage ins Krankenhaus zu kommen und die Rehaübungen zu machen. Er war sowieso dickköpfig genug, um sich in den Kopf zu setzen gleich nächsten Montag einen Marathon zu laufen. Das einzige Problem waren die Kopfschmerzen, die ihn hin und wieder quälten – zum Beispiel wenn er sich zu lange auf etwas konzentrierte. Zuerst hatte ich geglaubt er wäre klug genug damit aufzuhören, sobald sie begannen. Als er sich jedoch zwei Mal erbrach, weil er eben nicht aufgehört hatte, empfand ich es als meine Pflicht auch hier auf ihn Acht zu geben und mittlerweile war ich gut darin zu erkennen, wann sie wieder begannen. Aoi konnte dann so viel motzen, wie er wollte, doch ich sorgte dann immer dafür, dass er Ruhe bekam.
 

Nach der Therapiesitzung wurde er abgeholt und musste noch eine Reihe von Untersuchungen über sich ergehen lassen. Eigentlich war ich froh, dass ihn die Ärzte so gründlich durchcheckten, aber davon hatte ich ja nichts gewusst und saß nun hier, wie auf dem Präsentierteller und starrte die Tür nieder. Mein Blick ging wieder zur Uhr und ich fluchte leise. Wir hätten eigentlich seid genau 8 Minuten und 34 Sekunden ein Meeting mit den Managern. Ich hatte natürlich schon angerufen und uns entschuldigt. Aber je länger die Untersuchungen dauerten, desto genervter würden die Manager dann sein, wenn wir ankamen. Es war Zeit zu klären, wie das nun alles weitergehen sollte. Zwar war das Album fertig, doch nun würden die ganzen Promotion-Interviews kommen. Außerdem würde man eine Pressemitteilung machen müssen, dass Aoi wieder auf den Beinen war. Die Fans mussten Bescheid wissen, bevor die Presse drauf kam und es hieß, wir würden unsere Fans belügen und hintergehen. Des Weiteren mussten wir vermutlich auch ein paar der Songs in Liveshows performen. Das Problem dabei war nur, dass unser Rhythmusgitarrist im Moment nicht einmal wusste, wie man einen Akkord spielte. So würde er keinen gesamten Song durchstehen. Außerdem wäre das Herumgehampel auf der Bühne zu viel für ihn, auch wenn er das nicht gerne hörte. Verdammt so viele Entscheidungen, kaum Zeit und … ich saß hier in diesem blöden Krankenhaus fest.
 

Obwohl ich sonst nicht wirklich ein Fan von den Sitzungen war, die unsere Manager abhielten, war es doch so, dass ich dieses Mal gerne dabei wäre. Ich wollte in diesem Punkt sehr wohl mitsprechen und Aoi vor unüberlegten Aktionen schützen. Er selbst wusste nicht, was da auf ihn zukam. Er würde helfen wollen, sah es als seine Verpflichtung zu helfen. Daher war er auch sehr anfällig dafür, dass ihn jemand manipulierte. Und ich würde keine Entscheidungen annehmen, die hinter unserem Rücken getroffen wurden – zum Wohle der Band. Wenigstens konnte ich mich auf die anderen verlassen. Sie würden auch nicht überall mitspielen. „In diesem Falle, wünsche ich Ihnen alles Gute!“ Ich sah auf und erhob mich, als ich erkannte, dass Aoi und der Arzt den Untersuchungsraum verließen. Aoi verbeugte sich kurz vor ihm und wartete dann auf mich. „Es ist alles in Ordnung. Ich muss nur meine Übungen machen“, sagte er dann, ohne, dass ich nachfragen musste. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich wusste nicht, dass das heute auch auf dem Programm stand.“ Ich schluckte meinen Ärger darüber hinunter, immerhin konnte er ja wirklich nichts dafür und hielt ihm die Tür auf. „Kein Problem. Aber wir müssen uns ein bisschen beeilen um zum Meeting zu kommen.“
 

Wir kamen auch nur 35 Minuten zu spät. Mann die Kerle zogen vielleicht eine Fresse. Gott das nervte mich! Wir entschuldigten uns noch einmal höflich und setzten uns dann an den runden Konferenztisch. Ruki reichte uns zwei Becher mit dampfendem Kaffee hinüber und unser Manager erklärte uns, was wir bisher verpasst hatten – nun das war nicht sonderlich viel gewesen. Aoi musterte die Männer (Sotooka-san und Morishita-san) interessiert. Ich hatte ihm im Auto einen kurzen Überblick über die Teilnehmer des Meetings gegeben, sodass er nicht ganz unvorbereitet an der Besprechung teilnehmen musste. Sotooka-san, ein kleinerer, rundlicherer Mann mit Halbglatze war zuständig für die ganzen Marketingmaßnahmen der PS Company. Morishita-san, war sein genaues Gegenteil. Er war etwas größer als ich, hatte volle schwarze Haare und sah aus, als würde er sich jeden Tag die Zunge auf einem Rad rausstrampeln – sportlich auf jeden Fall. Sein Tätigkeitsbereich … nun ja … alles? Er hatte überall seine Augen und Ohren und gab Anweisungen.
 

„Nun also … lassen Sie uns zurück zum Gespräch kommen!“, meldete sich Morishita-san zu Wort und spielte mit dem Clips des Kullis herum, den er in der Hand hielt. „Wir sind froh, dass das Album endlich aufgenommen ist. Danke für Ihren Einsatz Takashima-san“, lobte er mich, was ich lächelnd annahm. Jeder hier wusste, dass ich dafür kein Lob erwartet hatte. Es war mein Job, die Band war mein Leben und Aoi hätte nicht gewollt, dass die Fans weiterhin warten mussten. Daher war es für mich kein Thema gewesen, die ganzen Parts einzuspielen. Immerhin hatten wir ja Noten und Tabs dazu. Kai schob uns einen Zettel hinüber, auf dem die Punkte der Tagesordnung notiert waren. Ich sah kurz darüber und schob ihn weiter zu Aoi. Schmunzelnd beobachtete ich ihn, als er damit begann die Punkte sorgfältig zu lesen. So hatten wir uns am Anfang alle verhalten. Doch je länger wir diesen Job machten, desto gleichgültiger wurde es uns, was auf diesen Zetteln stand. „Nun müssen wir uns überlegen, wie wir Werbung für das Album machen sollten.“ Reita rutschte mit einem Mal weiter vor und legte seine Unterarme auf den Tisch. „So wie sonst auch. Soweit ich weiß, laufen seit Monaten kurze Clips zum Album im Fernsehen und auf Werbetafeln hab ich auch schon Anzeigen gesehen.“ Unser Manager nickte. „Ja aber das ist etwas zu wenig. Normalerweise haben wir bisher immer ein Fotoshooting dazu gehabt und Liveinterviews bei diversen Shows und im Radio.“ „Und wo ist das Problem?“, fragte Reita dann. „Das können wir doch auch machen! Es waren nicht immer alle Bandmitglieder dabei. Dann gehen wir eben immer zu zweit oder zu dritt. Fürs Erste ist es kein Problem, wenn wir Aois Auftritte mit übernehmen!“
 

Sotooka-san schüttelte den Kopf und schob sich die Brille, deren Gläser so dick waren, dass seine Augen riesig erschienen, nach oben. „Eben schon!“ Sofort lagen alle Blicke auf ihm. „Wir müssen zuerst eine Pressekonferenz abhalten in der wir zu Shiroyama-sans Gesundheitszustand Stellung nehmen. Am besten wäre es sogar, wenn er selbst daran teilnehmen würde. Wir müssen Ihre Fans darüber informieren, dass wieder alles in Ordnung ist, sonst heißt es noch, wir hätten die Fans belogen und hintergangen.“ Sehr schlechte Publicity, wenn man das so sagen konnte. Das würde uns ein paar Probleme einbringen. In diesem Fall hatte er Recht. Kai schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht! Und wenn man von uns verlangt live zu spielen, haben wir ein Problem!“, sagte er dann. Immerhin gab es keine Gründe warum eine Band Lives absagte, wenn doch alles in Ordnung war. „Das wissen wir“, mischte Morishita-san sich wieder ein. „Was glaubt ihr? Wird das Album ein Erfolg, wenn sie wissen, dass Shiroyama-san daran nicht beteiligt war?“ Aoi sah betreten auf die Tischplatte vor sich. Ruki schnalzte leise mit der Zunge. „Kai ich bin auch dafür. Fürs Erste muss man keine Anfragen für Liveauftritte annehmen. Und schlimmstenfalls müssen wir eben Playback spielen!“ Mir klappte der Unterkiefer herunter. Dass ausgerechnet Ruki sowas sagte! Ich hatte damit gerechnet, dass vor allem er ein Problem damit haben würde. Auch Kai und Reita starrten ihn überrascht an.
 

„Und wie geht es dann weiter?“, fragte Reita, ohne auf die vorherigen Punkte einzugehen. Er wollte zuerst abklären, wie sie sich das vorgestellt hatten. „Zuerst werden wir die Pressekonferenz bezüglich Aois Gesundheitszustand geben. Anschließend gibt es auch Auftritte in Liveshows. Keine Angst ihr müsst dabei nicht spielen, sondern nur das Album vorstellen“, erklärte unser Manager. „Auch hier sollte es kein Problem sein, wenn Aoi mitkommt. Einfach nur um die Präsenz wieder zu steigern.“ Er sah unseren Rhythmusgitarristen an und wartete, bis dieser nickte. „Das wäre für mich in Ordnung“, sagte er dann. Es gefiel ihm nicht, dass er der Grund war, weshalb wir hier zusammensaßen. Darum würde er vermutlich auch überall zustimmen, egal was sie ihm vorschlugen. Zeit mich einzuschalten. „Eine Sache dazu. Wir werden Rücksicht auf seinen Zustand nehmen. Wenn es ihm nicht gut geht, wird er nicht auf die Bühne gehen. Dann müssen eben Interviews teilweise ohne ihn gemacht werden.“ Aoi sah mich entrüstet an. Doch ich schüttelte den Kopf. „Nein Yuu, wir werden darüber nicht diskutieren. Wenn du schon nicht auf deine Gesundheit aufpasst, dann werde ich das für dich übernehmen.“ Die anderen warfen sich kurz fragende Blicke zu, doch sie waren klug genug, die Klappen zu halten. Aoi holte Luft um wohl etwas zu erwidern, doch anscheinend war er wirklich sprachlos. Bevor es aber zu einem Streit ausartete, räusperte sich unser Manager und nickte. „Das wäre auf jeden Fall so gelaufen“, sagte er dann. Reita zupfte an einer Haarsträhne herum und trank einen Schluck von seinem schwarzen Kaffee. „Ok also Pressekonferenz und Interviews zum Album. Sonst noch was?“
 

Sotooka-san nickte vage. „Wir haben uns überlegt noch ein Fotoshooting anzusetzen. Das kommt aber ganz auf Shiroyama-san an. Wie gesagt …“ Er drehte sich zu Aoi und musterte ihn. Sein Blick gefiel mir nicht. Dass die beiden so was wie eine private Fehde hatten, wusste jeder hier im Raum. Aoi konnte sich daran nicht mehr erinnern. Sotooka-san jedoch schon. „… wir wollen Sie nicht überfordern. Wenn es Ihnen nicht gut geht, dann müssen Sie uns das mitteilen!“, sagte er dann. „Daher wird das Fotoshooting auch erst anlaufen, wenn wir sicher sind, dass Sie den Stress auch vertragen. Vielleicht mag es sich im Moment einfach anhören, das ist es aber weiß Gott nicht. Fragen Sie Ihre Kollegen. Sie können Ihnen wohl am besten sagen, wie anstrengend ein Fotoshooting und auch Interviews sein können. Sie spielen auf der Bühne eine Rolle. In der wirklichen Welt sind Sie Shiroyama-san. Aber auf der Bühne und auf Interviews sind Sie Aoi. Das ist ein Unterschied. Daher bitte ich Sie sich doch etwas zurückzunehmen und sich nicht auszupowern. Wir können es uns leisten das Ganze langsam anzugehen. Aber nicht, dass Sie noch ein Mal im Krankenhaus landen. In diesem Punkt hat Ihr Freund recht“, sagte er dann ernst. Aoi wurde leicht rot, als Sotooka-san mich so einfach als seinen Freund betitelte. Jeder hier wusste, wie das genau gemeint war. Und auch Aoi nahm es richtig auf.
 

Aoi sah zwischen uns hin und her. Vermutlich dachte er gerade an eine Verschwörung. Doch schließlich nickte er leicht. „Einverstanden“, sagte er dann nur und lehnte sich im Stuhl zurück. Gut, damit war ich zufrieden. „Wann soll es los gehen?“, fragte ich. Unser Manager trank einen Schluck von seinem bereits kalten Kaffee und stellte die Tasse dann wieder ab. „Wir hatten gehofft, dass ihr bereits in 3 Wochen loslegen könnt. Wenn das aber zu früh ist, dann können wir das auch weiter nach hinten verschieben.“ Ruki sah ihn an. „Du meinst die Pressekonferenz sollte in 3 Wochen stattfinden oder?“ Unser Manager nickte sofort. „Klar. Die Interviews müssen wir noch festlegen. Aber das wird eine Hektik werden, wenn die Pressekonferenz gelaufen ist. Die Sender werden sich um euch reißen – vor allem, weil die ein Interview von Aoi bekommen wollen. Aber wir werden die Termine so legen, dass es in dieser Hinsicht keine Probleme geben sollte. Ihr habt genug Zeit um euch auf die Interviews vorzubereiten und wir werden euch keine Termine einplanen, die zu hektisch sind. Wie Sotooka-san bereits gesagt hat: Es ist in Ordnung alles etwas weitläufiger zu planen, aber nicht, dass Aoi wieder im Krankenhaus landet, weil wir ihn überfordert haben.“
 

Soweit so gut. Solange sie es wirklich langsam angingen, konnte ich eh nichts dagegen sagen. Drei Wochen würden reichen, damit er wirklich an einer Pressekonferenz teilnehmen konnte, falls es nicht ging, musste sie eben kurzfristig abgesagt werden. „Wir bleiben dabei, dass Aoi wirklich ganz fit ist?“, fragte Kai dann nach. Sotooka-san nickte vage. „Wir haben lange darüber diskutiert, wie das weitergehen sollte…“ „…und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir uns vermutlich einen größeren Schaden zufügen, wenn wir die Wahrheit ausplaudern“, beendete Morishita-san den Satz. „Wenn wir jetzt sagen, dass Shiroyama-san sein Gedächtnis verloren hat, zieht das einen ganzen Rattenschwanz an Problemen mit sich. Erstens würde das sehr wohl bedeuten, dass das Album nicht mit ihm aufgenommen wurde. An sich ist es nicht so problematisch zu sagen, dass Sie, Takashima-san, die ganzen Parts eingespielt haben. Es ist sicher unproblematischer, als wenn man einen Externen dazugeholt hätte. Aber dennoch würde das Einbußen bei den Verkäufen zur Folge haben.“ Sotooka-san nickte leicht, während Aoi unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte. Es war ihm sichtlich unangenehm der Grund für diese Probleme zu sein. Oder eher: Dass sein fehlendes Gedächtnis der Grund dafür war. „Dazu kommt, dass wir nicht wissen, wie lange der Gedächtnisverlust anhält. Shiroyama-san kann mit Sicherheit DVDs und Clips ansehen und sein Verhalten dem anpassen, das er auch sonst auf der Bühne hat. Daher sind Interviews kein Problem. Des Weiteren können alle anderen hier auch schwierige Fragen für ihn übernehmen. Ihr seid doch gut darin euch aus kniffligen Affären rauszuziehen. Es ist aber ein Problem, wenn er nicht weiß, wie man Gitarre spielt! Und wenn man es wirklich neu lernen muss, wird es mit Sicherheit Jahre dauern, bis er wieder so gut ist, wie er es einmal war.“ Er sah in die Runde und schob die Brille wieder hoch. „Nun ja, vielleicht nicht Jahre … immerhin konnten Sie es ja schon“, sagte er dann an Aoi gewandt. „Aber es wird doch länger dauern. Für diesen Fall werden wir einfach behaupten, dass wir auf das OK des Arztes warten, bis Aoi wieder auf die Bühne kann, weil er noch kein ganzes Konzert durchstehen wird. Aber kein Wort bezüglich des Gedächtnisverlusts oder dem anderen Problem. Sonst sieht es ziemlich schlecht aus!“ Jedem war klar, was er damit meinte: Keine Lives, keine Auftritte in Shows, keine Touren, keine Singles, keine … Band.
 

Unser Manager fuhr sich durch die Haare und schenkte sich und Reita noch eine Tasse Kaffee nach. „Verstehen Sie uns nicht falsch. Wir wollen Ihnen ja nur helfen. Wenn die Ärzte sagen, dass Ihr Gedächtnis nächste Woche wieder zurückkommt, ist es kein Problem, Ihren Gesundheitszustand der Presse mitzuteilen. Da wir aber nicht sagen können, wie es Ihnen geht und vor allem, wann und ob Ihre Erinnerungen zurückkommen, nehmen wir uns mit der Wahrheit die Möglichkeit, Ihre Parts Playback einzuspielen oder die gesamte Band Playback spielen zu lassen“, sagte er dann zu Aoi. Sofort begannen alle durcheinander zu reden, bis Kai auf den Tisch schlug. „Schluss jetzt!“ Er presste die Finger aufeinander und schüttelte den Kopf. „Leute ich weiß, dass ihr nicht unbedingt scharf drauf seid alles auf Playback zu spielen. Aber wenn es nicht anders geht, müssen wir diese Möglichkeit in Betracht ziehen.“ Als wieder Proteste laut wurden meinte er dann. „Zum Wohle der Band!“ Und mit einem Schlag wurde es ruhig. Aoi biss sich auf die Unterlippe. „Darf ich … dazu etwas sagen?“, fragte er dann.
 

„Es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Wenn ich könnte, würde ich sofort wieder weitermachen, wo wir unterbrochen wurden. Ich will euch nicht behindern, kein Klotz am Bein sein…“ Kai unterbrach ihn. „Du wirst nicht aussteigen Aoi! Wir brauchen dich. Du gehörst zur Band!“ Ein leichtes Lächeln, legte sich auf die Lippen unseres Gitarristen. „Ich habe darüber schon mit Uruha gesprochen. Es ist zu früh um jetzt alles hinzuwerfen. Wenn meine Erinnerungen in zwei Wochen doch zurückkommen, dann wäre unser aller Traum zerstört, obwohl es nicht hätte passieren müssen. Außerdem bin ich egoistisch genug das Leben, das ich geführt habe weiterleben zu wollen. Ich möchte es kennen lernen.“ Er war unglaublich. Wir hatten stundenlang über dieses Thema diskutiert und im Allgemeinen waren wir beide auf die gleichen Lösungen gekommen. Egoismus konnte man es aber nicht nennen, wenn man sich selbst kennenlernen wollte. In den Gesichtern der anderen spiegelte sich grenzenlose Erleichterung. Sie waren froh, dass Aoi es nicht in Betracht zog zu gehen. „Ich werde versuchen diese Pressekonferenz durchzustehen. Und auch die anderen Interviews, wenn es geht. Außerdem werde ich mir Videos angucken um meine …“ Sein Blick ging zu Sotooka-san. „…Rolle zu spielen. Aber dabei werde ich eure Unterstützung brauchen“, sagte er dann, woraufhin alle nickten. „Die wirst du bekommen, Aoi. Wir halten doch immer zusammen“, erwiderte Kai dann grinsend. „Ja … wie Pech und Schwefel“, ließ sich Reita trocken vernehmen.

Kapitel 17

~Aoi POV~
 

Das Meeting war nicht halb so schrecklich verlaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte zuerst wirklich etwas Angst gehabt, was da wohl auf mich zukommen würde. Vor allem hatte ich mich schlecht gefühlt, da ich immer noch nicht ansatzweise Gitarre spielen konnte. Sie erwarteten doch sowas von mir, oder? Sie erwarteten doch, dass ich weitermachen konnte, dass ich mich auf die Bühne stellte und mit ihnen performe. Doch nichts von alldem wurde angesprochen. Niemand drängte mich dazu schneller oder härter zu arbeiten. Sie nahmen Rücksicht auf mich und irgendwie begann ich diese Jungs zu mögen. Sie hätten mich schon längst rausschmeißen können. Sie hätten nicht warten müssen. Und doch warteten sie und gingen langsamer, damit ich sie wieder einholen konnte. War das Freundschaft? Ich meinte … echte, tiefe Freundschaft, wie man es nur bei ein paar wenigen Leuten fühlte. Oder waren sie auf ihren eigenen Vorteil bedacht?
 

Die beiden Manager waren eigentlich recht nett gewesen. Sie versuchten mich so weit wie möglich zu schonen, mich aber wieder langsam ins Geschehen einzubinden. Ich war froh darüber, dass sie mich nicht einfach krankschreiben ließen sondern wollten, dass ich weitermache. Wenn es nach Uruha ging, dann wäre ich immer noch zu Hause auf der Couch. OK, das war gerade nicht fair gewesen. Er war ein netter Typ und auch immer für mich da, wenn ich ihn brauchte – sogar, wenn ich ihn nicht brauchte. Er machte sich nur Sorgen um mich. Auch das verstand ich. Dennoch hatte es mich wirklich überrascht, dass er sich so direkt gegen mich gestellt und verlangt hatte, dass ich es langsam angehe. Andererseits fand ich es auch wieder … lieb von ihm. Er wollte mich davor schützen etwas Dämliches zu machen oder mich zu überfordern. Und um ehrlich zu sein war mein Verlangen nach einem weiteren Krankenhausbesuch nicht wirklich vorhanden – das war es nie gewesen. „Gut. Fürs Erste können wir das so stehen lassen“, sagte unser Manager und nickte zufrieden. „Für alle 10 Minuten Rauchpause und dann treffen wir uns wieder hier um noch kurz darüber zu diskutieren, wie wir die Pressekonferenz gestalten sollten. Dazu müssen wir uns noch ein paar Gedanken machen. Auch darüber, was wir sagen und wie wir auf bestimmte Fragen reagieren.“ Zustimmendes Nicken folgte und schon war Reita aus dem Raum verschwunden. „Die Sucht!“, sagte Kai nur, als er meinen fragenden Blick bemerkte. Weder ich noch Uruha rauchten, auch wenn ich glaubte, dass wir geraucht hatten. Aber warum wieder anfangen, wenn ich dann – laut Uruha – sowieso wieder erfolglos beginnen würde mir das abzugewöhnen? Dennoch erhob ich mich und folgte den anderen nach draußen. Uruha stellte sich neben Ruki und spielte am Verschluss seiner Mineralwasserflasche herum, während sich die anderen drei ihre Glimmstängel anzündeten.
 

Ruki stieß den Rauch aus und sah dann in die Runde. „Was sagt ihr dazu?“, fragte er dann ruhig und ich sah ihn erstaunt an. Warum fragte er das nun? Immerhin dachte ich, dass das nun geklärt war! Kai überlegte und zuckte dann mit den Schultern. „Sie waren heute doch recht vernünftig. Vielleicht auch deshalb, weil sie wussten, dass sie Probleme bekommen würden, wenn sie Aoi zu sehr einspannen!“ Uruha nickte zustimmend. Oh ja ihm hätte es nicht gefallen. Er war in der Hinsicht sehr beschützend. Reita aschte ab und zuckte nur mit den Schultern. „Ich denke, dass wir hier fürs Erste mitspielen können. So unvernünftig ist es nicht!“ Nein, das war es nicht. Aber sie setzten darauf, dass ich mich erinnern konnte – nach ein paar Wochen. Sie glaubten daran. Ich jedoch begann daran zu zweifeln, je länger mein Gedächtnis sich gegen mich stellte. Ich hatte ab und zu das Gefühl jemanden kennen zu müssen. Das hatte ich jedoch auch nur bei sehr wenigen Menschen. Der Arzt meinte, dass nach und nach ein paar Erinnerungsfetzen kommen sollten. Vor allem dann, wenn ich mir bekannte Dinge ansah, oder früheren Hobbys nachging. Doch auch dahingehend war bisher nichts geschehen. Ich hatte Fotos und Videos angeguckt, Magazine durchgeblättert. Nichts hatte geholfen. Uruha versuchte mich zu beruhigen indem er sagte, dass ich zu ungeduldig wäre. Aber man konnte es mir doch nicht verübeln oder? „Aoi!“, drang es an mein Ohr und ich sah überrascht auf. Ich war wieder in meinen Gedanken versunken und hatte nicht bemerkt, dass die anderen bereits wieder auf dem Rückweg waren. Uruha wartete auf mich und lächelte nur. „Ich muss noch aufs WC“, sagte ich dann etwas betreten und folgte ihm die Treppe hoch. Er blieb vor dem Meetingraum stehen und zeigte dann den Gang entlang. „Einfach hier hinunter, dann links und die zweite Tür rechts“, sagte er dann. Nickend drehte ich mich um, während er die Tür öffnete und sich zu den anderen setzte.
 

Da es recht ruhig gewesen war, hatte ich geglaubt, dass wir die Einzigen waren, die dieses Stockwerk benutzten. Doch als ich nun den Gang hinunter ging, hörte ich sehr wohl aus zwei weiteren Räumen Musik und Stimmen kommen. Ich stockte, als ich am Ende des Gangs angekommen war. Hatte Uruha zuerst links und dann rechts, oder zuerst rechts und dann links gesagt? Ich entschied mich für Zweiteres und bog in den nächsten Gang ein. Zwar fand ich keine Toilette, aber einen Aufenthaltsraum. Neugierig steckte ich meinen Kopf hinein und sah mich um. Es gab einen Kaffeeautomaten, einen für Getränke und einen für Süßkram. Außerdem einen Kühlschrank, eine Kochecke und einen großen Tisch in der Mitte des Raums, um den mehrere Stühle standen. Die Spülmaschine lief, was die Geräuschkulisse erklärte. Ich zog etwas Kleingeld aus meiner Tasche und beäugte dann das Angebot des Süßkrams. Irgendwie hatte ich gerade total Lust auf etwas mit viel Zucker!
 

„…gemacht. Das ist Aoi, oder?“ Ich zuckte beim klang meines Namens zusammen und drehte mich langsam um. Zwei Männer kamen rein – strahlend. „Hey Aoi! Wie geht es dir!?“ Ich wurde zuerst von dem größeren, einem gutaussehenden Kerl mit rötlich gefärbten Haaren und einer sehr markanten Nase umarmt und dann folgte ein kleinerer Mann. Er war blond, hatte seine Augen dunkel geschminkt und grinste, als wollte er Kai Konkurrenz machen. Ich ließ es über mich ergehen, wurde dabei aber steifer, als ein Brett. Sobald ich losgelassen wurde, ging ich wieder auf Abstand und schluckte trocken. Ok. Sie kannten mich! Anscheinend auch recht gut, wenn die mich einfach so antatschten. Immerhin war das absolut nicht gang und gäbe. „Was ist denn los mit dir?“, fragte dann der Größere der beiden und boxte mich spielerisch auf den Oberarm. „Wie geht es dir?“ Ich schluckte und beschloss dann zumindest was zu antworten. Immerhin schienen wir Kollegen zu sein. „Danke, gut. Es wird wieder.“ „Freut uns zu hören! Wir haben einen riesen Schrecken bekommen, als wir das von dem Unfall hörten. Uruha war ja auch im Krankenhaus, nicht?“, erwiderte der Kleinere und druckte sich eine Packung Gummibärchen raus. „Hmm … ja war er. Aber er durfte vor mir wieder raus. Und wie … geht’s euch?“, fragte ich dann etwas zögernd nach. Nicht, dass es mich groß interessierte. Immerhin kannte ich die beiden ja nicht. Doch anscheinend war die Frage richtig gewesen, denn ihre Augen begannen zu leuchten. „Oh wir sind gerade von der Tour zurück gekommen. Sonst hätten wir dich natürlich schon im Krankenhaus besucht!“ Der Rothaarige schmunzelte leicht und nahm den Kaffee aus der Maschine, als diese piepste und somit bestätigte, dass das Zeug trinkbereit war. Automatenkaffee mochte ich nicht. Das hatte ich schon ausprobiert.
 

„Oh ja. Es war richtig cool! Saga hat zwar einmal die Pressekonferenz verschlafen, aber ich denke nicht, dass er dabei groß was verpasst hat!“ „Das war Taktik, Shou! Ich wollte da sowieso nicht mit!“ Shou und Saga also. Dann konnte ich sie wenigstens mit ihrem Namen ansprechen. Außerdem mussten sie wohl auch in einer Band spielen, da sie gerade von einer Tour gekommen waren. Ich kannte die Jungs von irgendwoher. Einem Foto? Einer DVD? Oder hatte ich sie im Fernsehen gesehen? Mein Kopf begann zu rattern. Woher? Sie stellten sich zu mir an den Tisch und erzählten ein bisschen von der Tour, was an mir allerdings recht spurlos vorbeiging. Ein Bericht? Sie hatten anders ausgesehen. Jedoch hatten sie dort ja auch auf der Bühne gestanden. Ich wusste, dass man dort oftmals auch ganz anders geschminkt und angezogen war. Aber die Namen… „Ja und wir hatten auch viele Interviews – sogar mit Dolmetscher …“ Alice Nine! Genau. Der Name der Band! Es war Alice Nine! Mit … mit Shou, Saga, Nao, Hiroto und … und … Gut der letzte Name fiel mir nicht ein, aber meine Euphorie kam zurück. Allerdings wusste ich auch, dass es nicht meine Erinnerungen waren, die zurückkamen. Ich hatte ein paar Ausschnitte der Tour auf einem Musiksender gesehen! Aber ich war stolz zumindest eine Verbindung herstellen zu können. Die beiden erzählten recht lebhaft von der Tour und irgendwie fühlte ich mich nicht mehr so fremd hier. „Aoi?“ Ich sah auf und musterte Uruha, der am Türrahmen lehnte. „Hey ihr zwei! Wie war die Tour!?“, fragte er dann und klatschte mit Saga ab, als er zu uns an den Tisch kam. Die beiden schienen sich gut zu verstehen. Wieder begannen sie von vorne und gaben ihm einen kurzen Überblick, bis Uruha sie unterbrach. „Klingt nach einer super Tour, aber ich muss Aoi jetzt wieder entführen. Wir haben eigentlich ein Meeting!“ Dabei verdrehte er die Augen und Saga begann zu lachen. „Na dann, viel Spaß! Man sieht sich!“ Damit verschwanden die beiden auch schon aus dem Gemeinschaftsraum und ich blieb mit Uruha zurück.
 

„Wow!“, entkam es mir dann, woraufhin Uruha lachen musste. „Hmmhmm die beiden quatschen recht gerne, wenn wir unter uns sind!“, sagte er dann. „Aber sie sind total in Ordnung.“ Ich nickte zustimmend. „Ja das sind sie wohl. Auch wenn mich der Überfall etwas überrascht und aus der Bahn geworfen hat. Aber damit werde ich wohl noch öfter zu tun bekommen. Mit Überfällen, meinte ich.“ Ich folgte Uruha zuerst zur Toilette und dann wieder zurück in den Meetingraum, wo bereits eine heftige Diskussion im Gange war. Ruki saß zwischen Kai und Reita und starrte auf den Block, den er vor sich liegen hatte und ließ die beiden mit den Managern diskutieren. Ab und zu kritzelte er auch wieder darauf herum, kehrte dann aber wieder in seine Nachdenkhaltung zurück. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz und beschloss erstmal die Klappe zu halten. Da ich ja nicht wusste um was es ging, konnte ich schlecht mitreden. Generell konnte ich nirgends mitreden, da ich von der ganzen Materie doch sowieso nichts verstand. Schlussendlich verebbte die Diskussion, als Sotooka-san einlenkte sich das nochmal durch den Kopf gehen zu lassen. Es wurden noch ein paar Punkte auf der Liste angesprochen, aber die hatten wir recht schnell geklärt. Auch unser Verhalten in Interviews sollte durchgespielt werden. Dazu würde es demnächst einen Testlauf geben – ein nachgespieltes Interview mit gemeinen Fragen, die wir dann gekonnt abwimmeln sollten. Jedoch wurde das erst in zwei Wochen angesetzt, damit ich noch etwas Zeit bekam um mich zu erholen. Für heute war es genug – entschieden die Manager dann.

Ruki legte seinen Stift zur Seite und packte dann alles in eine Tasche, die er dabei hatte. Er wartete noch ab, bis die Manager den Raum verlassen hatten und drehte sich dann zu uns um. „Ich würde vorschlagen, dass wir auf Aois Genesung und seinen ersten Tag hier anstoßen!“ Reita nickte zustimmend. „Eine Willkommen-zurück-Party! Ich bin dabei!“ Unser Vocal verdrehte die Augen, grinste aber. „Klar, dass du dabei bist!“ Hieß das, dass Reita immer dabei war, wenn es um Partys ging? Ich bemerkte Uruhas fragenden Blick. Er hielt sich zurück, bis ich etwas dazu sagte. Um ehrlich zu sein, war mir nicht wirklich nach Party. Ich fühlte mich müde und erschöpft. Aber andererseits fand ich die Geste auch lieb. Daher stimmte ich schlussendlich auch zu.

Kapitel 18

~Uruha POV~
 

Die Fahrt zum Club war relativ in Ordnung. Die Straßen waren nicht ganz so verstopft und wir kamen zügig voran. Aoi wurde immer noch blass, wenn er im Auto mitfahren musste. Es gefiel ihm nach wie vor nicht, aber langsam begann er sich daran zu gewöhnen. Zumindest zuckte er nicht mehr bei jeder Kreuzung zusammen und seine Hände, die auf seinen Oberschenkeln lagen, verkrampften sich auch nicht mehr. Ich parkte im Hinterhof des Clubs. Schade, dass ich fahren musste, aber so würde ich mit Sicherheit nichts trinken. Aoi riss die Tür auf, kaum, dass der Wagen hielt und atmete tief durch. Ach ja … das machte er schon noch. Wir warteten beim Auto auf die anderen, die bald nach uns eintrafen und betraten den Club anschließend gemeinsam.
 

Aoi zog zischend die Luft ein, als er eintrat. Oh ja es war sehr speziell hier drin. Der Club war in drei große Bereiche aufgeteilt. Außerdem gab es einen weiteren Stock, in den nur erlesene Persönlichkeiten hoch durften. Auf den Längsseiten des Raums befanden sich abgetrennte Nischen. Jedoch gab es dort keine Sitzplätze und Tische, wie es sie im Herzen des Clubs, rund um die ovale Bar herum gab, sondern dicke Matratzen, mit schwarzem Bezug, auf denen rote Kissen drapiert waren. Mit dichten, roten Vorhängen konnte man die Außenwelt ausschließen und die Nische für eigene Partys nutzen …

Im vorderen Bereich, rund um die Bar herum, befanden sich Sitzinseln – mal für mehr und mal für weniger Personen. Jedoch reichte der Platz dazwischen sehr wohl auch zum Tanzen aus. Im hinteren Bereich befand sich die Bühne, auf der sich zahlreiche Tänzer drängten. Sie war etwas erhöht, sodass man einen tollen Blick auf den gesamten Sitzbereich und die Bar hatte. Des Weiteren gab es eine weitere Erhöhung für den DJ, der auf die Tanzenden hinuntersehen konnte. Der Raum war abgedunkelt, wie es sich in jedem vernünftigen Nachtclub gehörte, nur die Stroboskoplichter blitzten immer wieder auf. Die Bühne wurde von unten mit blauem, die Bar mit violettem Licht beleuchtet. Wir durchquerten den Club und ich griff nach Aois Hand, um ihn in der Menge nicht zu verlieren, immerhin wussten wir, wo wir hin wollten, Aoi nicht. Er ließ es auch einfach geschehen und folgte mir.
 

Durch eine Treppe auf der linken Seite des Raumes, gelangte man in das obere Stockwerk. Der Türsteher dort kannte uns bereits und öffnete auch gleich die Tür. Dann nahm er seine Position wieder ein und passte einen jungen Mann ab, der hinter uns die Treppe hoch stieg. Durch eine weitere Tür kam man schließlich in den VIP-Bereich des Clubs. Auch dieser Raum war recht groß, auch wenn er nur die Hälfte des unteren Stockwerks einnahm. Die restliche Fläche bestand aus Büros, Toiletten, Umziehräumen, etc (kurz: ein Bereich für die Angestellten). Auch hier gab es wieder die Nischen, jedoch nicht so viele, wobei bereits mehrere belegt waren. Die Bar nahm die ganze Seitenwand ein, während die Tische rund um eine Tanzfläche standen, deren Boden aus einem speziellen Glas bestand. Von oben konnte man auf die tanzende Menge unter sich sehen, doch von unten sah es aus, als würden Spiegel an der Decke hängen. Auch hier herrschte Dämmerlicht, nur die Bar war beleuchtet. Jedoch war der Lärmpegel hier oben nicht so groß. Ein paar Pärchen bewegten sich auf der Tanzfläche. Doch eigentlich lautete die Devise: Wer wirklich abtanzen will soll nach unten gehen! Immerhin ging dort wirklich die Post ab. Da wir aber nur was trinken und nicht unbedingt abrocken wollten, reichte es hier auch.
 

„Wow. Es ist echt unglaublich hier!“, staunte Aoi und setzte sich neben mich. Sein Blick schweifte wieder über die Menge, die unter uns tobte. „Sind wir öfter hier?“ Kai streckte die Beine aus und zuckte mit den Schultern. „Hin und wieder, wenn es was zu feiern gibt“, erklärte er dann. Aoi nickte leicht und sah auf, als ein paar Getränke klirrend vor ihm abgestellt wurden. Reita und Ruki ließen sich auch auf die Sitze fallen und griffen nach ihren Gläsern. Der Bassist schob mir eines hinüber. „Chuhai Lemon“, erklärte er dann, als ich die Augenbrauen hob. Gut. Das Zeug hatte kaum Alkoholgehalt und zum Anstoßen und Nach-Hause-Fahren würde es wohl in Ordnung sein. Mein Freund starrte auf das Glas, das noch übrig war und sah uns dann an. „Asahi Super Dry … dein…!“, kam es von Ruki. Er verbiss sich aber eindeutig den Teil in dem er ihm wieder gesagt hätte, was Aoi mochte und was nicht. Wir hatten mittlerweile gelernt ihn Dinge einfach selbst ausprobieren zu lassen. Er wurde immer sauer, wenn jemand versuchte ihm zu sagen, was er zu mögen und nicht zu mögen hatte. „… probiere es einfach.“
 

Kai hob sein Glas und führte es zur Mitte. „Na dann. Wir sind alle froh, dass es euch beiden wieder gut geht und das Schlimmste überstanden ist. Herzlich willkommen zurück Aoi!“ Wir stießen an und ich musste grinsen, als Aois Augen zu leuchten begannen, als er am Bier nippte. Einige Zeit lang unterhielten wir uns über die Band, die bevorstehenden Interviews und über das Album. Aoi begann langsam lebhafter zu werden. So, wie wir ihn eigentlich kannten. Er stellte auch viele Fragen, versuchte sich in den Antworten zu finden und ahmte schließlich verschiedene Dialekte nach, was Ruki und Reita jedes Mal wieder zum Lachen brachte. Seltsam war nur, dass er sich irgendwie daran erinnern konnte, dass er fließend drei verschiedene Dialekte sprechen konnte. Ich sagte es ihm nicht, aber für mich war das ein gutes Zeichen, dass es wieder besser werden würde. Oder … es lag am Alkohol. Zwar hatte er nur ein Glas getrunken, aber er schien schon beschwipst zu sein. Dann jedoch fiel mir siedend heiß ein, dass er ja Tabletten nehmen musste – zu dem Zeitpunkt hatte er allerdings schon fast ausgetrunken. Verflucht! Ich Idiot!!! Jeder wusste doch, dass sich Tabletten und Alkohol nicht vertragen. In dem Fall hatte ich als Aufpasser wohl kläglich versagt! Aber er war nicht der Einzige, bei dem der Alkohol wirkte. Während ich bei meinem ersten und einzigen Glas Chuhai Lemon geblieben war, sorgten Reita und Ruki immer wieder für Nachschub. Auch Kai schien das langsam zu bemerken, denn er ließ sein volles Glas einfach stehen und lehnte jedes Mal mit der Begründung ab, dass er ja immer noch nicht fertig sei. Zwar hatte niemand vor sternhagelvoll den Club zu verlassen, aber die beiden merkten nicht einmal, dass es immer mehr wurde.
 

Schlussendlich beschlossen Ruki, Reita und Aoi auch noch tanzen zu gehen. Langsam war ich echt genervt von den dreien. Ich war einfach müde und wollte ins Bett. Da war nichts mehr mit tanzen, sonst hätte ich mir meinen Freund einfach geschnappt. Wobei ich mir nicht sicher war, ob er das genossen hätte, so wie früher. Außerdem sollte Aoi den Teufel tun und auf einer Tanzfläche herumhüpfen. Allerdings hatte er mich nur wütend angesehen als ich versucht hatte etwas einzuwenden und war mit den anderen beiden losgezogen. Ich seufzte leise, pustete eine Strähne aus meinem Sichtfeld und stellte mir mein kuscheliges Bett vor. Blöderweise musste ich Aoi mitnehmen, der würde in seinem Zustand nicht mal mehr aus dem Club, geschweige denn unsere Wohnung finden! Ich fragte mich, ob er unsere Wohnung im nüchternen Zustand finden würde – im Moment wohl nicht. Allerdings kannte er die Adresse. Wenn es hart auf hart kam, konnte er ja immer noch ein Taxi nehmen. Nicht, dass Aoi sonst trank. Klar gingen wir hin und wieder aus, aber dann blieb es bei zwei, drei Getränken und dann gings ab nach Hause und ins Bett, oder in die Dusche, oder in die Küche, oder dem Balkon (wobei wir das wohl nicht mehr versuchen sollten, nachdem wir das letzte Mal beinahe eine Klage am Hals hatten). Er hatte in den letzten drei Jahren nie wirklich einen Rausch gehabt und dieser heute war ja eigentlich auch nur auf meine Dummheit zurückzuführen. Ich hätte ihn das Bier gar nicht trinken lassen dürfen.
 

Kai seufzte nur und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Lass sie!“, meinte er dann nur, als ich noch was sagen wollte. Aber er hatte Recht. Sie waren erwachsene Leute und selbst wenn die ganzen Fangirls da unten auf sie sprangen, würde ich nicht mal mit dem kleinen Finger zucken. Das sollte ihnen dann eine Lehre sein! Vernünftigerweise blieben sie jedoch in diesem Stockwerk. Wow ich hatte nicht bemerkt, wie voll die Tanzfläche hier mittlerweile geworden war. Ruki hatte auch gleich ein Mädel an der Angel und grinste nur zu uns hinüber, während er in der Menge untertauchte und weitertanzte. „Das wird eine lange Nacht“, murmelte ich und sah zu Kai hinüber der nur zu lächeln begann. Er war in solchen Momenten immer so schön ruhig. Ich sollte mir eindeutig eine Scheibe von ihm abschneiden. Aber vielleicht färbte das ja auf mich ab, wenn ich hier bei ihm sitzen blieb.
 

Ich hielt meine Hand vor, als ich gähnte und schüttelte den Kopf. Mittlerweile war eine halbe Stunde vergangen und ich würde wirklich gleich einschlafen, wenn ich länger hier sitzen blieb. „Tut mir leid Kai. Ich hole Aoi und wir düsen dann nach Hause. Er sollte sich eigentlich nicht überanstrengen und hier herumzuhüpfen tut ihm vermutlich auch nicht gut. Dass er dieses bescheuerte Bier getrunken hat war auch eine dämliche Idee! Außerdem bin ich völlig hinüber. Ich muss ins Bett!“ Die Arbeiten am Album hatten mich ziemlich mitgenommen. Der Drummer nickte nur verständnisvoll und sah zur Tanzfläche hinüber. „Tut mir leid, ich hätte etwas gesagt, wenn ich daran gedacht hätte!“, entschuldigte er sich mit einem ziemlich zerknirschten Gesichtsausdruck. „Nutzt die zwei freien Wochen um ein bisschen auszuschlafen und euch zu erholen. Das könnt ihr beide wirklich gebrauchen. Habt ihr sonst noch was vor?“ Nun Aois Eltern wollten eigentlich vorbei kommen. Aber so wirklich fixiert hatten wir den Termin mit ihnen noch nicht. Und wenn daraus nichts wurde, konnten wir immer noch eine Tour durch Tokyo machen. Vielleicht würde das die Erinnerungen ein bisschen aufrütteln. Oder Aoi musste mehr trinken… Ich erzählte Kai von den Plänen und erhob mich dann um meinen Freund zu suchen. Auch Kai erhob sich. „Ich bin auch weg, bis dann!“, verabschiedete er sich und schon war er in der Menge verschwunden und ich machte mich auf die Suche nach Aoi.
 

Der Erste, den ich fand, war Reita. Er stand mit einer schwarzhaarigen Schönheit an der Bar und flirtete unverhohlen mit ihr. Ich wünschte ihm auf jeden Fall viel Glück mit ihr und wank ihm kurz zu, als sein Blick mich streifte. Er schien zu verstehen und hob seine Hand zum Abschied. Dann lag seine Aufmerksamkeit wieder auf der jungen Frau. Ich ließ mich von der Menge herumschieben und stöhnte auf. Verdammt, so würde ich meinen Freund sicher nicht finden. Dabei steuerte ich an Ruki vorbei, der immer noch mit dem Mädel von zuvor tanzte. Auch ihm wank ich zu, doch der Vocal sah mich nicht einmal. Nach einer weiteren Ewigkeit in der tanzenden Menge, fand ich Aoi schließlich. Wie erstarrt blieb ich stehen. Mein Kopf war plötzlich wie leer gefegt, während meine Knie immer weicher wurden und ich das Gefühl hatte, gleich hier zusammensinken zu müssen. Er hatte seine Arme besitzergreifend um eine junge Frau geschlungen. Sie war … hübsch, auch wenn ich es hasste das zugeben zu müssen. Lange, dunkle Haare, kirschrote Lippen und einen wundervollen Körper. Sie trug hochhackige Schuhe, die ihr bis zu den Knien reichten, ein bauchfreies Ledertop und einen dazu passenden, ledernen Minirock. Ihre Finger streichelten über seine Brust, dann nahmen die Kurs gen Süden, während sie ihn innig küsste. Ich hoffte, betete, dass er sie wegschupste, dass er sie abweisen würde, doch Aoi zog sie enger an sich und der Kuss wurde noch intensiver. Ihre Hand legte sich schließlich auf seinen Schritt und begann ihn zu massieren, während sie ihre Brüste an seinen Oberkörper presste und ihren Arm so um seinen Nacken legte, dass sie ihn zu sich ziehen konnte um ihn noch heißer zu küssen. Und er machte mit!!! Ich fühlte mich, als ob ich einen Schlag in die Magengrube bekommen hätte. Ich wollte es nicht glauben, konnte es nicht glauben! Er wusste doch, was er mir bedeutete! Warum tat er das!? Ich wollte hinüber gehen, sie von ihm wegreißen, doch meine Beine gehorchten nicht. Er gehörte mir! Oder hatte mir gehört? Hatte er sich entschieden!? Zweifel zerrten an mir. Seit dem Unfall gehörte er mir nicht mehr. Sie sah auf und zog ihn mit einem aufreizenden Lächeln in die Richtung der Nischen. Und auch hier stoppte er sie nicht, sondern folgte ihr. Mein Hals brannte, plötzlich konnte ich nur noch unscharf sehen. Ich blinzelte heftig, versuchte mich am Riemen zu reißen. Die Menge schob sich vor mein Blickfeld und verdeckte das, was ich eh nicht sehen wollte. Und obwohl so viele Menschen um mich herum waren, fühlte ich mich plötzlich ganz alleine.
 

Irgendwie war ich wieder zurück zu unserem Platz gekommen. Ich vergrub meine Finger in den Haaren und versuchte meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das Brennen in meinem Hals hatte immer noch nicht aufgehört. Gott, ich hatte mich noch nie so elend gefühlt, wie in diesem Moment. Zu sehen, wie sehr er es genoss, während mein Herz immer noch an ihm hing. Es tat so weh! „…uha! Uruha!!!“ Ich zuckte zusammen und sah auf. Reita stand vor mir und musterte mich ernst. Verdammt! Wie lange saß ich denn schon hier? Wie oft hatte er wohl schon meinen Namen gesagt? „Ist bei dir alles in Ordnung? Ich dachte du und Aoi wärt schon längst weg!“ In Ordnung? Nein! Gerade war gar nichts in Ordnung! Bevor ich ihm allerdings antworten konnte, tauchte Aoi neben ihm auf. Mein Magen fuhr wieder einen Looping bei seinem Anblick. Seine Haare waren zerzaust und vom Küssen hatte er immer noch rote Lippen. Er seufzte leise und ließ sich neben mich auf seinen Platz sinken. Er war blass und sah verdammt müde aus. Wie ich es vorausgesagt hatte, war er fix und fertig. Dazu kam noch der Alkohol! Er hatte ein weiteres Glas in der Hand und trank es mit einem Zug leer. „Uruha, können wir bitte nach Hause fahren?“, nuschelte er dann und lehnte sich an mich. Ohne es kontrollieren zu können, versteifte ich mich. Diese Vertrautheit war zu viel! Wie konnte er mich betrügen und dann wieder zu mir kommen!? Glaubte er denn, dass es unentdeckt geblieben war!? Interessierte ihn das überhaupt!? Spielte er mit mir!? Aoi schloss die Augen und seufzte zufrieden, während Reita uns musterte und sich schließlich räusperte. „Ihr solltet los, Uruha. Du siehst auch müde aus und Aoi schläft hier gleich ein. Brauchst du Hilfe?“ Automatisch schüttelte ich den Kopf und stupste Aoi an, damit wir gehen konnten. Er folgte mir durch den ganzen Clubbereich und griff nach meiner Hand, als wir uns durch die tobende Menge schlängelten. „Kou … ich mag kuscheln!“, nuschelte er und meine Schritte wurden schneller, während ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Ich hatte völlig vergessen, wie verdammt anhänglich er werden konnte, wenn er was getrunken hatte. „Kou? Bist du böse?“ Ich wirbelte herum und sah ihn nur ernst an. „Warum soll ich böse sein!?“, fragte ich dann. Vielleicht konnte er mir ja die Antwort geben! „Weiß ich nicht … aber du redest nicht mit mir und du willst nicht kuscheln!“ Er sah auf unsere Hände, wobei er es war, der meine Hand festhielt. Meine lag nur locker in seiner und ich hätte sie ihm entzogen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich ihn dann in der Menge verlieren würde. „Ich bin müde und will nach Hause!“ Die Antwort schien ihm nicht zu gefallen, denn er runzelte nur die Stirn. Doch bevor er weiter fragen konnte, zog ich ihn einfach hinter mir Richtung Ausgang. Ich hatte keine Lust über diese unfreiwillige Beobachtung zu sprechen. Noch weniger in seinem Zustand!
 

Ich war froh endlich aus dem Schuppen zu kommen. Tief atmete ich die kühle Nachtluft ein und entzog Aoi nun wirklich meine Hand. Auch hier draußen hörte man die Musik laut und deutlich. „Kou?“, kam es leise von der Seite. „Was!?“, fauchte ich und sah, wie Aoi zusammenzuckte. Er wollte was sagen, entschied sich dann aber anders und folgte mir geknickt. Das war wohl auch das Mindeste, das man von ihm erwarten konnte, oder? Auch die Fahrt nach Hause verlief schweigend, wobei Aoi einfach eingeschlafen war. Ich parkte und wusste nicht, wie es dann weitergehen sollte. Sollte ich ihn aufwecken, oder ihn einfach hochtragen? Ich sah zu ihm hinüber und mein Herz begann wieder heftig zu pochen. Er murmelte leise etwas und seufzte dann. Scheiße! Egal, was er auch angestellt hatte, ich liebte ihn. Immer noch! Und konnte ich denn so wütend auf ihn sein? Er wusste nicht, was wir drei Jahre lang geteilt hatten. Er war betrunken und ach verdammt… Nach einem ewigem Hin und Her hob ich ihn einfach hoch und trug ihn ins Gebäude. Als er sich an mich kuschelte und meinen Namen murmelte, breitete sich ein wohlig warmes Gefühl in meinem Bauch aus. Ja ich war traurig und enttäuscht. Aber egal wie traurig ich auch war, dieser Moment war es, der mich dazu brachte weiter um ihn zu kämpfen. Er gehörte zu mir! Und er wusste es ganz tief in sich drinnen auch.

Kapitel 19

~Aoi POV~
 

Es war ein unglaublicher Anblick, wie die Stadt sich mit ihren Hochhäusern, Parks und Flüssen weit unter uns ausbreitete. Das war die Stadt, in der ich einen Teil meines Lebens verbracht hatte und sie gefiel mir. Ich sah zu Uruha hinüber, der neben mir stand und auch nach unten sah. Er spürte meinen Blick und sah auf. Ein kurzes Lächeln war zu sehen, doch dann wurde er wieder ernst. So war er schon seitdem wir von unserer ‚Clubnacht’ nach Hause gekommen waren. Er war irgendwie sauer! Ich konnte mich nicht mehr wirklich daran erinnern, wie ich nach Hause gekommen war. Aber, dass er mich angepflaumt hatte, das wusste ich noch. Er war ziemlich gereizt gewesen. Auch am nächsten Morgen war er nicht besonders gut drauf. Allerdings veränderte sich sein Verhalten sofort, als er merkte, wie dreckig es mir ging. Ich hatte wieder extreme Kopfschmerzen. So schlimm, dass Uruha sogar schon daran dachte mich wieder ins Krankenhaus zu bringen. Meine Ohren sausten immer noch, weil die Lautstärke im Club mir den Rest gegeben hatte und außerdem hätte ich definitiv nichts trinken sollen! Tabletten und Alkohol vertrugen sich nicht gut. Nur blöd, dass einem das erst nachher auffiel. Ich konnte auch die nächsten drei Tage kaum was essen oder trinken, weil mir so übel war, aber Gott sei Dank legte sich der Zustand wieder. Und obwohl Uruha definitiv sauer war, hatte er sich die ganze Zeit wirklich lieb um mich gekümmert. Er brachte mir Tee oder Essen ans Sofabett, ließ mich entscheiden, wie wir den Tag verbrachten, sah sich mit mir stundenlang DVDs an und schien immer zur Stelle zu sein, wenn ich etwas brauchte. Ich verstand ihn einfach nicht. Einerseits war er so abweisend, andererseits war er dann doch wieder so lieb zu mir. Dennoch breitete sich ein warmes Gefühl in meiner Brust aus, wenn ich an ihn dachte.
 

Zuerst hatte ich angenommen, dass meine Eltern zu Besuch kommen würden. Leider musste meine Mutter dann doch arbeiten, weshalb auch dieses Wochenende ohne meine Eltern stattfand. Ich hatte nicht geglaubt, dass wir dann noch groß was unternehmen würden – nicht bei Uruhas Laune im Moment. Doch als er mich heute Morgen geweckt hatte, wusste ich, dass er etwas vorhatte. Erstens ließ er mich sonst immer ausschlafen und zweitens war er anders, als an den letzten Tagen!

Ich hatte gegessen, mich fertig gemacht und anschließend waren wir zu Fuß losgegangen. Uruha meinte, dass er keine Lust hatte mit dem Auto zu fahren und ich war froh dem fahrenden Ungetüm zu entkommen. Es war zwar praktisch, wenn man von einem Ort zum anderen wollte, aber ich hatte immer noch Panik darin mitzufahren. Das hatte sich auch nicht gebessert, als man mir widerwillig erklärte, dass die Panik vermutlich daher rührte, dass wir einen Autounfall gehabt hatten. Im Ernst! Glaubten sie bei den ganzen Nachrichten, die liefen, dass ich nicht irgendwann von selbst drauf gekommen wäre was passiert war!? Nun wenigstens wusste ich nun, warum ich Autos nicht leiden konnte. Ich zog meine Schirmkappe tiefer ins Gesicht, als ein Mädchen mich neugierig beäugte. Das schien wirklich ein Problem zu sein, wenn man berühmt war. Jeder schien einen zu kennen und man musste höllisch aufpassen um nicht von Fans und Reportern belagert zu werden. Vor allem, wenn es noch keine genauen Details zu meinem Gesundheitszustand gegenüber der Presse gab. Uruha hatte den Managern versprochen vorsichtig zu sein, was er bisher ja auch wirklich gehalten hatte.
 

„Guck mal da hinüber!“, forderte mich seine melodische Stimme auf. Mein Blick folgte sofort seinem Fingerzeig. Allerdings verstand ich nicht genau, was er mir zeigen wollte. Er begann zu lächeln. „Das ist Fuji-san!“, erklärte er dann. „Er sieht selbst von hier beeindruckend aus, was?“, fragte er und ich konnte nur zustimmend nickten. „Er ist ein Vulkan und mit seinen fast 3780 m ist er der höchste Berg Japans. Sein Gipfel befindet sich auf der Hauptinsel Honshū an der Grenze zwischen den Präfekturen Yamanashi und Shizuoka.“ Wirklich imposant dieser Berg. Uruha drehte sich um, lehnte sich gegen das Geländer und sah dann zu mir hinüber. „Vom Tokyo Tower aus, kann man ihn nicht immer sehen. Aber ab und an, wenn das Wetter gut ist, zeigt er sich dann doch!“ Ich musste leicht lächeln. Uruha schien es Spaß zu machen hier ein bisschen was erzählen zu können. Doch dann runzelte ich die Stirn. Tokyo Tower? „Ich dachte wir sind im Fernsehturm?“, entkam es mir dann ungläubig, woraufhin Uruha zu lachen begann. „Das sind wir auch. Der Tokyo Tower dient zur Ausstrahlung von 24 Fernseh- und Radioprogrammen“, erklärte er mir dann. „Er ist 333 m hoch und damit einer der höchsten selbsttragenden, aus Stahl bestehenden Türme der Welt! Etwa 150 m über dem Boden befindet sich die erste Aussichtsplattform mit Cafés und Restaurants. Man kann noch weiter hinauffahren, nämlich zur zweiten Aussichtsplattform mit einer Höhe von 250 m. Und da sind wir jetzt!“, schloss er und ich schüttelte den Kopf. „Sag mal … warum bist du nicht Reiseführer geworden?“, fragte ich ihn dann und sah mich weiter um. Die Aussicht war gewaltig. Er schmunzelte leicht und sah mich lange an. Dann meinte er nur: „Musik berührt mich mehr als alte Gebäude und Denkmäler!“ Nun, was sollte man darauf noch sagen?
 

Wir gingen ein paar Schritte an der Plattform entlang, so lange, bis Uruha stehen blieb und nach unten auf eine Grünfläche mit Gebäuden zeigte. „Das hier ist der Zōjō-ji, ein buddhistischer Tempel. Zu den Tempelanlagen gehören das Sangedatsu-Tor, der Sutren-Speicher, die große Halle und das Onarimon. Das Sangedatsu-Tor wurde 1622 errichtet und hat sogar den Zweiten Weltkrieg heil überstanden. Es besitzt zwei Stockwerke. Es heißt, ein Mann, der durch dieses Tor schreitet soll Erlösung von drei Leiden finden: Ton (Gier), Shin (Hass) und Chi (Dummheit).“ Ich folgte seinem Fingerzeig auf das nächste Gebäude. „Das ist der Sutren-Speicher. Er wurde am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts gebaut und ist eigentlich sehr groß und das älteste erhaltene Bauwerk in ganz Tokyo. Die große Halle wurde im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört, wurde dann aber wieder aufgebaut.“ Ich nickte leicht. Irgendwoher kam mir das bekannt vor. „Das Onarimon ist das wichtigste Tor an der nördlichen, der Stadt zugewandten Seite des Tempelbezirks. Wie du sehen kannst, steht es ein bisschen außerhalb und von dort ist es nicht mehr weit bis zur U-Bahn Station Onarimon. Im Tempel selbst befindet sich auch die Daibonsho, die große Glocke. Sie wird zweimal täglich geläutet, je sechsmal morgens sowie abends. Das dient nicht nur zur Ansage der Zeit, sondern auch der spirituellen Reinigung der Menschen.“
 

Um ehrlich zu sein war ich wirklich überrascht, wie gut Uruha Bescheid wusste. Er schien sich wirklich für Geschichte zu interessieren. Seltsamerweise war mir gar nicht langweilig, als ich ihm zuhörte. Dabei war ich mir sicher, dass Geschichte nicht zu meinen Lieblingsfächern in der Schule gezählt hatte. Ich glaube meine Mutter hatte so was mal im Krankenhaus erwähnt. „Die Parkanlagen, die zum Tempel gehören sind sehr weitläufig und man kann dort die Ruhe genießen. Es ist seltsam, aber Tempel und Parks haben meist eine sehr eigene Aura. Man vergisst immer die Stadt rund um sich herum. Ein bisschen Frieden, auf so einem kleinen Fleckchen!“ Ich hätte wirklich einiges gegeben um meinen Blick nun sehen zu können. Zuerst spukte er Daten und Fakten aus und plötzlich meinte er, dass auf dem Tempelgelände die Stadt verschwand. Ich wusste ja, wie es gemeint war. Sobald man das Tor passiert hatte verschwand der Autolärm, die Abgase, die Hektik. Es wurde alles ganz ruhig und man konnte sich auf die schönen Dinge und auf sich selbst konzentrieren. Daher nickte ich also zustimmend und seine Augen blitzten auf, so als freute er sich wirklich darüber, dass ich ihm so aufmerksam zuhörte. Obwohl ich bisher immer geglaubt hatte, dass ich so was nicht leiden konnte (immerhin hasste ich Dokumentationen im Fernsehen), gefiel es mir wirklich von hier aus ein paar Fakten zu historischen Denkmälern zu bekommen. Außerdem musste ich nicht wirklich weit laufen und es strengte mich weniger an. Ich wusste, dass er mich mit Absicht hier raufgeschleppt hatte um mich ein bisschen zu schonen.
 

„Ok und was ist das?“, fragte ich dann neugierig. Er folgte meinem Fingerzeig und runzelte die Stirn. „Wenn ich richtig liege meinst du die Suntory Hall, welche ein großes Konzerthaus ist. Sie zählt zu den weltweit renommiertesten Konzerthäusern und wird vom japanischen Getränkehersteller Suntory finanziert.“ Uruha begann zu grinsen und zeigte auf eine weitere Grünfläche. „Siehst du die grünen Dächer dort drüben?“ Ich nickte brav. Klar sah ich die. „Das ist der Kaiserpalast!“, klärte er mich dann auf. „Als der japanische Kaiser 1869 seinen Sitz von Kyoto nach Tokyo verlegte, wurde die Burg Edo zum Sitz des Kaisers. Gleichzeitig bekam die Stadt Edo ihren heutigen Namen Tokyo. Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Palast durch die Bombardierungen der Alliierten zerstört und im Jahre 1968 in moderneren Stil wiederaufgebaut. Man kann es von hier aus nicht so genau sehen, aber einige der alten Burggräben und Mauern der Burg Edo sind heute immer noch erhalten. Man glaubt es kaum, wie groß diese Burg einst gewesen ist. Die kaiserliche Familie bewohnt den Kaiserpalast das ganze Jahr über. Trotzdem kann man einen sehr kleinen Teil des Areals besichtigen – allerdings nur mit Voranmeldung, weil nur eine bestimmte Anzahl von Besuchern pro Tag hinein dürfen. Am Geburtstag des Kaisers (23.12) und am Neujahrsfest (02.01) wird eine Ausnahme gemacht. Dann sind weitere Teile des Geländes für die Öffentlichkeit frei gegeben.“
 

Na hoffentlich hatte er keine Führung für uns gebucht. Das wollte ich mir dann doch nicht antun. So schön es auch war die ganzen Dinge von hier oben zu sehen und einen kurzen Überblick zu bekommen, desto grausamer fand ich es durch die Stadt zu laufen und wie die Touristen alles haarklein anzusehen. Das war einfach nicht mein Ding. Vor allem keine Schlossführung, die zwei Stunden dauerte. Da reichte es, wenn Uruha mir so einen kurzen Überblick gab. Das Wichtigste erzählte er ja so und so. Ich lehnte mich gegen das Geländer und sah weiterhin auf die Autos hinunter, die sich durch die Straßen quetschten. Ab und an war ein Hupen zu hören. Menschenmassen wälzten sich durch die Straßen. Ich wusste selbst, dass wir oftmals ziemlich im Stress waren, das erklärte sich bei dem Beruf, den wir ausübten, von alleine. Aber mir fiel gerade wieder auf wie sehr mir diese Hektik verhasst war. Man konnte nicht einen Moment stehen bleiben. Immer musste man weitermachen. Das war so schade. Das Leben war viel zu kurz, wie mir dieser Unfall gezeigt hatte. Aber dennoch schienen die Menschen dieses Geschenk nicht anzunehmen und versanken in ihrer Arbeit und ihren Sorgen, anstatt sie auch mal hinter sich zu lassen und sich für ein paar Stunden eine Auszeit zu gönnen. War ich genauso gewesen? Ich zuckte zusammen, als etwas Kaltes meine Wange berührte und sah auf. Uruha hielt mir lächelnd eine eiskalte Flasche Mineralwasser entgegen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er sie aus dem Automaten gezogen hatte, so sehr war ich in meinen Gedanken versunken gewesen. „Ich dachte mir, du könntest vielleicht Durst haben.“ „Danke!“, murmelte ich und griff danach um ein paar Schlucke zu trinken. Erst jetzt bemerkte ich wie durstig ich wirklich war. Uruha neben mir gluckste nur leise und lehnte sich auch wieder ans Geländer. „Dort drüben ist der Hauptbahnhof von Tokyo. Während der amerikanischen Bombenangriffe im Mai 1945 wurde er schwer beschädigt. So wurden das dritte Stockwerk des Gebäudes und die beiden Rundtürme an den Enden des Gebäudes vollständig zerstört. Nach dem Ende des Kriegs wurde der Hauptbahnhof notdürftig wieder aufgebaut, jedoch ohne Türme und ohne das dritte Stockwerk. Das Gebäude ist mittlerweile ziemlich alt und muss renoviert werden. Zuerst wollte man eigentlich ein ganz neues Gebäude bauen. Doch schließlich entschloss man sich zu einer Renovierung inklusive des Wiederaufbaus der Türme und des dritten Stockwerks um das Kulturgut zu erhalten!“ Daher standen vermutlich auch die ganzen Kräne um das Gebäude herum.
 

Die Menge schob und drängelte sich weiter. Als wir hier hoch gekommen waren, waren nicht so viele Leute da gewesen. Nun aber war die Plattform voller Menschen. Ein Mädchen quäkte mir in einer fremden Sprache etwas ins Ohr, als sie begeistert auf ein weiteres Gebäude zeigte. Es sagte mir nichts, doch anscheinend war es ziemlich wichtig, so wie die Touristengruppe hinter uns reagierte. Ich machte ein finsteres Gesicht und schlängelte mich an einer Frau vorbei, die ein schreiendes Kleinkind auf dem Arm trug. Der Lärmpegel wurde mir zu hoch. Mein Kopf begann schon unangenehm zu summen. Erschrocken fuhr ich zusammen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Doch entgegen meiner Erwartungen, dass ein Fan uns erkannt hatte, war es nur Uruha, der mich aufhielt und auf ein Gebäude zeigte. „Musst du mich so erschrecken!? Ich dachte jetzt hat mich ein Fan erkannt“, fuhr ich ihn an. Er hob nur die Hände und zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, aber du hast nicht auf mich gehört, als ich dich gerufen habe!“ Ich verzog leidend das Gesicht und sah zu der Gruppe hinüber. „Ich mag es nicht zwischen so vielen Leuten zu stehen. Man hat nicht mal einen halben Quadratmeter für sich alleine und wird dauernd rumgeschupst. Außerdem quäkt mir dieses Balg schon die ganze Zeit ins Ohr! Falls ich also einen Gehörsturz bekomme, verklag sie!“, beschwerte ich mich bei ihm, was mir einen etwas erheiterten Blick einbrachte und schon wurde ich wieder weiter geschoben. „Ich wollte dir eigentlich nur noch den Mori Tower zeigen!“ Meine Augenbrauen wanderten wieder nach oben. „Und der ist so wichtig, weil….?“, fragte ich ihn dann etwas zweifelnd. Dass der Kaiserpalast ein wichtiger Ort war oder der Tokyo Tower… klar das ließ ich mir ja noch einreden. Aber dieser Mori Tower sah nicht gerade sonderlich bekannt oder wichtig aus. Nur ein sehr hohes Gebäude. Was sollte daran schon interessant sein!? „Nun ja er ist einer der wichtigsten Touristenattraktionen und das fünft-höchste Gebäude in Tokyo! Er ist das Zentrum von Ropponghi Hills, einem städtischen Zentrum mit Büroflächen, Wohnraum, einem Kino Komplex, Einkaufsmöglichkeiten, sowie zahlreichen Parkanlagen. Über 200 Geschäfte, Kaffees und Restaurants finden sich über die unteren 6 Stockwerke des Mori Towers verteilt und machen das Gebäude damit zu einem wahren Einkaufsparadies. Außerdem gibt es zwei Aussichtsplattformen, die einen tollen Blick über Tokyo gewähren. Und für Touristen ist es vor allem deshalb vorteilhafter dort hinauf zu steigen, weil man eben den Tokyo Tower auch fotografieren kann“, erklärte mein Privatfremdenführer mir.
 

Plötzlich taumelte er nach vorne. Ein dicker Mann (eindeutig ein Tourist, dem Fotoapparat nach zu urteilen, der vor seinem Bauch baumelte) drängte sich durch die Menge zu seiner Gruppe hinüber und schob alle zur Seite, die ihm im Weg waren – so auch Uruha. Dessen Körper presste sich an meinen, da ich bereits am Geländer lehnte und nicht weiter zurückweichen konnte. Mir wurde plötzlich ganz heiß. Er war auf einmal so nahe. Viel zu nahe. Sein Geruch umfing mich und Himmel, was war das für ein Parfüm!? Meine Finger lagen an seinem Bauch, wo ich versucht hatte ihn auf Abstand zu halten. Seine Bauchmuskeln waren deutlich durch den Stoff des Pullovers zu spüren und … verdammt noch mal das waren Muskeln! Hart wie Stahl! Seit wann hatte er solch muskulöse, sexy Oberarme? Uruha drehte sich wütend um, während mir ein verräterischer Seufzer entkam, als sich mein Körper ganz automatisch nach vorne lehnte und sich an seinen schmiegte. „Hey passen Sie etwas auf!!“, pflaumte Uruha ihn an, doch der Tourist schien das gar nicht mitzubekommen. Vermutlich sprach er nicht einmal unsere Sprache, denn er quäkte in einer fremden Sprache auf ein paar Mitglieder seiner Gruppe ein und deutete begeistert nach unten. Meine Finger zitterten leicht, als ich unbewusst über die Bauchmuskeln strich, die sich an meine Handfläche schmiegten. Mein Hirn hatte sich ganz verabschiedet. Was war denn nur plötzlich los mit mir!? Seit wann reagierte ich denn SO!? Uruhas Blick war besorgt, als er mich musterte. „Ist mit dir alles in Ordnung!?“ Gott, wenn du ein paar Schritte zurückgehen würdest, könnte ich mir sogar eine Antwort auf die Frage überlegen! Mehr fiel mir im Moment gar nicht zu seiner Frage ein. Mein Blick hing an seinen Lippen, die mich gerade mehr denn je zum Küssen einluden. „Yuu? Sag doch was!“ Mit einem Mal landete ich wieder im Hier und Jetzt. Ich stand bereits auf den Zehenspitzen, um mir einen Kuss von ihm zu holen! Verdammt noch mal, was zur Hölle machte ich hier eigentlich!? Ich riss meine Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt, aber mein Kopf flüsterte mir verschwörerisch zu, dass ich es genossen hatte. „Ich … ja. Klar mir geht’s gut!“, stammelte ich, während ich meine Finger zur Faust ballte, da sie immer vor Verlangen ihn zu berühren zitterten. „Wirklich Uruha, das sind mir zu viele Leute. Können wir nach unten fahren?“ Nein das stimmte nicht ganz. Ich mochte zwar diese ganze Menschenmenge nicht, aber das eigentliche Problem war er! Uruha stand immer noch zu nahe. Seine Nähe verwirrte mich. Ich musste hier weg, bevor ich etwas ganz Dämliches machte! Daher tauchte ich unter dem Arm eines Mannes durch, der seiner Partnerin wank und hatte beinahe das Gefühl zum Lift zu stürmen. Ich hatte genug! Uruha folgte mir ohne ein Widerwort und funkelte den Touristen noch einmal böse an, der natürlich davon nichts mitbekam.

Kapitel 20

~Uruha POV~
 

Obwohl die Mittagszeit bereits vorbei war, als wir die Nakamise-dori (Straße) zum Senso-ji Tempel entlang schlenderten, hatte keiner von uns wirklich Lust darauf etwas zu essen. In Asakasu, schlägt bekanntlich das Herz des alten Tokyos. Das war für mich Grund genug mit ihm die alten Straßen rund um den Tempel und seinen Gärten zu besuchen. Ich wollte nicht unbedingt den Fremdenführer spielen, aber Aoi schien sich hier kein bisschen auszukennen. Hätte man ihn irgendwo in Tokyo hingestellt, er hätte nicht wieder raus gefunden. Das fand ich doch etwas erschreckend. Er konnte noch alles machen, was mit dem täglichen Leben zu tun hatte. Er wusste wie man eine Kaffeemaschine bediente, wusste wie er den Fernseher einschaltete oder die Konsole verwendete. Sogar an Kochrezepte konnte er sich erinnern und er kochte auch gerne (wenn es auch weiterhin Essen à la Aoi war – er würde nie ein Sternekoch werden.). Er wusste, was die Hauptstadt von Japan war, oder wo das Weiße Haus zu finden war, aber dann gab es wieder Dinge, die er nicht wusste oder an die er sich einfach nicht erinnern konnte. Dazu zählte zum Beispiel das Gitarrespielen oder sich, wie in diesem Fall, in Tokyo zurecht zu finden. Ihm sagten teilweise nicht einmal die Namen der wichtigsten Gebäude oder Denkmäler etwas. Vermutlich würde er nicht einmal alleine nach Hause finden, wenn wir uns aus den Augen verloren.
 

Aoi war vor einem Schaufenster stehen geblieben und sah zu, wie eine Familie sich gerade mit allem möglichen Kitsch eindecken ließ, das im Ausland das Prädikat ‚typisch Japan’ erhält. Er schüttelte nur leicht den Kopf und zuckte dann mit den Schultern. Er war nach dem Besuch des Tokyo Towers eine Weile lang verdächtig ruhig geblieben und schien seinen Gedanken nachzuhängen. Als er sich jetzt zu mir drehte schien er das wieder abgeschüttelt zu haben. „Ich nehme an, man ist in einem fremden Land immer so, was?“, fragte er dann und schlenderte weiter neben mir her. „Naja sollte ich dir die Kiste voll Souvenirs raussuchen, die du damals gekauft hast, als wir in Österreich für Cassis gedreht haben?“, fragte ich dann langsam und musste ein breites Grinsen verkneifen als er stehen blieb und mich erstaunt ansah. „Echt jetzt!?“ Ich schüttelte den Kopf und ging weiter. „Weißt du, du bist eher der Typ, der ein Foto vor einem Souvenirladen macht und weitergeht. Die Dinger zum Hinstellen waren nie so wirklich das, was du gerne mitgenommen hast. Aber du liebst es Fotos zu machen, einfach damit man sich später mal daran erinnern kann. Du sagtest immer, Erinnerungen durch die Fotos wären dir mehr wert als so ein ‚dämliches’ Souvenir, das man dann doch in eine Kiste packt und wegräumt!“ Außerdem waren seine Souvenirs meistens kostspieliger, denn Aoi stand auf Gitarren! Er schien sich darin wieder zu erkennen, denn dieses Mal schien es ihn nicht zu stören, dass ich ihm so direkt sagte, was er mochte und was nicht.
 

„Lass uns in die Nebenstraßen gehen, die sind interessanter, als die Hauptstraße und setz deine Mütze wieder auf, die Leute gucken schon!“, meinte ich dann. Aoi sah mich nur fragend an, bog aber breitwillig ab und folgte mir durch die Gasse, während er seine Haare unter die rote Schirmmütze schob. „Hauptstraßen sind meistens vollgestopft mit Touristen und den typischen Souvenirläden. Aber hier kann man noch wirklich altes Handwerk sehen!“, erklärte ich ihm, während wir an den Läden vorbeibummelten. Immerhin wollte er ja eine Erklärung dafür haben, warum ich ihn von der Straße scheuchte.

Wir sahen zu, wie ein älterer Herr Bilderrahmen selbst baute, die eine Angestellte dann kunstvoll bemalte. Ein paar Geschäfte weiter wurden traditionelle Lampions von Hand bemalt. Ich liebte das Zeichnen. Schon in der Schule war ich darin immer gut gewesen. Es begeisterte mich etwas detailgetreu und liebevoll zu gestalten. Am Faszinierendsten war für uns beide jedoch das Handwerk des Instrumentenbauers. Es gab eine kleine Werkstatt mit Laden, die in einer der Seitenstraßen versteckt lag. Dort sahen wir eine Weile dabei zu, wie eine Akustikgitarre zusammengebaut wurde. Aois Augen glänzten vor Freude, weshalb es mir schwer fiel ihn nach beinahe zwei Stunden doch weiter zu scheuchen. Ich wusste nicht inwiefern er im Moment das Verständnis für Musik aufbringen konnte. Wenn ich versuchte mit ihm etwas zu spielen gab er mir die Gitarre recht schnell wieder zurück und sah lieber dabei zu, wie ich spielte, anstatt es selbst zu versuchen. Doch die Faszination, die eine Gitarre auf ihn ausübte, war noch genauso wie früher! Das konnte ich auch in dieser Werkstatt beobachten. Allerdings brachte er es nicht über sich eine der Gitarren auszuprobieren. Dafür stellte er tausende Fragen. Beinahe hatte ich das Gefühl ich müsste ihn rausbringen, damit die Mitarbeiter ihre Ruhe vor ihm hatten, doch der Meister beantwortete seine Fragen geduldig und freundlich, so als wäre er froh jemanden zu treffen, den dieses Handwerk wirklich interessierte.
 

Am Senso-Ji Tempel angekommen organisierte ich uns etwas zu trinken und schmunzelte, als ich Aoi an einem der kleinen Marktstände stehen sah, an dem Gebetsbänder verkauft wurden. Als ob er nicht schon hunderte zu Hause hatte. Er drehte sich zu mir um und nahm dankbar das Wasser entgegen, das ich ihm reichte. Dann grinste er mich zufrieden an. „Geht die Fremdenführung jetzt weiter?“, fragte er mich neckend. „Wenn du denn eine haben willst?“ War das nun ein Scherz, oder hatte er es tatsächlich nicht gemocht, dass ich ihm einige Erklärungen gegeben hatte? Er war nicht wirklich der Typ, der sich gerne Dokumentationen im Fernsehen ansah. Aber hin und wieder interessierte es ihn doch. „Natürlich! Ich hör dir gerne zu!“ Nun, das … überraschte mich wirklich ein bisschen, doch die Überraschung hielt nicht lange an. „Na dann herzlich willkommen am Senso-Ji, einer der größten Touristenattraktionen, die Tokyo zu bieten hat!“, begrüßte ich ihn dann, was ihm ein kleines Lachen entlockte.
 

„Du weißt, dass Asakusa der älteste Stadtteil von Tokyo ist, nicht wahr? Der Senso-Ji ist der bedeutendste Tempel in ganz Tokyo und seine Geschichte reicht bis ins 7. Jahrhundert zurück!“ Aoi drehte den Verschluss wieder auf die Flasche und folgte mir dann über den Platz. „Der Legende nach fanden im Jahr 628 zwei Fischer im Sunida Fluss eine Statue der Göttin der Gnade und brachten diese zum Dorfoberhaupt. Der erkannte die Heiligkeit der Statue und baute daraufhin sein Haus zu einem Tempel um, sodass die Dorfbewohner der Statue huldigen konnten. Dieser erste Tempel wurde im Jahr 645 fertiggestellt, was Senso-Ji zum ältesten Tempel in Tokyo macht. Senso-Ji wurde während der Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs fast vollständig zerstört und nach dem Ende des Kriegs wieder aufgebaut. Er gilt heute als ein Symbol für den Frieden.“ „Sag mal … wie kannst du dir diese ganzen Daten überhaupt merken!?“, fragte er mich dann wie aus dem Nichts und stieg neben mir die Treppe zum Donnertor nach oben.
 

Das wuchtige Eingangstor ist unglaublich beeindruckend und auch Aoi vergaß seine Frage, als er unter der riesigen Laterne aus Papier hindurchging, die am Eingang hängt und rot und schwarz angemalt ist, was den Blitz und Donner symbolisieren sollte. Wir schienen heute wirklich Glück zu haben. Normalerweise war dieser Tempel aufgrund seiner Bekanntheit ein wirklicher Anlaufpunkt für Touristen und meistens heillos überfüllt. Obwohl die Gärten im Inneren des Tempels in Reiseführern als beschaulich und ruhig versprochen werden, konnte ich das nicht bestätigen. Dazu war das Getümmel hier einfach viel zu groß. „Außerdem sind die Tempelanlagen…“ Ich erstarrte leicht, als Aoi nach meiner Hand griff und mich ernst ansah. „Es ist toll, dass du mir das alles erzählst, aber könnten wir kurz … nun ja ein bisschen innehalten und das genießen?“ Ich musste lächeln. „Natürlich!“ Wir betraten das Innere des Tempels und blieben vor einer kleinen Gebetsstätte stehen. Aoi sah etwas sehnsüchtig zu den Räucherstäbchen hinüber, die man kaufen konnte. „Lass uns ein kurzes Gebet sprechen, ja?“, bat er dann. Ich war überrascht. Er war sonst eigentlich nicht der religiöse Typ. Der Tempel musste ja wirklich einen enormen Eindruck auf ihn machen. Wir zündeten Räucherstäbchen an und steckten sie, in die dafür vorgesehenen Halterungen. Aoi wurde neben mir ganz ruhig und auch ich beschloss kurz in mich zu gehen. So genau, wusste ich nicht, für was ich beten sollte! Glück? Eine tolle Zukunft? Doch dann entschied ich mich einfach dazu demjenigen zu danken, der seine schützende Hand über Aoi und mich gehalten hatte, als wir diesen Unfall hatten und bat ihn, nicht um Meinetwillen, sondern für Aoi selbst, dass seine Erinnerungen bald zurückkehren würden. Ich fühlte mich etwas erleichtert, als ich meine Augen wieder öffnete. Im Hauptteil des Tempels befindet sich eine fünfstöckige Pagode, die Kannon Bosatsu gewidmet ist. Aoi sah einfach nur hoch, empfand sie als beeindruckend genug für ein Foto mit seinem Handy und schon hatte er sich bei mir eingehakt und zog mich weiter, als das Getümmel immer mehr zunahm. Er war ziemlich blass geworden und außerdem schien er Probleme beim Laufen zu haben. Durch die Verletzung am Knie hatte er hin und wieder Schmerzen, obwohl sie bereits verheilt war. Wenn es ihm zu anstrengend wurde, verfiel er dann, trotz Therapie, wieder ins Hinken. Ich sah ihm deutlich an, dass er nicht mehr konnte. Generell waren wir – mit einigen Ruhepausen – den ganzen Tag unterwegs gewesen. Ein bisschen Ruhe und etwas zu Essen, wäre vermutlich nicht so verkehrt.
 

Dennoch fuhren wir weiter zu einem unserer Lieblingsorte hier in Tokyo: Den Meiji Schrein und die dazugehörigen Parkanlagen. Ich hatte ihn mir aufgespart, weil ich mit ein bisschen mehr Ruhe diese Stadtführung beenden wollte. Dort suchten wir uns ein Restaurant aus und setzten uns schließlich auf die Terrasse – nahe am Wasser um den Enten zuzusehen, die sich dort tummelten. Aoi ließ ein leises Seufzen hören, als er die Beine ausstreckte und sich zurücklehnte. Er war wirklich verdammt blass und sein Gesichtsausdruck besagte eindeutig, dass er wieder Kopfschmerzen hatte, was meine Besorgnis nicht gerade dämpfte. „Ist mit dir alles in Ordnung? Wenn nicht, können wir auch nach Hause fahren!“ Aoi öffnete seine Augen, sein Blick war strafend. Was war denn jetzt schon wieder!? „Kou? Falls es dir nicht aufgefallen ist: Du hast mich den ganzen Tag nicht wie einen Invaliden behandelt. Fang jetzt bitte nicht damit an! Ich muss mich nur ein bisschen ausruhen, ja?“ Mein Herz begann heftiger zu pochen. Kou! Er hatte mich Kou genannt! Das war immer schon sein Spitzname für mich gewesen, wenn er zu faul war meinen ganzen Namen zu sagen und unbewusst schien er sich wieder daran zu erinnern. Ihm selbst war nicht einmal klar, was er gerade gesagt hatte. Aber mir war es aufgefallen, weil ich schon viel zu lange darauf hatte warten müssen so genannt zu werden. Ich wusste, dass ich es ab und an mit meiner Fürsorge übertrieb, daher schluckte ich meine Erwiderung hinunter und nickte nur. Sein Blick wurde wieder weicher, so als hätte ich ihm damit wirklich eine große Freude gemacht, was mit einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Gott dieser Blick alleine reichte aus um mich glücklich zu machen. Ich wusste ja, warum ich mich in ihn verliebt hatte. Blicke wie diese waren definitiv ein Grund dafür gewesen. Ein weiterer tauchte auf, als Aoi auf den Teich hinaus sah. Auf seinen Lippen lag ein zufriedenes Lächeln und obwohl er immer noch blass war, war er der schönste Mann, der hier in diesem Restaurant saß. Sein Anblick haute mich nach all den Jahren immer noch um. Ich ballte meine Finger zu Fäusten, da ich das Bedürfnis hatte ihm eine Strähne nach hinten zu streichen, die sich gelöst hatte und nun vom Wind nach vorne geweht wurde.
 

„Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?“ Das Lächeln, mit dem Aoi den Kellner bedachte, riss mir erneut den Boden unter den Füßen weg. Was würde ich dafür geben, wenn er mich auch mal so ansehen würde? Vor allem in letzter Zeit, waren solche Blicke und dieses Lächeln eine Seltenheit. Wir bestellten gleich die Getränke, so wie das Essen und gaben ihm die Speisekarten wieder zurück. Aoi schloss den Reißverschluss seiner ärmellosen Jacke und zog die Ärmel seines schwarzen Pullis nach vorne. „Ist dir kalt?“ Es war Anfang November, der Herbst hatte die Natur bereits voll im Griff und bereitete sie auf den Winter vor. Dementsprechend kühl war es auch – vor allem weil die Sonne nun am Horizont verschwand. „Ja es ist recht frisch hier draußen. Aber ich will mich nicht reinsetzen! Es ist viel zu schön um schon wieder nach drinnen zu gehen!“ Ich hatte so was schon geahnt, weshalb ich auch den Platz auf der Terrasse ausgesucht hatte. Er genoss er es viel zu sehr einmal nicht in Gebäuden zu sein. Ich wusste sehr wohl, wie ungern er den ganzen Tag über im Haus saß. Leider hatten wir bisher nicht wirklich die Möglichkeit gehabt viele Ausflüge zu unternehmen. Die Ärzte hatten ihm Anstrengung verboten und ich wusste, dass auch dieser Tag heute, so schön er auch gewesen war, knapp an der Grenze schrammte. Er sah eine Weile auf den Teich hinaus und plötzlich richtete sich sein dunkler Blick auf mich. Ich erwiderte ihn und versank in diesen wunderschönen, dunklen Augen. Auch Aoi, der anscheinend etwas hatte fragen wollen, schien seine Frage zu vergessen. Er sah mich einfach nur an, bis der Kellner die Getränke vor uns abstellte und damit diesen magischen Moment beendete.
 

Erst jetzt räusperte Aoi sich und hob verlegen das Glas an seine Lippen um ein paar Schlucke zu trinken. Täuschte ich mich, oder war er etwa rot geworden? Auch ich griff nach dem Glas und nippte am Mineralwasser, bevor ich es wieder abstellte. Ich wollte etwas sagen, doch Aoi kam mir zuvor. „Vielen Dank für den Tag heute, Kou. Es war wirklich schön!“ Etwas verlegen zuckte ich mit den Schultern. „Gern geschehen!“ „Nein! Du verstehst nicht … Danke, wirklich! Es war so schön einmal raus zu kommen. Versteh mich bitte nicht falsch. Ich mag es auch mit dir DVDs zu gucken, zu zocken, oder mit dir zusammen die Fotoalben durchzublättern. Ich mag es dir zuzuhören, wenn du von der Band erzählst oder wenn du Gitarre spielst. Aber das heute war anders! Du bist ein toller Fremdenführer und die Führung war durchaus sehr interessant!“ War das ein Kompliment? Mir war bei den Worten ganz warm geworden. Er mochte es Zeit mit mir zu verbringen! Das war doch schon mal sehr positiv, nicht wahr? Der Stachel, der sich durch Aois ‚Ausrutscher‘ in mein Herz gebohrt hatte, löste sich wieder. Wie sollte ich ihm böse sein, wenn er … es so sichtlich genoss in meiner Nähe zu sein und wenn er so glücklich aussah, wie gerade.

Ein zufriedenes Lächeln begann sich auf seinem Gesicht auszubreiten. Er wirkte mit einem Mal so entspannt. „Es ist wirklich schön hier!“, murmelte er dann leise. „Der ganze Trubel ist weit weg!“ Damit hatte er wirklich Recht. Der ganze Autolärm war verschwunden. Ein kleines Paradies inmitten der Stadt. „Deshalb kommen wir eigentlich gerne hier her, wenn wir frei haben. Es ist ein schöner Ort zum Entspannen!“ Ich wusste gar nicht so recht, was ich da gesagt hatte, bis ich Aois Blick auf mir spürte. Oh! Ich hätte nicht wieder davon anfangen dürfen. Er hatte sich zwar mittlerweile damit abgefunden, dass er mein Partner gewesen war, doch solche Aussagen brachten ihn meistens dazu sich wieder in seinem Schneckenhaus zu verkriechen um die Realität auszusperren, sobald er endlich mal etwas offener mit mir umging. Doch er überraschte mich dieses Mal, als er einfach nickte und mich anlächelte.
 

Nach dem Essen entschieden wir uns noch dazu den Meiji Schrein anzusehen. Aoi war zwar immer noch etwas blass, aber er sah schon erholter aus. Auch das Hinken war weniger geworden, sodass ich mir recht sicher war, dass ihm die Ruhepause gut getan hatte. Außerdem wollte er die Anlagen unbedingt sehen, so als hätte er keine Gelegenheit mehr hier her zu kommen, was natürlich Unsinn war. Wir schlenderten durch den Park zurück zum Schrein, während ich ihm wieder ein paar Infos dazu gab, die er aufsaugte, wie ein trockener Schwamm das Wasser. „Der Meiji Schrein ist dem beliebten Tenno Meiji gewidmet, der von 1867 bis 1912 über das Land herrschte. Kaiser Meiji trat nach seiner Thronbesteigung selbst an die Spitze der Regierung, trieb die Modernisierung des Landes voran, führte öffentliche Schulen, Telegraphen und die Eisenbahn ein, baute moderne Universitäten und Krankenhäuser und machte Japan zu einer modernen Industrie- und Seemacht. Während seiner Regentschaft wurde der Regierungssitz von Kyoto nach Edo verlegt, das später in Tokyo umbenannt wurde und damit wurde Tokyo zur Hauptstadt des Landes.“ Aoi nickte zustimmend. „Daran kann ich mich erinnern. Er starb im Jahre 1912 und seine Frau Shoken-kotaigo bald nach ihm, nicht wahr? Dann wurde der Schrein gebaut und am 1. November 1920 wurden die sterblichen Überreste des kaiserlichen Paars in den Schrein überführt. An diesem Tag findet auch heute noch das große Herbstfest statt. Weitere bedeutende Feste finden hier an den Todestagen von Tenno Meiji (30. Juli) und seiner Frau (11. April), sowie am Geburtstag des Tenno (3. November) statt.“ „Du hast ja in Geschichte doch aufgepasst!“ Ein leises Schnauben war die einzige Antwort, die ich von ihm bekam.
 

Durch ein Torii betraten wir den Naien, den inneren Bezirk des Geländes mit den Schreinanlagen, und bummelten eine Weile darin herum. An einem kleinen Brunnen blieben wir stehen. Dort hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Wir wuschen uns die Hände und spülten uns den Mund aus, so wie es sich gehörte. Dann erst durfte man den Schrein betreten. Nicht, dass sich die Touristen daran hielten. Aber vermutlich wäre es auch zu kompliziert geworden das zu überprüfen. Wenigstens hielten sie sich daran, beim Betreten des Schreins nicht in der Mitte zu laufen. Dieser Weg war für die Götter reserviert. Aoi sah sich neugierig um. Es schien ihm wirklich zu gefallen. Auch wir beide zogen eine Münze aus unseren Taschen klatschten zwei Mal in die Hände und warfen die Münzen in den Sammelkasten. Danach durfte man sich etwas wünschen – allerdings im Stillen. Als der Gedanke des Wunsches verflogen war, verbeugten wir uns und gingen wieder. Aoi strahlte beinahe. Er wirkte wirklich glücklich, was auch mich fröhlich stimmte. „Was hast du dir gewünscht?“ Er hob nur die Augenbrauen und schüttelte den Kopf. „Das darf man doch nicht laut aussprechen, sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung!!“ Anschließend sahen wir uns auch im äußeren Bezirk des Geländes um, dem sogenannten Gaien. Hier gibt es eine Gemäldegalerie zum Andenken an Kaiser Meiji, die Meiji-Gedächtnishalle und Sportanlagen, wobei wir diese eher aus der Ferne bewunderten. Für den Nachhauseweg nahmen wir uns dann ein Taxi. Ich wollte es ihm nicht zumuten auch noch in einer U-Bahn eingepfercht zu werden und es war ja nicht so, dass bei uns Geldknappheit herrschte. Nur, dass es ihn vermutlich genauso aufregte im Taxi zu sitzen. Ich machte uns noch einen Tee in der Küche, doch als ich mit der Tasse ins Wohnzimmer kam um ihm eine gute Nacht zu wünschen, war er bereits – mit Jacke und Schuhen – auf dem Sofa eingeschlafen.

Kapitel 21

~Aoi POV~
 

Es war der Duft nach Kaffee und Miso-Suppe, der mich am nächsten Morgen weckte. Ich döste noch ein Weilchen vor mich hin und ging den gestrigen Tag in Gedanken durch. Es war wirklich schön gewesen, wenn auch ein bisschen überraschend. Ich hatte nicht daran geglaubt, dass Uruha und ich uns so gut verstehen konnten – vor allem nach der miesen Laune, die er in den letzten Wochen versprüht hatte. Außerdem ging es mir erstaunlich gut. Okay, mein Knie tat etwas weh, aber im Großen und Ganzen fühlte ich mich einfach fantastisch. Uruha hatte mich doch ein bisschen geschont und sehr oft Pausen eingelegt, weshalb ich mich meiner Meinung nach nicht zu sehr überanstrengt hatte – nun gut zum Schluss war ich doch ziemlich müde gewesen (ich konnte mich nur vage daran erinnern, wie ich in die Wohnung gekommen war), aber es hatte sich definitiv gelohnt. Ich gähnte hinter vorgehaltener Hand und streckte mich leicht, was zur Folge hatte, das zwei Kissen am Boden landeten. Ich angelte danach, schmiss sie wieder aufs Sofa und erhob mich um in die Küche zu tappen, wo Uruha gerade das Frühstück machte, so wie‘s aussah. Ich lehnte mich an die Wand und begann zu grinsen, als ich zusah, wie er die Miso-Suppe in zwei Schalen füllte und sie im Takt der Musik, die aus dem Küchenradio tönte auf ein Tablett stellte. Dann drehte er sich um und belegte ein Teller mit frischem Gemüse, welches zusammen mit einem weiteren Teller seinen Weg aufs Tablett fand.
 

„Ich muss zugeben, dein Tanzstil sieht wirklich sexy aus!“, stichelte ich, als er summend, nach Stäbchen griff. Uruha drehte sich nur grinsend zu mir um und machte weiter. Er schien nicht im Mindesten überrascht oder auch nur verlegen zu sein, weil ich ihn beim Tanzen erwischt hatte. „Ja?“ Na klar doch! „Du bist mit Sicherheit DER Renner auf jeder Tanzfläche!“ Er drückte mir eine Tasse in die Hand. Kaffee!! Mein Lebensretter! Ich nahm sofort einen Schluck und lachte leise, als Uruha seine letzte Drehung vollführte und sein Herumgehopse damit beendete. „Frechdachs!“, murrte er leise, doch seine Augen blitzten übermütig auf. Um ehrlich zu sein hatte es wirklich sexy ausgesehen. Er hatte einen netten Hintern in dieser Hose. Ich verbrannte mir die Zunge am Kaffee, als ich diesen Gedanken in einem großen Schluck ertränken wollte. Verdammt noch Mal! Warum war ich denn plötzlich so fixiert auf ihn!? Uruha drückte mir die zweite Tasse in die Hand und hob das Tablett hoch. „Was sagst du zu Frühstück auf dem Sofa und dazu einen Film?“

Er musste nicht zwei Mal fragen. Ich mochte diese Frühstücksmorgen. Vor allem, wenn er sich die Mühe machte und ein wirklich wundervolles Frühstück zauberte, bestehend aus Umeboshi (eine salzig-sauer eingelegte, grüne Pflaume), Miso-Suppe mit Brokkoli, einem Schälchen Reis, geräuchertem Fisch, eingelegtem Gemüse und … war das Rührei? Mir lief alleine beim Anblick der ganzen Sachen das Wasser im Mund zusammen. Aufgrund eines Mangels an guten Filmen, die zu der Uhrzeit liefen, legte Uruha eine DVD ein und kam dann zu mir auf das Sofa. Er zog die dünne Decke über unsere Beine und stellte dann das Tablett zwischen uns. „Guten Hunger!“
 

Drei Stunden später stieg ich aus dem Taxi atmete tief, aber erleichtert durch und sah von der Seite zu, wie Uruha dem Fahrer das Geld hinhielt, um die Fahrt zu bezahlen und ihm versicherte, dass er das Trinkgeld behalten durfte. Dann schloss er die Tür, grinste mich zufrieden an und ging neben mir zum Eingang des Shinjuku Gyoen National Garden. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel, weshalb ich meine Jacke einfach um die Taille geknotet hatte und die Wärme auf meiner Haut genoss. Uruha meinte ich wäre ein Sonnenkind. In Mie geboren und aufgewachsen hatte ich meine Kindheit sehr oft am Strand verbracht und dementsprechend liebte ich Hitze und Sonne. Seltsam, dass es mir nichts ausmachte, wenn er solche Dinge zu mir sagte. Allerdings trug ich wieder eine Schirmmütze und eine Sonnenbrille, genauso wie Uruha, der seine Haare unter die Mütze geschoben hatte, in der Hoffnung so noch weniger erkannt zu werden. Er bezahlte und wir betraten den Park durch das Okido Tor. Da wir nichts weiter dabei hatten wurden wir auch nicht kontrolliert. Ein Mann neben uns musste jedoch seinen Rucksack öffnen. Man war hier recht streng. Die Liste mit den Dingen, die man nicht tun durfte war ziemlich lang und prangte für alle Besucher sichtbar am Eingangstor! Ich griff nach einem Parkführer und klappte ihn auf. Der Park besteht aus Parkanlagen der drei wichtigsten Stilrichtungen, die harmonisch ineinander übergehen: einem japanischen Garten an der Südwestseite, dem englischen Park mit großen Freiflächen in der Mitte und einem französischen Garten mit mehrfachen Platanen-Reihen und Blumenrabatten am östlichen Ende. Uruha war stehen geblieben und gab mir die Zeit den Plan anzusehen. „Diese Anlage scheint ziemlich groß zu sein, was?“, fragte ich ihn dann und bummelte langsam neben ihm her. „58,3 Hektar. Das steht zumindest in der Broschüre!“ Tatsächlich! Es stand groß und breit drauf! „Ich dachte du wüsstest alles auswendig?“ Ein breites Lächeln schlich sich auf Uruhas Gesicht und mein Herz machte einen verdächtigen Hopser. Verdammt! Nicht schon wieder! „Nicht alles, Aoi. Nicht alles!“ Ich schloss zu ihm auf und zusammen bummelten wir einen der Wege hinunter. Die Blätter der Bäume zeigten sich in ihrem Herbstkleid und segelten hin und wieder ungehört zu Boden, weshalb der Anblick vermutlich nur im Frühjahr zur Kirschblütezeit noch schöner war. „Ich dachte wir lassen das Gewächshaus und den französischen Garten aus und spazieren durch den englischen Garten zum japanischen hinüber. Ist das in Ordnung für dich?“, fragte er nach, während nun auch er seine Jacke auszog. Um ehrlich zu sein hätte mir der japanische Garten gereicht! Aber da wir von hier aus sowieso zuvor durch den englischen Garten mussten nickte ich zustimmend. Ich hätte es zwar nie zugegeben, aber ich war doch etwas geschlaucht von gestern und die Aussicht auf eine Wanderung durch den Park ließ mich nicht gerade glücklicher werden. Andererseits war ich froh wieder aus den vier Wänden unserer Wohnung raus zu kommen. Die hatte ich mir zur Genüge angesehen und das schien auch Uruha bewusst zu sein. Meine Angst war allerdings unbegründet. Uruha ließ es wirklich sehr langsam angehen. Als er losbummelte konnte ich mühelos Schritt halten.
 

„Ich darf Sie alle recht herzlich willkommen heißen und sie um ein bisschen Geduld bitten. Der Meister wird Sie gleich in Empfang nehmen! Darf ich Sie dazu einladen es sich hier am Pavillon gemütlich zu machen? Zur Einstimmung möchte ich Ihnen etwas zur Philosophie der Teezeremonie erzählen. Diese beruht auf vier Säulen:

Wa (Frieden) Der Tee soll in Frieden und Harmonie, ohne Unterschied des sozialen Standes und Ranges, getrunken werden.

Kei (Achtung, Ehrerbietung) gegenüber Mitmenschen, aber auch gegenüber der Natur und alltäglichen Dingen.

Sei (Reinheit) bedeutet, dass Körper und Seele vor Betreten des Teeraumes gereinigt werden sollen. Mit der äußerlichen Reinheit sollte auch der Geist geläutert und rein werden.

Und Jaku (Einfachheit, Stille) Ruhe und Gelassenheit gegenüber weltlichen Dingen.“, erklärte die junge Frau, die sich als Schülerin des Meisters vorgestellt hatte. Ich nahm neben Uruha Platz und sah auf den Teich hinaus während sie erzählte. Die Kois schwammen munter im Wasser und Libellen ließen sich auf den Seerosen nieder. Ein idyllischer Ort und genau der perfekte Start für eine Teezeremonie. Zuerst war ich etwas verblüfft gewesen, als Uruha mir eröffnet hatte, dass er uns dort angemeldet hatte. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte, oder nicht. Ich hatte nämlich keine Ahnung, was da auf mich zukam! Ich wurde nur etwas hellhörig, als ein junger Mann neben mir leise seufzte. Er war anscheinend mit seiner Freundin hier, deren Augen bereits vor Freude glänzten. „… echt jetzt? Teezeremonien laufen doch immer so steif ab! Man muss dabei so viel beachten!“ Sie zuckte nur mit den Schultern. „Aber es ist gut für dein inneres Gleichgewicht und eine tolle Art zu entspannen!“, erwiderte sie dann lächelnd. „Und für die Hochzeit sollst du ja entspannt sein!“ Tja anscheinend war mein Mitbewohner wohl auch der Meinung, dass ich Entspannung dringend nötig hatte. „Genau genommen dienen die Teezeremonien zur inneren Einkehr“, meinte Uruha dann leise und sah mich an, als müsste mir jetzt ein Licht aufgehen. Tat es aber nicht. „Und was muss man da alles beachten!?“, fragte ich ihn dann. Immerhin hatte mich das nun doch etwas nervös gemacht. „Ach hör nicht auf ihn. Nur höflich bleiben und am Besten du machst alles so, wie alle anderen. Wir sind nicht die Hauptgäste heute, also keine Sorge!“
 

Na klasse! Das war ja mal eine tolle Anleitung. Das war dasselbe wie einem Nichtschwimmer zu sagen: Ich schmeiß dich jetzt ins Wasser. Mach mal die gleichen Bewegungen wie die anderen, wenn du Glück hast, gehst du nicht unter! Tja nun saßen wir also hier und machten Smalltalk mit den drei anderen Gästen – dem Hochzeitspaar eingerechnet. Nach einer kleinen Wartezeit wurden wir über einen der Pfade zu einem kleinen Warteraum geführt. Die Gärtner hatten in diesem Park wirklich eine tolle Arbeit geleistet. Auch wenn ich mich mit Pflanzen nicht auskannte, schienen sie wirklich harmonisch aufeinander abgestimmt zu sein. Ich folgte Uruha die Treppe nach oben und setzte mich dankend auf den Platz, der mir zugewiesen wurde. Der Meister, ein kleiner, hagerer Mann mit langem weißen Bart und grauen, zu einem Zopf geflochtenen Haaren reichte uns stillschweigend einen Becher mit heißem Wasser und begann dann vor unseren Augen das weiße Steinbecken zu säubern. Etwas überrumpelt sah ich zu Uruha, der den Becher demonstrativ an seine Lippen hob und einen kleinen Schluck trank. Ahh! Mir ging ein ganzer Kronleuchter auf! Der Meister war anscheinend damit fertig das Becken zu reinigen, denn er füllte es nun mit glasklarem Wasser und legte eine Schöpfkelle bereit. Ohne ein Wort zu sagen reinigte er seine Hände und seinen Mund und betrat wieder das Teehaus. Nach und nach erhoben sich die anderen Gäste stillschweigend und taten es ihm gleich. Ich blieb sitzen, bis Uruha im Teehaus verschwand und erhob mich dann um auch meine Hände und den Mund zu waschen. Symbolisch diente diese Geste dazu alles Üble, was man gesagt oder getan hatte abzuwaschen – so hatte Uruha es mir zuvor noch erklärt. Im Grunde genommen war das Ganze ja nicht total an den Haaren herbeigezogen. Ich ließ mich auf die Knie nieder um durch den kleinen Eingang des Teehauses zu kriechen. Auch das hatte wieder einen Hintergrund. Die Besucher traten somit in Demut und Respekt in den Hauptraum des Teehauses und ließen alle gesellschaftlichen Unterschiede hinter sich.
 

Der Teeraum war ein Ort der Stille und des Friedens. Niemand sprach auch nur ein Wort. Das gehört sich nicht. Aber langsam bemerkte ich, wie ich begann mich zu entspannen. Die angenehmen Gerüche und die angenehme Stille ließen mich ganz ruhig werden. Uruha hatte Recht gehabt. Es tat mir gut! Unser Gastgeber betrat den Raum und begrüßte uns. Uruha neben mir warf mir einen kurzen Blick zu, doch ich konnte ihn nicht ganz deuten. War er etwa erheitert? Oder wollte er mir nur zu verstehen geben, dass er ja gewusst hatte, dass ich mich entspannen würde? Vermutlich war es das gewesen. Nach der kurzen Begrüßung wurden Speisen gereicht: Suppen, Reis, eingelegtes Gemüse, Sake und Süßigkeiten. Seltsam wie anders alles schmeckte, wenn man die Zeit hatte es zu genießen! Das war nicht einmal im Krankenhaus der Fall gewesen. Allerdings hatte das Essen da auch nicht ansatzweise so gut geschmeckt wie es das hier tat! Ich hatte nicht viel gegessen, aber dennoch fühlte ich mich satt, als der Tisch wieder abgeräumt wurde. Uruha sah auch recht zufrieden aus!
 

„Das Essen war wundervoll, nicht wahr?“, fragte er mich fünf Minuten später, als wir wieder im Warteraum saßen und darauf warteten, dass die eigentliche Teezeremonie begann. Ich konnte nur zustimmend nicken. „Haben wir … habe ich so was öfter gemacht?“, fragte ich ihn dann. Dieser Gedanke war mir während des Essens gekommen. Allerdings wollte ich Uruha dort nicht so direkt fragen. Man war immer in die Konversation mit den anderen Gästen und dem Gastgeber eingebunden, die, laut Uruha, generell nicht sehr tiefsinnig war. Sich alleine mit einem anderen Gast zu unterhalten gehörte sich nicht. Jetzt, da wir allerdings darauf warteten, dass der Gastgeber uns wieder ins Teehaus bat, machte ich mir keine Gedanken darüber, die anderen unterhalten zu müssen. Sie schienen bereits ein Thema gefunden zu haben, über das sie sich mit der Schülerin des Meisters (die junge Frau, die uns ganz am Anfang begrüßt hatte), unterhalten konnten. Uruha schüttelte den Kopf. „Um ehrlich zu sein haben wir dazu kaum Zeit. Vor allem nicht, wenn wir an einem Album arbeiten oder eine Tour oder Konzerte geplant sind. Allerdings haben wir uns vorgenommen nach dem Album ein bisschen zu relaxen…“ Und leider war es anders gekommen.
 

„Wie geht es nun weiter“, wollte ich dann von ihm wissen. Meiner Ansicht nach hatte ich den ersten Teil recht gut überstanden. Aber jetzt folgte ja die tatsächliche Teezeremonie. Uruha räusperte sich leise. „Die Teezeremonien folgen einem ganz bestimmten Ablauf, wie du bisher mitbekommen hast. Dieser wird immer vom Meister an seinen Schüler weitergegeben, damit er nicht in Vergessenheit gerät. Allerdings variiert der Ablauf von Meister zu Meister. Der Grundablauf ist aber eigentlich immer der Selbe. Bei der Zubereitung des Tees muss der Gastgeber strengen Abläufen folgen, die nicht nur vorschreiben, welche Gefäße verwendet werden und wann welcher Handgriff zu erfolgen hat, sondern auch, in welchen Abständen die Gefäße zueinander stehen. Damit kenne ich mich selbst zu wenig aus, deshalb kann ich dir das nicht erklären. Allerdings siehst du es in ein paar Minuten selbst. Der Meister reinigt zuerst alle Utensilien sehr sorgfältig mit einem Seidentuch. Der Vorgang der Reinigung dient der Meditation. Die Gäste sehen ihm dabei zu und sollten dadurch in die gleiche Harmonie verfallen. Mithilfe eines Teebambuslöffels füllt der Gastgeber pulverisierten Tee in die Teeschale und gießt ihn mit heißem Wasser auf. Dann wird der Tee mit dem Besen schaumig geschlagen. Im Anschluss wird der Tee dem Hauptgast gereicht, der sich mit einer Verbeugung bei ihm bedankt, und sich gleichzeitig bei den anderen Gästen dafür entschuldigt, dass er als Erster kosten darf. Der Ehrengast dreht die Tasse drei Mal unter Bewunderung der Tasse und nimmt anschließend drei Schlucke, reinigt den Rand und gibt die Tasse dann weiter. Wie du gemerkt hast wird im Teeraum selbst kaum gesprochen. Nur im Wartebereich stellen sich kleine Unterhaltungen ein!“ Ich nickte zustimmend. Ja das war mir auch aufgefallen. „Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann ist der Hauptgast der Bräutigam, oder?“, fragte ich ihn dann. Uruha nickte leicht. „Ja das konntest du schon daran merken, dass der Meister ihn zuerst begrüßt hat.“ Das fünfmalige Schlagen des Gongs war das Zeichen wieder ins Teehaus zurück zu kehren. Ich ließ mich auf meinem Platz nieder und sah neugierig zu, wie der letzte Gast die Tür etwas lauter schloss. Das schien wohl das Zeichen dafür gewesen zu sein, dass die Teezeremonie nun beginnen konnte, denn nun betrat der Meister den Raum wieder und kniete sich vor den Teeutensilien hin. Der restliche Ablauf verlief genau so, wie Uruha es mir vorher erklärt hatte. Es wurde doch ein bisschen was gesprochen, hauptsächlich aber über den Tee, der gereicht wurde.
 

„Wie hat es dir gefallen?“, fragte Uruha, bog auf einen der Wege ab, die mit Kieselsteinen gesäumt waren und sah in den Himmel hoch, wo sich schwere, graue Wolken vor die Sonne geschoben hatten. Ich rümpfte die Nase, als ein Regentropfen auf meine Wange fiel. Der Regen konnte ruhig noch etwas warten! Vielleicht bis wir zu Hause waren? „Ich bin froh, dass du das nicht wegen der Konversation gebucht hast! Dann wäre es nämlich ein Reinfall gewesen! Aber ansonsten war es ganz in Ordnung“, gab ich dann ein bisschen spöttisch aber ehrlich zu, zog meine Jacke an und schloss den Reißverschluss. Natürlich konnte der Regen nicht warten! Mittlerweile hatte es zu nieseln begonnen und ein frischer Wind kam auf. Uruha begann leise zu lachen und nickte zustimmend. „Das stimmt. Aber wegen Konversation darf man niemals eine Teezeremonie besuchen. Dann ist es besser du besuchst einen Debattierclub! Aber es freut mich, wenn es dir sonst gefallen hat!“ „Oh um ehrlich zu sein, warst du der einzige Mensch, mit dem ich wirklich Konversation betreiben … ahhh!“ Ich hätte mich der Länge nach auf die Nase gelegt, hätte Uruha nicht schnell genug reagiert und mich am Ellenbogen festgehalten. „Was ist passiert? Alles in Ordnung?“ Ich sah zu ihm hoch und nickte vage, während ich probehalber versuchte aufzutreten. Gut, meinem Knie war nichts passiert – zumindest tat es nicht weh. Das Prasseln des Regens wurde lauter, als er an Stärke zunahm. „Ich glaube das ist der Boden!“ Uruha hob die Augenbrauen und sah mich fragend an. „Der Kies ist nicht fest, sondern rutscht. Das strengt mich an, beim Laufen!“ Naja nicht, dass ich das gerne zugab, aber er hatte wohl eine Erklärung verdient nachdem er mich vor einer unschönen Landung bewahrt hatte. Außerdem war ich den ganzen Tag auf den Beinen. Es war ja kein Wunder, dass ich müde wurde. Er nickte dazu nur leicht und rümpfte die Nase. „Und bei dem Regen wird es auch nicht besser werden! Komm! Da vorne können wir uns unterstellen, bevor wir klatschnass sind!“ Waren wir das nicht eh schon? Außerdem war mir wirklich kalt. Meine Finger fühlten sich ganz klamm an. Ich stieg die Stufen zu dem kleinen Pavillon hinauf, den Uruha entdeckt hatte und sah zu, wie die Regentropfen im schwachen Licht der Laterne, zu Boden plätscherten. Meine Finger krallten sich in meine Jacke, als ich sie enger um mich zog und leise seufzte. „Du hast ganz blaue Lippen. Ist dir kalt?“ Uruhas Blick lag musternd auf mir. „Ein bisschen“, gab ich dann zu. Es hatte doch keinen Sinn nein zu sagen, wenn ich zitterte. „Nein! Bitte behalt sie! Du brauchst auch eine Jacke, bevor du krank wirst“, wehrte ich ab, als Uruha ritterlich begann seine Jacke auszuziehen. Er stockte mitten in der Bewegung und seufzte, so als wüsste er ganz genau, dass ich sie nicht nehmen würde. Sein Arm verschwand wieder im Ärmel und schon zog er den Reißverschluss wieder hoch. „Du bist ein Sturkopf, wie eh und je!“ Ich konnte es mir nicht erklären, aber das brachte mich zum Lächeln. Es war seltsam mit ihm alleine zu sein. Aber nicht auf eine schlechte Art und Weise. Ich fühlte mich wohl in seiner Nähe. Er behandelte mich einfach nicht mehr so vorsichtig wie die anderen – klar am Anfang hatte er es sehr wohl getan. Doch mittlerweile hatte ich die Chance mich zu melden wenn etwas war, oder es sein zu lassen und es zu ertragen. Ich wusste, dass er mir sofort helfen würde, wenn der erste Fall eintrat und bei Zweiterem bekam er ja nicht unbedingt mit, dass etwas los war.
 

Er lehnte sich neben mich an einen Holzpfeiler und sah zu, wie der Regen fiel. Als ich ihn so sah, wurde mir wieder ganz warm. Dunkle Augen, hohe Wangenknochen, formvollendete Lippen, ein wunderschönes Lächeln und eine Mähne, die dazu einlud meine Finger darin zu vergraben. Er sah unglaublich gut aus. Durchaus sehr männlich, auch wenn er auf den Fotos generell sehr feminin wirkte. Noch mehr als der Rest der Band. Meine Finger zitterten, als ich daran dachte, wie sich seine Bauchmuskeln unter meinen Fingerspitzen angefühlt hatten, oder wie gut es sich anfühlte, wenn er seine Arme um mich legte. Uruha wirkte nachdenklich, als er so nach draußen in den Regen starrte. Plötzlich hob er den Kopf. Er schien meinen Blick gespürt zu haben. Seine dunklen Augen musterten mich besorgt, doch er erwiderte meinen Blick, während ich nach und nach immer mehr in seinen Augen versank. Ein seltsames Ziehen machte sich in mir breit. Sehnsucht? Ich wollte ihm nahe sein! Plötzlich wollte ich es mit einer Intensität, die mich selbst erschreckte. Mein Herz begann zu flattern, als er zu lächeln begann. So warm. So einladend. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er sich bewegt hatte, bis er direkt vor mir stand und ich meinen Kopf heben musste um ihn anzusehen. Sein Körper strahlte eine unglaubliche Wärme aus. Verbrannte mich, während mein eigener sich ihm entgegenstreckte. Seine Fingerspitzen zitterten, als er seine Hand hob und mit den Fingerrücken über meine Wange strich, was mich zum Erschaudern brachte. Obwohl mein Kopf mir zurief, dass es eine blöde Idee war, wollte ich ihn küssen, viel zu sehr, als dass ich auf die Argumente hören konnte, die er mir warnend aufzuzählen begann.
 

„Aoi…“ Seine Stimme war nur ein leises Flüstern, kaum lauter als ein Windhauch. „… du bist so … wunderschön!“ Ich schluckte trocken, bebend atmete ich aus. Uruhas Augen weiteten sich, seine Finger schlossen sich zu einer Faust. Noch bevor er einen Schritt zurückweichen und diesen magischen Moment zerstören konnte, hatte ich mich auf die Zehenspitzen gestellt, zog ihn an seiner Jacke an mich und küsste ihn. Sein Körper versteifte sich augenblicklich, doch noch bevor ich mich zurückziehen konnte um mich bei ihm für diesen Überfall zu entschuldigen, legten sich seine Arme um meine Taille und zogen mich näher an sich heran. Selbst durch die Jacke hindurch konnte ich seine muskulösen Unterarme spüren, die sich an meine Seiten drückten. Wohl geformt! Steinhart! Heiß! Meine Lippen bewegten sich warm und weich gegen seine. Dann übernahm er die Führung, drängte mich stärker zurück, wobei seine Arme mich festhielten. Seine Zunge fuhr vorwitzig über meine Unterlippe. Ich schmiegte mich an ihn und hielt mich an ihm fest, da meine Knie ganz weich wurden von diesem Kuss. Als ich nach Luft schnappte nutzte er die Gelegenheit und seine Zunge schlüpfte ungehindert in meinen Mund. Sein Geschmack war berauschend. Herb. Männlich. Warm. Die Spitze seiner Zunge glitt hart über die Mitte meiner eigenen, dann neckte sie sie ganz vorne. Hitze stieg in mir auf. Dieser Kuss … war unglaublich! Überwältigend! Er endete genauso sanft, wie er auch begonnen hatte indem Uruha seine Lippen noch mal sanft, aber mit Nachdruck auf meine presste. Seine Arme blieben weiterhin um meine Taille geschlungen, während ich meinen Kopf an seine Schulter legte, sein leises Keuchen an meinem Ohr. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, so verlegen war ich. Verdammt noch mal, was hatte ich da gerade getan?

Kapitel 22

~Uruha POV~
 

„… Nach dem schrecklichen Verkehrsunfall ihrer beiden Gitarristen melden sie sich nun wieder zurück! Die Pressekonferenz findet morgen um 14 Uhr statt! Wir werden für euch mit einem Team live vor Ort sein und davon berichten! Die Livemitschnitte könnt ihr natürlich wie immer online auf unserer Homepage ansehen! Vergesst also nicht einzuschalten! …“ Ich seufzte leise und stellte das Radio aus. Den ganzen Tag ging das schon so! Seit man verkündet hatte, dass wir eine Pressekonferenz bezüglich Aois Gesundheitszustand geben würden, liefen die Medien heiß. Heute, einen Tag vor dem anscheinend sehnlich erwarteten Pressetermin, schienen sie Amok zu laufen. Beinahe jeder Musiksender behauptete alle fünf Minuten nur für seine Zuhörer live teilzunehmen. Selbst vor dem Hotel, in dem der Saal für die Pressekonferenz gebucht war, standen bereits Schaulustige und Fans, die sich einen Blick auf die Band und vor allem auf Aoi erhofften. Ich hatte normalerweise kein Problem damit, wenn um uns herum Trubel entstand. Das war normal. So ging es uns auch bei Lives, Fernsehauftritten oder wenn wir Interviews gaben. Allerdings war ich dieses Mal besorgt, dass es Aoi nicht gut tun würde, wenn er dadurch noch mehr unter Druck gesetzt wurde. Er war sowieso schon nervös genug, weil er sich keinen Fehler erlauben durfte.
 

„Niizaki-san! Das kommt bitte direkt auf die Bühne!“, rief unser Manager seiner Assistentin hinterher, die gerade mit einigen Stoffballen auf den Armen durch den Raum getrippelt kam. „Kaneko-san! Wo wollen Sie mit dem Mikrophon hin?“ Kai, der neben mir am Tisch saß, stützte seinen Kopf auf den Händen ab und sah nachdenklich zu ihm hinüber. „Er macht ja einen wirklich guten Job, aber ich frage mich, ob das gesund ist?“ Ich folgte seinem Blick und zuckte nur mit den Schultern. „Naja … wenn er weiterhin wie ein Verkehrspolizist herumfuchtelt, nimmt er wohlmöglich ein paar Kilos ab. Das würde seiner Frau sicher gefallen!“ „Pff … Uruha! Schlimm ist das mit dir!“ Kai stieß ein leises, kehliges Lachen aus und versuchte ernst zu gucken, als ihn der Blick des Managers traf. Dieser kam nicht dazu nachzufragen, warum wir ihn so angrinsten, da sein Handy gerade in diesem Moment zu klingeln begann. Er sah kurz aufs Display, entschied dann doch, dass der Anruf wichtig war und nahm ihn entgegen. „Seit wann hat er Leech als Klingelton!?“, entkam es mir. Den ungläubigen Unterton konnte ich mir nicht verkneifen. Unser Manager sah uns strafend an, drehte uns dann den Rücken zu, während er telefonierte. Ich hob meine Tasse wieder an die Lippen und nippte an meinem Kaffee. Kai hatte seine zweite Tasse bereits fertig und schenkte sich aus der Thermoskanne eine weitere nach. Sein Blick blieb aber weiterhin auf unseren Manager gerichtet. „Vor wem er wohl jetzt wieder katzbuckelt?“ Ich hob die Augenbrauen. „Und du bezeichnest mich als schlimm? Die ganzen Kommentare kommen ja ausschließlich von dir!“, erwiderte ich, doch unser Drummer zwinkerte mir nur gut gelaunt zu. Von dem Stress, der rund um uns herrschte, schien er sich absolut nicht anstecken zu lassen. Sonst war er auch immer vorne dabei, wenn es um organisatorische Dinge ging. Ich fragte mich, warum er ausgerechnet jetzt so seelenruhig Kaffee trank. Nicht, dass ich es ihm nicht gönnen würde. Er machte sich eh viel zu oft verrückt wegen Nichts.
 

Unser Manager beendete das Gespräch und seufzte leise. „Ich wusste ja, dass es eine gute Idee wäre, den großen Saal zu buchen“, murmelte er dann und steckte das Handy wieder in die Innentasche seiner Anzugjacke. Kai verdrehte die Augen. „Das war eigentlich mein Vorschlag, aber in Ordnung!“ „Deiner?“ Er hob die Augenbrauen. „Du hättest mal die Antwortbriefe auf die Einladungen sehen sollen! Ich dachte mir gleich, dass das ein riesen Aufgebot wird! Die bringen niemals alle Reporter, Journalisten, Kameramänner und Fotografen in diesen Saal! Die Restlichen werden sich mit einer Pressemappe zufrieden geben müssen. Oder sie klauen von der Konkurrenz!“ Die Pressekonferenz würde über Radio, im Fernsehen und per online Streams zu sehen sein. Was für ein Radau! Kai warf das Hochglanzmagazin, in dem er gerade geblättert hatte, auf den Tisch und seufzte leise. Seine Haare standen bereits in alle Himmelsrichtungen, so oft war er in den letzten zwei Stunden hindurch gefahren. Gut, dass er erst noch zu Tsukoyomi-san musste. Dieser wäre entsetzt gewesen, wenn Kai seine meisterhafte Frisur zerstörte. „Machst du dir Sorgen?“ Kai zuckte mit den Schultern und nickte vage. „Vor allem um Aoi. Er ist den ganzen Trubel und Druck nicht gewohnt! Oder … nicht mehr gewohnt? Ich kann mich nicht daran erinnern, wann es das letzte Mal, von Lives abgesehen, so einen riesen Wirbel um uns gegeben hat. Aber wenigstens können wir so das Album auch gleich anpreisen!“ Typisch Kai. Er hatte schon wieder die geschäftlichen Dinge im Kopf.
 

Ich drehte meinen Kopf und sah zu, wie Aoi gerade sein T-Shirt auszog und in ein schwarzes Lederoberteil schlüpfte, das man an der Seite mit einem Reißverschluss schließen konnte. „Naja bis jetzt scheint er noch gut damit klar zu kommen“, meinte ich dann, konnte mir aber ein Grinsen nicht verkneifen. Er hielt sich tatsächlich recht wacker. Allerdings stand er heute auch nicht auf der Bühne oder musste sich rechtfertigen. Heute ging es nur darum ihn noch etwas vorzubereiten, die Klamotten aufeinander abzustimmen und wenn wir wieder neu durchstarteten konnte ein kleiner Stilwechsel ja nicht schaden! Deshalb mussten wir auch nacheinander bei Chirac-san und Tsukoyomi-san, unseren beiden Stilisten, antanzen. Kai und ich hatten die Anprobe bereits hinter uns, weshalb wir auch am Tisch lümmelten und Kaffee tranken. Sowohl Aoi als auch Ruki waren gerade dabei sich von Chirac-san (sie selbst bevorzugte Mademoiselle Chirac) einkleiden zu lassen. Zwar designte Ruki die ganzen Bühnenoutfits und Fanartikel für uns, aber das Management war sich einig gewesen, dass es ihn auf Dauer zu sehr fordern würde und ein bisschen Unterstützung nicht schaden konnte, weshalb sie Chirac-san neu eingestellt hatten. Immerhin wollte ja niemand, dass Ruki noch wegen Burnout nicht mehr auf die Bühne konnte. Auch unser Vocal schien mit der Situation ganz zufrieden zu sein, was mich wirklich wunderte. Normalerweise gab er nicht gerne seine Arbeiten aus der Hand. Noch weniger, wenn er sie doch eigentlich gerne machte.
 

Mademoiselle Chirac war ein großer, schlanker Wirbelwind mit blonden, heute sehr kompliziert geflochtenen Haaren und einer frechen Stupsnase. Ihre blauen Augen blitzten hinter den dunklen Brillengläsern auf, als sie in ihren hohen Stöckelschuhen an den beiden vorbeitippelte und Ruki nachdenklich betrachtete. Diese Frau war Feuer und Flamme. Nicht einmal Ruki konnte ihr etwas entgegensetzen, wenn sie wirklich aufdrehte! So war es auch heute, denn Ruki hatte sich seinem Schicksal ergeben und folgte, wenn auch widerstrebend, ihren Anweisungen.

„Versuch mal dieses da!“, sagte sie nur und hielt ihm ein rotes T-Shirt hin. Dann zog sie ihren grafitgrauen Rock zurecht und drehte sich wieder zu Aoi um. „Non, das ist es nicht!“, meinte sie dann und befahl ihm, das Oberteil wieder auszuziehen. „Du musst mehr essen, damit du wieder in deine Outfits passt, du Hungerhaken!“, schimpfte sie mit ihm, was mich zum Lachen brachte. Wie ihr Name schon sagte, kam sie aus Frankreich. Dementsprechend lustig betonte sie die Silben auch. Allerdings hatte sie Recht, was Aoi anging. Durch die lange Zeit im Koma und die damit verbundene Ernährung über Infusionen hatte er stark abgenommen. Auch wenn er bereits seit zwei Monaten nicht mehr im Krankenhaus war, hatte er noch nicht sein altes Gewicht erreicht.
 

„Ruki! Hatte ich nicht gesagt, dass du das rouge T-Shirt anprobieren sollst!?“ Unser Vocal zog ohne Kommentar die weiße Jacke mit den schwarzen Ornamenten über das graue T-Shirt und sah sie an. „Ich kann doch auch so gehen!“ Sie schüttelte nur heftig den Kopf. „Non! Non! Non! Das kannst du nicht! Der Hintergrund wird weiß sein und die Tischdecke aussi! Du bist viel zu blass um das zu tragen!“ Damit wirbelte sie wieder herum und hielt ihm ein schwarzes T-Shirt mit einem weiten V-Ausschnitt hin und dazu eine samtene, rote Jacke. „Rot steht dir! Du kannst als Vocal sehr wohl ein bisschen hervorstechen! Außerdem harmoniert das Rot toll mit deinen blonden Haaren! Versuch jetzt das!“ Ruki seufzte und begann sich wieder umzuziehen. „Wow heute scheint sie wieder streng zu sein! Hab ich schon erwähnt, dass ich Frauen mag, die wissen, was sie wollen?“ Reita zog sich einen Sessel heran, nahm sich ein Sushibällchen und setzte sich. „Wo kommst du denn jetzt bitte her?“ Kai stellte seine Tasse wieder ab und musterte ihn streng. „Solltest du nicht schon lange bei Tsukoyomi-san sein?“ „War ich doch schon!“, erwiderte unser Bassist und drehte sich so, dass wir die bläuliche Paste in seinen Haaren sehen konnten. „Ich muss nur warten, bis das Zeugs richtig einwirkt, dann darf ich die Haare auswaschen! Aber bis dahin kann ich mir ja auch hier die Zeit vertreiben.“ Kai nickte leicht und erhob sich. „Gut, dann bin ich wohl dran! Bis später!“
 

Reita streckte die Beine aus und sah grinsend zu, wie Aoi sich seufzend ein weiteres T-Shirt auszog. „Der Anblick muss dir doch gefallen?“, kam es dann von ihm. Ich hob nur die Augenbrauen. „Ich sehe ihn jeden Tag zu Hause!“, gab ich nur trocken zurück und hob neckend eine Augenbraue. „Bist du dir sicher, dass es nicht eher du bist, dem die Aussicht gefällt?“ Der Blonde verstand sofort und begann zu schmunzeln. „Sie hat schon was! Denkst du nicht, dass sie zu mir passen würde?“ Jetzt verdrehte ich doch die Augen. „Nun jaaa … die blonden Haare und das lose Mundwerk habt ihr beide. Damit ergänzt ihr euch wundervoll!“ Sein heißeres Lachen war sein einziger Kommentar dazu. Dann zog er sich eine der Tassen heran und schenkte auch sich großzügig Kaffee ein. „Uruha … geht es dir gut?“ Jetzt brachte er mich wirklich aus der Fassung. Wie konnte er so schnell das Thema wechseln, so plötzlich von heiter, gelöst auf ernst und unnachgiebig umschalten? „Was soll die Frage? Natürlich geht’s mir gut!“ „Das meinte ich nicht!“ Zweifellos hatte er das nicht gemeint. Er spielte auf die Situation an, in der Aoi und ich uns im Moment befanden. Seit dem Kuss waren wir uns nicht mehr nahe gekommen. Es schien, als würde er sich selbst fragen, was da in ihn gefahren war. Die Distanz, die sich wieder zwischen uns auftat, fühlte sich schrecklich an.
 

Da ich keine Antwort gab, schien er zu erahnen, was los war. „Weißt du, ich glaube nicht, dass es an dir liegt. Aoi ist seit dem Unfall anders. Er überlegt viel mehr, ist mehr Kopfmensch als früher. Er scheint nicht mehr wirklich auf seine Gefühle zu achten. Der Kuss im Park … vielleicht sind sie da einfach mit ihm durchgegangen … ahh heiß!! ...“ Reita verzog unglücklich das Gesicht und begann seinen Kaffee zu pusten, bevor er einen weiteren, kleinen Schluck nahm. Sein Blick blieb weiterhin auf Chirac-san gerichtet, die Ruki zufrieden musterte und verkündete er würde wunderbar aussehen. Reita konnte mir bei solchen Gesprächen nie in die Augen sehen, hatte es auch nie gekonnt. Aber als mein bester Freund fühlte er sich dazu verpflichtet mit mir zu sprechen, wenn er spürte, dass ich es nicht mehr mit mir alleine ausmachen konnte. Ich war ihm dankbar dafür, wusste aber, dass er wirklich besorgt um mich sein musste, sonst hätte er damit nicht angefangen. „Versuch das nicht zu sehr auf dich zu beziehen und gib ihm Zeit, damit er sich darüber klar werden kann, warum er das getan hat. Ich glaube das muss er erstmal selbst verdauen!“ Mir entwich ein leises Seufzen. „Das ist nicht so einfach! Ich vermisse ihn einfach so schrecklich, Reita. Ihn bei mir zu haben, ihm aber nicht nahe sein zu können ist … so unglaublich schwer!“
 

Ruki setzte sich neben mich, auf den jetzt leeren Platz von Kai und griff nach zwei Reisbällchen. „Heute ist sie wirklich in Fahrt!“, meinte er, als er Reitas Blick folgte. Chirac-san hatte Aoi in ihren Fängen und bis sie wirklich zufrieden war, würde sie ihn auch nicht mehr frei geben. „Non! Du machst es mir heute vraiment schwer, Aoi-chan! Ich hatte das perfekte Outfit für dich! Aber was soll man machen, wenn es an dir aussieht, als hätte man es fünf Nummern zu groß geschneidert?“ Sie war wohl die Einzige, die uns mit –chan ansprach. Aber sie hielt generell nicht viel von Suffixen und verwendete sie, wie sie ihr gerade passten.

„Haben wir nicht etwas mit Bändern oder Schnallen? Dann könnte man wenigstens ein bisschen vertuschen, dass die Sachen etwas zu groß sind“, meinte Reita dann an mich gerichtet. Er hatte gerade eindeutig versaute Gedanken – oder wollte mir dabei helfen welche zu bekommen. Ich hatte ihm einmal erzählt, dass Aoi verdammt heiß aussah, wenn er solche Dinge anzog. Dem Ausdruck in seinen Augen nach war es auch als Scherz gedacht. Doch Chirac-san stutzte, überlegte und begann dann die Oberteile auf der Stange herumzuschieben, bis sie schließlich ein schwarzes Etwas aus dem Stapel zog. „Reita-chan du bist ein Genie! Das ist super! C’est parfait!! Aoi, zieh das an!“ Er nahm das Oberteil entgegen und hob skeptisch die Augenbrauen, als wollte er nachfragen, ob das unser Ernst war. Schlussendlich gab er sich doch geschlagen. Immerhin war das ja ‚nur‘ eine Anprobe. Mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als er das lederne Oberteil glatt strich. Der schwarze, teilweise durchsichtige Stoff schmiegte sich eng an seine Brust, ließ mehr erkennen, als er verhüllte. Sie stellte sich hinter ihn und begann die Lederriemen und Schnallen, die das Oberteil in Position hielten, an seinem Rücken festzuziehen.
 

„Uruha hör auf ihn anzusabbern! Du hast ihn doch zu Hause für dich alleine!“ Ich warf Reita einen warnenden Blick zu. In dieser Hinsicht war mit mir im Moment nicht gut Kirschen essen. Und Reita, dieser Bastard, wusste das nur allzu gut! Immerhin war er derjenige gewesen, den ich angerufen hatte, um ihm von dem Kuss zu erzählen, sobald wir zu Hause waren und Aoi sich ins Badezimmer verzogen hatte um zu duschen. Ich war ziemlich durch den Wind gewesen, hatte es nicht glauben können. Gott ich konnte es ja selbst jetzt noch nicht wirklich glauben! Er hatte mich geküsst! Ich hatte ihm immer Zeit geben wollen, damit er sich erst an alles gewöhnen konnte. Dieser Kuss, so gut er auch gewesen war, war absolut nicht geplant gewesen. Meine Lippen begannen wieder zu prickeln, als ich mich daran erinnerte, wie wundervoll es sich angefühlt hatte ihn zu küssen. Ich musste damit aufhören, sonst hatte ich gleich ein weiteres Problemchen, zusätzlich zu meinen schmutzigen Gedanken, als ich ihn in diesem Lederoberteil sah. „Vraiment parfait! Dazu noch Stulpen, Schmuck und ein bisschen Make-up … wir müssen unbedingt etwas mit deinen Haaren machen, Aoi … en voilà … du bist heißer, als der Teufel!“

Kapitel 23

~Aoi POV~
 

„Ich sagte doch, dass dir ein bisschen Farbe stehen würde! Du bist sonst immer so düster!“ Ich sah auf und begegnete Tsukoyomi-sans Blick. Er schien sichtlich erfreut darüber zu sein, dass ich gestern einem Stilwechsel zugestimmt hatte. Auch für mich war es etwas Besonderes gewesen. Immerhin war das hier so was wie ein Neuanfang für mich. Daher hatte ich auch entschieden, dass die langen Haare weg mussten. Allerdings war Tsukoyomi-san nicht ganz damit zufrieden gewesen mir nur kurze Haare zu verpassen. Er meinte ich wäre viel zu düster und mit Make-up würde es noch schlimmer aussehen. Ich hatte eigentlich kein Problem mit düster, aber dennoch hatte ich eingewilligt, als er mir vorschlug zumindest mein Deckhaar zu färben, während der Rest schwarz blieb. Da weder Blond noch Giftgrün meine Farben sind (und Letzteres eher ausgesehen hätte, als hätte mir jemand die Haare vollgekotzt), hatte ich mich schließlich für ein kräftiges Rot entschieden. Umso größer war der Schock, als mir nach dem Färben ein blasses Rosa im Spiegel entgegenleuchtete. Irgendein Idiot hatte die Färbemittel vertauscht! Tsukoyomi-san war wirklich untröstlich und unser Manager verdammt sauer gewesen. Unser Stylist hatte noch versucht zu retten, was zu retten war und als ich eine Stunde später mit knallig pinken Haaren den Raum verließ hob Ruki anerkennend den Daumen. „Das sieht wirklich gut aus!“, lobte er mich und fügte auf Englisch hinzu: „Only a real man can wear pink!“
 

„An was denkst du gerade, Aoi?“, fragte der Vocal, der neben mir in der Garderobe saß und einen perfekten Lidstrich zog, während Tsukoyomi-san eine meiner Haarsträhnen zwischen seinen Fingern zwirbelte und sie mit viel Haarspray aufrichtete. Ich rutschte unruhig auf dem Stuhl herum und schüttelte den Kopf. „Nichts Wichtiges!“ Ich hatte wirklich das Gefühl, dass meine Wangen bei der Lüge zu glühen begannen. Ruki war nicht der Einzige gewesen, dem meine Haare gefielen. Auch Uruha hatte sich gestern Abend zu Hause im Lift eine Strähne um die Finger gewickelt und daran gezupft, während sich sein Körper an meinen presste. Sein herber Duft umfing mich, ließ mich ganz benebelt gegen die Kabinenwand des Lifts sinken. „Ich dachte eigentlich, dass du einen roten Farbton wählen würdest“, murmelte er leise, beinahe so, als hätte er es gar nicht laut aussprechen wollen. „Aber um ehrlich zu sein steht dir das Pink besser. Es lässt deine Züge nicht so hart wirken.“ Mein Körper war wie erstarrt. Jedes Mal, wenn er mir so nahe kam wurde mir ganz heiß. Meine Finger zitterten. Doch noch bevor ich entscheiden konnte, ob ich sie in seinen, nun ganz braunen Haaren, vergraben sollte oder nicht, hatte er sich wieder von mir gelöst und ich brauchte die ganze Zeit bis in die Wohnung, um mich wieder unter Kontrolle zu bekommen, weil mir mein Herz immer noch bis zum Hals schlug. Ich fühlte mich in seiner Nähe immer so unsicher. Klar kamen wir gut miteinander aus. Wir blödelten auch oft genug herum. Aber andererseits ließ mich seine Nähe auch immer atemlos zurück, während mein Kopf mich anschrie, weshalb zum Teufel ich jedes Mal die AUS-Taste meines Gehirns drückte, wenn Uruha ins Spiel kam.
 

„So! Genug geträumt, die Haare sind fertig. Jetzt fehlt nur noch das Make-up!“ Damit drehte Tsukoyomi-san den Stuhl, sodass ich mit dem Rücken zum Spiegel saß und er sich vor mich stellen konnte. „Hmm ich würde mal sagen, wir versuchen zuerst etwas Dezentes. Aber wir müssen unbedingt deine Augenringe überschminken!“ Ruki erhob sich und nickte mir aufmunternd zu. Ich versuchte ein optimistisches Lächeln, doch es misslang ziemlich in Anbetracht dessen, dass ich in nicht ganz einer Stunde den ganzen Reportern Rede und Antwort stehen musste. Die Nervosität, die mich wegen dieser Pressekonferenz beschlich, war beinahe nicht mehr zu ertragen. Ich hatte die ganze Nacht kaum geschlafen, weil dieses nagende Gefühl einfach nicht verschwinden wollte. Es konnte so viel schief gehen! Stunde um Stunde hatte ich mich wach auf dem Sofa hin und her gewälzt, aber der Schlaf war nicht gekommen. Als ich schließlich doch von Uruha geweckt wurde fühlte ich mich wie gerädert. Und so sah ich auch tatsächlich aus. Ich versuchte die nun aufkommende Nervosität wieder irgendwie zu vertreiben und atmete tief durch. Noch war es nicht so weit! Noch musste ich nicht vor die ganzen Reporter treten! Mein Puls, der vor Anspannung in die Höhe geschnellt war, begann sich wieder etwas zu beruhigen. Das Übelkeitsgefühl aber blieb.
 

Uruha tauchte neben mir auf, als Tsukoyomi-san begann den Puder aufzutragen. Auch er war schon fertig geschminkt und angezogen, aber anscheinend mussten bei ihm noch die Haare gemacht werden. Er legte eine Hand auf meine Schulter und sah mich ernst an. „Alles in Ordnung?“ Ich wusste gar nicht, wie oft ich diese Frage heute schon gehört hatte und wie oft ich daraufhin schon mit ‚JA’ geantwortet hatte. Wieder nickte ich, während Tsukoyomi-san sich wegdrehte um nach einem Pinsel zu greifen. Uruhas Blick war durchdringend, so als würde er mir nicht glauben, doch dann nickte er einfach nur und setzte sich auf den leeren Platz neben mich, wo auch gleich jemand erschien, um sich um seine Frisur zu kümmern. Ich war froh darüber, dass er nicht nachbohrte. Er schien wie üblich zu verstehen, dass ich das mit mir alleine ausmachen musste. Diese Angst war nicht wirklich gerechtfertigt, wenn man bedachte wie viele Interviews ich bereits gegeben hatte. Und dennoch schwitzten meine Hände, meine Atmung wurde schneller und abgehakter und mein Herz begann schneller zu pochen, als ich daran dachte, dass es bald losging.
 

„Hast du schon das Curry probiert, das Kai mitgebracht hat?“ Ich hob die Augenbrauen. Uruha bot mir eine willkommene Ablenkung. Vielleicht war das auch Sinn der Sache gewesen. Da war ich mir bei ihm nie ganz sicher. Allerdings kannte er mich besser als jeder andere, einschließlich mir selbst. „Er hat Curry mitgebracht?“ Tsukoyomi-san schnalzte laut mir der Zunge und sah mich ungehalten an. „Halt still und mach die Augen zu, oder willst du, dass ich den Eyeliner über dein ganzes Gesicht verteile?“ Uruha schmunzelte leicht und nickte. „Ja und es ist wirklich lecker! Du solltest es probieren!“ Ich bemerkte, worauf das hinauslief! Uruha wusste nur zu gut, dass ich heute vor Aufregung noch nichts in den Magen bekommen hatte. Wenn ich nicht dieses dumme Gefühl hätte gleich alles wieder hochzuwürgen, hätte ich zumindest versucht etwas zu essen. Doch die Nervosität schnürte mir die Kehle zu. „Ich hab keinen Hunger!“ „Und dann beginnt dein Magen vor der ganzen Meute zu grummeln…“ Uruhas leises Lachen war in der Garderobe zu hören. Eine leichte Gänsehaut zog sich über meine Arme. Gott, dieses Lachen war so wundervoll! Mir wurde ganz warm. Meine Anspannung lockerte sich ein bisschen, während ich meine Augen schloss, damit Tsukoyomi-san den Lidstrich ziehen und Lidschatten auftragen konnte – in Schwarz natürlich. Er musterte mich und nickte dann. „Wir belassen es dabei!“ Als ich mich nun wieder dem Spiegel zuwandte schnappte ich leise nach Luft. Ich erkannte mich selbst kaum wieder. Dieser Mann im Spiegel … war das tatsächlich ich? Uruhas Blick lag ernst auf mir. Dann begann er zu lächeln. „Du siehst fantastisch aus!“ Wieder verfärbten sich meine Wangen rot, was man selbst durch die Puderschicht erkennen konnte. Warum sagte er immer solche Dinge? Warum war er so verdammt direkt? Merkte er denn nicht, dass es mich jedes Mal verlegen machte, wenn er so was sagte? Ich konnte damit einfach nicht umgehen. „Danke … du aber auch!“ Es war nicht reine Höflichkeit, die mich dazu veranlasste das Kompliment zu erwidern. Uruha sah unglaublich gut aus mit der schwarzen, zerrissenen Hose und dem nietenbesetzten, tief ausgeschnittenen Oberteil. Darüber würde noch eine Jacke kommen, aber auch so schien das Outfit ausgehtauglich zu sein! Er verzog seine vollen Lippen nur zu einem zufriedenen Grinsen und erhob sich, da er nun auch fertig war. „Ich weiß!“
 

„NEIN! Das sehen wir nicht ein! Wir haben immer betont, dass uns die Fans sehr wichtig sind! Was glauben Sie, was sie wohl empfinden, wenn die Band sich hinter ihrem Rücken ins Hotel stiehlt!? Das geht nicht! Sie haben auch ein Recht darauf uns zu sehen! Vor allem, wenn sie seit Tagen vor dem Hotel warten!“ Uruha und ich erstarrten an der Tür, als Kais wütende Stimme zu uns auf den Gang drang. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Aber auch Reita und Ruki hatten ihre Arme verschränkt und starrten wütend vor sich her. „Das ist nicht unser Problem! Wir haben sie schließlich nicht dazu aufgefordert!“ Wem gehörte diese Stimme? „Das tun wir bei Lives auch nicht und sie machen es trotzdem!“ Ich beugte mich etwas weiter vor um einen Blick auf den Mann zu werfen, mit dem Kai sich gerade in der Wolle hatte. Sotooka-san? „Ich stimme Kai in dem Punkt voll zu. Wir sind nur so lange beliebt bei den Fans, solange wir auch uns treu sind!“, stellte sich Reita hinter unseren Drummer. „Wir wollen ja keine großen Reden schwingen! Aber sich still und heimlich ins Hotel zu schleichen macht keinen guten Eindruck! Man glaubt wohlmöglich noch, dass wir was vor ihnen verbergen wollen!“, gab nun auch Ruki zu bedenken. „Versuchen Sie uns zu verstehen! Aoi-san ist noch nicht bereit dafür über einen roten Teppich zu laufen und seine Fans zu begrüßen! Wir haben ausgemacht, dass ihr zum Hotel fahrt und während wir durch den Vordereingang gehen werden, benutzt ihr den Lieferanteneingang!“ Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Warum versuchten alle darüber zu bestimmen, was ich konnte und was nicht? Und warum sollte ich dazu nicht bereit sein? Immerhin musste ich auch mit auf diese Pressekonferenz, was vermutlich schlimmer war, als den Fans nett zuzuwinken! Kai verdrehte die Augen und schüttelte ungehalten den Kopf. „Das ist nicht unsere Art und das wissen Sie genau!“ Sotooka-san zuckte nur mit den Schultern und nickte vage. „Natürlich wissen wir das. Aber das ändert nichts an der Situation.“ Uruhas Finger lagen immer noch am Türgriff. Er warf mir einen kurzen Blick zu, den ich aber nicht deuten konnte, dann stieß er die Tür auf und ich folgte ihm in den Raum. Bevor ich etwas sagen konnte, drehte Sotooka-san sich zu uns um und nickte. „Gut, dass ihr nun auch fertig seid! Lasst uns losfahren. Wir sind eh schon knapp dran!“ Damit schien das Gespräch für ihn offenbar beendet zu sein, denn er ging einfach und ließ uns zurück.
 

Kai starrte ihm hinterher und fluchte leise. „Wir sind doch keine Diebe, die sich hinterrücks ins Haus schleichen!“, moserte er wütend. „Was bilden die sich eigentlich ein!?“ Meine Kollegen sahen wirklich ernsthaft sauer aus. Auch Uruha biss nun heftig die Zähne zusammen, während er seine Jacke anzog. Ich wusste ganz ehrlich gesagt nicht wirklich ob ich froh darüber sein sollte, dass mir die Sache mit den Fans erspart blieb oder eben nicht. Einerseits empfand ich es als bodenlose Frechheit, dass andere versuchten mir zu sagen, für was ich bereit war und für was nicht. Das war immer noch meine Entscheidung. Andererseits war ich mir im Moment nicht sicher, ob ich mich dazu im Stande fühlte einer weiteren Horde von Leuten gegenüberzutreten. Auch ich griff nach der Jacke, die Chirac-san für mich rausgelegt hatte. „Leute! Kommt ihr?!“, rief unser Manager in den Raum. Ruki seufzte abgrundtief. „Kommt, sonst nimmt das noch ein schlechtes Ende! Es wäre schlimmer für alle, wenn wir die Pressekonferenz deswegen boykottieren.“ Wir folgten unserem Vocal schweigend. Erst als wir in dem Auto mit den verdunkelten Fensterscheiben saßen begann die Diskussion von vorne. „Das wirft ein denkbar schlechtes Licht auf uns! Ich meine, die warten doch schon seit Tagen vor dem Hotel! Nicht, dass das was Neues ist, aber wenn sie uns nach der langen Zeit so unterstützen, dann können wir ihnen das nicht antun!“ Kai seufzte und schüttelte den Kopf. Es war nicht unsere Entscheidung gewesen. Ich schluckte trocken, als der Wagen startete und losrollte. Mein Herzschlag beschleunigte sofort wieder, als die altbekannte Panik in mir hoch kam. Nur nicht aus den Fenstern sehen! Als hätte er es geahnt hielt Uruha mir seine Hand entgegen. Er überließ es mir, ob ich sie annehmen wollte, oder nicht. Ich griff danach, ohne lange zu überlegen. Ich war mit der Situation so überfordert, dass ich Halt brauchte. Seine Lippen verzogen sich augenblicklich zu einem zufriedenen Lächeln.
 

Während die anderen weiterdiskutierten sah ich betreten auf unsere Hände hinunter. Kai hatte Recht. Der Unfall war nun schon über ein halbes Jahr her. Dennoch standen Fans vor dem Hotel um uns zu sehen, um mich zu sehen! Sie hatten mir Genesungskarten geschrieben, mir Geschenke, Blumen und Gebetsbänder geschickt. Wie konnte ich sie dann jetzt enttäuschen, wenn sie mich nur sehen wollten? Es ging doch nicht um mehr, oder? Ich klopfte gegen die geschlossene Scheibe, hinter der der Fahrer verborgen war. Nach dem Einverständnis der anderen fragte ich gar nicht erst. Wenn sie es nicht wollen würden, hätte es diese Diskussion nicht gegeben. Ich räusperte mich, während ich mich hinüberbeugte, als die dunkle Scheibe nach unten glitt. „Sagen Sie … würden Sie einen kleinen Umweg fahren?“, fragte ich den Fahrer dann, als die Scheibe zwischen uns verschwunden war. „Ich habe strikte Anweisung euch auf direktem Weg zum Lieferanteneingang des Hotels zu bringen!“ Ruki quetschte sich zwischen Uruha und mich, um auch in die Fahrerkabine sehen zu können. „Drücken Sie ein Auge zu und lassen Sie uns am Vordereingang raus!“ Die anderen hatten ihr Gespräch eingestellt und hörten aufmerksam zu. „Es tut mir wirklich leid, aber ich habe eine Frau und zwei Kinder. Ich kann es mir nicht leisten den Job zu verlieren, nur weil ich euch einen Gefallen tun wollte!“ Und dann ging die Scheibe wieder nach oben. Ruki schaffte es gerade noch seine Finger wegzuziehen, bevor sie eingeklemmt wurden. Er fluchte leise, ließ sich ungehalten in den Sitz sinken und starrte nach draußen auf die Straße. Ungläubig sah ich die anderen an und runzelte die Stirn. Was sollte das!? Wir waren doch keine Babys zum Teufel noch Mal!!
 

„Wir haben es zumindest versucht!“ Kais Aussage blieb unkommentiert, bis der Wagen im Hinterhof hielt. Ich ließ Uruhas Hand los, stieg aus und ging langsam los. Wow, dieses Hotel sah ja wirklich ziemlich protzig aus. Vermutlich kostete die Saalmiete ein halbes Vermögen! Unser Fahrer stieg aus und deutete auf eine Tür. „Das ist der Eingang … Aoi-san Sie gehen in die falsche Richtung!!“ Ich wusste nicht woher diese Eingebung plötzlich kam - vielleicht aus Trotz. Im Gehen drehte ich mich um und sah den Mann an. „Sie haben Ihre Aufgabe erfüllt und uns in den Hinterhof gefahren.“ Ein freches Grinsen erschien auf meinem Gesicht. „Was können Sie dafür, wenn ich zu dämlich bin den richtigen Eingang zu finden?“ Reita begann zu lachen und klatschte in die Hände. „Klar … ich bin dabei! Wissen Sie … mein Orientierungssinn ist nicht der Beste“, meinte er dann nur und legte mir einen Arm um die Schultern. Auch die Gesichter der anderen hellten sich auf. „Aoi, ist das wirklich in Ordnung für dich?“ Ich schluckte trocken und sah zu Uruha auf, der vor mir stehen geblieben war und mich besorgt musterte. Er wusste wie aufgeregt ich war, vermutlich sah man es mir auch auf 100 Metern an. „In Ordnung … ich glaube mein Puls ist mindestens auf 200, mein Herz rast, als würde ich einen Marathon laufen, meine Hände zittern und ich kann vor Aufregung kaum ruhig stehen. Aber ich bin es ihnen schuldig! Wir sind es ihnen schuldig! Ich kann sie nicht im Stich lassen und das werde ich auch nicht!“ Uruha erwiderte meinen Blick ernst und nickte mir dann zu. „Ich wusste, dass der alte Aoi noch irgendwo in dir ist“, sagte er dann leise und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. Erschrocken riss ich die Augen auf und erstarrte wieder. Warum machte er das!? Vor allen anderen! Bevor ich jedoch irgendwie reagieren konnte, löste er sich schon wieder von mir. Perplex sah ich ihm hinterher, als er an mir vorbeiging und mit Reita zusammen auf die Straße hinter dem Hotel trat. Kai blieb bei mir stehen und sah ihnen hinterher. „Na dann, lass uns unseren Fans guten Tag sagen!“
 

So bestimmt ich auch meine Überzeugung gerade eben durchgesetzt hatte, desto unsicherer wurde ich dafür jetzt. Das Wissen, dass die anderen hinter mir standen hatte mich stark gemacht, doch nun würde es zur Konfrontation kommen. Ich hätte doch wissen müssen, dass man Dinge leicht sagte, sie umzusetzen war allerdings umso schwerer. Mit jedem Schritt, den ich ging wurde mein Herzschlag schneller. Das Blut rauschte laut in meinen Ohren und meine Beine fühlten sich ganz wackelig an. Mir war schlecht vor Nervosität. Ich fühlte mich ganz elend. Obwohl es sich zuvor noch richtig angefühlt hatte, wünschte ich mir in diesem Moment doch durch die unscheinbare Tür gegangen zu sein. Ich machte beinahe einen Satz zurück, als Uruha plötzlich wieder vor mir stand und mich besorgt musterte. Wo war er plötzlich hergekommen. „Träumst du?“ Seine Stimme war so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Seine warme Handfläche legte sich an meine Wange. Er streichelte zärtlich mit dem Daumen über meine Lippen. „Ich weiß, dass du das kannst! Aoi, das ist unser Leben! Wir lieben es! Hab Vertrauen in dich, so wie wir anderen auch!“ Ich schloss meine Augen und genoss die Berührung, bei der mir ein heißer Schauer über den Rücken lief. „Geht es wieder?“ Ich nickte nervös und schluckte trocken. Ich fühlte mich aufgekratzt, ganz kribbelig. Ich musste etwas tun, bevor ich mich wieder umdrehte und zurückging. „Dann los!“ Ruki, Kai und Reita waren bereits vorgegangen, was ich gar nicht gemerkt hatte. Ich schluckte den dicken Klos in meinem Hals hinunter und folgte dann den anderen – mit Uruha an meiner Seite.
 

Durchdringendes Gekreische setzte ein, als die Fans uns schließlich bemerkten. Uruha setzte sofort ein strahlendes Lächeln auf. Kein Wunder, dass die Fans so auf ihn abfuhren. Er sah damit irgendwie richtig … heiß aus. Ich fühlte mich zittrig vor den ganzen Leuten. Aber seine Nähe half mir dabei ruhig zu bleiben und das durchzuziehen. „Aoi lächeln und winken!“ Ich musste über seinen trockenen Kommentar leise lachen und hob nun auch meinen Arm, was die Meute noch lauter zum Kreischen brachte. „Es ist … unglaublich Uruha!“, flüsterte ich. Überwältigend traf es wohl eher. Ich kann nicht beschreiben, welche Gefühle durch mich hindurchflossen. Überraschung. Glück. Freude. Ehrfurcht. Sie kreischten unsere Namen, verlangten nach Aufmerksamkeit! Und obwohl ich zuvor solche Panik vor dem Trubel gehabt hatte, waren es die überwältigenden Glücksgefühle, die nun überwogen, als ich vor die kreischende Menge trat. Die Securitykräfte hatten alle Hände voll zu tun um die Situation ein bisschen zu entspannen, als die Fans gegen die Absperrungen drängten, ihre Arme nach uns reckten. Mein Puls wurde wieder normal während Reita mich neben sich zog, um für Fotos zu posieren. Ein weiteres Gefühl brandete in mir auf. Dankbarkeit! Dankbarkeit gegenüber den Leuten, die uns nicht aufgegeben hatten, die mich nicht aufgegeben hatten. Ich hob kurz die Arme und bedeutete der Menge ruhiger zu sein und mit einem Mal kehrte absolute Stille ein. Alle Blicke waren auf mich gerichtet, selbst die der Band. Die Ruhe war beinahe unheimlich. Doch die Panik, die mich zuvor noch so fest in ihren Klauen hatte, war verschwunden. Meine Stimme war klar und fest, als ich zu sprechen begann. „Eine sehr schwierige Zeit ist nun vorbei! Ich möchte mich bei allen, die Uruha, mich und die Band so wundervoll unterstützt haben bedanken! Vielen Dank für die Genesungswünsche, eure wundervolle Unterstützung und euren Glauben an uns!“ Das Geschrei setzte wieder ein, als wir uns unisono verbeugten. Meine Verbeugung fiel nicht ganz so tief aus, wie die der anderen, da mein Kopf heftig zu pochen begann, als ich mich nach unten beugte, weshalb ich mich auch recht schnell wieder aufrichtete. Als ich die, vor Freude glitzernden Augen der Fans sah, wusste ich, dass ich mich richtig entschieden hatte.
 

„Oh oh!“, meinte Kai leise, als wir aus dem Lift ins Foyer des fünften Stockwerks traten. Unsere Manager standen mit verschränkten Armen und einem ziemlich ernsten Gesichtsausdruck vor einer geschlossenen Tür. Sotooka-san funkelte uns wütend an. „Hatten wir nicht eine Vereinbarung!?“, fragte er dann ernst. Noch bevor Kai etwas sagen konnte zuckte ich mit den Schultern. „Es war meine Schuld, tut mir wirklich leid! Mein Orientierungssinn war schon immer schlecht. Ich bin glatt in die falsche Richtung gelaufen!“ Ich hörte wie sich die anderen bei meiner nicht ernst gemeinten Entschuldigung das Lachen verkneifen mussten. Uruha legte mir seinen Arm um die Schultern und schob mich langsam an den drei Herren vorbei, die mich perplex anstarrten. Nun vermutlich hatte niemand mit so einer Antwort gerechnet. Reita begann frech zu grinsten. „Und wir konnten ihn ja schlecht alleine in die falsche Richtung laufen lassen, nicht wahr?“ Sotooka-san wollte gerade etwas erwidern, als unser Manager sich räusperte und darauf aufmerksam machte, dass die Pressekonferenz nun losgehen sollte.
 

Wir betraten den Raum durch den Eingang, vor dem unsere Manager gestanden hatten. Ruki klopfte mir auf die Schulter und folgte Reita dann zu seinem Platz. „Tief durchatmen!“ Ich befolgte Uruhas Ratschlag und betrat unter Blitzlichtgewitter den Raum. Wir ließen uns auf den Plätzen nieder, die durch Tischkarten gekennzeichnet waren. Niemand sagte etwas, bis die Fotografen zufrieden ihre Bilder geschossen hatten. Erst dann erhob sich Morishita-san und begrüßte die Anwesenden. Auch wenn es nicht mehr notwendig war, stellte er jeden Einzelnen vor und erläuterte noch einmal weshalb wir zur Pressekonferenz eingeladen hatten. Ruki sah gelangweilt auf die ganzen Leute vor sich hinunter, Kai hatte ein strahlendes Lächeln aufgesetzt, Reitas Ausdruck konnte man wohl am besten mit Desinteresse beschreiben und Uruha sah einfach nur ernst auf die Unterlagen, die vor uns auf dem Tisch ausgebreitet waren. „… möchten mitteilen, dass sowohl Aoi als auch Uruha sich wunderbar erholt haben und die Band mit vollem Elan wieder durchstarten wird! Dazu wollen wir auch gleich das neue Album anpreisen, das bald herausgegeben wird!“ Kai hatte den allgemeinen Teil übernommen und den Pressevertretern geschildert, wie es nun weitergehen würde. Meine Finger zitterten leicht, als ich das Glas anhob um einen Schluck zu trinken. Obwohl ich bisher keinen Ton gesagt hatte, fühlte meine Kehle sich an, als hätte ich seit Stunden gesprochen.
 

Schließlich kam der Teil, vor dem ich mich am meisten gefürchtet hatte – zurecht, wie sich schließlich herausstellte, denn die Fragen, die die Reporter stellten, machten mich ganz mürbe. Ich fühlte mich müde und ausgelaugt. Der Trubel, die Aufregung, das alles hatte mich geschlaucht. Meine Kopfschmerzen begannen sich wieder zu melden. Dabei musste ich doch konzentriert bleiben um die Fragen zu beantworten.

„Aoi-san! Es gab viele Gerüchte, dass Sie und Uruha-san nach einer Party betrunken nach Hause gefahren wären und im Rausch den Unfall verursacht hätten! Was sagen Sie zu den Anschuldigungen?“ Noch bevor ich reagieren konnte, beantwortete Uruha die Frage. „Wir weißen diese Anschuldigungen entschieden zurück! Niemand von der ganzen Band würde jemals betrunken Autofahren! Aoi und ich haben eine Fahrgemeinschaft und waren nach dem Arbeiten auf dem Nachhauseweg.“ „Wie genau ist der Unfall zustande gekommen?“ Diesmal war ich es, der antwortete. „Es tut mir Leid Ihnen keine befriedigende Antwort geben zu können, doch ich kann mich leider nicht mehr an den Tag des Unfalls erinnern.“ Ein leises Flüstern ging durch den Raum. „Ist diese Erinnerungslücke verletzungsbedingt?“ Ich stockte. „Das kann möglich sein. Jedoch ist es auch denkbar, dass es ein, durch den Unfall zurückzuführender Schock ist.“ Man war ich stolz darauf, dass mir diese Antwort eingefallen war. „Uruha-san? Können Sie uns etwas zum Unfallhergang schildern?“ Dieser schüttelte nur bedauernd den Kopf. „Wie ich bereits bei den letzten Interviews sagte, weiß ich nur noch, dass wir vom Arbeiten kamen und nach Hause wollten. Doch ich kann mich an nichts mehr erinnern, das nach dem Meeting stattfand.“ Das war eine Lüge, aber sie mussten ja nicht alles wissen. Nicht einmal mir hatte er die Einzelheiten verraten. Ein enttäuschtes Seufzen ging durch die Menge. Vermutlich hatten sie alle damit gerechnet die Alkoholbeichte des Jahres zu bekommen.
 

„Meine Frage geht an die anderen drei Bandmitglieder. Wie haben Sie von dem Unfall erfahren und was waren Ihre ersten Gedanken?“ Ruki legte die Fingerspitzen aneinander. „Ich war geschockt. Natürlich haben wir erst am nächsten Morgen von dem Unfall erfahren. Wir hatten unseren Arbeitstag erst spät abends beendet und waren alle zum Schlafen nach Hause gefahren. Aoi und Uruha sind eigentlich nie später dran, vor allem nicht, ohne sich vorher abzumelden. Aber an diesem Tag sind sie nicht zu den Aufnahmen erschienen.“ Kai nickte. „Wir haben uns Sorgen gemacht. Ich habe mehrmals auf ihren Handys angerufen und plötzlich nahm jemand das Gespräch entgegen. Es war eine der Krankenschwestern, die mir dann erklärt hatte, dass die beiden die Nacht zuvor einen Autounfall hatten.“ Diese Geschichte hatte ich auch noch nicht gekannt, weshalb ich aufmerksam zuhörte. Das war sicher ein riesen Schreck für die drei gewesen! „Kurz darauf bekamen wir einen Anruf von Aois Vater, dem die Polizei gerade die Nachricht überbracht hatte. Zu dem Zeitpunkt wussten wir allerdings schon, was los war“, schloss Reita die Erzählung.
 

„Wie schlimm waren die Verletzungen tatsächlich und welche Folgen entstanden daraus für die Band?“ Kai räusperte sich. „Uruhas Verletzungen waren weniger schwerwiegend. Nach ein paar Wochen konnte er bereits wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden! Wie Sie bereits von der letzten Pressekonferenz wissen, musste Aoi in ein künstliches Koma versetzt werden, was natürlich dazu führte, dass alle weiteren Aufnahmen, Interviews und Auftritte bis auf Weiteres abgesagt werden mussten!“ „Werden die Auftritte nachgeholt werden?“ Ruki nickte zustimmend. „Ja wir werden die Konzerte nachholen, sobald es uns möglich ist!“ „Was hält Sie jetzt davon ab?“ „Die Performance auf einer Bühne ist sehr harte Arbeit. Zwar geht es Aoi-san mittlerweile wieder besser, jedoch können wir ihm noch kein ganzes Konzert zumuten, weshalb die Konzerte aufgeschoben werden, bis wir vom Arzt ein eindeutiges OK bekommen, dass ein Auftritt ihm nicht schaden wird!“ Morishita-san war derjenige gewesen, der die Antwort gegeben hatte. Ich sah, wie Ruki sich erleichtert zurücklehnte. Vermutlich hätte er darauf auch keine Antwort gewusst – zumindest keine die uns nicht ans Messer geliefert hätte.
 

„Sie haben eine lange Zeit im Krankenhaus verbracht, Aoi-san. Ihr Manager sagte gerade, dass es Ihnen zwar wieder besser geht, aber die Konzerte fürs Erste nicht stattfinden.“ Ich lehnte mich etwas vor und nickte leicht. Während ich versuchte die Kopfschmerzen zu verdrängen, wartete ich darauf, dass mir eine Frage gestellt wurde. Doch er sprach nicht weiter, sondern sah mich nur auffordernd an. Äh … war das nun also eine Frage gewesen? „Ich habe zwar meine Physiotherapie hinter mir, doch es wäre zu früh sich auf die Bühne zu stellen. Soweit geht es mir gut, aber wir wollen unseren Fans eine tolle Zeit schenken, wenn sie zu einem Konzert kommen. Wir wollen wirklich performen und unser Bestes geben. Jedoch wäre mein Bestes im Moment noch nicht gut genug. Daher haben wir beschlossen mit den Auftritten noch zu warten, bis wir mit einem guten Gewissen auf die Bühne gehen und ein mitreißendes Konzert spielen können!“ Der Reporter nickte zufrieden, während er etwas in sein Notizbuch schrieb. Ich sah zu Kai hinüber, der mit seinen Fingerspitzen etwas ungeduldig auf dem Tisch herumtrommelte, mir aber lächelnd zunickte. Es schien wohl eine gute Antwort gewesen zu sein. Ich unterdrückte den Drang meine Finger an die Nasenwurzel zu legen und zuzudrücken um die Kopfschmerzen in den Griff zu bekommen. Meine Augen begannen vor Schmerz zu tränen. Langsam wurde mir das zu viel! Ich war froh, dass Morishita-san schließlich verkündete, dass die Zeit bald vorbei war.
 

„Das neue Album wird ja bald erscheinen. Aoi-san, was war Ihre Beteiligung bei dem Album? Wie sah sie vor allem nach dem Unfall aus?“ Diese letzte Frage, war eine Frage zu viel gewesen. Ich hob meinen Blick und spürte, wie Uruha sich näher zu mir schob. Seine Nähe tat mir gut. „Uruha und ich haben zusammen die Gitarrenstimmen ausgearbeitet und sie eingespielt. Das ist natürlich nicht die endgültige Fassung, sondern nur ein roher Entwurf. Danach wird noch an den Melodien gefeilt, bis wir damit zufrieden sind. Ich hatte schon einen Großteil der Songs des neuen Albums eingespielt, bevor der Unfall stattfand. Daher musste ich nach meiner Rückkehr nicht alles einspielen, sonst hätten wir das Album noch nicht rausbringen können!“, plapperte ich den Text nach, den wir für so einen Fall eingeübt hatten. „Gab es dabei Streitereien?“ Uruha übernahm für mich. Ich hatte die letzte Frage nicht einmal richtig verstanden. Mein Kopf pochte heftig, während ich versuchte noch dabei zu bleiben und mich nicht zu übergeben. „Es gibt immer Diskussionen, wenn wir an Melodien feilen. Jeder von uns hat Ideen, die er einbringen möchte. Aber es artet niemals in Streitgesprächen aus. Allerdings sind wir immer gnadenlos ehrlich zueinander, damit die Arbeit sich auch auszahlt müssen wir zusammenarbeiten und auch Kritik vertragen können! Aber das schaffen wir eigentlich immer recht gut.“ „Wer gibt Ihnen die Melodie vor?“ Jetzt kam wieder Leben in Ruki. „Ich habe meistens zu den Songs, die ich schreibe bestimmte Vorstellungen, wie sie klingen sollten.“ Uruha begann zu lachen. „Ja und dann kommt seine Aufforderung an uns: Ich stelle mir einen schnellen Gitarrenpart vor! Aber vielleicht dieses Mal nicht als Gitarenbattle sondern als … hmm … Twingitarre. Und dann ist es unsere Aufgabe zu entschlüsseln, was er meint und eine entsprechende Melodie zu finden.“
 

Sotooka-san beendete schließlich die Pressekonferenz. Ich schwankte leicht, als ich mich erhob, konnte mich aber gerade noch am Sessel festhalten, bevor ich eine äußerst unschöne Landung auf dem Fußboden machte. Vor meinen Augen drehte sich alles. Die Farben begannen zu verlaufen. Alles wurde schwarz weiß. Die Geräusche kamen mir seltsam verzerrt vor, drangen wie durch Wasser zu mir hindurch. Plötzlich war da ein fester Griff um meine Taille, der mich davor bewahrte die Verbindung zur Wirklichkeit völlig zu verlieren. Uruha hatte seinen Arm scheinbar freundschaftlich um mich gelegt, hielt mich jedoch fest, damit ich ohne Unfall von der Bühne kam. „Du hast dich heute wirklich wacker geschlagen, Aoi. Gut gemacht! Ich bin stolz auf dich!“ Seine Stimme klang seltsam dumpf. Dennoch wurde mir bei diesem Lob ganz warm. „Alles in Ordnung?“ Ich nickte nur. „Bin müde und hab Kopfweh“, nuschelte ich leise. „Das glaube ich dir sofort. Lass uns nach Hause fahren. Die Klamotten geben wir das nächste Mal zurück.“ Er stützte mich weiter, als wir uns draußen zu den anderen stellten und Uruha ihnen Bescheid gab, dass wir nach Hause fahren würden. Als wir in den Lift einstiegen lehnte ich mich gegen ihn und seufzte leise. „Danke für die Hilfe heute!“ Er schmunzelte leicht. „Kein Problem. Sag mal, was hältst du von einem Bad und einem Film auf der Couch. Wenn du möchtest, mach ich uns auch Spaghetti?“ Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es in wachem Zustand nach Hause schaffte aber ... „Hört sich himmlisch an!“

Kapitel 24

~Uruha POV~
 

„Phu … ist das kalt draußen!“ Ich schüttelte den Kopf. Weiße Flocken lösten sich aus meinen Haaren und tanzten zu Boden. Mein Blick ging zum Fenster hinaus, auf dem sich bereits Eiskristalle gebildet hatten. Der Wind wirbelte in Böen durch die Straßen der Stadt und bedeckte alles mit einer kalten, weißen Schneeschicht. Hier drinnen jedoch war es angenehm warm. Mich fröstelte, als ich den Mantel auszog, den Schal in den Ärmel steckte und ihn dann an die Garderobe hängte. „Kein Wunder! Es ist ja auch Mitte Dezember! Und außerdem bist du selbst schuld! Warum begleitest du Reita bei diesem Wetter nach draußen zum Rauchen?“, meinte Kai, der erst etwas verspätet von dem ganzen Zettelkram hochsah, den er vor sich liegen hatte. „Glaub mir Kai, diese Frage habe ich mir auch gestellt, als wir da draußen standen. Aber man bekommt von der Kälte einen klaren Kopf!“ Das hatte ich gebraucht. Zwar war es hier drinnen angenehm warm, aber die Wärme führte auch dazu, dass ich mich müde fühlte und nicht mehr klar mitdenken konnte. Außerdem wurde ich mittlerweile immer ungeduldiger. Unser Leader warf Ruki und Aoi, die einträchtig zusammen vor dem Laptop saßen und anscheinend die Welt um sich herum vergessen hatten, einen kurzen Blick zu. Ich fragte mich ernsthaft, was die beiden zu tuscheln hatten! „So wie es aussieht können wir für heute sowieso Schluss machen!“ Sein Blick blieb an Aoi hängen, der gerade nickte, als Ruki ihm etwas zeigte.
 

Aoi war im Moment wirklich unser Sorgenkind. Egal was wir versucht hatten, er schaffte es nicht seine Gitarre zu spielen. Er verkrampfte sich jedes Mal, wenn er seine Fingerspitzen an die Saiten legte und überlegte ewig, ob das nun der richtige Griff war oder nicht. Reita hatte gemeint, dass Aoi zu sehr nachdachte und das tat er hier definitiv! Es wäre einfacher, wenn er nur versuchen würde zu spielen! Hätte er nicht bereits Gitarre gespielt und wäre neben mir auf der Bühne gestanden, ich hätte ihn als hoffnungslosen Fall abgestempelt und ihn gebeten sich ein anderes Instrument zu suchen. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie ein Mensch von einer Sekunde zur anderen alles verlernen konnte. Man hatte ihn doch früher kaum ohne Gitarre angetroffen. Selbst als wir während der Tour an einer Tankstelle hatten halten müssen, war er mit Akustikgitarre auf dem Parkplatz herumgelaufen und hatte gespielt. Am schlimmsten war für mich jedoch das sehnsüchtige Glitzern seiner Augen zu ertragen, das erschien, wenn er eine Gitarre ansah. Ich wusste, dass er es mochte das Instrument in den Händen zu halten. Aber die Töne, die er ihr entlockte waren furchtbar! Dazu kam, dass nun auch mir langsam die Ideen ausgingen. Ich wusste nicht mehr auf welche Art und Weise ich noch versuchen könnte ihm zu helfen.
 

„Brauchst du Hilfe?“ Kai schüttelte den Kopf und sah etwas unglücklich auf die Formulare. „Die fülle ich selbst aus“, meinte er nur und zuckte mit den Schultern. Die Tür öffnete sich und Reita betrat mit fünf Kaffeebechern den Raum. Er nahm sich einen, drückte Kai den zweiten in die Hand und gab mir die Restlichen, damit ich sie zu Aoi und Ruki an den Tisch brachte. Das gab mir wenigstens die Gelegenheit nachzugucken, was die beiden da in ihrer Ecke trieben! Irgendwie störte es mich, dass sie so zusammensteckten. Dabei waren sie doch schon vor dem Unfall eng befreundet gewesen, so wie Reita und ich. Es sollte mich also nicht wundern, dass es jetzt auch so war. Aber es … ärgerte mich extrem, dass Aoi zu Ruki einen so guten Draht hatte, während wir beide einfach nicht weiter kamen. Wir steckten in einer Sackgasse und es wurde nicht besser. Aoi schlief nach wie vor auf der Couch und ließ sich nicht dazu bewegen ins Bett zu kommen. Küsse gab es gar nicht, außer ich holte sie mir einfach. Aoi selbst wirkte danach immer richtig erschrocken. Sein Kuss damals schien ein Versehen gewesen zu sein. Egal was ich versuchte mir einzureden, egal wie oft ich mir sagte, dass es nur zu seinem Besten war, wenn ich mich zurückhielt, umso mehr tat es auch mir weh ihn nur aus der Ferne betrachten zu können. „Hier, zur Stärkung!“ Ruki klappte hastig den Laptop zu, so als hätte ich sie dabei erwischt etwas Verbotenes zu tun. Seltsame Reaktion. „Oh Kaffee! Danke!“ Ich hielt den beiden die Becher hin, nachdem ich mir auch einen genommen hatte und setzte mich ihnen gegenüber auf die Couch.
 

Kai kritzelte noch eine Weile auf den Formularen herum und kam dann auch zu uns an den Tisch. „Ich möchte gerne noch etwas mit euch besprechen.“ Da wir alle sowieso keine Lust hatten in den Schneesturm raus zu gehen konnten wir genauso gut die Ohren aufsperren, während wir hier saßen. Kai schien darüber recht froh zu sein. „Am 24.12 findet die Weihnachtsfeier der PSC statt.“ „Sag uns nicht, wir hätten schon wieder Anwesenheitspflicht, weil es mich dieses Mal wirklich nicht interessiert!“, motzte Reita sofort und runzelte die Stirn. Kai hob die Hand um ihn zu beschwichtigen und sah ihn an. „Ich habe beschlossen, dass wir eher in kleinem Rahmen feiern werden. Das habe ich bereits mit dem Management geklärt und wir sind von der riesen Party befreit. Am 23.12, dem Geburtstag des Tenno, haben wir sowieso frei, weil das ein Feiertag ist und am 24 können wir fünf etwas zusammen unternehmen. Überlegt euch mal ein paar Sachen, die wir machen könnten. Es sollte allerdings im Budgetrahmen bleiben. Wir sprechen morgen noch mal darüber.“ Oh das klang gut! Nichts gegen die anderen Bands, aber mir war im Moment nicht nach so viel Trubel. Außerdem würde es auch für Aoi schöner werden, wenn wir Weihnachten etwas entspannter angingen – nur wir fünf.
 

Reita legte die Beine über die Armlehne des Sessels und nickte leicht. „Das klingt doch wirklich gut Kai!“ Der Drummer nickte und seufzte. „Aber die Hiobsbotschaft kommt dafür noch …“ Rukis Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hiobsbotschaft?“ „Wir müssen zu Silvester an einem Fotoshooting teilnehmen…“ Ruki sah ihn entsetzt an. „Spinnen die?! Das wichtigste Fest im Jahr und die wollen, dass wir ein Fotoshooting machen? Ich wollte über die drei Tage eigentlich nach Hause zu meinen Eltern fahren! Sogar mein Bruder hat frei bekommen!“ Kai verdrehte die Augen, während ich mich fragte seit wann Ruki freiwillig zu seinen Eltern fuhr. Sie hatten nicht die beste Beziehung zueinander, weshalb er in den letzten Jahren meistens bei einem von uns Silvester verbracht hatte. Fairerweise muss ich zugeben, dass er wohl eher bei Kai und Reita geblieben war. „Das Shooting findet am 31.12 zu Mittag statt. Wenn wir also mitmachen, sollten wir recht bald fertig sein! Und außerdem fährst du nur 1 ½ Stunden! Was sollte ich denn sagen!?“ „Gar nichts! Deine Eltern kommen immerhin zu dir!“, feuerte Ruki prompt zurück. Tja damit hatte der Vocal auch wieder Recht. Aoi sah die anderen erstaunt an, als sich alle Blicke auf ihn richteten. Somit hätte er den längsten Nachhauseweg. „Meine Eltern haben eine Reise gewonnen! Sie sind gar nicht zu Hause!“ Ich nickte zustimmend. „Deshalb verbringen wir Silvester bei meiner Familie!“ Aoi war da sowieso ein gern gesehener Gast. Außerdem hatten wir bisher jedes Jahr Silvester zusammen verbracht und es freute mich, dass er zugestimmt hatte mit zu mir zu kommen! Kai drückte jedem von uns noch einen Terminplan für diesen Monat in die Hände und beendete damit die ‚Sitzung’.
 

„Lass uns nach Hause fahren, Aoi.“ Es schien, als hätte der Wind gerade eine Pause eingelegt, wobei weiterhin der Schnee fiel. Ich hatte keine Lust im größten Schneegestöber nach Hause zu fahren, weshalb ich jetzt so drängelte. Wer wusste schon, wie sich das Wetter in den nächsten zehn Minuten entwickelte? Ich zog meinen Mantel wieder an und schloss den Reißverschluss, während Aoi sich seinen Schal um den Hals wickelte. Dann verabschiedeten wir uns von den anderen und stiegen die Treppe nach unten. „Sollen wir uns was zu essen mitnehmen?“, fragte ich, um die Stille zu durchbrechen. „Das können wir gerne machen … Pizza?“ Ich hielt ihm die Tür auf und stapfte neben ihm durch den tiefen Schnee, der die Einfahrt bedeckte, zum Auto. „Wow … unglaublich!“ Aois Augen begannen vor Freude zu glänzen, während ich leise seufzte. So schön der frisch gefallene Schnee auch aussah, mir graute schon davor mit dem Auto zu fahren. Erstens musste ich eiskratzen, zweitens war es verdammt gefährlich, weil die Schneeräumfahrzeuge es nicht schafften den gefallenen Schnee von der Straße zu räumen und drittens hasste ich diese Eiseskälte! Während ich also die Scheiben vom Eis befreite hatte Aoi seine Hände schon in den Schnee getaucht und formte einen Schneeball. Ich warf ihm einen drohenden Blick zu, der ihn davon abhalten sollte, ihn auf mich zu werfen, doch er hatte andere Pläne, denn gleich darauf zerbarst die Kugel am Fenster des Probenraums, wo auch gleich Kai und Ruki erschienen. Wir winkten ihnen, kletterten ins Auto und gleich darauf fuhren wir durch die verschneiten Straßen. Das Schneegestöber wurde immer dichter, bis ich kaum noch die Bremslichter des vor mir fahrenden Wagens sehen konnte. Ich fluchte leise, spürte Aois besorgten Blick auf mir. „Alles in Ordnung?“ Ich sah zu ihm hinüber und nickte leicht. „Ja, alles gut!“, erwiderte ich. „Es ist nur … dieses Wetter macht mich verrückt!“ Er sah nach draußen und legte seine Hand an die Fensterscheibe. Das Deja-vu brach mit einer solchen Wucht über mich hinein, dass ich kaum atmen konnte. Beinahe dieselbe Situation. Beinahe dieselben Worte. Beinahe dieselben Gefühle. Nur mit vertauschten Rollen. „Du magst keinen Schnee.“ Es war keine Frage, er stellte es fest und riss mich damit wieder zurück in die Gegenwart. „Doch…“, erwiderte ich dann und zuckte mir den Schultern. „… aber ich sehe ihn mir lieber von drinnen an, wo es schön warm ist, ich mich mit einer Tasse Tee in eine Decke mümmeln und Gitarre spielen oder ein Buch lesen kann!“ Draußen herumzulaufen, vor allem bei einem solchen Sauwetter, zählte im Winter sicher nicht zu meiner Lieblingsbeschäftigung.
 

Wieder breitete sich die Stille zwischen uns aus, während ich mich auf die Straße konzentrierte. Zu fahren war wirklich die Hölle! „Du schienst mit Ruki etwas ziemlich Wichtiges ausgearbeitet zu haben“, entkam es mir. Es war keine Frage, aber er wusste, dass es als solche gemeint war. Ich hätte es nicht ansprechen sollen, aber das nagte schon die ganze Zeit über an mir. Ein leichtes Nicken kam von ihm. „Er hat versucht mir zu erklären, wie die Songs aufgebaut sind und welche Melodien er sich für den neuen Song wünscht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe. Außerdem …“ Aoi stockte und seufzte abgrundtief. „Ich halte euch doch nur auf, Uruha! Wenn ich nicht diese Videos gesehen hätte, würde ich euch nicht glauben, dass ich Gitarre spielen konnte.“ Ich warf ihm nur einen strengen Blick zu und zuckte mit den Schultern. Dabei versuchte ich zu ignorieren, dass wir alle insgeheim dasselbe dachten. „Es braucht alles seine Zeit! Vielleicht musst du dich einfach nur daran gewöhnen. Vielleicht machen wir dir zu viel Druck?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich fühle mich nicht unter Druck gesetzt!“ Wieder entstand Stille zwischen uns. Ich konnte nicht sagen, dass das halb so schlimm war. Das stimmte nicht! Wenn er sich nicht bald besserte, hatte das Management auch genug davon. Wir brauchten den Vertrag um weitermachen zu können. Niemand von uns war bereit Aoi gehen zu lassen, doch irgendwann würde man uns vor die Wahl stellen. Ich wusste bereits jetzt, dass sie mir nicht gefallen würde.
 

In Gedanken versunken fuhr ich weiter, bis ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Aoi krallte sich, mit vor Panik geweiteten Augen, in den Sitz. Sein Atem kam nur zitternd, aber viel zu hastig, sein Körper bebte vor Anspannung und Angst. „Aoi?!“ Sein Blick blieb weiterhin starr auf die Fahrbahn gerichtet, während er die blutleeren Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpresste. „AOI!?“ Sein Atem stockte, das Zittern übernahm Oberhand. „YUU!“ Er reagierte immer noch nicht! Eine einzelne Träne löste sich und kullerte über seine Wange. Was war denn los!? Die Scheinwerfer des Wagens beleuchteten die Tunnelwand vor uns. Eine Welle der Übelkeit schwappte über mich. Scheiße! Nicht diese Unterführung! Ich Idiot! Diesen Weg war ich aus Reflex gefahren. Vielleicht auch als Folge des Déjà-vus. Ich hatte nicht nachgedacht. Umkehren konnte ich nun auch nicht mehr. Ich ließ mit einer Hand das Lenkrad los und griff zu ihm hinüber, um ihn zu beruhigen. Das Ergebnis war ein erstickter Angstschrei, der in ein hysterisches Schluchzen überging. „Schhh! Dir kann nichts passieren! Yuu ich bin bei dir! Es ist alles gut!“ Er schien meine Worte gar nicht wahr zu nehmen. Ein seltsames Ziehen in meiner Brust setzte ein und erschwerte mir das Atmen. Vom Unfall selbst war nichts mehr zu sehen. Aber ich würde diese Stelle trotzdem nie mehr wieder vergessen können. Das orange Licht flackerte bedrohlich. Ich wollte wieder raus! Nun begann auch mir die Panik die Kehle zuzuschnüren. Die Tunnelwände schienen immer näher zu kommen. Meine Hände zitterten, doch ich hielt das Lenkrad gerade und fuhr im normalen Tempo weiter, während ich versuchte die Panik zu unterdrücken. Sie würde mir hier nur im Weg sein! Außerdem half es Aoi nicht, wenn ich jetzt auch noch durchdrehte.
 

Heftiges Schneetreiben erwartete uns, als wir endlich aus der Unterführung fuhren. Ich parkte, riss die Tür auf und rannte ums Auto herum. Aois Körper bebte immer noch, als ich die Beifahrertür öffnete. „Es tut mir so leid! Bitte verzeih!“, flüsterte ich heißer und schloss meine Arme um ihn. Er klammerte sich sofort an mich, schluchzte leise, während er seinen Kopf an meine Halsbeuge drückte. Sein leises Wimmern, war wie ein Dolch, der sich in meine Brust bohrte. Meine Finger vergrub ich in seinem dichten Haar und drückte ihn an meine Brust, während ich ihm sanfte Küsse auf die Stirn und die Wangen hauchte. „Schhh … ganz ruhig! Tief durchatmen, komm schon!“ Sein Griff an meiner Jacke wurde fester, während er nach Luft schnappte. „Es ist nichts passiert, ja? Es ist alles in Ordnung!“ Ich streichelte ihm weiterhin über den Rücken. Er konnte sich nicht beruhigen. Aoi schien mit den Nerven am Ende zu sein, zitterte weiterhin unkontrolliert und weinte. Die Panik in seinen Augen wurde größer, als ich mich von ihm lösen wollte.
 

„Komm, steig aus Schatz! Lass uns einen Kakao trinken gehen, ja?“, fragte ich ihn sanft und zog ihn langsam aber bestimmt aus dem Auto, in meine Arme. Er klammerte sich an mich, so als wäre ich sein Fels in der Brandung. Der Schnee wirbelte heftig um uns herum. Mir war kalt. Obwohl ich gerne aufgestanden wäre und ihn ins Warme gebracht hätte, hielt ich ihn nur fest und redete beruhigend auf ihn ein, bis die Panikattacke langsam abflaute und er etwas ruhiger wurde. „Komm Aoi, lass uns rein gehen, hmm? Da ist es schön warm!“ Schließlich ließ er sich zu dem kleinen Restaurant mitziehen, das sich hier an der Straße befand. Wärme schlug uns entgegen, als wir durch die Tür in den Vorraum traten. Den musternden Blick der Kellnerin ignorierte ich und bat um einen Tisch für zwei. Wir bekamen einen Platz in einer der hinteren Ecken zugewiesen, was mich erleichtert ausatmen ließ. Niemand musste das hier mitbekommen. Vor allem nicht, wenn Aoi so extrem durch den Wind war. Es würde ihm gut tun etwas Warmes in den Magen zu bekommen. Aoi setzte sich ohne zu zögern auf meinen Schoß und schmiegte sich an mich. Ich hielt ihn fest, streichelte ihm über den Rücken. Ein warmes Gefühl durchzuckte mich, als er sich wieder an mich kuschelte. Er suchte meine Nähe, wollte meine Arme um sich spüren. Auch wenn ich mir Vorwürfe machte, so ein Idiot gewesen zu sein, konnte ich die Gefühle, die nun in mir hochstiegen nicht abschütteln. Ich mochte es nicht ihn so verletzlich zu sehen, aber es machte mich glücklich, dass er meine Nähe suchte um sich zu beruhigen. Er dachte nicht nach, handelte nur. Das sollte er öfter so machen. Außerdem hatte mir diese Nähe schon die ganze Zeit über gefehlt. Ich sollte nicht so empfinden, keinen Nutzen aus seiner Angst ziehen, doch das tat ich, schlimmer als jedes Wesen der Nacht. Erst als die Kellnerin den Kakao vor uns abstellte, löste er sich etwas von mir, um nach der Tasse zu greifen. Er nippte an seinem Getränk und lehnte sich wieder an mich.
 

„Was war das?“, fragte er leise. Seine Stimme klang ganz heißer, bebend von der unterdrückten Angst, die ihn zweifellos noch immer beherrschte. Etwas überrascht erwiderte ich seinen Blick und strich über seine Wange. „Sprichst du von der Panikattacke?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht … ich verstehe nicht … plötzlich hatte ich solche Angst. Ich war wie gelähmt, konnte mich nicht bewegen, konnte nicht atmen. Uruha, warum ist das passiert!?“ Seine Stimme klang unsicher. Ängstlich, weil er seine Reaktion nicht verstand. Ich antwortete nicht, ließ ihn noch ein paar Schlucke trinken, bis ich merkte, dass er wieder ruhiger geworden war. Dann streichelte ich über seine Wange. „Ich war ein Idiot, Aoi! Es tut mir so leid!“ Er sah verwirrt zu mir hoch. „Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht gemerkt habe, dass ich den Weg genommen habe, den wir früher immer gefahren sind. In dieser Unterführung geschah der Unfall. Du musst dich irgendwie daran erinnert haben!“ Er schluckte trocken und begann wieder zu zittern. Stille dehnte sich zwischen uns aus. Die Minuten rannen an uns vorbei, während wir in Gedanken versunken an unseren Tassen nippten. „Da waren Schreie“, flüsterte er plötzlich. „Jemand hat geschrien.“ Trocken schluckte ich und erschauderte. Er konnte sich erinnern! Es waren unsere Schreie gewesen. Unsere Schreckensschreie, als wir auf diese Wand zugerast waren. Als wir heute durch den Tunnel fuhren, war außer den Motorgeräuschen der Autos nichts zu hören gewesen. „Kou es klang so schrecklich“, krächzte er. Ich spürte, wie sein Puls unter meinen Fingerspitzen erneut zu rasen begann. „Schh … Yuu es ist alles gut! Wir sind in Sicherheit, das weißt du! Wir sind hier! Alles ist gut!“
 

Er nickte leicht und legte seinen Kopf wieder an meine Schulter. Es dauerte lange, bis seine Muskeln sich unter meiner Berührung entspannten. Allerdings wusste ich, dass er sich dieses Mal nicht anspannte, weil ich ihm zu nahe war, sondern weil die Angst ihn immer noch in ihren Krallen festhielt. „Kannst du dich sonst an etwas erinnern?“ Alleine die Frage zu stellen, war furchtbar. Ich wusste nicht, vor welcher Antwort ich mich mehr fürchtete. Vor dem Ja oder dem Nein. Aoi schüttelte betrübt den Kopf. „Da ist nichts, Kou. Nur diese Dunkelheit, von der ich weiß, dass sie da nicht hingehört. Der Ort hat mir Angst gemacht, das war aber auch schon alles!“ Ich nickte leicht. Ihn jetzt zu drängen wäre falsch gewesen. Er musste sich beruhigen. Diese Panikattacke hatte auch mir riesige Angst gemacht. Ich hatte ihn noch niemals so fertig gesehen. Ich wollte ihn auch nie mehr wieder so sehen! Er war sonst immer derjenige, der stark war, der nicht zeigen wollte, wie es ihm wirklich ging. Zu sehen, wie er zusammenbrach, hatte mich schwer mitgenommen.
 

Wir blieben noch eine Weile in dem Restaurant sitzen, aßen auch dort zu Abend. Immerhin wäre unsere andere Alternative, nämlich eine Pizza zu holen, auch nicht besonders spannend gewesen. Aoi war zu meinem Erstaunen auch während des Essens relativ lange anschmiegsam. Auch wenn ich mich für meine Dummheit selbst gerne aufgeknüpft hätte, konnte ich die Stimme in meinem Inneren nicht ignorieren, die mich gut gelaunt dazu beglückwünschte ihn dazu gebracht zu haben mir wieder näher zu kommen. Der Zweck heiligt die Mittel, hieß es. Das war nicht immer der Fall, aber in unserem schien es tatsächlich etwas gebracht zu haben. Nach dem Abendessen schien es ihm jedenfalls so gut zu gehen, dass ich mich traute ihm den Vorschlag zu machen nun weiter zu fahren. Kurz sah ich die Panik in seinem Blick aufflackern, doch er schluckte sie tapfer hinunter und griff zu meinem Erstaunen sofort nach meiner Hand, als ich mich erhoben hatte. Ich drehte mich zu ihm um, suchte seinen Blick und war erleichtert, als ich sah, dass er meinen fest erwiderte, aber meine Hand weiterhin festhielt. Zu unserem Pech hatte der Schneesturm kein bisschen nachgelassen. Das Auto war über und über mit Schnee bedeckt. Während ich Aoi dazu überredete sich ins Auto zu setzen und die Heizung laufen zu lassen, begann ich wieder damit die Scheiben von Eis und Schnee zu befreien und setzte mich anschließend zitternd auf den Fahrersitz. Meine Finger waren ganz steif, als sie sich um das kalte Lenkrad schlossen, aber die Fahrt nach Hause verlief ohne weitere Probleme.
 

Zu Hause angekommen überließ ich Aoi den Vortritt im Badezimmer und drehte die Heizung etwas höher. Dann schaltete ich den Wasserkocher ein und stellte zwei Tassen auf die Theke, in die ich jeweils einen Teebeutel hängte. Ich sollte unbedingt mit dem Vermieter sprechen. Es konnte doch nicht sein, dass es hier so verdammt kalt war, wenn den ganzen Tag lang die Heizung lief! Ein lauter Knall drang an meine Ohren und plötzlich war es stockdunkel um mich herum. Ein Fluch verließ meine Lippen, während ich nach meinem Handy tastete und die Taschenlampe einschaltete. „URUHA!?“ „Die Sicherung ist rausgeflogen! Ich seh es mir schnell an!“ Ich bekam keine Antwort mehr, weshalb ich davon ausging, dass er verstanden hatte. Der Sicherungskasten war auch schnell gefunden, jedoch schien dort alles in Ordnung zu sein – außer, dass der Stromzähler still stand. Na klasse. Sah wohl nach einem etwas größeren Stromausfall aus. Vermutlich war der ganze Schnee der Auslöser dafür. Das hieß, dass wir wohl keinen Tee bekommen würden, ebenso wenig, wie die Heizung funktionieren würde. Irgendwo hatten wir aber sicher noch Kerzen und zusätzliche Decken. Vielleicht ließ Aoi sich ja dazu überreden im Bett zu schlafen um nicht zu frieren. Mein Blick fiel auf die frischen Klamotten, die ich mir für später hergerichtet hatte. Siedend heiß fiel mir ein, dass das Wasser der Dusche auch bald kalt werden würde.
 

Aoi fuhr erschrocken zu mir herum, als ich die Badezimmertür öffnete, mich meiner Klamotten entledigte und zu ihm unter die Dusche stieg. „Was…“ Ich zog die Tür mit einem Ruck zu. „Keine Sorge ich will dich nicht bedrängen, aber ich will auch noch ein bisschen was vom warmen Wasser abbekommen!“, erklärte ich heißer. Der Grund war allerdings keine drohende Erkältung sondern ganz einfach, dass er mir viel zu nahe war. Auch wenn ich ihn in dem schwachen Licht der Kerze, die er angezündet hatte, nur schemenhaft erkennen konnte, war ich mir seines Körpers durchaus bewusst. Ihm so nahe zu sein, nackt zu sein brachte mich vor Begierde zum Zittern. Er war wunderschön! Die blasse Haut, die pink-schwarzen Haare, die roten Lippen. Auch wenn er viel zu dünn war, war er der schönste Mann, den ich je gesehen hatte. Er gehörte mir! Ich wollte ihn! Und gerade diesen Fantasien durfte ich nicht nachgeben!

Zwar konnte ich seinen Blick nicht genau erkennen, aber ich war mir sicher, dass er zweifelnd in meine Richtung ging. „Bist du dir sicher, dass du mir nicht einfach an die Wäsche willst!?“ Ich war wirklich sprachlos. Seit wann war er denn mutig genug mir gegenüber solche Sprüche zu bringen? Aber dieses Spiel konnte man auch zu zweit spielen. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, sodass ich dicht vor ihm stand. Mit der Duschwand an seinem Rücken konnte er nicht weiter zurückweichen. „Nur, wenn du mich darum bittest!“, erwiderte ich dann nahe an seinem Ohr und spürte, wie er erschauderte. Seine Lippen öffneten sich einen Spalt. Wie gerne hätte ich ihn jetzt geküsst, doch ich griff nur nach dem Duschgel und begann mir den Schweiß des Arbeitstages abzuwaschen. Er wirkte etwas überrascht, als ich mich zurückzog. Etwas zögerlich griff er nach dem Duschgel, das ich ihm hinhielt und begann sich abzuduschen, was mir die Gelegenheit gab meinen Blick erneut über seinen Körper wandern zu lassen. Das Wasser liebkoste seine Haut, rann in kleinen Bächen über seine Schultern, seine Brust und seine Beine. Mein Atem bebte, als mit meinem Blick der nassen Spur folgte.

Die Muskeln seiner Oberarme spannten sich an, als er erneut nach dem Duschgel griff. Heißes Verlangen brandete in mir auf. Die Sehnsucht nach ihm ließ mich alle guten Vorsätze vergessen, als ich nach seinem Arm griff und ihn festhielt. „Was machst du da!?“ Seine Stimme klang erschrocken. „Uruha!?“ Immer noch konnte ich mich nicht von ihm abwenden.
 

Er war unglaublich attraktiv, wie er mit nassen Haaren, sich vor Aufregung deutlich hebender Brust und diesen dunklen, sinnlichen Augen vor mir stand. Ich wollte nicht mehr warten, konnte es nicht mehr. Ich war so lange lieb gewesen, hatte versucht ihm seinen Freiraum zu geben. Jetzt hatte ich es so satt. Mir wurde immer bewusster, dass ich ihn nur dann dazu bekommen würde sich mir hinzugeben, wenn ich auch etwas dafür tat. Von selbst würde er nicht kommen, das war mir klar geworden, als nach dem Kuss im Pavillon Funkstille zwischen uns herrschte. Er sah mich böse an und versuchte mir seinen Arm zu entziehen. Mein Körper erzitterte. Er war zu nahe. Seine Körperwärme strahlte Hitze aus, drohte mich zu verbrennen. Die Lava der Lust, die in mir tobte fraß mich von innen heraus auf. Ich würde verlieren. Das hatte ich gewusst, als ich zu ihm unter die Dusche stieg. Aber ich hatte noch gehofft, dass ich mich beherrschen könnte. „Tut mir leid“, flüsterte ich und beugte mich vor, um meine Lippen auf seine zu pressen. Ich hatte mit allem gerechnet. Einem Biss in die Unterlippe, geschupst zu werden, eine geknallt zu bekommen, aber dass er einen leisen Seufzer ausstieß und sich vertrauensvoll in den Kuss lehnte hatte ich nicht erwartet, was mich zuerst erstarren ließ. Dann jedoch schlang ich meine Arme fester um seine Taille und zog ihn zu mir heran.
 

Mein Bauch begann heftig zu kribbeln. Das Blut rauschte in meinen Ohren, während mein Puls sich rasch beschleunigte. Ich ließ meine Zunge über seine Unterlippe gleiten und jubelte innerlich auf, als er leise keuchend die Lippen öffnete. Die Gelegenheit ließ ich mir nicht entgehen. Sofort begann ich seine Mundhöhle zu erkunden, stupste seine Zunge an, um sie zum Tanzen aufzufordern. Meine Finger krallten sich in sein Haar, zogen ihn fester an mich, während auch der Kuss feuriger wurde. Seine rauen Fingerspitzen streichelten über meine Schultern und Oberarme, entlockten mir ein leichtes Zittern. Ich drängte ihn weiter zurück, ließ unsere Zungen den wilden Tango weitertanzen, zu dem sie angesetzt hatten, bis er seine Hände an meine Brust legte und mich entschieden von sich drückte. Mein Kopf wurde mit einem Mal wieder klar. Erschrocken sah ich zu ihm hinunter. Seine Arme waren durchgestreckt, hielten mich auf Abstand. Sein Kopf war gesenkt, während er bebend nach Luft schnappte. War ich zu weit gegangen? Hatte ich ihn erneut verschreckt? „Aoi ich …“, setzte ich zu einer Entschuldigung an, doch dann hob er seinen Blick und die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag in den Magen. Er atmete immer noch heftig, als er meinen Blick erwiderte und seine Arme langsam sinken ließ. Sein Lächeln sagte deutlich, dass es ihm gefallen hatte!

Kapitel 25

~Aoi POV~
 

Das Klingeln der Türglocke war bis in den Hausflur zu hören, in dem Uruha und ich darauf warteten, dass unser Leader endlich die Tür aufmachte. „Wenn er nicht gleich diese Tür öffnet, kann er Weihnachten mit den anderen beiden alleine feiern und wir beide suchen uns was anderes!“, murrte Uruha ungehalten. Weihnachten. Das Fest der Liebe. In Amerika besaß dieses Fest einen ganz anderen Stellenwert. Es war ein religiöses Fest und für die Leute dort wichtiger als der Beginn des neuen Jahres. Dort beschenkte der Weihnachtsmann die braven Kinder und hinterließ den Bösen ein Stück Kohle. Man besuchte die Familie, aß zusammen und war glücklich, dass man einander hatte. Auch wenn hierzulande das Fest nicht einem dicken Kerl in roten Klamotten und weißem Bart gewidmet ist, wird es doch gefeiert, vor allem von der jüngeren Generation. Weihnachten ist dazu da um denjenigen, den man liebt näher zu kommen oder auch jemanden kennen zu lernen. Bittet jemand über die Weihnachtstage um ein Date, hat er oder sie feste Absichten, weshalb ich total aus dem Häuschen war, als Uruha mich gestern in ein Restaurant eingeladen hatte. Ich wollte gar nicht wissen, wie er es geschafft hatte dort einen Platz zu bekommen. Immerhin waren die Plätze meistens schon lange im Vorhinein vollkommen ausgebucht, wie ich von Ruki erfahren habe. Zuerst war ich recht nervös gewesen, was sich im Laufe des Abends aber recht schnell gelegt hatte. Uruha war vor allem in den letzten Tagen sehr offensiv gewesen, hatte sich immer wieder Küsse geholt oder mit mir gekuschelt. Was mich daran noch mehr erschreckte, waren meine eigenen Reaktionen darauf. Meine Wangen färbten sich rot, als ich an den hitzigen Kuss dachte, in den wir verfielen bevor wir heute von zu Hause aufgebrochen waren! Es hatte mir gefallen! Ich wollte seine Küsse, sehnte sie herbei. Seitdem wir uns das erste Mal geküsst hatten, wollte ich seine Lippen immer wieder auf meinen spüren, nur um sicher zu gehen, dass ich dieses Kribbeln fühlte. Und ich hatte es gespürt, sogar bis in meinen Bauch.
 

Endlich öffnete Kai die Tür und begrüßte uns. „Kommt rein! Bitte die Schuhe ausziehen und lauft durch bis ins Wohnzimmer! Reita müsste da irgendwo herumgeistern!“ Uruha nickte und hielt ihm ein Päckchen entgegen. „Hier. Wir dachten das würde dir Freude machen!“ Kai nahm das Päckchen neugierig entgegen und schloss hinter uns die Haustür. „Was ist es denn?“ Ich zog meine Stiefel aus und stellte sie zum Abtropfen auf die dafür vorgesehene Matte. „Mach es doch einfach auf, Kai!“ Uruha nahm meinen Mantel entgegen und hängte ihn zu seinen an die Garderobe. „Kai wo sind denn die…“ Reita, der gerade um die Ecke kam stockte und begann zu grinsen. „Hallo ihr zwei!“ Wir begrüßten ihn, während ich zusah, wie Reita Uruha kurz umarmte. Ein seltsames Gefühl ließ meine Brust enger werden. Es gefiel mir gar nicht, dass er seine Griffel um ihn legte. Allerdings wunderte ich mich gleich darauf über mich selbst. Warum denn nicht? Die beiden waren seit der Mittelschule befreundet! Was führte ich mich denn so auf? Ich schüttelte den Kopf um diese idiotischen Gedanken zu verdrängen und folgte Kai in die Küche, wo er das Päckchen auf die Theke stellte. „Du wirst es schon aufmachen müssen um zu sehen, was drin ist!“ Er sah zu mir auf und seufzte. „Aber es ist so schön eingepackt!“ Uruha lugte in die Küche und grinste. „Keine Eigenproduktion, Kai! Das hat der nette Verkäufer im Laden für uns gemacht! Also keine Scheu … zerfetz das Papier endlich!“
 

„Oh wow! Die sind unglaublich!“ Die Freude war ihm deutlich anzuhören. Wir hatten ihm spezielle Drumsticks designt. Da gab es so eine Firma im Internet, die sich darauf spezialisiert hatte recht spezielle Wünsche zu erfüllen. Sie waren daher auch nicht gerade billig gewesen. Aber Uruha wollte sich auch dafür bedanken, dass Kai ihn bei sich hatte wohnen lassen, während ich im Krankenhaus war (was alles in der netten, kleinen Karte stand, die wir beigelegt hatten). Kai nahm die Sticks aus der Schachtel und sah sie genauer an. „Da stehen sogar eure Namen drauf!“ Uruha nickte. „Und auf dem anderen die von Ruki und Reita. Aber tu mir einen Gefallen und nimm die Sticks nur zur Deko. Ich glaub nicht, dass sie ein Konzert überstehen!“ Das taten die Sticks selten bei ihm. Immerhin hatten sie anschließend überall Kerben von dem Eisen der Becken. Ich zog die Ärmel meines Pullis etwas hoch. Da das Essen bereits auf dem Herd vor sich hin kochte war es in der Küche relativ warm. Allerdings führte diese Reaktion wieder zu ungewünschten Aufmerksamkeitsbekundungen. „Aoi! Wo hast du das Armband her!? Das ist doch neu!“ Reita, der sich an den Türstock gelehnt hatte stieß sich davon ab und kam auf mich zu. Etwas verlegen glitt mein Blick über das Armband, das ich gestern von Uruha geschenkt bekommen hatte. Es war recht schlicht, aus Leder geknüpft aber mit einem silbernen Ring in der Mitte, an dem man den Verschluss festmachen konnte, nachdem man sich den Lederriemen ein paar Mal ums Handgelenk geschlungen hatte. Darauf standen unsere Namen und ein Datum.
 

Reita griff nach meinem Handgelenk und drehte es so, dass er sich das Armband ansehen konnte. „Hmm sieht toll aus!“, sagte er dann und sah zu Uruha. Dessen stolzes Grinsen zeigte mir nur zu deutlich wie sehr es ihm gefiel, dass ich das Armband auch tatsächlich angenommen hatte und es trug. Er hatte gestern so glücklich gewirkt, dass ich es nicht über mich gebracht hätte es ihm wieder zurück zu geben. Diese Geste hätte den ganzen Abend kippen lassen und ich wollte das weder ihm noch mir antun. Ein paar schöne Erinnerungen konnte ich im Moment durchaus gebrauchen und mit Uruha zusammen etwas zu unternehmen war etwas, das mir auch wirklich gefiel, obwohl ich am Anfang ziemlich überfordert mit der dauerhaften Nähe war. Mittlerweile störte es mich absolut nicht mehr, im Gegenteil. Es war schön jemanden um sich zu haben, der einen gern hatte. Außerdem hätte ich das Armband sehr ungern wieder abgenommen, nachdem er es mir umgelegt hatte, wie ich mir im Nachhinein eingestehen musste. Dazu war ich viel zu erfreut gewesen etwas von ihm geschenkt zu bekommen. Als ich meine Hand in die Hosentasche steckte, berührten meine Finger das warme Metall der Kette, die ich für Uruha designt hatte (bei der gleichen Firma wie Kais Sticks). Ich hatte sie ihm eigentlich schon gestern geben wollen, war aber doch zu unsicher gewesen, was es bedeutete, wenn er von mir so ein Geschenk bekam. Als er mir schließlich das Armband umgelegt hatte, war ich in einer solchen Hochstimmung gewesen, dass ich sie komplett vergessen hatte. Aber das hier war nicht der richtige Zeitpunkt, um sie ihm zu geben.
 

„Das Essen ist gleich fertig. Wollt ihr nicht ein bisschen ins Wohnzimmer gehen? Hier rumzustehen macht euch auch nicht jünger, glaubt mir!“, sagte Kai, als auch er das Armband begutachtet und es für schön befunden hatte. „Reita hat zuvor eine DVD eingelegt. Die könnt ihr ja weitergucken.“ Der Bassist begann zu grinsen, während er sich umdrehte und ins Wohnzimmer ging. „Eine verdammt langweilige. Ich frage mich woher er immer diese schrecklichen Filme bekommt. Ich hätte ihm einen vernünftigen Streifen schenken sollen, statt der Zippos!“ Ungläubig sah Uruha ihn an. „Du hast ihm im Ernst ein Zippo geschenkt?“ Reita zuckte mit den Schultern. „Es waren drei! Ich hab sie zufällig gesehen, als ich letztens Einkaufen war. Ich hab sofort an Kai gedacht und sie mitgenommen. Er sammelt die Teile doch!“ Uruha schüttelte den Kopf und murmelte etwas, das nach ‚Das ist doch kein Weihnachtsgeschenk.’ klang. Seine Stimme war allerdings so leise, dass ich mir nicht sicher war ihn richtig verstanden zu haben. Vermutlich weil er sich mit Reita nicht in die Haare kriegen wollte. Immerhin schien unser Bassist recht zufrieden mit der Wahl gewesen zu sein. „Kai hat sich gefreut! Also wars wohl nicht verkehrt!“ Ja … sehr zufrieden.
 

Ich war zwar vorher schon einmal in der Wohnung des Drummers gewesen. Dennoch wanderte mein Blick über die Einrichtung als sähe ich sie zum ersten Mal. Sie war recht schlicht (was allerdings auch sehr gut zu ihm passte). Es gab nichts Ausgefallenes, so wie bei Ruki. (Der hatte eine Kommode im Zimmer stehen, die aussah wie ein Stapel Holzbretter, den man vergessen hatte raus zu räumen. Stieß man allerdings an fuhren die Schubladen nach draußen.) Kais Wohnung war kleiner als unsere, aber wenn man alleine lebte wäre alles andere wohl auch zu groß. Reita ließ sich auf dem grauen Sofa nieder und hielt uns eine Schüssel mit Salzstangen und Chips entgegen. „Nein, danke!“, murmelte ich, während ich mich auf die andere Längsseite setzte. Uruha grinste nur. „Wenn du das Zeug Kais Essen vorziehst, dann ist er mit Sicherheit sauer, vor allem, weil er sich solche Mühe gibt!“ Allerdings nahm er sich doch eine der Salzstangen und begann darauf herumzuknabbern. „Wo ist eigentlich unser Sänger?“, fragte er und setzte sich neben mich. Auch mein Blick ging fragend zu Reita. Dieser zuckte nur mit den Schultern. „Er meinte, er hätte noch etwas Wichtiges zu erledigen und er wäre zum Abendessen sicher hier!“ „Vermutlich muss er noch seine Nengajô schreiben. Ruki ist da immer etwas nachlässig“, grinste Uruha dann. Wir beide hatten unsere Neujahrskarten bereits geschrieben und auch schon bei der Post abgegeben. Es war ein typisch japanischer Brauch, dass am ersten Jänner die Karten mit den Glückwünschen fürs neue Jahr ausgetragen werden. Allerdings war er auch sehr anstrengend und aufwändig, da die Karten per Hand geschrieben werden, damit sie individuell blieben. Das Klingeln an der Tür unterbrach unser Gespräch. Wenn man vom Teufel spricht … „Kann jemand von euch die Tür aufmachen? Ich kann gerade nicht weg!“, kam es von Kai aus der Küche. Da weder Reita noch Uruha aussahen, als ob sie vorhatten aufzustehen, seufzte ich nur leise und erhob mich.
 

„Hallo Ruki!“ Er schob sich mit einem Nicken an mir vorbei, drückte mir eine Weinflasche in die Hand und trat in den Flur. Leise grummelnd stützte er sich an der Wand ab und begann die Schuhe auszuziehen. Entweder es war das Licht, oder Ruki war tatsächlich extrem blass. „Ist mit dir alles in Ordnung?“ Er hob den Blick, wandte sich dann aber ab um leise zu husten. „Nicht ganz.“ „Was ist mit deiner Stimme los?“ Kai, der gerade zu uns auf den Flur trat um ihn mit einem strahlenden Lächeln in Empfang zu nehmen, sah ihn besorgt an. Der Sänger wank nur ab und schüttelte den Kopf. „Hab mich verkühlt und bin heißer. Ist aber nichts, was eine starke Suppe, Tee und ein bisschen Ruhe nicht kurieren könnte!“ Vor allem Ruhe würde er definitiv gebrauchen können. Seine Stimme klang nett gesagt ziemlich scheiße! Nicht, dass er sie verlor. Das hätte uns gerade noch gefehlt. Ein Gitarrist, der nicht Gitarre spielen konnte, reichte doch fürs Erste, oder? Kai schien einen ähnlichen Gedankengang zu haben, denn er schob Ruki ins Wohnzimmer und brachte ihm gleich darauf eine Decke und einen Tee, den der Vocal gerne annahm. Er hielt auch fürs Erste die Klappe um seine Stimme zu schonen, was Reita gnadenlos auszunutzen wusste und gegen ihn verwendete, bis Kai die Platten mit dem Essen auf dem Tisch anrichtete und wir uns an den Tisch setzten um zu essen und den Wein zu probieren, den Ruki mitgebracht hatte.
 

Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte ich mich zurück und sah auf die leere Platte vor mir. Ich hätte gerne noch etwas von Kais köstlichem Essen genommen, aber ich schaffte nichts mehr. Auch Uruha stöhnte und rieb sich über den Bauch. „Kai, du hast dich heute wirklich übertroffen!“, lobte er und unterbrach somit abrupt das Gespräch über die letzte Tour. Die drei hatten so lebhaft erzählt, dass ich das Gefühl hatte mich wieder an etwas erinnern zu können, was natürlich Blödsinn war. Es herrschte immer noch dieselbe Dunkelheit in meinem Kopf, die nichts freizugeben schien, so sehr ich auch versuchte ein kleines Licht zu entfachen. Aber zumindest war es bis jetzt ein wirklich lustiger Abend gewesen. Es war mir definitiv lieber mit den vieren etwas zu unternehmen, als mir Gedanken über unbekannte Gesichter zu machen, die alle etwas von mir wollten. In dieser gemütlichen Runde beieinander zu sitzen reichte definitiv aus um Weihnachten zu feiern. Es musste keine rauschende Party sein, keine laute Musik und kein Getanze. Ich genoss das hier viel mehr. Reita legte seine Stäbchen zur Seite und nickte. „Ja war ganz annehmbar, aber du hättest mehr Salz reintun können.“ Ungläubig starrte ich ihn an! Das Essen war perfekt gewesen! Und selbst wenn nicht, dann war dieser Spruch einfach nur verdammt unhöflich Kai gegenüber, der sich wirklich Mühe gegeben und den ganzen Tag in der Küche verbracht hatte um uns heute Abend bewirten zu können. Dieser undankbare Idiot! Kai jedoch, sah ihn nur ungerührt an und zuckte mit den Schultern. „Der Salzstreuer stand die ganze Zeit vor dir auf dem Tisch! Du hättest auch selbst nachsalzen können!“, sagte er seelenruhig. Es schien fast so, als hätte er mit so einem Kommentar gerechnet. Der Bassist warf ihm nur einen kurzen Blick zu, hielt aber die Klappe. Punkt für Kai, so wie es aussah.
 

„Ist die selbst gemacht?“ Ruki hatte anscheinend vergessen, dass er nicht sprechen wollte und starrte auf die Weihnachtstorte, die Kai vor uns auf dem Tisch abstellte. Er nickte stolz und verschwand noch einmal um die Teller zu holen. Unser Leader hatte wirklich seine Qualitäten. „Darf ich ein Stück mit Erdbeere haben?“, fragte Uruha sofort und leckte sich über die Lippen. Es sah so verboten heiß aus, wenn er das machte! Erst recht, als er die Erdbeere von der Sahne pflückte und sie sauber leckte. Kirschrote, weiche Lippen schlossen sich um die süße Frucht. Ein genüsslicher Seufzer kam über seine Lippen, als er zufrieden lächelnd abbiss und sich anschließend den Saft von der Unterlippe leckte. Ich schluckte trocken, verstand nicht, warum mir plötzlich so heiß wurde. Diese Lippen. Ich … wollte ihn küssen. Schon wieder. Mein Blick blieb weiterhin auf seinen sinnlichen Mund gerichtet. Ich konnte mich nicht von ihm abwenden. Er stutzte, sah mich überrascht an und sofort bildete sich ein keckes Lächeln auf seinem Gesicht. „Willst du die Hälfte haben?“ Warum klang seine Stimme so verrucht? So als würde er mir mehr als diese Erdbeere anbieten. „Ich teile gerne mit dir.“ Mein Körper spannte sich an, als Uruha sich weiter zu mir lehnte und mir die Erdbeere hinhielt, als erwartete er, dass ich sie mit meinen Zähnen aus seinen Fingern pflückte. Mein Atem stockte. Wieder schluckte ich trocken und schüttelte den Kopf. „N … nein vielen Dank … die gehört dir“, stotterte ich und sah verlegen zur Seite. Warum schaffte er es immer mich so aus der Fassung zu bringen? „Nein?“, fragte er nach, zuckte mit den Schultern, während er sich zurücklehnte und die Erdbeere genüsslich selbst aufaß.
 

„Aoi?“ Ich sah auf und erkannte verspätet, dass Kai mir bereits einen Teller mit Kuchen hinhielt. „Danke!“ Damit nahm ich ihn, wartete bis auch Kai sich ein Stück abgeschnitten und sich wieder hingesetzt hatte. Genüsslich ließ ich die Sahne auf meiner Zunge zergehen und zerkaute anschließend die Erdbeeren. „Hier … zum Anstoßen!“ Reita stellte ein Sektglas hin, das bis an den Rand mit der perlenden Flüssigkeit gefüllt war. Uruha räusperte sich leicht und hob sein Sektglas kurz an. „Ich möchte noch etwas sagen ….“ Unsere Aufmerksamkeit lag sofort bei ihm. Er atmete kurz durch und sah mich fest an. „Nach dem Unfall war alles … ziemlich schwer für mich, für uns. Ich möchte mich bei euch für eure bedingungslose Freundschaft bedanken. Ihr ward da, als wir euch am dringendsten gebraucht haben. Ihr habt uns bei allem unterstützt, damit wir wieder schnell auf die Beine kommen konnten. Kai, nochmals danke dafür, dass du dich um mich gekümmert hast, dass ich bei dir wohnen durfte. Auch das war nicht selbstverständlich ….“ Es sah so aus, als wollte er noch weitersprechen, doch Reita schüttelte den Kopf und unterbrach ihn bestimmt. „Wir sind Freunde Uruha! Das wofür du dich bedankst war für uns selbstverständlich. Ihr hättet dasselbe für uns getan!“ Er klopfte ihm auf den Rücken, während Ruki und Kai zustimmend nickten. „Gut bevor nun noch mehr Dankbarkeitsbekundungen kommen, stoßen wir besser an.“ Damit hob Reita das Glas in die Mitte und leerte den Sekt nach dem Anstoßen in einem Zug. „Ihr Schluckspechte!“, moserte Kai lachend, als Reita und Uruha ihre Gläser auf den Tisch stellten und nach mehr verlangten. Schmunzelnd widmete ich mich wieder meinem Kuchen und dem Sekt.
 

Als wir fertig waren halfen wir unserem Leader dabei den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen. Anschließend machten wir es uns auf der Couch bequem und beschlossen eines der Spiele hervorzukramen, das wir anscheinend früher öfter miteinander gespielt hatten. Blöderweise war die Anzahl der Spieler auf vier beschränkt, sodass einer immer aussetzen musste. Wir einigten uns darauf dass der Verlierer den Controller weitergab, weshalb Ruki und ich uns mit dem Spielen abwechselten. Die anderen drei waren so gut, dass sie uns immer vernichtend schlugen. Im Moment war Ruki wieder dran, weshalb ich mich zurücklehnte und den vieren zusah. Reita stieß Uruha in die Seite um ihn abzulenken und rammte im Spiel sein Auto. „Hey! Das war unfair!“, motzte der Gitarrist und schob Reita wieder auf seinen Platz zurück. Während die beiden miteinander herumblödelten schafften es sowohl Kai als auch Ruki über die Ziellinie zu fahren und sahen grinsend zu, wie Uruha und Reita immer noch miteinander rangelten. Uruha feixte. Reita fluchte. „Das war nur Glück!“, motzte er, warf den Controller auf die Couch und lehnte sich zurück. „Quatsch! Das war Können! Außerdem solltest du auch mal aussetzen. Das tut dir gut, damit du nicht übermütig wirst!“, stichelte Uruha und hielt mir dann den Controller hin. „Siehst du? Ich hab dir einen Kontroller erkämpft!“ Ich begann leise zu lachen. „Den hätte ich so und so bekommen!“, schmunzelte ich und rutschte weiter vor um bei der nächsten Runde startbereit zu sein. Eine Ampel tauchte auf dem Bildschirm auf und wechselte von Rot auf Grün. Uruha und ich preschten Seite an Seite los, während Kai und Ruki langsamer starteten. Doch Kai holte recht schnell auf, weil ich mit dem Controller immer noch nicht klar kam. Allerdings schien es Uruha Spaß zu machen nicht am wirklichen Spiel teil zu nehmen, woraufhin die beiden bald nicht mehr auf der eigentlichen Rennstrecke, sondern irgendwo nebenher fuhren und sich lachend abwechselnd in die Seiten chrashten, während Ruki und ich unsere Autos in Sicherheit brachten.
 

„Uruha du spielst wirklich unfair!“ Der schüttelte nur den Kopf. „Ach was! Tu ich nicht! Nur, weil ihr so langsam seid und nicht wieder zurück auf die Rennstrecke kommt ist das nicht mein Problem!“ „Ich will eine Revanche!!“ Reita hielt Kai auffordernd seine Hand hin. „Die bekommst du, wenn du das nächste Mal deinen Controller wieder kriegst! Jetzt bin ich dran!“ „Aber…“ Reita zog eine Augenbraue hoch. „Hey wir haben das so ausgemacht!“ Kai seufzte abgrundtief. „Hier, nimm meinen.“ Ich hielt Reita meinen Controller hin. Vier Augenpaare richteten sich ungläubig auf mich. „Willst du nicht mehr?“ Ich schüttelte den Kopf. „Mir ist gerade ziemlich warm, ich geh kurz auf den Balkon frische Luft schnappen!“ Außerdem war mir von dem Wein, den zwei Gläsern Sekt und dem Bier, das nun auf dem Sofatisch stand irgendwie schwummrig, weshalb ich hoffte, dass ein bisschen frische Luft helfen konnte. „Zieh eine Jacke an, nicht dass du krank wirst!“ Uruha. Natürlich war er es wieder, der sich um mich sorgte. Natürlich war er es wieder, der mir zu verstehen gab, dass ich ihm wichtig war.
 

Mit einem leisen Klicken schloss ich die Glastür hinter mir und stellte mich auf den Balkon. Die kalte Luft hieß mich willkommen und legte sich wie ein Mantel um mich. Sie ließ mich ruhiger werden, klarer denken. Der Schnee rieselte schon wieder vom dunklen, wolkenbedeckten Himmel. Ich streckte eine Hand aus um eine Schneeflocke aufzufangen und sah zu, wie sie in meiner Hand schmolz. Alles war vergänglich. Das war nun mal so. Das ganze Leben war ein Kreislauf, endete aber immer mit dem Tod. Egal ob Mensch, Tier oder Pflanze. Ich hatte mir noch nie wirklich ernsthaft die Frage gestellt, wie es dann weiterging. Darüber wusste man nichts, konnte nur spekulieren. Ich war nicht der Mensch, der sich in Hoffnungen flüchtete. Seit dem Unfall war ich mehr denn je der festen Überzeugung, dass man das Leben leben musste. Man durfte nicht stehen bleiben und auf eine bessere Zukunft hoffen, sonst würde man sein ganzes Leben lang nur warten. Meine Vergangenheit hatte ich verloren, meine Zukunft war ungewiss aber die Gegenwart konnte einem niemand wegnehmen. Man entschied immer selbst, wie es weitergehen würde. Ich atmete tief durch und lehnte mich an das Geländer des Balkons. Das schwummrige Gefühl war immer noch da, aber es war besser geworden. Die Hitze allerdings blieb. Meine Finger stießen auf das Metall der Kette in meiner Hosentasche. Ich zog sie heraus, hielt sie in meiner Faust fest, während ich gedankenverloren auf den Anhänger starrte. Wieder tauchte Uruha vor meinem inneren Auge auf. Seine Lippen, wie sie sich um die Erdbeere schlossen. Wie konnte ein Mann nur so unglaublich schön sein? Er brachte mich durcheinander, machte mich nervös. Ich wusste nicht so recht, wie ich damit umgehen sollte. Ich mochte es, wenn er mich küsste, mochte es, wenn ich mich beim Fernsehen an ihn lehnen konnte oder wenn er unbewusst begann meinen Oberarm oder mein Bein zu streicheln. Ich fühlte mich wohl wenn er in meiner Nähe war. Konnte man das alles schon als Liebe bezeichnen? Und wenn ja, hieß das, dass wir uns schon wieder im Stadium einer Beziehung befanden?
 

Starke Arme schlangen sich um meine Mitte und zogen mich an eine warme Brust. Der Duft seines Parfums umfing mich. Ich hatte gar nicht gehört, dass er zu mir auf den Balkon gekommen war. „Worüber denkst du seit 30 Minuten so angestrengt nach, Schatz?“ Seine Stimme war sanft, aber ich glaubte einen leichten Tadel herauszuhören. Schatz? Er hatte mich bisher noch nie bewusst so genannt. Aber ich kam nicht umhin diesen Kosenamen irgendwie zu mögen. Meine Augen schlossen sich, während ich mich mit einem leisen Seufzer an ihn lehnte. Mein Kopf kam an seiner Schulter zum Liegen, während er mir einen Kuss auf den Hals drückte, der zur Folge hatte, dass sich mein Herzschlag wieder beschleunigte. „Nichts Wichtiges, Kou. Ich genieße nur die Ruhe hier draußen“, murmelte ich träge und sah weiter in die Dunkelheit hinaus, wo das Schneetreiben heftiger wurde. Mir war nicht kalt in seinen Armen. Kein bisschen. „Mach dir nicht zu viele Gedanken. Lass alles auf dich zukommen, du wirst immer den richtigen Weg finden!“ Es klang beinahe, als hätte er meine Gedanken gelesen. Dabei wusste ich sicher, dass er dazu nicht im Stande war, auch wenn er sonst sehr viele Talente besaß.
 

Meine Hand legte sich sanft auf seinen Arm, woraufhin er mich fester an sich zog. Eine Weile blieben wir so auf dem Balkon stehen. Ich verspürte nicht das Bedürfnis mich aus seiner Umarmung zu lösen, dazu war es viel zu schön. Er drückte mir nocheinmal einen Kuss auf den Hals und knabberte an meinem Ohrläppchen, was mich erbeben ließ. Ich drehte mich in seinen Armen und legte meine um seinen Nacken. Die Kette, die ich ihm schenken wollte hielt ich immer noch fest, wobei ich die Kettenglieder nun langsam aus meinen Fingern gleiten ließ, damit ich sie ihm umhängen konnte. Schon den ganzen Abend kämpfte ich mit dem Verlangen meine Lippen auf seine zu pressen. Ich überbrückte die paar Zentimeter, die sich zwischen uns befanden und küsste ihn. Ich wollte dieses Kribbeln spüren, das sich nun wieder in meinem ganzen Körper ausbreitete und mich dazu trieb mich fester an ihn zu pressen, während seine Arme sich stärker um meine Taille legten. Er hielt mich fest, zog mich enger an sich und erwiderte den Kuss mit einem zufriedenen Seufzen. Ich leckte über seine Unterlippe, verlangte fordernd nach Einlass, welchen er mir auch überrascht über meine Eigeninitiative gewährte, während er mich an die Wand drückte und eine Hand in meine Haare krallte, um meinen Kopf etwas mehr in den Nacken zu ziehen. Er genoss den Kuss, drängte meine Zunge wieder zurück, knabberte an meiner Unterlippe und stupste meine Zunge wieder an, um sie zum Tanzen aufzufordern. Hitze stieg in mir hoch, während der Kuss noch feuriger wurde. Sein warmer, stahlharter Körper schmiegte sich an meinen. Seine Hitze verschlang mich, ließ mich alles vergessen außer diese sündigen Lippen, die sich noch ein Mal mit Nachdruck auf meine drückten. Heftig atmend löste er sich schließlich von mir und sah auf den Anhänger hinunter, der nun an seiner Brust baumelte. „Frohe Weihnachten, Uruha“, hauchte ich. Mir fehlte nach diesem leidenschaftlichen Kuss der Atem um lauter zu sprechen. Ein glückliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er mir immer näher kam. „Frohe Weihnachten, Aoi“, murmelte er an meinen Lippen, sodass seine hauchzart über meine strichen. Dann küsste er mich erneut.

Kapitel 26

~Uruha POV~
 

Das Klingeln meines Handys ließ mich aus dem Schlaf hochschrecken. Welcher Idiot rief mich um … ich schielte zum Wecker und stöhnte … 06:47 am Morgen an!? Da ich von gestern noch zu verkatert war um auf die Idee zu kommen das Handy einfach auf lautlos zu stellen, nahm ich den Anruf mit einem beinahe gefluchten ‚Ja?’ entgegen. Verdammt … mein Kopf! Dabei hatte ich gar nicht so viel getrunken! Zuerst herrschte Stille, sodass ich schon drauf und dran war das Gespräch zu unterbrechen und das Handy quer durch das Zimmer zu schleudern, doch schließlich schien jemand dranzugehen. „Hallo Onkel Kouyou!“ Das durfte doch nicht wahr sein! „Shinji? Bist du das?“ Meine Stimme war sofort sanft geworden, auch wenn ich verdammt sauer darüber war, dass mich mein 5-jähriger Neffe um die Uhrzeit und nach knapp drei Stunden Schlaf aus den Federn klingelte. Ihn anzupflaumen, was ich wohl bei jedem anderen gemacht hätte, war allerdings auch keine passende Option. „Jaaaaa!!!!“ „Ist alles in Ordnung? Warum rufst du an?“ „Kommst du heute Abend auch zu Oma?“ Na wenn er sonst keine Probleme hatte … Mit einem leisen Ächzen ließ ich mich wieder zurück ins Bett fallen und steckte das Headset an, damit ich das Handy nicht festhalten musste. „Hmmhmm, ja komme ich.“ „Onkel Aoi auch?“ „Ja, der kommt auch mit. Aber wir kommen etwas später, weil wir noch arbeiten müssen.“ Ein enttäuschtes Grummeln war seine Antwort. „Aber warum denn? Es ist doch Neujahr! Papa und Mama haben auch frei! Dabei wollte ich dir doch mein neues Spiel zeigen!“ Ich konnte mir ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen. Nur gut, dass er es durch das Telefon nicht sehen konnte, sonst dachte er wohlmöglich noch ich lachte ihn aus. „Sei nicht traurig! Ich komm ja heute Abend zusammen mit Onkel Aoi, dann können wir das Spiel immer noch spielen. Aber zuvor müssen wir noch zu einem Fotoshooting, damit ich dir wieder ein Poster bringen kann!“ „Toll!! Aber ein Großes für meine Zimmertür, ja?“
 

Plötzlich war ein leises Murmeln zu hören. Dann … „Oh mein Gott Shinji!! Was machst du denn jetzt schon wieder für einen Blödsinn!?“ Ich hatte es doch gewusst. Der kleine Fratz hatte meiner Schwester mal wieder das Handy geklaut und es geschafft die Tastenkombination rauszubekommen. „Kou-chan? Bist du noch dran?“ Ich musste immer noch grinsen. Dieser Frechdachs. „Guten Morgen, Schwesterherz. Schön mal wieder deine Stimme zu hören! Wenn Shinji nicht laufend anrufen würde, würde ich von dir gar nichts mehr hören!“ Ihr leises Lachen drang an mein Ohr. „Es tut mir wirklich leid, dass er dich so früh angerufen hat. Ich weiß nicht, wie er die Tastenkombination immer rausbekommt!“ Ich drehte mich auf die Seite und schloss wieder die Augen. Es war sowieso stockdunkel im Zimmer, da die Jalousien noch unten waren. „Ist nicht so schlimm … wir müssen sowieso bald raus“, gähnte ich. „Du klingst ziemlich fertig!“ Was für eine Feststellung. Wessen Sohn hatte mich denn um diese unchristliche Zeit aus den Federn geklingelt!? „Um ehrlich zu sein haben wir gestern noch Bonenkai gefeiert und sind dann noch auf einen Absacker bei Ruki gelandet. Ich glaub wir waren erst gegen halb vier im Bett!“, erzählte ich und rieb mir über die Augen. „Wer ist wir?“ Genervt über die Frage verdrehte ich die Augen. „Na Aoi und ich!“ Sie lachte leise. „Nein ich meinte … mit wem habt ihr gefeiert?“ Oh … das war natürlich etwas anderes. „Firmenfeier“, antwortete ich einsilbig. Die Feier des Vergessens und somit der Abschied des alten Jahres wurde immer mit einer riesigen, schwungvollen Party und mit viel Alkohol gefeiert. Die Silvestertage hingegen waren besinnlicher und nur der Familie und sehr guten Freunden vorbehalten. „Na es muss ja Spaß gemacht haben, wenn ihr beide so lange geblieben seid. Vermutlich gings wieder mal feuchtfröhlich zu, was?“ „Hmmm…“ Mit ihrer Vermutung hatte sie direkt ins Schwarze getroffen. Allerdings war das nicht schwer. Es ging immer feuchtfröhlich zu, wenn es eine Firmenfeier gab. „Aber nun zu was anderem. Wann kommt ihr heute?“ „Kairi-chan … ich hab dich wirklich lieb und ich quatsche auch sehr gerne mit dir, aber ich möchte eigentlich noch eine Stunde schlafen, bevor ich zum Fotoshooting muss …“ Sie kicherte fröhlich. „Ist schon in Ordnung. Für den Weckruf musst du dich sowieso bei Shinji bedanken! Nur noch eine Sache! Vergiss den Geschenkkorb für Mama und Papa nicht, ja?“ „Klar, der steht schon im Flur, damit wir ihn nicht stehen lassen. Bis heute Abend dann!“ Ich hörte ihre Antwort gar nicht mehr, sondern beendete das Gespräch und kuschelte mich noch einmal in die Kissen um diese Stunde auszukosten, die mir noch blieb.
 

„Hallo ihr beiden!“ Unsere Stylisten begrüßten uns freundlich, während sie sich um Ruki und Reita kümmerten, denen gerade sozusagen der letzte Schliff verpasst wurde. Die Blicke der beiden Band Member wandten sich uns sofort zu. Sie musterten uns von oben bis unten. Dann begann Ruki fies zu grinsen. „Sag mal Aoi … was hast du mit Uruha angestellt?“, stichelte er frech. Seine Stimme klang immer noch kratzig, jedoch war es nicht so schlimm wie noch vor ein paar Tagen. Aoi sah aus wie das blühende Leben. Kein Anzeichen von der Party gestern Nacht. Dieser Glückspilz! Der Gesichtsausdruck, mit dem Aoi seinen besten Freund nun bedachte schien neutral, doch ich kannte ihn besser. Der leichte Rotschimmer, der sich auf seine Wangen schlich, verriet ihn. „Nichts! Wir haben geschlafen!“ „Miteinander!?“ „REITA!!“, fuhr ich ihn an. „Hör auf schon um 10 Uhr morgens so viel Blödsinn zu verzapfen und zieh Leine!“ Der Blonde lachte nur und zog sich die Haarspange wieder aus den Haaren, die seine Frisur in Form hielt. Der Idiot machte mit seinen dämlichen Sprüchen noch alles kaputt, was ich mir bei Aoi wieder so hart erkämpft und aufgebaut hatte!
 

Chirac-san zupfte noch einmal an seinen Haaren herum und befestigte eine Strähne mit viel Haarspray bevor sie sich zu uns umdrehte. „Mon Dieu, Uruha! Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht kein Auge zugetan! Weißt du eigentlich wie schwer es wird diese Augenringe zu verdecken!?“ Chirac-sans Entsetzen konnte ich durchaus nachvollziehen. Ich war heute Morgen selbst bestürzt gewesen, als ich beim Zähneputzen etwas genauer in den Spiegel sah. Es war ein klarer Fall von „Ich kenne dich zwar nicht, aber ich putze dir trotzdem die Zähne“ gewesen. „Ich kann nichts dafür! Mein Neffe hat mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geklingelt!“, murrte ich, ignorierend, dass ich sehr wohl etwas dafür konnte. Immerhin hätten wir nur ein, zwei Stunden früher nach Hause gehen müssen. „Aber ich weiß, dass du das sicherlich super hinbekommen wirst!“ Sie fuchtelte mit ihren Händen durch die Luft und deutete schließlich auf den Sessel, von dem sich Reita gerade erhob. „Du alter Schmeichler! Setz dich hin und ich werde mein Bestes geben um dich wieder Bühnen- beziehungsweise Fototauglich zu machen!“
 

Als Aoi und ich endlich die Halle betraten, in der das Fotoshooting stattfand, standen Kai und Reita bereits am Set und sahen dem Fotografen dabei zu, wie er die Einzelbilder von Ruki schoss. Dieser stand vor einer großen, weißen Leinwand um die mehrere Scheinwerfer aufgestellt waren, die die Szenerie beleuchteten. „Drehen Sie sich etwas weiter in meine Richtung, Ruki-san!“, bat der Fotograf und ließ die Kamera etwas sinken. Der Vocal blies sich eine Strähne aus dem Gesicht, zupfte sein Outfit zurecht und drehte sich etwas seitlich um der Kamera anschließend wieder einen verführerischen Blick zuzuwerfen. Mit einem Klicken wurde der Blitz ausgelöst und das nächste Bild erschien auf dem Laptop, der direkt mit der Kamera verbunden war. Reita beugte sich rüber um sich die Bilder gleich anzusehen. Dann hob er den Daumen. „Siehst heiß aus Ruki!“ Kai stieß Reita seinen Ellenbogen in die Seite. „Lenk ihn nicht ab! Sonst stehen wir die nächsten zehn Stunden noch hier, weil ihm keines der Bilder gefällt!“ Der Vocal hob nur eine Augenbraue und sah kurz in ihre Richtung und … ‚Klick’ … auch das Bild wurde eingefangen.
 

„Ihr scheint euch ja richtig gut zu amüsieren!“, neckte ich die beiden. Kai drehte sich zu uns um und begann breit zu grinsen. „Na ihr zwei? Seid ihr bereit für die Session?“ Aoi nickte und sah zu, wie Ruki und Reita die Plätze tauschten. Der Sänger kam zu uns hinüber und presste die tränenden Augen zusammen. „Gott, das verdammte Licht ist vielleicht grell! Das nächste Mal nehme ich getönte Kontaktlinsen!“ „Pass auf, dass deine Schminke nicht verläuft!“ Ruki warf dem Leader nur einen amüsierten Blick zu. „Hör auf mich zu foppen Kai! Lass uns lieber meine ‚heißen‘ Fotos ansehen!“ Damit drehte er sich zum Laptop um und begann die Bilder durchzuklicken. „Hmm … damit sollte sich schon was machen lassen!“, meinte er zufrieden und unterdrückte ein Husten. Überrascht sah ich auf, als Aoi seine Arme verschränkte und sich gegen mich lehnte. Er schien es gar nicht wahrzunehmen. Sein Blick lag immer noch gedankenverloren auf dem Bildschirm. Ich bemerkte, dass Kai uns beide nachdenklich musterte. Er begann jedoch zu lächeln, als sein Blick den meinen streifte. Um ehrlich zu sein konnte ich ihm nicht böse sein, wenn er sich fragte was das zwischen uns war. Ich wusste es doch selbst nicht. Einerseits suchten wir die Nähe des anderen, kuschelten vor dem Fernseher oder küssten uns. Andererseits schien Aoi immer sofort eine Barriere hochzuziehen, wenn er bemerkte, was er da eigentlich tat. Vor allem, wenn andere Leute in der Nähe waren. Daher konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, welches Verhältnis wir beide zueinander hatten. Aber ich gab mich damit zufrieden, weil es das Einzige war, das mir noch von ihm geblieben war.
 

„Uruha!“ Ich zuckte zusammen und sah Reita an, der vor mir stand. „Hey alles klar?“ Etwas perplex nickte ich. „Klar … solltest du nicht vor der Leinwand stehen?“ Er begann leise zu lachen, was ihm einen wütenden Blick meinerseits einbrachte. „Du bist dran, Träumer!“ Ups … Ich sollte meine Gedankengänge etwas zurückstellen. In letzter Zeit schienen mich die anderen wirklich oft aus dieser Trance zu holen! Aoi, der sich auf einen Barhocker geschwungen hatte, der am Set stand schmunzelte leicht als ich mich vor die Leinwand stellte und gegen das grelle Licht blinzelte. Wie zum Teufel sollte man da seine Augen noch offen halten können? Chirac-san erschien neben mir und begann noch einmal an meinen Haaren und den Klamotten zu zupfen. „Parfait!“, meinte sie stolz und schon war sie wieder verschwunden. Dann ging das Blitzlichtgewitter auch schon los. Das Posen machte mir Spaß, war aber auch anstrengend. „Bitte einmal direkt in die Kamera sehen!“ Ich kam der Aufforderung des Fotografen nach und drehte meinen Kopf etwas mehr in seine Richtung. Ich ließ meinen Arm wieder sinken und legte den Kopf in den Nacken. Ein ersticktes Keuchen ließ mich irritiert zu den anderen sehen. Aois Blick lag fest auf mir, während die anderen sich die Bilder am Laptop ansahen. Er rutschte etwas vor, leckte sich über die halb geöffneten Lippen und wandte schließlich verlegen den Blick ab, als ihm bewusst wurde, dass ich ihn beim Starren ertappt hatte.
 

Aoi kam als Letzter dran. Obwohl das alles hier für ihn neu war, gab er sich überraschend professionell. Vielleicht kam das auch nur vom Zuschauen, aber seine Bewegungen und seine Posen waren alles andere als steif. Es war beinahe so, als ob sich sein Körper daran erinnern konnte, wie man sich vor der Kamera gab. Das aufgeregte Kribbeln in meinem Magen und das nicht ignorierbare Ziehen in meiner Lendengegend zeigten sehr deutlich, dass das Fotoshooting nicht spurlos an mir vorüberging. Er sah unglaublich attraktiv aus, als seine Finger langsam ihren Weg über seine Wange und seinem Hals zu seiner Brust fanden. Ich schluckte trocken, als er sich über die Lippen leckte und dem Fotografen einen aufreizenden Blick schenkte. Dieser schien auch Gefallen an ihm gefunden zu haben, denn Aois Shooting dauerte länger, als das von uns anderen, was mich seltsamerweise wütend machte. Es gefiel mir gar nicht, dass er von anderen Kerlen so viel Aufmerksamkeit bekam.
 

„Sehr schön! Es scheint alles wunderbar zu klappen!“, meinte unser Manager, als er zum Set kam und sich zu uns stellte. „Phu ist das heiß vor den Scheinwerfern!“, stöhnte Aoi und nahm dankend eine Wasserflasche von Reita entgegen, die er auch gleich bis zur Hälfte leerte. „Sehr gute Arbeit Aoi! Die Fotos sind wirklich klasse geworden“, lobte unser Manager, was Aoi ein stolzes Lächeln aufs Gesicht zauberte. „So jetzt kommen noch die Gruppenfotos und dann habt ihr euer Pensum für heute erledigt und könnt in euren wohlverdienten Urlaub gehen. Das ist doch recht schnell über die Bühne gegangen!“ Ich musste unserem Manager zustimmen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass es länger dauern würde, aber natürlich hatte ich auch nichts dagegen früher von hier weg zu kommen. Shinji wartete immerhin mit seinem neuen Spiel auf uns. Er würde sich freuen etwas mehr Aufmerksamkeit von seinem chronisch abwesenden Onkel zu bekommen. Während der Fotograf das Set umbaute blieben wir an dem Stehtisch stehen und sahen uns die Fotos zusammen an. Es waren wirklich einige tolle Bilder dabei, die wir auch definitiv als Bonusmaterial zum Album rausgeben würden.
 

Der Umbau ging recht schnell vonstatten, weshalb wir uns ein paar Minuten später schon wieder vor der Kamera wiederfanden. Es folgten noch einige Beleuchtungseinstellungen und nach einem Wechsel des Objektivs und des Blitzgeräts an der Kamera wurde das Fotoshooting wieder aufgenommen. „Verdammt ist das grell!!“, fluchte Ruki. Auch Kai und ich schlossen die Augen und drehten uns weg. Der Blitz war so hell gewesen, dass ich, nachdem ich direkt reingesehen hatte, meinen Blick kaum fokussieren konnte. „Aoi!! Hey! AOI! Was ist denn?“ Reitas eindringliche Stimme ließ mich herumwirbeln. Ich schob Kai, der mir im Weg stand, zur Seite und stürzte zu Reita und Aoi hinüber. Dieser krallte sich in den Stoff von Reitas Jacke und schwankte besorgniserregend. Sofort schlang ich meine Arme um seinen Oberkörper und half dem Bassisten dabei ihn zu stützen. „Mein Kopf … ahh … es tut … so weh!“ Stöhnend biss Aoi die Zähne zusammen und presste seine Handballen an die Schläfen, als hoffte er damit den Anfall, der ihn anscheinend heimsuchte, aufhalten zu können. „Reita, lass los ich hab ihn!“, befahl ich und ließ mich mit Aoi im Arm zu Boden sinken, da er nicht in der Lage war selbst zu stehen. „Ganz ruhig, Schatz! Versuch gleichmäßig zu atmen!“ Zärtlich streichelte ich über seine Wange und durch sein Haar. Sein Zittern ließ nicht nach, wurde schlimmer, während er gepeinigt aufkeuchte und die Lider aufeinander presste, was meine Sorge nur noch weiter anstachelte.
 

„Kai! Ein Eimer!“, ordnete ich an und endlich kam wieder Leben in den Körper des Drummers, während Ruki nun auch neben uns in die Knie ging und Aoi beunruhigt musterte. „Was ist los? Was ist passiert?“ Reita schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Er ist auf einmal blass geworden und hat zu schwanken begonnen!“ Ich legte meine Daumen an Aois Schläfen und begann sie mit leichtem Druck zu massieren. Das hatte bisher immer etwas geholfen. „Er hat einen Anfall“, erwiderte ich dann angespannt. „Das ist in letzter Zeit kaum mehr vorgekommen. Aber es kann passieren, dass er urplötzlich heftige Kopfschmerzen bekommt. Das dauert in der Regel nicht lange aber …“ Aoi würgte und drückte eine Hand auf seinen Magen. „KAI!!“ „Bin schon hier!“ Ich riss ihm den Eimer aus der Hand und hielt ihn Aoi hin. Keine Sekunde zu früh, denn gleich darauf war ein gequältes Würgen zu vernehmen, als Aoi sich übergab. Beruhigend streichelte ich ihm über den Rücken. „… aber es ist meistens ziemlich heftig“, beendete ich meinen Satz. „Ich verstehe nicht … warum jetzt?“ Mein Blick wanderte zur Beleuchtung und dann wieder zu Ruki, der die Frage gestellt hatte. „Ich glaube der Auslöser war der Blitz!“ Immerhin war grelles Licht oft dafür verantwortlich gewesen, wenn es ihm schlecht ging. Als ich spürte, wie Aois Körper sich wieder beruhigte zog ich ihn sanft in meine Arme. „Hier!“ Der Fotograf hielt Aoi eine Wasserflasche hin, damit er sich den Mund ausspülen und ein paar Schlucke trinken konnte, was er auch gleich machte. Dann kuschelte er sich erschöpft an mich und schloss die Augen wieder.
 

„Wir sollten für heute Schluss machen. Das war alles etwas viel“, ließ sich unser Manager vernehmen. „Die restlichen Fotos können wir auch nach Silvester machen. Bis dahin haben wir ja genug Material.“ „Nein!“ Ich erstarrte und zog Aoi enger an mich. Er öffnete die Augen wieder und sah die anderen bestimmt an. „Wir machen die Fotos jetzt fertig. Es geht schon wieder!“ Ruki schüttelte den Kopf. „Es geht offensichtlich nicht, sonst säßest du nicht hier auf dem Boden und würdest dich nicht übergeben!“ Die anderen beiden nickten zustimmend. „Wir hören auf“, sagte Kai streng. Doch Aoi setzte sich bestimmt auf. „Wir hängen wegen mir schon lange genug im Zeitplan hinterher. Für die drei, vier Fotos bin ich noch fit genug. Bitte lasst sie uns fertig machen.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu, der eindeutig besagte, dass ich ihm ja nicht widersprechen sollte, weshalb ich dann einfach nur mit den Schultern zuckte und nickte. Er war kein Baby mehr und auch wenn ich mir Sorgen machte, war er es, der darüber bestimmte wie es ihm ging und was er sich zumuten konnte. Würde es nicht gehen, mussten wir sowieso aufhören. „Gut, aber wir machen jetzt eine halbe Stunde Pause, in der du dich aufs Sofa legst und dich ausruhst!“ Leader-sama hatte gesprochen und dagegen kam selbst Aoi nicht an, weshalb er ergeben nickte.
 

Als hätte man ihn gerufen stand Tsukoyomi-san pünktlich eine halbe Stunde später vor uns und erneuerte das Make-up. Aoi schien sich tatsächlich bereits wieder erholt zu haben. Zwar war er noch etwas blass, aber die Kopfschmerzen schienen verschwunden zu sein. Die restlichen Bilder waren auch recht schnell gemacht (vor allem weil sich jeder anstrengte damit Aoi nicht länger als nötig am Set stehen bleiben musste). Ich zog mich um und wartete in der Garderobe darauf, dass Aoi fertig wurde. „Schönen Urlaub und erholt euch gut! Das neue Jahr startet genauso wie dieses hier aufhört … mit vielen Terminen!“ Kai war der Erste, der fertig war und den Raum verließ. Allerdings wusste ich, dass er noch nicht nach Hause fuhr, sondern an einer Sitzung teilnahm um mit den Verantwortlichen die Fotos durchzusehen und sich auf ein paar zu einigen, die dann auch veröffentlicht werden würden. Ich war wirklich froh, dass ich diesen Leaderposten nicht mehr innehatte. Kai war viel disziplinierter als ich, was das anging und er schaffte es auch alle Termine zu koordinieren und zu planen, auch wenn er sonst dauernd seine Geldtasche, sein Handy oder seinen Schlüssel verlegte. „Danke, aber mach du auch nicht mehr zu lange!“ Er zeigte mir nur seinen erhobenen Daumen und schon schlüpfte er auf den Gang hinaus. Aoi und ich verabschiedeten uns auch von den anderen beiden und fünfzehn Minuten später befanden wir uns auch schon auf der Autobahn.

Kapitel 27

~Aoi POV~
 

Nach ca. einer Stunde Autofahrt parkte Uruha den Wagen. Er schaltete die Scheinwerfer aus und zog die Handbremse an. Ich hatte mich schon abgeschnallt und wollte die Tür öffnen, doch als ich bemerkte, dass er sich nicht rührte ließ ich mich wieder in den Sitz sinken und sah zu ihm hinüber. „Ist alles in Ordnung?“ Er seufzte leise, machte aber keine Anstalten aus dem Auto auszusteigen. „Uruha?“ „Ja, alles in Ordnung“, erwiderte er mit etwas Verspätung und drehte den Kopf in meine Richtung. Lange sah er mich einfach nur an. Mit einem Mal beugte er sich zu mir hinüber, streckte langsam seine Hand aus und streichelte über den Kragen des schwarzen Blazers, den ich über einem grauen Rollkragenpullover trug. Immer weiter wanderte seine Hand nach unten, bis sich seine Finger in den Stoff gruben und er mich mit einem Ruck zu sich hinüberzog. Ein leises Lachen entkam mir, bevor ich die letzten Zentimeter überwand, die uns beide noch trennten und ihn küsste. Wie von selbst fielen meine Augen zu. Im schwachen Licht, das durch die Fenster nach draußen auf die Einfahrt fiel, konnte ich ihn sowieso nicht richtig erkennen. Es war viel schöner nur zu fühlen, zu spüren wie mein Herz schneller zu pochen begann oder wie sich diese unverkennbare Wärme in mir ausdehnte, die mich immer einnahm, wenn er mich küsste. Sein Griff wurde fester, als er mich noch näher zog und seine wundervollen, weichen Lippen gegen meine bewegte. Seine Zunge umspielte meine, neckte sie, zog sich wieder zurück, nur um meine wieder anzustupsen und sie zärtlich zu umspielen. Als er nach Luft schnappte nutzte ich die Gelegenheit und leckte über seine Unterlippe. Ein heißer Schauder durchfuhr mich. Es fühlte sich alles so gut an. So richtig! Als hätte es immer so sein müssen, so sein sollen. Ich wollte diese Gefühle spüren, die Uruha in mir auslöste. „So jetzt können wir!“, hauchte er, löste sich mit einem Lächeln von mir und stieg aus. Ich tat es ihm gleich und folgte ihm über den kleinen, verschneiten Gartenweg zur Haustür, wo er bereits seinen Daumen auf den Klingelknopf presste.
 

Leise tippelnde Schritte waren zu hören, das Licht im Hausgang ging an und die Haustür wurde aufgerissen. „Onkel Kouyou!!!“, ertönte es zweistimmig. Uruha begann zu lächeln, trat ein und hielt die Arme auf um die beiden Jungs, die vor Freude strahlten, an sich zu drücken. Ich folgte ihm ins Innere des Hauses, schloss die Tür hinter mir und begann meine Stiefel auszuziehen, während ich zusah, wie Uruha den beiden Kleinen durch ihre pechschwarzen Haare strich. „Man bist du groß geworden Keiji! Du auch Shinji!“ „Ja! Ich bin ganz viel gewachsen!“ „Ist Tante Nara auch schon da?“ Die beiden schüttelten synchron die Köpfe. „Nein noch nicht, aber Mama hat gesagt, dass sie gleich hier ist“, antwortete der Kleine, den Uruha zuvor Shinji genannt hatte. „Okay … lasst mich mal los … ich muss meine Jacke und die Stiefel ausziehen … ihr könnt …“ „Onkel Aoi!!“, quietschte plötzlich der andere Junge und ich wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. Kinder waren mir generell unheimlich. Ich wusste nicht, was ich mit ihnen anfangen sollte. Und diese beiden waren definitiv noch zu jung um mit ihnen über ernste Themen zu sprechen. Shinji war fünf, soweit ich das von Uruha mitbekommen hatte. Keiji, sein Bruder, war zwei Jahre jünger. Nun die Aufmerksamkeit der beiden zu haben war mir etwas unangenehm. Vor allem, als sie sich von Uruha lösten und mit strahlenden Augen auf mich zustürmten. Uruha grinste nur und dachte gar nicht daran mir zu helfen. „Hallo ihr zwei!“ Etwas unbeholfen wuschelte ich ihnen durch die Haare. „Hoch!“, verlangte Keiji, streckte seine pummeligen Arme nach oben und sah mich auffordernd an, während Shinji begeistert von der Rennautobahn erzählte, die die beiden geschenkt bekommen hatten. Dafür, dass die Kinder so klein waren, gaben sie schon sehr bestimmt den Ton an.
 

„Shinji! Keiji! Lasst die beiden doch erstmal hier ankommen! Geht wieder ins Wohnzimmer! Opa versucht gerade mit eurem Papa die Rennautobahn aufzubauen!“ Das schien anscheinend das Stichwort gewesen zu sein, denn Shinji wirbelte herum und rannte wieder zurück. Keiji kicherte leise und stakste auf seinen kurzen Beinchen hinter seinem Bruder her. „SHINJI!!! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du im Haus nicht laufen sollst?!“ „Jaaa Oma!“ Uruha schmunzelte leicht und zupfte an meinen Haaren. „Der Überfall tut mir ein bisschen leid, ich hätte dich vorwarnen sollen. Die beiden lieben dich heiß und innig und sie haben dich seit dem Unfall nicht mehr gesehen“, erklärte er mit sanfter Stimme. Seine Mutter, eine zierliche, sehr jung wirkende Frau mit langem schwarzen Haar und dunklen Augen, war vor uns stehen geblieben und wartete geduldig darauf, dass ihr Sohn ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. „Mama!“ „Kouyou! Schön, dass ihr beide hier seid!“ Er begann wieder zu lächeln und zog seine Mutter in eine innige Umarmung. Sie lachte leise und drückte ihn an sich. Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und löste sich von ihm. „Yuu!“ Nun lag ihre Aufmerksamkeit auf mir. „Es freut mich, dass du mit Kouyou mitgekommen bist um mit uns zu feiern.“ „Vielen Dank für die Einladung …“, begann ich und war gerade dabei mich vor ihr zu verbeugen, da hatte sie mich auch schon in die Arme genommen, was dazu führte, dass ich zur Salzsäule erstarrte. Obwohl ich Uruhas Mutter bereits kannte (immerhin hatte sie mich zusammen mit seinem Vater im Krankenhaus besucht), war es mir unangenehm angetatscht zu werden. „Nicht so förmlich Aoi. Immerhin gehörst du doch schon lange zur Familie“, lächelte sie dann. „Mama, überfordere ihn nicht!“ Uruhas mahnenden Blick ignorierend, machte sie eine auffordernde Bewegung zur Tür hin, aus der sie zuvor getreten war. „Na macht schon, Jungs. Auf ins Wohnzimmer.“ Uruha begann zu schmunzeln und gab ihr noch einen Kuss auf die Wange. Dann griff er nach meiner Hand, verschränkte unsere Finger miteinander und zog mich einfach hinter sich her. Mir blieb nicht einmal mehr die Zeit mich deshalb unwohl zu fühlen.
 

Sein Vater und Makoto (der Mann seiner Schwester) saßen am Boden und bauten mit den Jungs zusammen die Rennstrecke auf, als wir das Wohnzimmer betraten. „Da seid ihr ja endlich!“, begrüßte uns Uruhas Vater und zeigte auf das Sofa. „Setzt euch!“ Ich kam der Aufforderung gerne nach, nachdem ich alle begrüßt hatte und griff dankend nach einer der Teetassen, die seine Mutter vor uns abstellte. Es war wirklich seltsam so behandelt zu werden, als würde ich schon lange dazugehören. Für sie tat ich das ja auch. Aber für mich waren sie mehr oder weniger Fremde. „Na Brüderchen? Dafür, dass du nur drei Stunden geschlafen hast, siehst du wirklich gut aus!“ Uruha warf Kairi einen kurzen, vernichtenden Blick zu und streckte ihr die Zunge raus. „Das hab ich deinem Sohn zu verdanken, sonst wären es vier Stunden gewesen!“ Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und legte den Kopf schief. „Hast du es überhaupt geschafft rechtzeitig aus dem Bett und zu deinem Fotoshooting zu kommen?“ „Klar ich war mehr als nur pünktlich!“ Kairi schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Was wohl eher Aoi zu verdanken war, was?“ Oh sie schien Uruha wirklich gut zu kennen. Grinsend nickte ich. „Es war harte Arbeit ihn aus dem Bett zu schmeißen!“ Uruha grummelte leise. „Aoi, du Verräter!! Du musst zu mir halten!“ Das Geplänkel der beiden ließ mich lockerer werden. „Ach? Ich denke du kannst dir ganz gut selbst helfen! Und ein bisschen gefoppt zu werden schadet dir sicher nicht!“, antwortete ich frech. Uruha sah mich schmunzelnd an, beugte sich plötzlich zu mir hinüber und drückte mir vor allen hier im Zimmer einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Ich mag es, wenn du frech wirst!“ Seine Stimme war nur ein leises Hauchen. Perplex sah ich ihn an und spürte wie meine Wangen heiß wurden. Da seine Familie aber absolut nicht darauf reagierte entspannte ich mich wieder.
 

Nara, Uruhas zweite Schwester, kam pünktlich zum Essen. Sie war etwas ruhiger als Kairi und ein ziemlicher Freigeist. Sie war erst vor drei Tagen aus New York zurückgekommen, wo sie ein Praktikum bei einer großen Firma absolviert hatte. Während Kairi und Uruha ihrer Mutter dabei halfen den Tisch zu decken und das Essen aufzutragen, erzählte sie begeistert von den Dingen, die sie in Amerika gemacht und gesehen hatte. „Ich fahre auch nach Amerika! Und dann heirate ich Maya-chan!“, ließ sich Shinji plötzlich vernehmen, was uns alle zum Lachen brachte. „Ich denke du solltest zuerst deine Suppe essen, damit du groß und stark wirst …“, sagte Uruha schmunzelnd und stellte die Schale vor ihm ab. „… und dann reden wir noch mal über deine Pläne zu heiraten!“ Shinji nickte begeistert und steckte sich den Löffel in den Mund. „Also Jungs … wie läuft’s mit der Arbeit?“ Uruhas Vater war der Erste der die Stille durchbrach. Uruha schluckte seinen Bissen hinunter und erwiderte seinen Blick. „Im Moment könnten wir nicht klagen. Die Aufnahmen fürs Album sind abgeschlossen, heute hatten wir das Fotoshooting und in letzter Zeit konnten wir uns vor Anfragen für Interviews kaum retten!“ Das war ein gutes Zeichen. Zumindest verdienten wir immer noch Geld. „Wie war das Fotoshooting heute?“ Nara lehnte sich zurück und lächelte zufrieden. Auch die beiden Jungs sahen nun neugierig zu uns hinüber. „Ich bekomm ein Poster!“, rief Shinji dazwischen und seine Augen strahlten. „Anstrengend“, erwiderte ich dann. „Na kommt schon! Lasst euch nicht alles aus der Nase ziehen!“, motzte Kairi und sah uns auffordernd an. Das war für Uruha das Stichwort um ein bisschen genauer zu erzählen. Wenigstens ließ er den Teil in dem ich mich vor allen übergeben hatte unter den Tisch fallen. „Dann scheint das heute harte Arbeit gewesen zu sein“, schloss Nara, während Uruha nickte. „Man stellt sich das immer so toll vor auf einem Hochglanzmagazin abgebildet zu werden. Aber für die Fotos zu posen ist nicht ohne.“ „Dabei hat es uns noch recht gut getroffen. Kai musste noch zu einer Besprechung bleiben und gleich die Fotos aussuchen, die verwendet werden, damit sie schnellstmöglich in Druck gehen können!“, ergänzte ich.
 

„Ab wann werdet ihr wieder auf der Bühne stehen?“ Ich verschluckte mich und begann zu husten. Uruha klopfte mir auf den Rücken und sah Makoto an, der die Frage gestellt hatte. „Um ehrlich zu sein wissen wir das noch nicht genau.“ Makoto musterte uns und legte den Kopf schief. „Mein Gitarrenspiel ist im Moment noch etwas … dürftig“, antwortete ich ehrlich. Dabei war dürftig viel zu freundlich ausgedrückt. Es war grottenschlecht. Uruha neben mir verdrehte die Augen und tätschelte meinen Oberschenkel. „Das wird schon!“ „Klar! Immerhin habe ich es nach zwei Monaten endlich geschafft vier Akkorde hintereinander zu spielen. Wenn das kein Fortschritt ist.“ Hallo Sarkasmus, da bist du ja wieder! Kairi kicherte leise und zuckte mit den Schultern. „Dann kann es ja nur noch bergauf gehen, oder?“ Uruha, der bemerkt hatte, dass mir das Gesprächsthema an die Nieren ging, lenkte das Gespräch erfolgreich in eine andere Richtung, indem er Makoto nach seiner Arbeit fragte. Er warf mir nur einen kurzen Blick zu, den ich mit einem aufmunternden Lächeln erwiderte. Er sollte sich deswegen keine Sorgen um mich machen. Natürlich war es im Moment nicht angenehm für mich dauernd daran erinnert zu werden, dass wir wegen meiner Unfähigkeit noch nicht auf der Bühne stehen konnten. Aber ich gab mir Mühe und solange die anderen an mich glaubten würde alles wieder in Ordnung kommen.
 

„… und wenn die beiden nicht artig sind steckst du sie ins Bett!“, beendete Kairi die Ansprache an ihre Schwester, die sich dazu bereit erklärt hatte den Babysitter zu spielen und mit den Jungs zu Hause zu bleiben, während wir uns auf den Weg zum Tempel machten. Eisig kalte Luft empfing mich, als ich nach draußen in die Dunkelheit trat. Da Uruha und ich noch unsere Mäntel aus dem Auto holen mussten, beschlossen die anderen bereits vor zu gehen. Während ich meinen Schal um den Hals wickelte und meinen Mantel zuknöpfte übergab Uruha seiner Schwester noch den Geschenkkorb, den die drei für ihre Eltern gekauft hatten. Dann kam er mit großen Schritten die Einfahrt hinunter und hielt mir auffordernd seine Hand hin. Ohne darüber nachzudenken ergriff ich sie und zusammen liefen wir los, damit wir noch rechtzeitig beim Tempel ankamen. Von weitem sahen wir bereits die Menge, die sich um die große Glocke drängte. Da wir beide keine Lust hatten uns trotz Mütze und Schal vor etwaigen Fans in Sicherheit zu bringen, blieben wir etwas abseits auf einer Anhöhe stehen. „Siehst du deine Leute?“, fragte ich und stellte mich auf die Zehenspitzen um etwas sehen zu können. Uruha schüttelte den Kopf. „Nein, dazu sind viel zu viele Menschen hier. Vermutlich werden wir sie erst zu Hause wieder sehen. Ist aber nicht so schlimm, solange du hier bei mir bist!“ Neckend grinste ich ihn an. „Du bist so ein … Wie hat Chirac-san dich heute genannt? Warte … ich hab‘s gleich …“ Uruha warf mir einen Blick zu, der vermutlich drohend sein sollte, was ich aber gekonnt ignorierte. Dazu machte es gerade viel zu viel Spaß ihn aufzuziehen. „Ach ja … alter Schmeichler!“ Das Lachen verging mir recht schnell wieder, wurde zu einem überraschten Aufschrei, als Uruha seinen Arm hob und mit stoischer Miene an einem über uns hängenden Ast zog. Eine ganze Schneeladung prasselte auf uns beide nieder. Ich schüttelte mich und begann den Schnee abzuklopfen. „Oh … verdammt … ist das kalt!!“, wimmerte ich, als der Schnee in meinem Nacken schmolz und mir eiskalt über den Rücken lief. „Selbst schuld. Du hättest aufhören sollen, als du noch die Gelegenheit dazu hattest!“ Ich warf ihm einen gespielt bösen Blick zu und seufzte leise, als er seine Arme einfach um meine Taille legte und mich wieder in einen Kuss zog. „Langsam … könnte ich mich wirklich daran gewöhnen.“ Mir war nicht bewusst, dass ich es laut ausgesprochen hatte, bis er mir über den Rücken streichelte und seine Arme fester um mich schlang. „Ja? Das wäre schön!“ Dieser Idiot! Warum schaffte er es, dass mir schon wieder ganz warm wurde. Waren es die Worte? Die Art, wie er sie aussprach? Oder die Tatsache, dass er mich fest an sich zog und nicht gewillt schien mich aus der Umarmung zu entlassen. Ich war selbst überrascht, als mir klar wurde, dass ich das auch gar nicht wollte. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und meine Arme um seine Taille.
 

So blieben wir stehen, bis der Schlagknüppel die Glocke traf. Ihr dunkler, singender Ton übertönte die Gesänge und Gebete der Mönche. Mein Herz begann schneller zu schlagen, während der vibrierende Ton langsam wieder abklang. Selbst als der Gesang das dunkle Beben wieder übertönte, hallte es immer noch in mir nach. Kurz vor Mitternacht erklangen in ganz Japan die Joya no kane, die Silvesterglocken. Das Glockenspiel ist genau mit 108 Schlägen festgesetzt. Durch die Schläge sollen die 108 Leidenschaften, welche man im Laufe des alten Jahres angesammelt hat, vertrieben werden. So soll der Geist des Menschen frei werden und ohne Lasten und Sünden in das neue Jahr hinübergehen. Es war ein schönes Gefühl mit ihm hier zu stehen und sich um nichts Sorgen machen zu müssen. Dieses Jahr würde bald vorbei sein und das Neue kam bereits mit großen Schritten auf uns zu. Der Klang der Glocke schwoll wieder an, durchdrang mich, ließ mein Innerstes erzittern, während das Glockenspiel weiter gespielt wurde. Alle Schutzwälle, die ich aufgebaut hatte schienen bei diesem Klang zusammenzustürzen. Die Klangwellen durchfluteten mich und spülten alle Ängste und Zweifel fort.
 

Ich blieb stumm in Uruhas Armen, als die Menschen um uns herum die Götter anriefen bevor die Glocke zum letzten Mal ertönte. „Zehn … neun … acht … sieben … sechs … fünf … vier … drei … zwei … eins …“ Tausende Luftballons mit Wunschkarten für dieses Jahr erhoben sich in die Lüfte. „Ein fröhliches neues Jahr“, wünschte ich dann, was Uruha mit einem strahlenden Lächeln erwiderte. Ich sah zu, wie die Luftballons in den Himmel stiegen und fortgetragen wurden. Wie es wohl wäre sich nur vom Wind leiten zu lassen? „Yuu?“ Ich blinzelte, sah zu Uruha auf und verlor mich in den unendlichen Tiefen seiner Augen. Er hob seine Hand und streichelte mit den Fingerrücken über meine Wange. Seine Berührung war so sanft, als hätte er Angst mich zu zerbrechen. „Das letzte Jahr bestand aus zahlreichen schweren Prüfungen. Wir haben sie gemeistert, zusammen. Ich bin mir nicht sicher, ob du das hören möchtest oder ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist…“ Er schluckte hart. „… aber ich … Yuu … ich liebe dich! Ich will dich nicht wieder verlieren!“ Gott … dieser verdammte Kerl brachte mich beinahe zum Weinen! Ich öffnete meine Lippen um etwas zu erwidern, aber ich bekam keinen Ton heraus. „Yuu, du musst nichts antworten, ich … wollte es dir nur sagen“, murmelte er heißer, als ich mich wieder in seine Arme schmiegte. Gut … das war gut. Ich hätte nicht gewusst, was ich antworten sollte.
 

Wir blieben noch eine Weile stehen und genossen die Nähe des anderen. Doch als die Kälte in unsere Leiber kroch bummelten wir langsam zurück nach Hause. Seine Familie wartete dort bereits auf uns und begrüßte uns fröhlich. Nara drückte uns beiden ein Sektglas in die Hand. Im Wohnzimmer, in das wir uns zurückgezogen hatten um zu plaudern damit wir die beiden Jungs nicht weckten, wurden schließlich noch Schüsseln mit verschiedenen Speisen herumgereicht. Uruha freute sich sehr darüber, dass ich mich im Kreise seiner Familie so wohl fühlte, was sein zufriedenes Grinsen bewies. Ich saß neben ihm auf der Couch und fuhr auf der Rennbahn der Jungs ein Rennen gegen Uruhas Vater und Makoto, die sich beide herrlich ärgerten. „Verdammt noch Mal, Aoi! Ich dachte ihr habt so ein Zeug nicht zu Hause stehen?“, fluchte Makoto. „Haben wir auch nicht! Oder meinst du wir haben in unserem Wohnzimmer eine Rennautobahn aufgestellt? Heutzutage gibt’s Computerspiele.“, antwortete ich grinsend, während ich erneut als Erster im Ziel ankam. Uruha schmunzelte leicht und schüttelte den Kopf. „Du scheinst mit diesem Controller besser zurecht zu kommen!“ „Soll das eine Anspielung auf meine nicht sonderlich rumreichen Autorennen auf Kais Konsole sein?“, hakte ich nach und gähnte leise. „Oh … Entschuldigung!“ „Sollte es“, stimmte er mir zu und versuchte erfolglos ein Gähnen zu unterdrücken. Dafür, dass wir beide wenig Schlaf bekommen hatten, hatten wir bisher recht lang durchgehalten. Nun aber entschuldigten wir uns und schlichen in Uruhas Zimmer. Neben dem großen Bett war ein Futon aufgebaut, auf den ich mich sinken ließ, bevor Uruha es tun konnte. Ich sah deutlich die Missbilligung in seinem Blick. „Hör zu … ich bin hier nur Gast und der Futon reicht für mich vollkommen. Das ist dein Schlafzimmer, also leg dich nicht mit mir an und verzieh dich ins Bett!“, meinte ich streng, als er anscheinend mit mir diskutieren wollte. Er hob nur eine Augenbraue, gab sich dann aber geschlagen. Er wartete noch, bis ich mich hingelegt hatte und löschte das Licht. „Es war ein schöner Abend, danke Uruha“, murmelte ich nach einer Weile. Ich war mir nicht sicher, ob er es noch gehört hatte oder ob er schon schlief. Doch kurz bevor mich der Schlaf übermannte hörte ich ein leises ‚Schlaf gut und träum von mir!’.
 

Das Dröhnen eines Motors ließ mich langsam wach werden. Es war dunkel um mich herum. Wo war ich? Warum konnte ich nichts sehen? Es schien zu regnen. Ich hörte, wie die schweren Regentropfen aufs Dach fielen. Stimmen drangen an mein Ohr. Sie waren jedoch so leise, dass ich nicht verstand, was sie sagten. Dennoch versuchte ich angestrengt die Worte aufzuschnappen. „Alles in Ordnung?“ Ich zuckte zusammen, als mich jemand so unvermittelt ansprach. Es war Uruhas Stimme, da war ich mir ganz sicher. Er klang besorgt. Im selben Moment leuchtete ein schwaches Licht auf, das sein Antlitz erhellte. Nur spärlich, aber ich konnte ihn sehen. Ich nickte leicht. „Kopfweh …“ Das war meine Stimme gewesen. Die Stimmen wurden wieder leiser, so als würde ich unter Wasser getaucht werden. Ich verstand nicht mehr, worüber wir sprachen. Die Dunkelheit wallte wieder hoch und verschluckte ihn. Mit einem Mal begann ich zu zittern. Angst erfasste mich, verwandelte sich in blanken Horror. Gott, was ging hier vor? Wo war Uruha? Warum konnte ich ihn nicht mehr sehen?! „Uruha?“ Flehend. Ich wollte nicht alleine sein. Ich brauchte ihn! Er durfte mich nicht im Stich lassen. „Uruha!!“ Die Dunkelheit erdrückte mich, nahm mir die Luft zum Atmen. Die Angst schnürte mir die Kehle zu. „KOUYOU!“ Ich schrie seinen Namen. Hoffte, dass er mich finden würde und mich endlich aus dieser Dunkelheit führte. „Aoi!“ Seine Stimme kam von weit weg. Unruhig sah ich mich um. Plötzlich flackerten zwei gleißend helle Lichter auf. Sie blendeten mich. Der Migräneanfall kam wie aus dem Nichts. Ich stöhnte und schloss die Augen. „Verdammter Trottel, schalt das Fernlicht aus!!“ Uruha fluchte. Dann ertönte seine Stimme wieder. Panik schwang darin mit. „YUU BREMSEN!!!“ Schreie. „Aoi!“ Das Kreischen der Bremsen. „Aoi!“ Ein Krachen. „Aoi!!!“
 

Nach Atem ringend fuhr ich aus dem Traum hoch. „Aoi? Hey … schh … es war nur ein Traum! Nur ein Traum! Es ist alles in Ordnung!“ Uruha kniete neben mir auf dem Futon und streichelte mir beruhigend über den Rücken, als ich mich zitternd an ihn lehnte. Seine Berührungen taten gut, erdeten mich, während ich versuchte meinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu bringen. Immer noch hielt mich die Angst fest umklammert. Todesangst. Was war das für ein Traum gewesen? Es hatte sich so real angefühlt. Meine Augen tränten. Mein Kopf pochte heftig. Eine Weile blieben wir wortlos sitzen, bis Uruha sich langsam von mir löste und mich musterte. „Rede mit mir. Was war los?“ Ich kuschelte mich fester an ihn. „Was ist?“ Mein Blick begegnete seinem. „Ich … kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich … weiß nur, dass ich riesige Angst hatte. Gott … ich hatte noch nie solche Panik! Aber … aber ich weiß nicht …“ Er nickte nur verständnisvoll und streichelte mich beruhigend weiter. „Schon gut. Soll ich dir was zu trinken holen? Einen Tee? Einen Saft? Wasser?“ Abwehrend schüttelte ich den Kopf. „Nein, danke! Es geht schon wieder. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“ Ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. „Aber das ist doch überhaupt nicht schlimm. Hauptsache es geht dir wieder gut. Das tut es doch, oder?“ Mit einem leisen Seufzen lehnte ich mich gegen ihn und nickte leicht. Ja, jetzt wo sich mein Herzschlag wieder beruhigte und er mich festhielt ging es besser. „Versuch wieder einzuschlafen.“ Seine Stimme war leise, sanft als er für mich zu singen begann. Die Sicherheit, dass er hier bei mir war ließ mich wieder zur Ruhe kommen.
 

Heftige Kopfschmerzen rissen mich aus dem Schlaf. Ich blinzelte träge und drückte meinen Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel, um dem Schmerz Herr zu werden. Ich musste unbedingt eine Tablette nehmen, sonst würden die Kopfschmerzen zu einer Migräne ausarten. Mein Blick ging zu Uruha hinüber. Er saß neben mir und sah aus dem Fenster. Ich hörte eine Stimme. Meine? Mir war nicht bewusst, dass ich ihn angesprochen hatte. Uruha sah müde und recht blass aus, aber wir waren gleich zu Hause. Dort würde er sich ausruhen können. Er zuckte zusammen als ein Wasserschwall gegen die Fensterscheibe spritzte. Draußen war es dunkel, die Straße nass. Es regnete in Strömen. Die Lichter der Straßenlaternen spiegelten sich im Wasser und wurden grell zurückgeworfen. Die Scheibenwischer kratzten rhythmisch über die Frontscheibe und versuchten das Wasser zu verdrängen. Zwischen uns dehnte sich die Stille aus, bis Uruha sich zu mir drehte und mich besorgt musterte. „Alles in Ordnung?“ Ich wusste, dass ich etwas antwortete, konnte aber nicht hören, was es war. Mein Blick richtete sich wieder auf die Straße, welche plötzlich abfiel. Wir fuhren auf eine Unterführung zu. Der schwarze Schlund öffnete sich. Ich schrie, als die Dunkelheit uns verschluckte, klammerte mich panisch am Lenkrad fest. Orange Lampen. In der Dunkelheit flackerte ein warmes, oranges Licht. Doch es erhellte die Umgebung nur spärlich. Vor uns erstrahlte ein weiterer Lichtkegel, erfasste die regennasse Straße und die grauen, trostlosen Wände. Grauen erfasste mich. Mein Atem stockte, mein Puls begann zu rasen. Meine Kopfschmerzen wurden schlimmer. Mein Blick verschwamm. Ich konnte nichts mehr klar erkennen. Plötzlich blitzten zwei grelle Lichter auf. Als hätte er darauf gewartet explodierte der Schmerz hinter meiner Stirn. Er ließ meinen Körper erstarren, unterwarf sich ihn. Ich konnte nicht mehr reagieren, konnte mich nicht bewegen. Ich versuchte dagegen anzukämpfen und verlor! „Verdammter Trottel, schalt das Fernlicht aus!!“ Uruhas Stimme inmitten der Dunkelheit. „YUU BREMSEN!!!“ Schreie. Jemand schrie. Das Kreischen der Bremsen! Das Geräusch von sich verbiegenden Metall. Angst! Schreckliche Angst. Aber nicht um mich. Meine Sorgen galten nur einer einzigen Person: Kouyou. Ich hatte Kouyou umgebracht.
 

„NEIN!“ Wieder saß ich aufrecht auf dem Futon. Zitternd hob ich meine Hand und wischte die Tränen weg, die mir über die Wangen liefen. Ein unkontrollierbares Schluchzen brachte meinen Körper zum Beben. Uruha schien mich dieses Mal nicht gehört zu haben. Das Licht ging nicht an, was die unterschwellige Furcht in mir weiter entfachte. Immer noch zitterte ich. Aber wie auch zuvor konnte ich mich an keine Einzelheiten des Traums erinnern. Wieder schluchzte ich auf und drückte meinen Unterarm gegen die Lippen um Uruha nicht zu wecken. Mir war kalt, so furchtbar kalt. Ich fühlte mich so alleine, so einsam. Ich brauchte ihn! Trotz meiner Versuche mich zu beruhigen schlug mein Herz nach weiteren endlosen Minuten immer noch viel zu schnell. Die Schatten wurden länger, dehnten sich aus, griffen nach mir. Sie wollten mich verschlingen, mich in die Abgründe meines Alptraums katapultieren. Zitternd erhob ich mich und krabbelte zu Uruha aufs Bett. Vorsichtig schmiegte ich mich an ihn und spürte, wie ein Teil meiner Angst nachließ als ich seine Wärme spürte. „Aoi?“ Seine Stimme klang müde. Er streckte seinen Arm aus. Das Licht ging an. „Oh mein Gott, was ist passiert?“ In seinen Augen spiegelte sich das Entsetzen wieder, das in mir tobte. Sofort zog er mich in seine Arme, was nur wieder dazu führte, dass ich haltlos zu weinen begann. Er hielt mich fest, fragte nicht nach, was passiert war. Er war einfach da, redete beruhigend auf mich ein und schenkte mir seine Nähe.
 

„Nein!! Nicht weggehen! Lass mich nicht alleine!“ Wieder stieg die Panik in mir hoch, als er aufstehen wollte. „Schh … Yuu es ist alles in Ordnung. Beruhige dich!“ Wieder zog er mich in seine Arme und blieb eine Weile so mit mir sitzen. „Du legst dich jetzt hin und ich koche uns beiden eine Tasse Tee. Danach wird es dir besser gehen.“ Ich kuschelte mich unter seine Decke und sah zu, wie er in den Bademantel schlüpfte und das Zimmer verließ. Ich verstand mich nicht. Dieser Traum … Warum konnte ich mich nicht daran erinnern? Was war geschehen, dass ich wach wurde und vor Schock zu weinen begann? Als Uruha mit einem Tablett den Raum betrat fuhr ich erschrocken zusammen. Ein Blick auf den Wecker zeigte mir, dass er 7 Minuten weg gewesen war. 7 Minuten und 34 Sekunden. Er stellte es auf dem Nachttisch ab und setzte sich zu mir aufs Bett. Sofort rutschte ich zu ihm hinüber und schmiegte mich an seine Brust. Er hielt mir eine Tasse hin. Stille senkte sich über uns, als wir am Tee nippten. „Kannst du dich an den Traum erinnern?“ Er sah mich wieder mit diesem besorgten Blick an. „Nein … nein, kann ich nicht. Ich … ich weiß nur, dass es schlimmer war als zuvor! Da war etwas … ich kann es immer noch spüren. Diese Angst …“ Wieder erfasste mich ein Zittern. „Ganz ruhig, Yuu. Es war nur ein Traum. Versuch dich zu entspannen. Ich bin hier!“ Tatsächlich gelang es mir langsam ruhiger zu werden. Der Tee trug auch seinen Teil dazu bei, aber vermutlich lag es daran, dass ich mich in Uruhas Armen einfach sicher und geborgen fühlte. „Kann ich … bei dir schlafen?“ Uruha sah mich zuerst etwas überrascht an, nickte dann aber zustimmend. „Natürlich darfst du bei mir schlafen!“, antwortete er schließlich. Es überraschte mich nicht. Er war immer so lieb zu mir. Uruha griff nach meiner leeren Teetasse und stellte sie zur Seite. Dann schaltete er das Licht aus und ich kuschelte mich an seine Brust. Er legte einen Arm um mich, zog mich an sich und plötzlich spürte ich seine Lippen an meiner Stirn. „Ich bin da, versuch noch ein bisschen zu schlafen! Dir kann nichts passieren. Ich passe immer auf dich auf.“

Kapitel 28

~Uruha POV~
 

Ein ungewohntes Gewicht auf meiner Brust, ließ mich am Morgen die Augen aufschlagen. Müde richtete ich meinen Blick nach unten und musste unwillkürlich lächeln. Aois Kopf lag auf meiner Schulter, sein Arm an meinem Bauch. Ein friedliches Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er sich enger an mich kuschelte. Wenigstens hatte er die restliche Nacht durchgeschlafen und war nicht wieder von Alpträumen geplagt worden. So aufgelöst hatte ich ihn bisher nur ein Mal gesehen und das war vor zwei Wochen gewesen, als ich Idiot die Unterführung benutzt hatte. Während ich meinen Gedanken nachhing streichelte ich über seinen Oberarm. Ein leises Murren entkam ihm, was mich zum Lachen brachte. Er blinzelte träge. „Hey mein Schatz! Na? Bist du endlich aufgewacht?“ Er machte keine Anstalten sich zu bewegen, sondern schloss die Augen wieder. „Was denn? Bekomm ich keinen Guten-Morgen-Kuss? Wie langweilig!“ Eigentlich hatte ich nur vor gehabt ihn ein bisschen zu ärgern. Umso erstaunter war ich, als er sich streckte und mir wirklich einen Kuss auf die Lippen hauchte. „Guten Morgen!“ Seine Stimme hörte sich noch müde an, etwas kratzig. Er kuschelte sich wieder an mich und seufzte leise. „Kou? Für gestern … danke!“ Ich schüttelte meinen Kopf. „Nicht dafür!“ Seine Finger begannen kleine Kreise auf meine Brust zu malen, während er sich nachdenklich auf die Unterlippe biss. Dann hob er seinen Blick wieder um mich anzusehen. „Ich habe lange nachgedacht Kouyou. Auch über die Dinge, die du gestern beim Tempel zu mir gesagt hast.“ Dieser Dummkopf. Hatte er etwa die ganze Zeit gegrübelt? War er deshalb so ruhig gewesen? Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mein Liebesgeständnis erwiderte. Er war noch nicht so weit. Zärtlich ließ ich meine Finger über seine Wange streicheln. „Du musst nicht darauf antworten, das weißt du?“ „Fall mir nicht dauernd ins Wort! Es fällt mir schon schwer genug darüber zu sprechen, wenn du mich nicht unterbrichst!“, moserte er und funkelte mich wütend an, was mich dazu brachte meine Lippen fest aufeinander zu pressen. Er seufzte leise und setzte sich auf. Dann griff er nach meiner Hand und sah mir wieder in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick, wusste aber nicht, was ich davon halten sollte. So war er doch noch nie drauf gewesen.
 

„Du bist unglaublich Kou, weißt du das eigentlich?“ Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Du bist immer für mich da gewesen. Seitdem ich in diesem Krankenhaus aufgewacht bin, warst du immer an meiner Seite. Ich weiß, dass es dir oft sehr schwer gefallen ist.“ Ich wollte ihn unterbrechen, wollte ihm sagen, dass er nicht so einen Blödsinn daherreden sollte, aber sein wütender Blick vorhin erschien wieder vor meinem inneren Auge und ließ mich stocken. „Du hast dich selbst immer hinten angestellt. Es ging dir immer nur um mich! Natürlich habe ich mitbekommen, wie deine Gefühle für mich aussehen. Ich wusste es seit dem Moment, als du mir im Krankenhaus gesagt hast, dass wir ein Paar wären. Ich … Es tut mir so leid.“ Aoi stockte und schluckte trocken. Was meinte er? Wovon sprach er? Was tat ihm leid? Meine Finger schlossen sich fester um seine Hand, nicht bereit dazu ihn gehen zu lassen. „Ich … ich war mir so lange unsicher. Ich wusste nicht ob ich das gleiche für dich empfinden könnte! Aber … je mehr Zeit ich mit dir verbringe, desto mehr sehne ich mich danach noch mehr Zeit mit dir zu verbringen. Es ist nie genug!“ Er begann meinen Handrücken zu streicheln und erwiderte meinen Blick ernst. „Ich fühle mich so … lebendig, wenn du in meiner Nähe bist! Wenn ich dich ansehe, dann ist das Einzige an das ich denken kann, dass ich dich küssen will! Das ist doch nicht etwas, das Freunde füreinander empfinden! Es tut mir so leid, dass ich so blind war und dir damit wehgetan habe.“ Er leckte sich über die Lippen und atmete leicht zitternd aus. „Ich möchte es versuchen. Ich möchte wissen wie es ist mit dir zusammen zu sein. Kouyou … ich …“ Sein Blick war fest, als er meinen erwiderte. „… ich glaube ich liebe dich!“
 

Glück. Unsagbares Glück durchflutete mich. Wie lange hatte ich darauf gewartet, dass er diese Worte sagte? Diese drei kleinen Worte, die ich seit über einem halben Jahr so schmerzlich vermisste. Ich wusste, dass er sie ernst meinte. Er wich mir nicht aus, erwiderte meinen Blick ernst, bis ihn etwas, zu einem hinreisenden Lächeln verlockte. Ich hob seine Hand an meine Lippen und hauchte einen Kuss auf die Fingerknöchel. „Meine Gefühle kennst du ja schon. Aber ich sage es dir gerne immer und immer wieder. Ich liebe dich, Yuu Shiroyama! Ich habe dich immer geliebt und ich werde dich immer lieben! Ich werde dich nie mehr wieder gehen lassen! Du weißt doch schon längst, dass du zu mir gehörst!“ Ich konnte den eindeutigen Besitzanspruch in meiner Stimme nicht verbergen. Ich hatte meine Eifersucht so lange zurückgestellt. Jetzt brach sie aus mir heraus. Ein angenehmer Schauer durchströmte mich, als er sich langsam zu mir hinüberbeugte. Kurz bevor sich unsere Lippen zu einem zärtlichen Kuss trafen glaubte ich seine Stimme zu hören. Und verdammt noch mal, er sagte ja!
 

Wieder fing ich seine Lippen zu einem sanften Kuss ein, der unsere Worte nur noch einmal bestätigte. Ich vergrub meine Finger in seinen Haaren und drehte mich mit ihm, sodass ich nun auf ihm lag und ihn auf die Matratze drückte. Aoi allerdings schien das nichts auszumachen. In seinen Augen blitzte Verlangen auf, als er sich hochstemmte und mich erneut küsste. Es war, als wären alle Barrieren und Schranken seit gestern Abend weg. Ihn nun endlich wieder berühren zu dürfen war so schön! Unser Kuss änderte sich, wurde intensiver, hitziger. Sein leises Keuchen im Ohr streichelte ich über seine Brust, während sich meine Zunge mit seiner duellierte. Meine Finger umfassten seinen Oberschenkel, streichelten langsam nach oben zu seinem Hintern, während ich ihn leicht anhob, sodass er den Rücken durchstrecken musste. Aoi schlang seine Arme um mich und zog mich wieder zu sich hinunter. Das Klopfen an der Zimmertür ließ mich hochfahren. „Ja?“, rief ich, während ich versuchte meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. „Kommt ihr zum Essen hinunter?“ Auch Aois Brustkorb hob und senkte sich schnell. Ich streichelte über die weiche Haut an seinem Hals und stellte erfreut fest, dass er davon eine Gänsehaut bekam. „Merk dir, wo wir waren! Wir machen später weiter“, flüsterte ich ihm ins Ohr und biss in sein Ohrläppchen. Laut erwiderte ich: „Ja Mama, wir sind gleich da!“ Ich küsste ihn wieder und erhob mich schließlich, was ihm einen unwilligen Laut entlockte.
 

Als wir eine halbe Stunde später mit feuchten Haaren das Speisezimmer betraten, saßen beinahe alle am Tisch. „Na ihr beide? Habt ihr gut geschlafen?“ Meine Mutter lächelte liebevoll und schenkte uns beiden Kaffee ein, bevor sie wieder in der Küche verschwand um mit meinem Vater zusammen das Essen vorzubereiten. Aoi hob die Tasse auch gleich an seine Lippen um einen Schluck zu trinken. Ich beobachtete ihn dabei und begann zu schmunzeln. „Hey Brüderchen! Du strahlst ja regelrecht, ist da gestern Nacht noch was zwischen euch gelaufen?“ Ich verschluckte mich an meinem Kaffee und begann zu husten. Mein Freund lächelte gutmütig und klopfte mir auf den Rücken. „Nara! Selbst wenn es so wäre, ginge es dich nichts an!“ Solche Kommentare war ich eigentlich eher von meiner anderen Schwester gewohnt. Apropos… „Wo ist denn Kairi?“ Makoto saß immerhin bereits am Tisch. Ich hatte sofort seine Aufmerksamkeit, als ich den Namen meiner Schwester aussprach. „Keiji hat sich die halbe Nacht übergeben und hat Fieber. Sie sieht gerade nach ihm.“ Ach verflucht! Der arme Kleine! „Und Shinji?“ „Der hatte gerade einen Tobsuchtsanfall, weil er keinen Schokoriegel zum Frühstück bekommt und ist deshalb in seinem Zimmer!“ Ach ja die neuen Erziehungsmethoden. Jetzt gab es nicht mehr einen Klaps auf den Hintern sondern Einzelarrest im Zimmer. „Guten Morgen alle zusammen!“ Kairi betrat mit Keiji auf dem Arm das Esszimmer. „Wenn man vom Teufel spricht…“ „… dann kommt er!“, ergänzte ich Naras Satz und grinste, als Kairi uns mit hochgezogenen Augenbrauen ansah und Keiji auf ihrer Hüfte zurechtrückte. Der Kleine hatte ganz rote Wangen vom Fieber und sah ziemlich groggy aus. Müde kuschelte er sich an seine Mama.
 

„Mama ich hab Hunger!“ Shinji stand an der Tür und lugte vorsichtig ins Zimmer. Er schien sich nicht ganz sicher zu sein, ob er aus der Haftstrafe entlassen worden war oder nicht. „Dann komm rein und setz dich auf deinen Platz!“ Makoto zog den Sessel für ihn zurück, damit er sich setzen konnte und sah dann zu Keiji, den Kairi in den Hochstuhl setzte. Eine viertel Stunde später hatte ich meinen Kopf auf die Hand gestützt und sah zu, wie Keiji sein Essen auf dem Teller verteilte, während Kairi und Makoto ihn zu ermuntern versuchten es wenigstens zu probieren. Allerdings war der Erfolg eher mäßig. Mein Neffe weigerte sich vehement dagegen. „Hast du nicht gehört? Mama hat gesagt, dass du was essen musst, du Dummi!“, motzte Shinji dann und noch bevor jemand eingreifen konnte, hatte er Keiji eine Kopfnuss verpasst, was diesen dazu brachte lautstark loszuheulen. „Du sollst deinen Bruder nicht hauen!“, schimpfte Makoto und klopfte Shinji auf die Finger. Nun schien also die Haftstrafe zugunsten der Prügelstrafe aufgehoben worden zu sein. Shinji sah Makoto aus großen Augen an und gleich darauf begann auch er mit dem Gebrüll. Ich kam mir vor, wie im Irrenhaus. Auch Aoi sah nicht gerade glücklich aus. Das Geheule der Kleinen wurde nur noch lauter, als Kairi versuchte sie zu beruhigen. Aoi hob langsam eine Hand an seine Schläfe und begann sie mit leichtem Druck und kreisenden Bewegungen zu massieren. Sein Blick war aber immer noch auf die vier gerichtet. „Shinji! Hör auf zu weinen! So weh kann das gar nicht getan haben!“ Mein Versuch ihn dazu zu bekommen sein Gejammer abzustellen scheiterte kläglich. Er schien aus Trotz nur noch lauter zu kreischen. „Keiji, Schatz hör auf zu weinen!“, bettelte Kairi.
 

Ich spürte wie Aoi sich neben mir immer mehr anspannte. Verflucht. Vermutlich bekam er von dem ganzen Gebrüll auch noch Kopfschmerzen. Ich wollte ihm gerade vorschlagen raus zu gehen, als er bestimmt seinen Kopf hob und mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, sodass das Geschirr klirrte. „RUHE JETZT!!“ Alle Blicke richteten sich auf ihn. „Shinji runter vom Stuhl und hör mit dem Geschrei auf, sonst stecke ich dich höchstpersönlich in dein Zimmer! Und ich schwöre dir, dass du den restlichen Tag dort verbringen wirst!“ Shinji schien so erschrocken darüber, dass Aoi mit ihm schimpfte, dass er tatsächlich ganz still wurde und sich auf seinen Sessel setzte. Keiji weinte immer noch und streckte seine Ärmchen aus. Aber es war nicht Kairi, zu der er wollte, sondern ganz eindeutig zu meinem Freund. Aoi atmete tief durch und erhob sich um den Kleinen mit einem Feuchtigkeitstuch die dreckigen Händchen abzuwischen und ihn dann hoch zu heben. Er setzte sich wieder neben mich und hielt ihn sanft fest, während sich Keijis Fingerchen fest an sein T-Shirt klammerten. Kurz darauf war nur noch ein leises Wimmern und Aois beruhigende Stimme zu hören. Er schaffte es sogar den Knirps zu überreden ein bisschen was zu essen. Kairi sah ihn nur überrascht an. „Ich weiß zwar nicht wie du das gemacht hast aber wow … ich nehme Unterricht bei dir! Wenn du nicht schon einen Job hättest, würde ich dich glatt als Babysitter einstellen!“ Ich begann leise zu lachen. Das konnte ich mir gerade irgendwie nicht vorstellen, auch wenn Aoi schon immer einen guten Draht zu den beiden gehabt hatte.
 

„Es ist für dich und Aoi wirklich in Ordnung beide Jungs zu nehmen?“, fragte Kairi zum gefühlt hundertsten Mal, als sie ihre Stiefel anzog. Shinji stand hinter mir und hielt sich an meinen Jeans fest. „Ich mag bei Onkel Uruha bleiben! Ich mag nicht mit in den Tempel! Das dauert immer soooo lange und es ist langweilig!“, moserte er und sah seine Mutter vorwurfsvoll an, was mich zum Schmunzeln brachte. Dieser kleine Giftzwerg hatte es wirklich in sich! „Keiji darf auch dableiben!“ Ich reichte ihr ihre Jacke und sah zu ihm hinunter. „Keiji ist erstens krank und zweitens noch zu klein um mitzugehen. Du bist aber eigentlich alt genug!“ Normalerweise konnte man Shinji mit dieser Aussage recht leicht ködern. Es gefiel ihm der Ältere zu sein. Heute allerdings schien ihm das gar nicht recht zu sein, denn er wirbelte herum und versteckte sich hinter Aoi, der gerade mit Keiji auf den Armen aus dem Speisezimmer kam und sich zu uns gesellte. Mit vor Fieber glänzenden Augen und roten Wangen kuschelte sich der Kleine an meinen Freund und hielt sich, wie auch schon die letzte halbe Stunde, an seinem T-Shirt fest. Keiji war gar nicht mehr von Aoi weg zu bekommen. Auch Aoi schien ganz vernarrt in ihn zu sein. Der Kleine hatte es geschafft ihn in kürzester Zeit um den Finger zu wickeln. „Onkel Aoi! Sag, dass ich hier bleiben darf!“, jammerte Shinji und sah ihn flehend an. „Ich bin auch ganz brav!“ „Ach? So wie vorhin?“ Shinjis Blick war göttlich. Aber ich merkte, dass es langsam zu viel wurde, da seine Augen schon verdächtig glänzten.
 

„Du weißt doch ganz genau, dass wir das früher auch nicht mochten. Einmal hast du dich sogar unter deinem Bett versteckt, in der Hoffnung nicht mit zu müssen!“, erinnerte ich meine Schwester und sah zu, wie sie den Reißverschluss des Mantels hoch zog. „Und geholfen hat es mir trotzdem nicht!“ Ich lachte leise und nickte. „Ich bin froh die beiden mal wieder zu sehen. Ich hab von ihnen ja kaum etwas, weil wir die ganze Zeit unterwegs sind.“ Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. „In Ordnung!“ Shinji johlte zufrieden und hüpfte vor Freude auf und ab. „Aber wenn ich höre, dass ihr euch nicht benommen habt, gibt’s Ärger!“ Sie sah die beiden Jungs streng an. Shinji hörte auf zu hüpfen und nickte brav. Keiji zog seine Finger aus dem Mund und wank Kairi zu. „Tschüss Mama!“ Kairi beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Tschüss Keiji, brav sein!“ Er nickte zustimmend und hielt sich wieder an Aoi fest. „Na danke auch. Es ist wirklich klasse, wenn du mir deine Spucke ins T-Shirt reibst!“, murrte er, was ihm von Keiji einen verwirrten Blick und von mir ein Grinsen einbrachte. „Bis später dann!“ Kairi griff nach Makotos Hand und zog gleich darauf die Haustür hinter sich zu.
 

Ich seufzte leise. Endlich war die ganze Meute ausgeflogen. Das hatte auch lange genug gedauert. Mütter, sage ich da nur! Aoi strich Keiji durch die Haare und sah ihn aufmerksam an. „Wollen wir einen Film gucken?“, fragte er ihn leise. „Jaaaa!!!“ „Shinji! Du wurdest nicht gefragt!“, maßregelte ich ihn streng. Aber was solls? Dann war zumindest Shinji etwas beschäftigt und ließ seinen Bruder in Ruhe. Keiji nickte leicht. „Onkel Aoi auch!“ Auf Aois Lippen erschien ein sanftes Lächeln. „Natürlich gucke ich mit.“ Shinji war kaum mehr zu halten. Er stürmte ins Wohnzimmer und als wir den Raum betraten hatte er die Fernbedienung schon in der Hand. Aoi ließ sich im Schneidersitz auf die Couch nieder und zog Keiji an sich, sodass er zwischen seinen Beinen saß und sich an ihn kuscheln konnte. Als Aoi gestern hier rein kam und vor den Kindern zurückgewichen war, hatte ich wirklich für einen kurzen Moment Angst gehabt. Als er Shinji damals kennengelernt hatte, hatte er auch so reagiert. Er hatte den Kleinen nicht einmal halten wollen. Allerdings war er ihm mit der Zeit wirklich ans Herz gewachsen. Bei Keiji war es nie ein Problem gewesen. Er kannte den Kleinen ja seitdem er auf der Welt war. Es war nur gut, dass Shinji und Keiji nicht mitbekommen hatten, was in ihm vorging. In diesem Fall war es schön, dass sie Kinder waren. Jetzt saß Aoi mit ihnen hier, kuschelte mit Keiji (obwohl er krank war) und verwies Shinji in seine Schranken, wenn es notwendig wurde. Und seltsamerweise hörten die beiden Fratzen auf jedes Wort, das er sagte.
 

Ich blieb neben dem Sofa stehen und nahm Shinji die Fernbedienung ab. „Was wollt ihr denn sehen?“ Damit begann ich langsam die Filme durchzugehen, die auf der Festplatte gespeichert waren. „Das da!“, rief Shinji dann. Aoi begann leise zu husten. „Dein Neffe hat ja einen tollen Geschmack, Uruha. Nur blöd, dass das sicher nichts für Kinder ist!“ Ich sah die DVD Hülle am Bildschirm immer noch an und musste schmunzeln. Nein, definitiv nichts für Kinder! Die beiden waren sich aber recht schnell einig, was sie sehen wollten. Ich startete den Film und verschwand dann noch mal in der Küche um eine Karaffe mit Saft und Becher zu holen. Ich stellte alles auf dem Wohnzimmertisch ab und setzte mich dann neben Aoi. Kaum dass ich saß spürte ich auch schon, wie sich jemand an mich kuschelte. Shinji! Der Kleine warf Aoi, der sich auf die Seite gelegt hatte und nun mit Keiji kuschelte, über meine Beine hinweg einen vorsichtigen Blick zu. Er biss sich auf die Unterlippe und sah dann zu mir hoch. „Ist Onkel Aoi immer noch sauer?“, fragte er dann leise, so als hätte er Angst, Aoi könnte es hören. „Hat er mich denn nicht mehr lieb?“ Ich konnte nicht umhin zu lächeln. Sanft zog ich ihn an mich und drückte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Natürlich hat er dich lieb, du Dummerchen!“ Ich spürte, wie Shinji sich an mich kuschelte und die Beine anzog. „Aber du warst vorhin nicht brav, hast Keiji gehauen, Mama und Papa geärgert und Onkel Aoi mit deinem Geschrei Kopfschmerzen bereitet. Deshalb hat er mit dir geschimpft! Aber das heißt doch nicht, dass er dich deshalb nicht mehr lieb hat. Mama und Papa schimpfen doch auch mit dir und trotzdem haben sie dich lieb, oder?“ Shinji nickte vorsichtig und schielte zu Aoi hinüber, der den Kopf gedreht hatte und uns ansah. „Komm her!“, sagte er dann nur. Zwei Worte und doch bedeuteten sie für Shinji anscheinend die Welt, denn er begann zu strahlen und krabbelte zu Aoi hinüber. „Hmpf!!“, entkam es ihm, als Shinji sich halb auf ihn legte und sich an ihn kuschelte. „Entschuldige“, flüsterte der Kleine. Aoi streichelte ihm über den Rücken. „Ist in Ordnung, Shinji. Aber das nächste Mal brüllst du bitte nicht so herum! Ich weiß, dass du Mama und Papa helfen wolltest, aber man haut seinen Bruder nicht und herumgeschrieen wird auch nicht!“ Shinji nickte wieder. „Ich hab dich lieb!“ Ich spürte, dass Aoi neben mir erstarrte. Dann legte er seinen Arm um Shinji und nickte. „Ich dich auch!“

Kapitel 29

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Kapitel 30

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Kapitel 31

~Aoi POV~
 

Das glückliche Lächeln, das sich während des Duschens auf meine Lippen geschlichen hatte verschwand augenblicklich, als ich unser Schlafzimmer betrat. Meine Augen weiteten sich ungläubig. Das Bettzeug lag verstreut auf dem Boden, die Kommode und der silberne Kerzenhalter waren umgekippt und die Bilderrahmen schienen von den Wänden gefegt worden zu sein. Generell sah es aus als hätte hier in meiner Abwesenheit ein Orkan getobt! Uruha schien, Gott sei Dank, nichts passiert zu sein. Er stand, mit dem Rücken zu mir, vor dem Kleiderschrank und riss zusammen mit einem Pullover, den er hastig in eine schwarze Sporttasche schmiss, noch andere Kleidungsstücke aus dem Regal. Entgeistert sah ich ihm dabei zu, bis mir mit Entsetzen klar wurde, dass er gerade seine Sachen zusammenpackte. Er wollte gehen!! Benommen taumelte ich ins Zimmer, blieb aber in der Mitte des Raumes stehen, als mir bewusst wurde, dass hier überall Glasscherben herumlagen. Verdammt, was war hier los!? „Uruha?“ Obwohl meine Stimme nur ein Wispern war, zuckte er zusammen, als hätte ich ihm ins Ohr geschrien und erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Muskeln verkrampften sich. Ein leises Schluchzen war zu hören. Seine Schultern bebten. Er weinte! Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. „Schatz, was ist los?“ Besorgt musterte ich ihn. Angst stieg in mir hoch. Warum war er so durch den Wind? Er gab mir keine Antwort, sondern schob einen Stapel Socken und einen grauen Hoodie in die Tasche. Ärgerlich wischte er sich über die Augen, so als verwünschte er sich dafür zu weinen – vor mir zu weinen.
 

„Kouyou? Sprich mit mir! Was ist passiert?“ Mir wurde langsam schlecht. Was war geschehen? Wir hatten doch gerade noch gekuschelt und verdammt tollen Sex gehabt! Warum packte er jetzt seine Sachen? Warum weinte er? Vorsichtig stieg ich über die Scherben und streckte meine Hand nach ihm aus. Kaum hatten meine Fingerspitzen seine Schulter berührt fuhr er zusammen und wirbelte herum. „Fass mich nicht an!!“ Erschrocken stolperte ich zurück. Seine Gefühle spiegelten sich sichtbar für die ganze Welt auf seinem Gesicht wider: Wut, Hass, Verzweiflung, Schmerz. Tränen schimmerten in seinen Augen, liefen über seine Wangen und tropften strahlend, wie Diamanten, zu Boden. Die Beklemmung in meiner Brust wuchs. „A...aber Uruha! …“ „Verschwinde! Lass mich in Ruhe!“ Wieder streckte ich meine Hand nach ihm aus. „Kouyou was ist denn los? Warum bist du … so?“ „Hau ab!“ Er wich mir geschickt aus und zerrte den Reißverschluss der Tasche zu. Dann stieg er über das Bett und stürmte zur Tür hinaus. „KOUYOU!“ Ich wirbelte herum und lief ihm hinterher. Ein sengender Schmerz durchfuhr mein Bein. „AU!“ Mir stockte der Atem. Schmerzenstränen stiegen in meine Augen. Scheiße, ich war in eine Scherbe getreten. Hastig wischte ich die Tränen mit dem Ärmel weg und humpelte durchs Wohnzimmer in den Flur. Zum Heulen hatte ich jetzt keine Zeit. Uruha war ins Badezimmer gelaufen und fegte mit seinem Unterarm die ganzen Duschsachen, die Schminkutensilien und seine Parfums in die Tasche. „Kouyou! Was ist denn los? Rede mit mir!“ Er ignorierte mich immer noch, bewegte sich aber schneller. „Verdammt was ist denn!? Habe ich was falsch gemacht? Hat … hat dir der Sex nicht gefallen? Hättest du lieber noch kuscheln wollen? Gott Kouyou bitte!“ Die Panik in meiner Stimme war kaum mehr zu überhören.
 

Mit einem Ruck drehte er sich zu mir um. Sein Blick war vernichtend. Ich erschauderte. Noch nie hatte ich diese Kälte in seinen Augen gesehen. In dem Moment wusste ich, dass etwas Gravierendes passiert sein musste. Bisher hatte er oft seine Macken gehabt. Aber niemals war die Wärme aus seinem Blick verschwunden. Jetzt fühlte ich mich, als würden mich eisige Stacheln durchbohren. „Lass mich vorbei!“ Ungläubig sah ich ihn an. Das war alles, was er sagte? Keine Erklärung? Nichts? „Wenn du mich schon aus heiterem Himmel verlassen willst, dann möchte ich auch einen Grund dafür haben! Was ist passiert? Was ist los mit dir? Warum bist du so wütend?“ Ein heißeres, humorloses Lachen hallte im Badezimmer wider. „Du willst einen Grund? Mit welchem Recht?“ Was sollte diese Frage? Hatte ich nicht jedes Recht dazu? „Ich will dich verstehen! Ich will wissen was los ist! Warum willst du gehen? Warum so plötzlich? Hast du nicht immer gesagt, dass du mich liebst?“ Seine Unterlippe begann zu zittern. Die Tränen liefen wieder über seine Wangen. Er wirkte noch blasser als sonst. Seine Finger verkrampften sich. Sein ganzer Körper bebte. Ich spannte mich an, wollte zu ihm gehen, ihn tröstend in den Arm nehmen. Aber ich zügelte mich. Er würde mich nicht lassen. „Du bist so ein heuchlerisches Arschloch!“ Diese Worte, so leise sie auch waren, fühlten sich an als würde er mir einen Dolch in die Brust rammen. „Aber … Kou …“ Auch meine Augen begannen zu brennen. Die aufsteigenden Tränen schnürten mir die Kehle zu. „Lass mich vorbei!“ Heftig schüttelte ich den Kopf. „Nein!“ Ich musste mich dazu zwingen nicht vor ihm auf die Knie zu fallen und ihn anzuflehen endlich wieder normal zu sein. Der Mann zu sein, der er bisher immer gewesen war. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er sah aus, als wollte er am liebsten auf mich losgehen.
 

„Geh. Mir. Aus. Dem. Weg!“ Er betonte jedes Wort einzeln. Die offensichtliche Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Ich zuckte zusammen. Dennoch blieb ich im Türrahmen stehen. „Nein! Ich will, dass du es mir erklärst! Bitte!“ Er griff nach dem erstbesten Gegenstand, den er in die Finger bekam und schleuderte ihn auf mich zu. Ich konnte der Haarbürste nur um Haaresbreite ausweichen. Entsetzt starrte ich ihn an. Er hatte das Ding ohne zu Zögern geworfen, hatte in Kauf genommen mich zu verletzen! „Ein Grund? Du willst einen Grund? Ich bin wochenlang, nein, monatelang an deinem Krankenbett gesessen. Ich hab deine Hand gehalten, mit dir gesprochen und zu allen Göttern gebetet, die ich kenne, dass du wieder gesund wirst und auf die Beine kommst. Ich bin dagesessen als jeder die Hoffnung aufgegeben hat. Ich war für dich da, als du aufgewacht bist, hab dich gepflegt, als du noch nicht alleine zurecht kamst! Ich hab alles für dich gemacht! Alles!!!“ Seine Stimme war immer lauter geworden. Mittlerweile schrie er mich an. In seinen Augen blitzte sengend heiße Wut auf. Von dem verletzten, traurigen Blick war nichts mehr zu sehen. „Und was macht mein toller „Freund“ sobald er die Gelegenheit dazu bekommt?“ Die Anführungszeichen waren nicht zu überhören. Er spie das Wort förmlich aus. „Er lügt mich an und hurt herum!“ Bei der offensichtlichen Anschuldigung versteinerte ich. Fassungslos starrte ich ihn an. „Warum wirst du jetzt so blass? Hast du geglaubt ich wäre so dämlich und komm nicht drauf?“ Konfus schüttelte ich den Kopf. „Nein … Kouyou nein … ich … ich habe nie-“ „Spar dir deine Ausreden! Ich will sie gar nicht hören.“ „Aber Kouyou-“ „Verdammt noch Mal hör auf zu lügen! Die ganzen Nachrichten auf deinem Handy sagen doch alles!!“ Nun funkelte ich ihn wütend an. „Was zum Teufel hast du an meinem Handy zu schaffen?“ Die Frage kam viel zu scharf. Das merkte ich noch in dem Moment, in dem ich sie aussprach.
 

Uruhas Augen weiteten sich. Dann drehte er verletzt den Kopf zur Seite und presste die Lippen zu einem harten Strich zusammen. Er schniefte leise und wischte sich grob über die Wangen. Eine Entschuldigung lag mir auf den Lippen. Eigentlich hatte ich ihn nicht so anfahren wollen. Doch Uruha gab mir keine Gelegenheit mehr dazu. Mit schnellen, festen Schritten kam er auf mich zu und schob sich entschlossen an mir vorbei. Automatisch krallten sich meine Finger in seinen Pullover, versuchten ihn festzuhalten. Ich wusste, wenn er jetzt ging, wäre alles vorbei. „Kouyou! Bitte nicht! Bitte lass uns reden!“ „Reden? Es gibt nichts mehr zu reden!“ Mit einem wütenden Zischen riss er sich von mir los. Der Stoff glitt aus meinen Fingern. Ich taumelte. „AHH!“ Ein heißerer Schmerzensschrei entkam mir. Scheiße, ich war mit dem falschen Fuß aufgetreten. Als mein Kopf aufhörte zu klingeln bemerkte ich, dass ich auf dem Fußboden saß. Uruha stand mitten im Flur, schien mit sich zu kämpfen, ob er zu mir kommen und mir helfen sollte, oder nicht. Doch dann verdunkelte sich sein Blick. Er griff nach seiner Jacke, warf sich die Tasche über die Schulter und lief zur Tür. Hastig versuchte ich aufzustehen, doch mein Bein gab nach. „KOUYOU! Nicht!! Wo willst du denn überhaupt hin!?“ „Als ob dich das interessieren würde!“ Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Er drückte die Klinke hinunter, während ich erneut versuchte auf die Beine zu kommen. „Kou!! Bitte nicht! Geh nicht! Lass mich nicht alleine! … Ich liebe dich doch!!!“ Der Blick, den er mir über die Schulter zuwarf, brannte sich tief in mein Gedächtnis. Er war so voller Trauer und Schmerz. „Lügner!“
 

Mit einem leisen Klicken fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Die Sekunden verstrichen, wurden zu Minuten, in denen ich nur verstört auf die geschlossene Wohnungstür starrte. Mein Verstand weigerte sich zu akzeptieren, dass er tatsächlich gegangen war. Immer noch wartete ich darauf, dass er wieder rein kam und mir erklärte, dass er sich nur einen verdammt schlechten Scherz erlaubt hatte. Erst nach und nach wurde mir bewusst, was gerade wirklich passiert war. Er hatte mich verlassen! Ich schluckte hart. Mein Blick verschwamm. Wie hatte das alles so plötzlich kippen können? Warum war es so aus dem Ruder gelaufen? Ein heftiges Zittern erfasste mich. Kalt. Mir war plötzlich so kalt. Es schien als hätte er alle Wärme mitgenommen, als er ging. Sein Blick tauchte wieder vor meinem inneren Auge auf. Die Ablehnung die darin gestanden hatte tat so weh. Leise Schluchzer brachen aus mir heraus. Die Tränen fühlten sich siedend heiß an, als sie über meine kalten Wangen rannen. Der Schmerz, der sich in meiner Brust ausbreitete erschwerte mir das Atmen. Schützend schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper. Meine Finger verkrampften sich im Stoff des Bademantels. Das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen nahm Überhand. Ich zog meine Beine an und lehnte mich an die Wand, während ich versuchte wieder normal zu atmen. Wie lange ich auf dem Boden saß und mich meiner Verzweiflung hingab, weiß ich nicht mehr. Irgendwann schaffte ich es jedoch mich vom Boden aufzuraffen, ins Wohnzimmer zu taumeln und mich dort aufs Sofa zu verkriechen. Selbst wenn das Schlafzimmer nicht verwüstet wäre, könnte ich nicht ohne ihn in unserem Bett schlafen. Die Tränen versiegten erst, als ich vor Erschöpfung einschlief.
 

„Danke, dass du mich gefahren hast!“ Ru-chan sah zu mir auf und beugte sich vom Fahrersitz zu mir hinüber um mir durch die Haare zu wuscheln. Ihr gefiel das Pink. „Kein Problem, Süßer! Ich hätte dich ja schlecht mit ner Glasscherbe im Fuß zum Arzt laufen lassen können!“ Sie lächelte mich an und hielt mir meinen Mantel hin. Als ich die Knöpfe endlich geschlossen hatte und zu ihr sah bemerkte ich, dass ihr Blick nachdenklich auf mir lang. „Du siehst wie gerädert aus! Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Yuu? Vielleicht hättest du dich doch krankschreiben lassen sollen?“ Obwohl mir eher zum Heulen zumute war begann ich zu lächeln. Sie hatte Recht. Ich sah zum Fürchten aus. Selbst die Schminke konnte nicht vertuschen, dass ich kaum geschlafen und mir die halbe Nacht die Augen aus dem Kopf geheult hatte, was einerseits an den Alpträumen und andererseits an Uruha lag. Ich hätte gleich reinen Tisch machen müssen. Ich hätte Uruha alles genau erklären müssen. Vielleicht hätte er mir dann verzeihen? „Hast du wirklich keine Lust frühstücken zu gehen? Ich lade dich auch ein!“, unterbrach sie meine Gedankengänge. Entschlossen schüttelte ich den Kopf und sah am Gebäude hoch, in dem sich unser Proberaum befand. Ich brachte es einfach nicht übers Herz die Jungs erneut zu enttäuschen. Außerdem hoffte ich darauf, dass Uruha, pflichtbewusst, wie er nun mal war, auch arbeiten würde. Gestern war er viel zu aufgebracht gewesen um mir zuzuhören. Aber heute würde er mich anhören müssen. Er würde es mich erklären lassen müssen. Wenn er danach immer noch der Ansicht war mich nicht zu wollen, dann konnte ich nichts dagegen tun. Aber ich wollte wenigstens auch meine Sicht der Dinge erklären. „Also, danke nochmals!“ Ich beugte mich zu ihr hinüber und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Ihr leises Lachen war im Inneren des Autos zu hören. „Wie schon gesagt: Kein Thema. Sehen wir uns später?“ Ich hatte bereits meine Hand am Türöffner, als ich mich zu ihr umdrehte. „Heute vermutlich nicht mehr. Aber ich melde mich, ja?“ Sie warf mir eine Kusshand zu und nickte. „Klar. Du weißt, wie du mich erreichst. Bis dann!“ „Bis dann!“ Damit stieg ich aus dem Wagen. Ich sah noch zu, wie sie vom Parkplatz fuhr und atmete tief durch.
 

Als ich die Treppenstufen zu unserem Proberaum hinaufstieg, bekam ich ein ungefähres Gefühl davon, wie Heinrich IV sich beim Gang nach Canossa gefühlt haben musste. Ich wurde immer unruhiger je näher ich der Tür kam. Meine Handflächen begannen zu schwitzen. Mein Puls erhöhte sich. Die Hoffnung, dass Uruha hier wäre, wich der Angst was passierte, wenn ich durch die Tür trat. Meine Finger zitterten, als ich sie nach der Türklinke ausstreckte. Langsam drückte ich sie hinunter und öffnete die Tür. „… jemand von euch wo Aoi ist?“ Die Nennung meines Namens ließ mich innehalten. „Keine Ahnung. Ist mir auch scheißegal. Von mir aus kann er auch gern ganz wegbleiben!“ Uruhas harte Worte ließen mich zusammenzucken. Der Schmerz in meiner Brust flammte erneut auf. „Uruha!“ Ruki klang entrüstet. „Nach allem, was er mit Uruha abgezogen hat versuchst du ihn noch zu verteidigen?“ Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen wie wütend Reita den Vocal nun anfunkelte. Er war der perfekte Beschützer – vor allem wenn es um Leute ging, die er gerne hatte. Ein leises Schniefen war zu hören, was meine Brust enger werden ließ. „Mann, Uruha! Es tut mir leid!“ Die Stimme des Bassisten war sofort weicher geworden. „Schhh~ … bitte nicht weinen!“ „Dieser verdammte Idiot!“ Uruhas Stimme brach. „Ich versteh das einfach nicht! Warum macht er so was?! Wie kann er mich ansehen und mir sagen, dass er mich liebt, wenn er gleichzeitig …“ Der Rest des Satzes ging in einem leisen Schluchzen unter, das mir den Rest gab. Tränen stiegen mir in die Augen. „Ich will ihn nie wieder sehen!“ Ruki stöhnte leise. „Wie soll das denn funktionieren? Ihr seid beide in derselben Band! Ihr solltet miteinander reden, Uruha!“ „Was soll das noch bringen, Ruki? Diese SMS’ waren nicht falsch zu verstehen!“ Reita antwortete an Uruhas Stelle. „Was wollt ihr dann machen? Ihn aus der Band werfen?“ Stille kehrte im Raum ein. Ich war wie erstarrt. Warum sagte niemand etwas?
 

„Das ist nicht euer Ernst, oder?!“, fragte der Sänger aufgebracht. „Naja um ehrlich zu sein wäre das etwas, was wir in Betracht ziehen könnten.“ „Sowas sollte die letzte Option sein, Reita! Aoi ist ein vollwertiges Mitglied von Gazette. So gern ich dich auch habe Uruha, wir können ihn nicht rauswerfen, nur weil ihr beide euch streitet!“ „Streiten!? Er hat ihn betrogen, verdammt noch Mal!“, fauchte Reita zurück. „Ich würde ihn auch nicht wieder sehen wollen, wäre ich an Uruhas Stelle!“ Er war wohl wirklich der Einzige, der sich gerne mit Ruki anlegte. Dieser hustete leise und räusperte sich dann. „So unmoralisch Aois Taten auch waren, gibt es uns nicht das Recht ihn aus der Band zu werfen. Außerdem war genau das der Grund warum das Management uns interne Liebschaften verboten hat!“ Langsam ließ ich die Türklinke los und wich einen Schritt zurück. „Es ist nicht nur das, Ruki!“ Kai seufzte abgrundtief. „Wir können nicht noch länger darauf warten, dass Aoi endlich wieder in die Gänge kommt. Das Management hat mir die Pistole an die Brust gesetzt. Entweder wir stehen in zwei Monaten wieder auf der Bühne, oder sie verlängern unsere Verträge nicht! Dann war’s das mit Gazette!“ Betroffene Stille breitete sich aus. Wieder wich ich einen Schritt zurück, dann noch einen und noch einen. Immer noch lag mein Blick ungläubig auf der Tür und gleichzeitig konnte ich erkennen wie mir alles, was ich mir aufgebaut hatte wie Wasser durch die Finger rann. Ich wollte nicht durch meinen Egoismus derjenige sein, der die Band zerstörte. Die vier liebten dieses Leben. Wie könnte ich dann erwarten, dass sie es für mich aufgeben würden? Auch die dämliche Idee wieder mit Uruha zusammen zu kommen war nicht realisierbar. Er hatte das doch alles nur für mich getan, weil er gehofft hatte, dass der Aoi zu ihm zurückkam, den er kannte. Aber dieser Mensch war ich nicht mehr. Schon lange nicht. Mir wurde immer klarer, dass wir uns nur etwas vorgemacht hatten. Jetzt war das Spiel vorbei. Endgültig. Ich musste aufhören mich an die Vergangenheit zu klammern. Jetzt war der Zeitpunkt, an dem sie endgültig vorbei war. Jemand rempelte mich an. Ich taumelte. Erschrocken sah ich auf, als man mich am Ellenbogen festhielt, damit ich nicht fiel. Saga. „Hoppala! Hi Aoi, willst du nicht rein gehen?“ Er ließ mich los, als er merkte, dass ich mich wieder gefangen hatte. „Hallo Saga … i-ich … n-nein …“ Damit drehte ich mich um und hastete die Treppe wieder nach unten. „Aoi?! Hey!“
 

Ich lief den ganzen Weg zu unserer Wohnung zu Fuß. Die kalte Luft schmerzte in meinen Lungen, überdeckte aber den tiefen Schmerz in meiner Brust nicht, der sich immer weiter ausdehnte. Hektisch holte ich den Schlüssel aus meiner Jackentasche und schloss die Tür auf. Damit ich nicht schon wieder in eine Scherbe trat, ließ ich die Schuhe an, als ich durch die Wohnung lief. Im Schlafzimmer angekommen, holte ich den großen Koffer hervor und begann meine Sachen zusammenzupacken. Mein Handy fand ich schließlich auf dem Fußboden. Auf dem Display wurden mehrere Anrufe und Nachrichten von Ruki und Kai angezeigt. Ich löschte sie ohne nachzusehen, was die beiden wollten. Ein Gefühl der Leere erfasste mich, als ich ein letztes Mal durch alle Räume schlenderte um nachzusehen, ob ich etwas vergessen hatte. Im Wohnzimmer angekommen fielen mir die Fotoalben ins Auge. Langsam zog ich eines aus dem Regal und schlug es auf. Meine Kehle brannte von den unvergossenen Tränen, als ich die Fotos durchblätterte. Sie waren Zeugnisse aus glücklichen Zeiten. Aus Zeiten, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte. Als ich das Album wieder zurückstellte hatte ich drei Bilder in der Hand. Eines von der Band, eines von Uruha, Keiji, Shinji und mir und eines auf dem Uruha und ich uns küssten. Vorsichtig packte ich sie zu meinem Reisepass und dem Geld in die Laptoptasche, die ich umgehängt hatte. Als es klingelte fummelte ich den Haustürschlüssel vom Schlüsselbund und legte ihn auf die Kommode. Mein letzter Blick galt den Gitarren im Musikzimmer. Wehleidig streichelte ich über die Saiten einer E-Gitarre mit schwarzem Korpus, nahm den Klang ein letztes Mal in mir auf und verließ den Raum wieder. Ich ließ sie alle hier. Mit diesen Instrumenten konnte ich nichts mehr anfangen. Mit einem leisen Ächzen hob ich die beiden Koffer hoch, trat aus der Wohnung und zog die Tür hinter mir ins Schloss. Dann fuhr ich mit dem Lift nach unten, wo mich der Taxifahrer bereits erwartete. Er half mir dabei mein Gepäck in den Kofferraum zu hieven und nickte nur, als ich ihm sagte, dass ich zum Narita Airport wollte. Ich lehnte mich an die geöffnete Tür und sah ein letztes Mal zu dem Haus hinauf, indem Uruha und ich in den letzten vier Jahren gelebt hatten. Dann stieg ich ins Taxi und starrte abwesend nach draußen, als wir durch Tokyo fuhren.
 

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ Die dunkle, tiefe Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich wusste nicht wie lange wir schon auf dem Weg waren. Tokyo lag aber bereits hinter uns. Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Sicht erneut verschwommen war. Fahrig wischte ich mir über die Augen und versuchte die Tränen wegzublinzeln. Der Abschiedsschmerz war wirklich höllisch. Niemals hätte ich mir gedacht, dass ich so sehr an dieser Stadt und diesem Leben hier hängen würde. Vor allem, weil ich mich nur an die letzten paar Monate erinnern konnte. „Entschuldigung … Ja, es geht mir gut!“, erwiderte ich. Sein Blick strafte meine Worte Lügen. Aber ich würde einem Fremden sicher nicht meine gesamte Lebensgeschichte erzählen – zumindest den Teil, an den ich mich erinnern konnte. „Hier!“ Verblüfft sah ich den Fahrer an, als er mir auffordernd einen Pappbecher hinhielt. Wie automatisch griff ich danach und hielt ihn fest. Er fühlte sich warm an. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht einmal mitbekommen hatte, dass wir an einer Tankstelle Halt gemacht hatten. „Ich hoffe Sie mögen Kaffee?“ Es war das erste Mal, dass ich ihn wirklich ansah. Silberne, glatte Haare. Strahlend blaue Augen. Gebräunte Haut. Obwohl sein Gesicht vom Alter gezeichnet war, wirkte er jung, was vermutlich an seinem aufmunternden Lächeln lag. Ich konnte nicht anders als es zu erwidern. „Ja, vielen Dank!“ Er nickte, startete den Motor wieder und fuhr weiter. Mein Blick ging wieder nach draußen. Meine Gedanken drifteten ab. Der warme Kaffee tat mir gut, wärmte mich auf. Ich hatte nicht gespürt, dass mir kalt war. „Wir werden zirka noch 30 Minuten brauchen. Wann geht Ihr Flug?“ Ich sah zu ihm nach vorne und zuckte mit den Schultern. „Weiß ich noch nicht.“ Er warf mir über den Rückspiegel einen überraschten Blick zu. „Sind Sie eine der Personen, die sich ihr Urlaubsziel anhand der Abflugtafeln aussuchen?“ Obwohl mir eigentlich nicht danach war, lachte ich leise. „Nein. So spontan bin ich doch nicht. Ich fliege nach Hause. Vom Narita Airport gehen täglich mehrere Inlandsflüge zum Chubu Airport in Nagoya.“ „Ah also sind Sie aus Nagoya?“ „Nein eigentlich aus Mie. Aber der Flughafen ist recht nahe an der Präfektur.“ Er nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis und konzentrierte sich wieder auf die Straße.
 

Die restliche Fahrt verlief schweigend. Ich zuckte erschrocken zusammen, als die Tür geöffnet wurde. „Wir sind da!“ Langsam stieg ich aus und warf die Tür zu. Er hatte bereits meine Koffer nach draußen geholt und hielt mir die Rechnung entgegen. Ich warf nur einen kurzen Blick darauf, drückte ihm das Geld in die Hand und griff nach meinen Koffern. „Halt! Sie bekommen doch noch was raus!“ Ich drehte mich im Gehen zu ihm um und schüttelte den Kopf. „Behalten Sie das Restgeld!“ Seine Augen wurden groß. „Aber … aber das ist doch viel zu viel! Das kann ich nicht annehmen!“ „Natürlich können Sie. Es ist ja nicht so, dass ich pleite wäre deswegen!“ Er sah mich zweifelnd an, nickte dann aber. „Noch eine Sache, mein Junge…“ Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. Sein Blick war ernst, als er mich taxierte. „Das Glück tritt gern in ein Haus ein, in dem Frohsinn herrscht. Sie sollten versuchen wieder zu lächeln, egal was in der Vergangenheit passiert ist. Dann wird das Glück wieder zu Ihnen zurückkehren!“ Damit setzte er sich ins Taxi und fuhr davon. Komischer Kauz. Ich sah ihm nach, bis die roten Rücklichter verschwanden. Erst dann betrat ich das Flughafengebäude, in dem es emsig zuging. Leute liefen von einem Ort zum anderen, Flugnummern, Gates und Abflugzeiten wurden durch die Lautsprecher angegeben, Menschen schrien und wanken, als sich wieder eine Tür öffnete und eine Gruppe von Leuten aus der Sicherheitszone in den Aufenthaltsbereich des Flughafens strömte. Ich stellte meine Koffer ab und sah mich etwas überfordert um. Es dauerte eine Weile bis ich den Schalterbereich endlich gefunden hatte. Gott sei Dank war hier aber nicht viel los, sodass ich nicht lange anstehen musste. Eine gelangweilt dreinschauende, Kaugummi kauende Frau in schwarz, blauer Kleidung sah mich auffordernd an, als ich zu ihr an den Schalter trat und meinen Pass hinlegte. „Haben Sie noch Plätze im Flug nach Chubu frei?“ Sie tippte auf der Tastatur herum und nickte dann leicht. „Sie haben Glück. In der Economy Class ist noch etwas frei. Wollen Sie buchen?“ Ich nickte zustimmend. Es war mir ehrlich gesagt egal in welcher Klasse ich saß. „Haben Sie Gepäck?“ Ich sah auf die beiden Koffer neben mir. Naja war doch offensichtlich, oder? Ich wuchtete sie auf das Band, das auch gleichzeitig das Gewicht bemaß. Sie bestückte meine Koffer mit zwei Aufklebern und schon rollten sie nach hinten auf das Gepäcksband. Ich bezahlte und bekam anschließend das Boarding-Ticket ausgehändigt. „Vielen Dank. Falls Sie noch Fragen haben, wenden Sie sich bitte an das Personal!“
 

Da der Flug erst in zwei Stunden ging hatte ich mich, nachdem ich die Kontrollen passiert hatte, auf die Dachterrasse eines kleinen Restaurants zurückgezogen um den Trubel auszusperren. Die Dämmerung brach bereits herein und es wurde kälter. Obwohl ich nur im Pullover draußen stand fror ich nicht. Die Kälte tat sogar gut. Sie betäubte den Schmerz in mir, ließ mich ruhiger werden. Mein Handy zeigte mir mehrere Nachrichten von Ruki und Kai an. Vermutlich, weil ich nicht zur Probe erschienen war. Bevor ich mich darum kümmern würde, musste ich noch etwas Anderes erledigen. „Ja hallo?!“ Überrascht riss ich die Augen auf. „Nami bist du das?“ „Yuu-chan?“ Ein leises Lachen drang durch die Leitung zu mir. „Hey Brüderchen! Was bewegt dich dazu anzurufen?“ „Ich dachte, ich hätte zu Hause angerufen“, murmelte ich. „Hast du auch! Ich bin nur zu Besuch bei Mama und Papa. Also, was ist los?“ Ich schluckte trocken. Ihre Stimme zu hören tat gerade so gut. Im Restaurant saßen lachende, sich freuende Leute. Familien, Freunde, Pärchen. Sie so glücklich zu sehen, hatte mir nur noch mehr weh getan, da mir immer bewusster wurde, dass ich dabei war alle Verbindungen zu meiner Vergangenheit hier in Tokyo zu kappen. „Yuu?“ Ich schüttelte den Kopf und versuchte mich auf das Gespräch zu konzentrieren. „Nami, ich komm nach Hause!“ Ich hörte wie sie nach Luft schnappte und einen Freudenschrei unterdrückte. „Wann?“ „Ich lande um 19:20 Uhr am Chubu Airport. Es wäre toll, wenn-“ „Ich komm dich abholen! Mama und Papa werden sich riesig freuen, dass du kommst! Nimmst du Uruha mit?“ Bei seinem Namen schossen mir wieder Tränen in die Augen. Heftig biss ich die Zähne aufeinander und atmete zitternd ein. Der Schmerz in meiner Brust flammte erneut auf, zwang mich in die Knie. „Nein … nein ich komme alleine.“ Meine Stimme war beinahe ein Flüstern. „Alles in Ordnung?“ „Ja, alles gut. Wir sehen uns später, ja?“ „Klar, bis dann!“ Sie legte auf. Das Tuten im Ohr ließ auch mich das Handy hinunternehmen.
 

Es dauerte ein Weilchen, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Ich fühlte mich ausgelaugt als ich mich gegen das Geländer lehnte und kurz die Augen schloss. Ich wünschte mir die Zeit zurück, in der ich mich in Uruhas Arme geflüchtet hatte, wenn es mir so ging, wie jetzt gerade. Der kalte Wind wirbelte den Schnee auf, der hier draußen lag, riss an meiner Kleidung und an meinen Haaren. Träge öffnete ich meine Augen und starrte in die Dunkelheit der Nacht hinaus. Dann rief ich das Menü auf dem Handy auf und tippte auf den Briefumschlag. Meine Finger waren steif von der Kälte. Wenn ich versuchen würde mich zu erklären, würde ich zusammenbrechen, das wusste ich. Daher schrieb ich nur eine SMS.
 

»Ruki, ich habe lange darüber nachgedacht, wie es nun weitergehen sollte. Ich möchte die Band nicht aufhalten! Deshalb höre ich auf. Ich trete hiermit offiziell aus der Band aus. Bitte sag den anderen, dass es mir Leid tut.«
 

Bei der Schlussformel stockte ich. Was sollte ich schreiben? Auf Wiedersehen? Liebe Grüße? Mach‘s gut? Ich tippte nur meinen Namen darunter und schickte die SMS ab. Kurz darauf begann mein Handy zu klingeln. Zitternd atmete ich aus. Mein Daumen schwebte über dem grünen Hörer. Dann drückte ich Ruki jedoch weg, schaltete das Handy aus und steckte es zurück in die Tasche. Mittlerweile war es auch Zeit, dass ich mich zum Gate begab.
 

Mit dem Bus wurden die Fluggäste zum Flugzeug gefahren. Kaum öffneten sich die Türen strömten die Leute auf die Treppen zu, die zu den Türen des Flugzeugs hinaufführten. Meine Finger krallten sich am kalten Geländer fest. Jeder Schritt war noch schlimmer, als der davor. Ich musste mich zwingen weiter zu gehen. Der Gang im Flugzeug war eng, die Sitze schmal. Als ich schließlich auf meinen Platz sank und mich anschnallte wurde ich schon wieder von meinen Gefühlen übermannt. Jedoch schaffte ich es erfolgreich die Tränen zurückzuhalten. Ich zog die Jacke über mich, um das Zittern in den Griff zu bekommen. Die Lautstärke im Flugzeug nahm zu. Das Gepäck wurde verstaut, die Gepäcksklappen mit einem leisen Klicken geschlossen. Zwei Schülerinnen ließen sich neben mich auf die Plätze fallen. Ich drehte mich weg. Hoffte, dass sie mich nicht erkannten. „Sehr geehrte Damen und Herren. Herzlich willkommen am Bord der ….“ Ich hörte nicht mehr zu, sondern starrte abwesend aus dem Fenster. Während das Flugzeug auf die Rollbahn hinausfuhr und die Stewardessen die Sicherheitsvorkehrungen erläuterten spürte ich wie sich meine Brust schmerzhaft zusammenkrampfte. Der Kummer überwältigte mich. Meine Finger krallten sich fester in die Jacke, zogen sie enger um meinen Körper. Das Dröhnen der Triebwerke wurde immer lauter. Das Flugzeug beschleunigte. Immer stärker wurde ich in den Sitz gedrückt, bis mich plötzlich das Gefühl der Schwerelosigkeit überkam, als wir abhoben. Das Flugzeug ruckelte und schwankte, als es von einer heftigen Windböe gestreift wurde. Dann stieg es ruhig weiter in den nachtschwarzen Himmel. Der Druck erhöhte sich wieder und presste mich zurück in den Sitz. Wie zum Abschied zog das Flugzeug eine lange Schleife über Tokyo. Die hellen Lichter der Stadt strahlten zu mir hinauf. Man konnte die Parks, die Tempel und den Tokyo Tower erkennen. Der Anblick war wunderschön. Uruhas Lächeln erschien vor meinem inneren Auge. Melancholie befiel mich. Dann drehte der Pilot ab und ich ließ die Stadt mit all meinen Erinnerungen hinter mir, als die Dunkelheit das Flugzeug verschluckte.
 

Nach einer Stunde setzte das Flugzeug auf der Rollbahn des Chubu Airports auf. Der Gurt schnitt in meine Hüften als die Schubhebel umgelegt wurden und das Flugzeug abbremste. Es dauerte noch ein Weilchen, bis der Flieger wirklich stand. Dann ging der Trubel wieder los. Die Gepäcksfächer wurden geöffnet und die Leute drängten nach draußen. Ich ließ mir Zeit, wartete ab, bis der größte Tumult zu Ende war und griff erst dann nach meiner Laptoptasche und folgte den Menschen zum Eingang des Flughafens. Zuerst musste ich durch eine Passkontrolle. Das ewige Warten nervte mich. Vor allem, weil ich spürte, wie der allbekannte Druck in meinem Kopf zurückkehrte. Außerdem war ich müde, da ich kaum geschlafen hatte. Ich wollte nur noch nach Hause. Das Gepäck ließ nicht lange auf sich warten und bald darauf hatte ich auch meine beiden Koffer vom Gepäckband gehoben. Hunderte lange, weiße Gänge und weitere hundert Rolltreppen später trat ich endlich in die Ankunftshalle. Ich schaffte es gerade aus dem ärgsten Gedränge rauszukommen als ich meinen Namen hörte. „Yuu!!!“ Ich drehte mich um und konnte nur noch meine Arme aufhalten, als Nami mir auch schon um den Hals fiel. Sie schlang ihre Arme um mich und drückte mich fest. „Oh Gott! Ich bin so froh, dass du endlich hier bist!“ Ich erwiderte ihre Umarmung fest und schloss meine Augen, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Ich hätte noch ewig so stehen können, doch sie löste sich von mir und warf einen Blick über ihre Schulter. Meine Augen weiteten sich, als Kazuya hinter ihr auftauchte. „Hey Kleiner!“ Auch er schlang seine Arme um mich. „Schön dich hier zu haben, Brüderchen!“ Das Gefühl endlich heimgekommen zu sein, geliebt zu werden und willkommen zu sein war so mächtig, dass ich hemmungslos zu weinen begann. Die beiden sahen sich zuerst überrascht an doch dann spürte ich, wie sie die Arme um mich legten.

Kapitel 32

~Uruha POV~
 

„Uruha, sei mir nicht böse, aber hast du nicht langsam genug?“ Ich sah Reita abschätzend von der Seite aus an und grummelte leise. „Nein!“ Er seufzte ergeben, fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch die kurzen, blonden Haare und schüttelte den Kopf. Ich zog meine Beine an, sodass ich im Schneidersitz saß und lehnte mich zurück, bevor ich weiterhin meinem Laster frönte. Er hob die LifeGuard-Dose an seine Lippen, warf mir noch einen prüfenden Blick zu und trank sie leer. Dann zerdrückte er sie und schmiss sie auf den hölzernen Wohnzimmertisch, wo sie mit einem metallischen Scheppern liegen blieb. Das hätte er mal bei mir zu Hause versuchen sollen… Aber da ich mich bei ihm einquartiert hatte, konnte ich schlecht etwas dagegen sagen. Er hatte meinen Blick bemerkt und hob die Augenbrauen. „Was?“ „Nichts!“, antwortete ich und griff erneut nach dem Controller der Playstation. Aoi hätte ihn schon längst dazu verdonnert das Zeug abzuräumen. Aoi. Meine Brust verengte sich. Mein Hals begann zu kratzen und ich spürte schon wieder, wie die Tränen in mir hochstiegen. Egal, was ich machte, ich bekam ihn nicht aus dem Kopf. Immer wieder verglich ich ihn mit allen anderen. Jede noch so kleine Situation im Alltag wurde reflektiert. Dabei wollte ich doch nichts anderes als ihn endlich zu vergessen! Ich schluckte trocken und atmete tief durch, um das Brennen meiner Augen wieder in den Griff zu bekommen. Reita schien meine Reaktion falsch aufzufassen. „Wenn du dich übergibst, werde ich sicher nicht deinen Kopf halten, haben wir uns verstanden?“ Ich ließ den Löffel in die 2-Liter-Box mit dem Stracciatellaeis fallen und sah ihn böse an. „Du hast mir noch nie den Kopf gehalten, wenn ich mich übergeben habe! Das hat immer …“ Aoi gemacht, beendete ich den Satz in Gedanken. Ich biss mir auf die Unterlippe und schluckte hart, während ich meinen Blick fest auf den Bildschirm richtete und verkrampft weiterzockte. Ein leises Seufzen ertönte neben mir. „Uruha … Es tut mir Leid! Ich hab nicht nachgedacht!“ Seine Stimme klang, als würde er sich Sorgen machen. Entschlossen wischte ich mit dem Ärmel über meine brennenden Augen und sah ihn an. „Mach dir keine Gedanken, mir geht’s gut!“ Sein Blick wanderte von der Eispackung über mein Gesicht zum Bildschirm, wo ich mehrere Gegner im Alleingang niedermetzelte. „Klar doch!“ Er glaubte mir nicht.
 

Game Over! Die blutrote Schrift flackerte über den schwarzen Bildschirm. „Verflucht, schon wieder!“ Reita warf seinen Controller zur Seite. „Ich will nicht mehr! Wir spielen doch schon, seitdem wir nach Hause gekommen sind! Und das war vor …“ Sein Blick ging zur Uhr, die über der Tür zum Wohnzimmer hing. „… vier Stunden.“ Es war eigentlich viel zu früh gewesen. Normalerweise arbeiteten wir um die Zeit noch. „Was kann ich dafür, dass der Idiot einfach nicht zur Probe auftaucht? Und das auch noch ohne sich bei Kai zu entschuldigen!“ Obwohl meine Stimme genervt klang, ging es mir nicht sonderlich gut. Um ehrlich zu sein, machte ich mir ernsthafte Sorgen – trotz allem. Aoi war normalerweise nicht der Typ, der, ohne sich abzumelden, weg blieb. Aber andererseits war er auch nicht der Typ, der seinen Partner betrog. Und dennoch hatte er es in den letzten beiden Monaten, in denen wir wieder offiziell zusammen waren, laufend getan. Das konnte ich einfach nicht verstehen. Ich hatte geglaubt, dass er glücklich wäre – mit mir! Diesen Ausrutscher im Club hatte ich ihm ja verziehen. Für ihn waren wir damals nicht zusammen gewesen. Dazu kam, dass er betrunken war. Aber, dass er mit dieser Bitch geschlafen hatte, während er mit mir das Bett teilte, das konnte und wollte ich ihm nicht verzeihen. Es tat so unglaublich weh. Hatte ich ihm nicht gereicht? War der Sex nicht gut genug? Hätte er es auch getan, wenn der Unfall nicht dazwischen gekommen wäre? Hatte er unsere Beziehung schon satt gehabt? Diese Fragen machten mich ganz fertig.

„Uruha?“ Ich zuckte zusammen und sah Reita an. Den hatte ich ganz vergessen! „Was?“ Er hielt mir ein Glas hin. „Trink das!“ Ohne wirklich nachzufragen, was er mir da gerade eingeschenkt hatte griff ich nach dem Glas und leerte es in einem Zug. Ich begann sofort zu husten und schüttelte mich, als sich das Getränk meine Kehle hinunterbrannte. „Was zum Teufel war das denn!?“ Reita schüttelte den Kopf. „Wodka! Aber wenn ich gewusst hätte, dass du das Zeug auf ex schluckst, hätte ich es noch verdünnt!“ „Der schlägt ganz schön ein, wirklich!“, nuschelte ich, als mir ganz schummrig wurde. Mein Blick irrte durch den Raum und blieb auf dem Etikett hängen. Dort stand neben dem, in Goldlettern abgedruckten Wort ‚Wodka‘ auch der Alkoholgehalt. „75%!?“ Reita nickte. Mit einem leisen Stöhnen ließ ich mich zurück in die Kissen fallen.
 

„Ich dachte, er würde dir gut tun und dir helfen dich zu entspannen, damit wir endlich in Ruhe miteinander reden können!“ Obwohl Reita mich bereits mehrmals dazu aufgefordert hatte mit ihm zu sprechen, blieb ich stur. Ich konnte ihm doch nichts über meine Zweifel erzählen. Er würde mich doch auslachen! Ich war ein Kerl, verdammt noch mal. Sich eingestehen zu müssen, dass ich gegen dieses Flittchen verloren hatte, war schon schlimm genug! Dann musste ich es nicht auch noch dem Bassisten auf die Nase binden. „Reden? Worüber denn?“ Er schüttelte ungehalten den Kopf. Natürlich ahnte er, dass ich genau wusste, worüber er reden wollte. Aber ich stellte mich absichtlich dumm und hoffte, dass es ihn abschrecken würde. Reita war nicht der Typ, der gern redete! Vor allem über sich selbst. „Kouyou, wie geht es dir?“ Oh je, jetzt wurde es heikel. Er nannte mich, wie Aoi, nur bei meinem richtigen Namen, wenn es wirklich ernst wurde. „Mir geht’s gut. Es ist alles in Ordnung!“ „Siehst du! Genau das ist dein Problem!“ Erstaunt sah ich ihn an und gab ihm somit die Gelegenheit weiterzusprechen. „Verdammt noch mal, Kou! Du warst beinahe fünf Jahre mit ihm zusammen. Glücklich verliebt, wenn man das so sagen will!“
 

Er machte eine kurze Pause, um sich wieder in den Griff zu bekommen und sprach dann ruhiger weiter. „Seit dem Unfall bist du immer an seiner Seite gewesen, warst für ihn da und hast gehofft, dass er wieder zu dir zurückkommt. Du hast um ihn gekämpft und versucht ihn erneut für dich zu gewinnen. Dann kommst du drauf, dass er dich betrügt und alles ist gut?“ Betreten sah ich auf das Glas hinunter, das ich immer noch in meinen Händen festhielt und nickte mechanisch. Reita stieß ein abfälliges Schnauben aus. Obwohl ich ihn nicht ansah, konnte ich seinen skeptischen Blick auf mir spüren. „Tu dir einen Gefallen und hör auf dich selbst anzulügen! Ich bin nicht blind! Gut ist etwas anderes!“ Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Reita hatte Recht. Es ging mir nicht gut. Dieses Chaos, das in mir herrschte, konnte ich kaum beschreiben. Da waren so viele Gefühle, eingesperrt hinter dem Schutzwall, den ich für andere aufgezogen hatte, damit sie nicht sahen wie es mir tatsächlich ging. Doch wem versuchte ich eigentlich etwas vorzumachen? Reita kannte mich lange und gut genug, um mich zu durchschauen. Dennoch. Ich musste funktionieren, durfte mich nicht den Gefühlen hingeben, die mich quälten. Ich wusste doch selbst nicht, was ich fühlte. Wut? Hass? War ich traurig? Verletzt? Enttäuscht? War ich am Ende noch selbst dran schuld? Was außer Titten hatte sie denn, was ich nicht hatte? Was sprach ihn an ihr an, das ihn an mir nicht ansprach? Ich hatte mich in meinem Körper immer wohl gefühlt. Das bewiesen auch die Strapse, die ich hin und wieder auf der Bühne trug. Ich hatte immer gedacht ich wäre sexy. Doch jetzt war ich mir dessen nicht mehr ganz so sicher. Wieso sonst hätte Aoi mich austauschen und hintergehen sollen?
 

Mit starrem Blick sah ich zum Bildschirm hinüber, auf dem immer noch die rote Schrift leuchtete. Game Over. Treffender hätte ich die Situation, in der ich mich befand auch nicht beschreiben können. Ich hatte gespielt und haushoch verloren. Der Einsatz, Aoi, war für immer unerreichbar geworden. „Uruha! Je länger du es verdrängst, desto schlimmer wird es!“ Ich presste die Lippen hart aufeinander und schlang schützend meine Arme um mich. Seit wann war Reita denn so verdammt aufmerksam? Und warum zwang er mich dazu zu reden? Er war doch damit sonst auch immer zurückhaltender. Mein Glas klirrte, als er mir großzügig Wodka nachschenkte und dabei die Flasche an den Rand hielt, damit nichts überlief. Entschieden schüttelte ich den Kopf. „Du musst mich nicht abfüllen, damit ich rede!“ Dennoch hob ich das Glas an meine Lippen und trank ein paar Schlucke. Das Brennen in meiner Kehle wurde stärker. Aber wenigstens konnte ich es dem Wodka zuschreiben. „Dann mach endlich die Klappe auf und schluck nicht alles hinunter! Wenn du so weitermachst stürzt du dich noch in Depressionen oder sonst was!“ Ich horchte auf. Ach, also darum ging es ihm! Er hatte Angst, dass ich Blödsinn machte. „Jetzt mach mal halblang! Nur weil ich mich von ihm getrennt und ein bisschen geheult habe, heißt das noch lange nicht, dass ich mich gleich die nächste Brücke runterstürze!“ Reitas Blick wurde mit einem Mal düster. „Aber genau das dachte ich, als du gestern hier aufgeschlagen bist, Kou! Weißt du eigentlich, welche Heidenangst du mir eingejagt hast? Du hattest beinahe drei Stunden diesen entrückten Blick drauf und hast gar nicht mitbekommen, dass ich dich gezwungen habe ein Stückchen Pizza zu essen.“ Oh … da war mir tatsächlich etwas entgangen. „Ich habe mitbekommen, dass du kaum geschlafen hast und heute Morgen sahst du eher aus wie der Tod persönlich und nicht wie das strahlende Leben, das du eigentlich verkörpern solltest. Ich dachte du wärst klug genug um damit zu mir zu kommen. Klar, ich mag es nicht über Gefühle zu reden, das weißt du. Andererseits kann ich doch nicht zulassen, dass es dir so dreckig geht.“ Er begann leicht zu lächeln. „Kouyou ich kenne dich doch. Du redest wie ein Wasserfall, wenn dich etwas bedrückt. Warum tust du es nicht jetzt auch? Du musst das nicht alleine durchstehen!“
 

Mein Atem bebte, als ich ausatmete. Die Schutzwälle um mich herum begannen bedrohlich zu wanken, bekamen nach und nach Risse! Diese breiteten sich rasend schnell aus, wurden größer und breiter. So sehr ich es auch versuchte, ich war nicht in der Lage sie zu reparieren und die Wälle zu verstärken. Die Mauern bröckelten. Steine krachten zu Boden, rollten aus und blieben liegen. Übrig blieb eine Ruine, wie mein Privatleben. Obwohl ich dagegen ankämpfte füllten sich meine Augen mit Tränen, welche sich vereinzelt aus meinen Augenwinkeln lösten und über meine Wangen liefen. Verzweifelt versuchte ich sie zurückzuhalten. Ich wollte nicht vor ihm weinen. Doch als er brüderlich seinen Arm um mich legte brach der Damm und ich begann haltlos zu schluchzen. Reita blieb so sitzen, bis ich mich wieder gefasst hatte und sah mich dann ruhig an. „Das war schon lange mal überfällig, wirklich!“ Ich lachte bei seinem trockenen Kommentar kurz auf und wischte mir die Tränen von den Wangen. „Weißt du, was das Schlimmste ist? Diese ständigen Fragen“, murmelte ich und lehnte mich vorsichtig an ihn. „Warum eine Frau? Hätte er sich von mir getrennt, auch wenn der Unfall nicht passiert wäre? Hat er alles nur rausgezögert? Und warum hat er überhaupt etwas mit mir angefangen, wenn er mich nicht wollte!?“ Meine Stimme kippte. Reita musterte mich ernst und schüttelte den Kopf. „Du solltest aufhören dir solche Fragen überhaupt zu stellen. Wenn, dann kann sie nur Aoi beantworten. Ich finde es nicht richtig, wie es gelaufen ist, aber Ruki hat in einem Punkt recht: Wenn du nicht mit dieser Ungewissheit leben möchtest, dann musst du mit ihm sprechen.“ Etwas überrascht runzelte ich die Stirn. Heute Mittag hatte er mich noch verteidigt und gemeint, dass er ihn auch nicht wiedersehen wollte, wäre er an meiner Stelle. Jetzt schloss er sich auf einmal Ruki an? Was war er denn? Ein Fähnchen im Wind? Reita schien meine Gedanken zu erahnen, denn er räusperte sich leise und setzte zum Sprechen an. „Ich hab zu dir gehalten, weil du jemanden brauchtest, der für dich Partei ergreift. Gegen Ruki kommt man nicht so leicht an, wie gegen Kai, wobei unser Leader auch ein verdammt harter Verhandlungspartner ist. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich es nicht auch schon aus diesem Blickwinkel gesehen hätte.“ Ich nahm ein Taschentuch und schnäuzte mich geräuschvoll. Dann knüllte ich es zusammen und atmete durch. „Was genau, würdest du an meiner Stelle machen?“ „Dasselbe wie du! Ich würde zuerst auf Abstand gehen und wenn ich mich beruhigt habe, versuchen mit ihm zu reden.“
 

Mit Aoi zu reden, gehörte sicher nicht zu den Dingen, die ich zu tun gedachte. Das wollte ich ihm auch gerade an den Kopf werfen, als es an der Tür klingelte. Erstaunt sah ich ihn an. Wer konnte das denn sein? Um die Uhrzeit! Der Bassist erhob sich und verschwand nach draußen auf den Flur. Ich hörte, wie der Schlüssel herumgedreht und die Tür geöffnet wurde. Gedämpfte Stimmen drangen zu mir ins Wohnzimmer. Eine hektisch, die andere ruhig und eindringlich. Mir wurde mulmig zumute. Wer war das? Die Stimmen blieben leise, diskutierten noch ein Weilchen miteinander. Dann herrschte kurz Stille und die Tür wurde geschlossen. Mein Blick richtete sich auf die Wohnzimmertür. Doch entgegen meiner Erwartungen kam Reita nicht gleich zurück. Als er nach einigen Minuten immer noch nicht da war beschloss ich nachsehen zu gehen. War er wohlmöglich raus gegangen? Aber warum hatte er mir dann nicht Bescheid gegeben? Ich zog die Decke weg und stellte die Eispackung auf den Wohnzimmertisch. Leise erhob ich mich und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Langsam schob ich sie einen Spalt auf und lugte nach draußen. Im Flur brannte Licht. Erstaunt riss ich die Augen auf. Ruki stand in Mantel und Stiefeln neben der Garderobe, was aber nicht der Grund war, weshalb ich beinahe aus den Latschen kippte. Viel mehr war es die Tatsache, dass Reita seine Arme um den Vocal geschlungen hatte und seine Lippen zu einem hungrigen Kuss einfing. Oh Mann! Ich hatte nicht gewusst, dass die beiden mehr als nur gute Freunde waren. Sie hatten auch nie etwas in der Art angedeutet. Verdammt noch Mal, ich hatte nicht einmal gewusst, dass Ruki auf Männer stand. Dass Reita bi war, war ja schon lange kein Geheimnis mehr. Als der Sänger sich langsam löste und schließlich einen Schritt zurückwich, trat auch ich den Rückweg zur Couch an. Ich wollte sicher nicht dabei erwischt werden, wie ich hinter der Tür stand und die beiden beobachtete. Außerdem schien es nicht gerade so, als ob sie ihre Beziehung zueinander, wie auch immer die aussehen mochte, publik machen wollten. Vielleicht hielten sie sich auch wegen mir zurück. Sie würden schon noch früh genug mit der Sprache rausrücken. Als die beiden gleich darauf das Wohnzimmer betraten sah es so aus, als ob ich mich nie von der Stelle bewegt hätte.
 

„Hallo Ruki!“, begrüßte ich ihn und sah zu, wie er seinen Mantel auszog und ihn über die Lehne eines Sessels hängte. „Uruha.“ Er nickte mir knapp zu und ließ sich auf das Sofa fallen. In dem Moment wusste ich, dass etwas passiert sein musste. Alles an Ruki wirkte irgendwie … niedergeschlagen. Er sah traurig aus, obwohl er sich gab wie immer. „Hier bitte!“ Reita hielt uns beiden jeweils eine große Tasse mit dampfenden Früchtetee hin und stellte dann eine Schnapsflasche und Gläser auf den Tisch. Dankend nahm ich die Tasse an und wärmte mich daran. Auch Ruki schien sie mehr als Wärmequelle zu verwenden, als dass er wirklich den Tee trank. „Taka?“ Ruki fuhr hoch und sah Reita an, welcher den Vocal ernst musterte. Er hatte bereits mehrmals versucht seine Aufmerksamkeit zu erlangen, aber Ruki hatte nicht reagiert. „Was ist passiert? Du stehst vollkommen neben dir!“ Zuerst machte es nicht den Anschein, als würde Ruki auf meine Frage antworten. Doch dann zog er sein Handy heraus, tippte darauf herum und drehte das Display so, dass wir beide lesen konnten. „Aoi hat die Band verlassen!“ Der Satz selbst schlug ein wie eine Bombe. Mein Herzschlag setzte aus. Mir wurde schwindlig. Warum schon wieder dieser Kerl? Wurde ich ihn denn nie los? Während ich zurück in die Kissen sank, riss Reita Ruki mit einem ‚Gib her!‘ das Handy aus der Hand und begann selbst zu lesen. „Bist du dir sicher, dass er das auch durchzieht?“, fragte ich und erschrak in dem Moment vor meiner eigenen Stimme. „Ich hab versucht ihn zu erreichen, aber es geht immer nur die Mailbox ran. Er reagiert auch nicht auf meine SMS.“ Reita gab ihm das Handy zurück und schüttelte den Kopf. „Vielleicht will er nur in Ruhe nachdenken?“ Ruki schüttelte den Kopf und sah mich ernst an. „Ich bin zu euch nach Hause gefahren. Der Hausmeister war so nett mir die Tür aufzusperren.“ Ich fragte mich, was Ruki ihm wohl vorgelogen haben musste, damit ihm die Tür geöffnet wurde. Unser Hausmeister war sonst sehr streng. Wenn er jemanden nicht kannte, ließ er ihn selbst bei Eiseskälte nicht mal im Flur warten. „Seine kompletten Sachen sind weg und der Haustürschlüssel lag auf der Kommode.“ Zum Beweis ließ Ruki ihn vor meiner Nase baumeln. Sofort streckte ich die Hand aus und griff danach. Tatsache! Es war unser Haustürschlüssel! Ich runzelte die Stirn. Aoi war also wirklich gegangen. Aber ich wusste nicht, ob ich darüber glücklich oder traurig sein sollte.

Kapitel 33

~Aoi POV~
 

Hohe Wellen, strahlend blaues Meer, wolkenloser Himmel und die wärmenden Strahlen der goldenen Sonne auf der Haut. Was begehrte ein Surferherz mehr? „Yuu! Träumst du, oder was?“ Kazuya sah mich abwartend an. In seinen dunklen Augen blitzte Vorfreude auf. Mein perfekter Bruder, der besonnene Medizinstudent, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, war hibbelig wie ein kleines Kind seitdem wir beschlossen hatten surfen zu gehen. Zugegeben, mir ging es nicht anders. Viel zu lange hatte ich nicht mehr auf einem Surfbrett gestanden. Ganze 14 Stunden! „Jaja ich komme schon!“, erwiderte ich und klemmte mir mein Shortboard unter den Arm. Eine schwache Brise begrüßte uns und wirbelte meine Haare nach hinten, als wir die paar Meter zum Ufer hinunter rannten. Dort legte ich das Surfbrett ab und griff nach der Boardleash, um sie mit dem Klettverschluss an meinem Knöchel festzumachen. Mein Blick blieb jedoch auf das Meer gerichtet. „Unglaublich, diese Wellen heute!“ Kazuya nickte mir grinsend zu und hob plötzlich den Arm um einem der Rettungsschwimmer zuzuwinken. „Guten Morgen Noguchi-kun! Lange nicht mehr gesehen!“ „Ahh die Shiroyama-Brüder! Ruft euch das Meer schon wieder?“ Kazuya lachte leise und gab ihm ein High Five. „Klar! Du weißt doch: Wer rastet, der rostet.“ „Und das wollen wir ja nicht!“, fügte ich etwas sarkastisch hinzu, was die beiden zum Lachen brachte. „Du nimmst doch dieses Jahr am Wettbewerb teil, oder Yuu?“ „Ja. Aber im Kitesurfen nicht im Wellenreiten!“, steuerte ich etwas zum Gespräch bei. „Oh ja! Und er wird alle fertig machen. Nicht wahr, Brüderchen?“ Kazuya legte seinen Arm um meine Schultern und stützte sich auf mir ab. „Ich werde es versuchen. Das heute ist nur Spaß, kein Training!“ Darum war ich heute mit dem Shortboard unterwegs und trug weder einen Surfanzug noch eine Prallschutzweste. Bei den Geschwindigkeiten, die man beim Kitesurfen erreichte, war diese notwendig um sich vor schlimmeren Verletzungen zu schützen. „Tja, auch Spaß muss mal sein, oder? Genießt die paar Stunden noch, in denen das Meer so friedlich ist.“ „Die paar Stunden?“, hakte ich nach und runzelte die Stirn. „Es gab eine Unwetterwarnung für die gesamte Ostküste! Passt auf euch auf, Jungs und geht kein Risiko ein. Ihr wisst ja, Safety first!“ Unwetterwarnung für die gesamte Küste? „In dem Fall beeilen wir uns lieber.“ Kazuya schob mich weiter. „Man sieht sich Noguchi-kun!“ Ich konnte mich eines Schmunzelns nicht erwehren. „Gott, warum hast du es so eilig? Wir sind jeden Tag hier. Du tust ja beinahe so, als würdest du die nächsten 100 Jahre nicht mehr dazukommen dich auf ein Surfbrett zu stellen!“ „Tja, wer weiß?“
 

Nachdem ich mir den ganzen Nachmittag über seinen letzten Satz den Kopf zerbrochen hatte, konnte ich nicht länger so tun, als wüsste ich nicht, was genau damit gemeint war. „Sag mal Kazuya … möchtest du wirklich nach Tokyo gehen um an der ‚Universität Tokyo’ zu studieren?“ Ich saß auf dem Shortboard und ließ die Beine ins Wasser hängen. Es war kalt. Die Sonne war schon lange hinter dichten Wolken verschwunden und der Wind wurde laufend stärker. Wir sollten langsam wieder raus paddeln, doch im Moment genoss ich es viel zu sehr auf dem Meer zu sein. Vor allem erleichterte es mir, ihm die Frage zu stellen, die mir schon den ganzen Tag auf der Zunge lag. Etwas überrascht sah mich mein Bruder an. „Wo hast du das denn aufgeschnappt?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Mum hat gestern so was angedeutet.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu und nickte dann vage. „Die Fakultät ist weltweit sehr bekannt und es gibt auch die besseren Professoren dort. Ich denke ich kann dort mehr lernen als an der Uni, an der ich im Moment immatrikuliert bin.“ Er war so ein verdammter Streber. Kazuya hatte immer schon Kinderarzt werden wollen. Nicht nur irgendein Kinderarzt. Er wollte der Beste sein. Daher war es eigentlich nicht verwunderlich, dass er an die beste Uni wollte. Vater war auch immens stolz auf ihn und auch auf Nami, die bereits ein Praktikum bei einem renommierten Rechtsanwalt in der Tasche hatte. Ich selbst war für ihn wohl eher eine Enttäuschung, das Schwarze Schaf der Familie. Das Einzige in dem ich gut war, war Kitesurfen und Gitarrespielen. Und selbst dort hatte er immer etwas zum Aussetzen. Ich hatte nicht vor zu studieren und eine Ausbildung wollte ich erst recht nicht machen. Laut ihm standen meine Berufsaussichten als Profisurfer oder Gitarrist in einer Band äußerst schlecht, weshalb er mich dahingehend nicht unterstützte und auch keine Gelegenheit ausließ zu betonen wie dämlich diese Träume doch waren. Aber ich würde niemals ein Bürohengst werden, wie Vater es für mich vorgesehen hatte.
 

„Hast du dich schon beworben?“ Mein Board hob sich, als die nächste Welle angerauscht kam. „Ich wurde bereits aufgenommen.“ Oh Mann! Gab es denn etwas, was er nicht zugeworfen bekam!? „Aber hey … sei nicht traurig, Brüderchen. Du kannst mich ja besuchen kommen, sobald ich mich ein bisschen eingelebt habe! Außerdem ist es ja nicht so, dass ich gleich morgen die Koffer packe und weg bin. Bis zum Ende der Sommerferien bleibe ich auf jeden Fall hier.“ Er hatte Recht! Was machte ich mir jetzt einen Kopf darüber? Die Sommerferien dauerten noch vier Wochen und bis zu ihrem Ende hatte ich meinen Bruder für mich alleine! Wir waren – trotz des Altersunterschieds - immer sehr gut miteinander ausgekommen. Er unterstützte mich, wo er nur konnte und ich war stolz auf alles, was er leistete. So war es auch dieses Mal, auch wenn ich gleichzeitig etwas traurig darüber war, dass wir uns dann nicht mehr jeden Tag sehen konnten. Aber wozu gab es Telefone? „Und wenn Vater wieder mal übers Ziel hinausschießt, kannst du ja gerne für ein Weilchen zu mir kommen. Abstand würde euch hin und wieder recht gut tun!“ Ein leises Seufzen entkam mir. Wem sagte er das? Im Moment stritten wir uns, sobald wir uns über den Weg liefen. Gott sei Dank hatte Kazuya ein Händchen dafür ihn wieder zu beruhigen. Ein dunkles Grollen über unseren Köpfen riss mich aus meinen Gedanken. „Wir sollten wieder an Land gehen. Langsam wird es hier draußen zu gefährlich!“ Kazuya sah besorgt in den grauen Himmel. Er rutschte bäuchlings aufs Surfbrett und begann zu paddeln. Dadurch verpasste er, dass sich DIE Welle vor uns auftürmte. Mein Herz begann vor Vorfreute wild zu pochen. Verdammt die Welle war einfach unglaublich! Ich wollte … Ich musste … „Yuu! Das ist die falsche Richtung! Was denkst du, was du da machst!?“ Kazuyas Stimme klang bestürzt, als ich mich aufs Board legte und auf die Welle zupaddelte. „Hör auf mit dem Scheiß! Das ist zu gefährlich!“ Der Wind entriss ihm die Worte, ehe sie zu mir durchdringen konnten. Die Gischt spritzte mir ins Gesicht. Das Wasser toste. Endlich kam ich auf dem Surfbrett zum Stehen. Ein unglaubliches Gefühl der Freiheit durchdrang mich. Es war phantastisch! Ich stieß ein lautes Jauchzen aus und genoss den Ritt! Noch nie hatte ich die Gelegenheit gehabt so eine Welle für mich zu haben! Aber jetzt kostete ich es in vollen Zügen aus.
 

„Pass auf! Sie bricht!!“ Die Warnung kam zu spät. Das Wasser prasselte bereits auf mich hinunter und traf heftig auf meinen Rücken. Ich verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen und fiel vom Bord. Das kühle Nass umgab mich. Ich zog meine Knie an und schützte meinen Kopf mit den Armen. Gefangen im Strudel wurde ich immer tiefer unter die Wasseroberfläche gezogen. Endlich gab mich der Sog frei. Ich riss die Augen auf um mich zu orientieren, doch um mich herum herrschte ein tiefes Schwarz, das mich daran hinderte etwas zu erkennen. Orientierungslos drehte ich mich im Wasser. Die Dunkelheit wurde immer undurchdringlicher. Raus! Ich musste wieder an die Oberfläche! Adrenalin schoss durch meine Adern. Das Wasser wurde immer kälter, ich fror entsetzlich. Unkontrolliert begann ich Schwimmbewegungen zu machen. Atmen! Ich musste Atmen! Meine Lunge fing an zu brennen, als ich mich gegen die Bedürfnisse meines Körpers wehrte. Wenn ich nun nach Luft schnappte würde nur Wasser meine Lunge füllen. Trotzig versuchte ich weiterhin zu kämpfen. Aufgeben lag nicht in meiner Natur. Mir wurde schwindelig. Das Brennen verstärkte sich. Luftblasen verließen meinen Mund und stiegen nach oben. Nach oben. An die Oberfläche. Entkräftet begann ich mit den Armen zu rudern. Nur noch ein bisschen. Ein kleines Bisschen. Meine Bewegungen wurden langsamer, ungelenk. Ich konnte nicht mehr, musste atmen! Meine Hände legten sich an meinen Hals. Ich drückte mir die Nase zu und presste die Lippen aufeinander. Nicht! Nicht Atmen! Mein Körper bäumte sich auf. Der Sauerstoffmangel ließ mich ganz schummrig werden. Schwarze Punkte begannen vor meinen Augen zu tanzen. Es wurden immer mehr. Meine Lungenflügel flatterten. Und dann tat ich das, was endgültig mein Todesurteil unterschrieb: Ich atmete ein.
 

Einmal. Zweimal. Kühle Luft strömte in meine Lunge. Gierig saugte ich die frische Luft ein und keuchte leise. Gott, das tat so gut! Stimmen drangen an mein Ohr. Es ruckelte leicht unter mir. Ein Vibrieren. Ruhig und gleichmäßig. „… der ist auch Profi und macht was? Er legt uns noch Interviews an Tagen, an denen wir die Aufnahmen machen müssen!“ Der Ärger in meiner Stimme war kaum zu überhören. Überrascht runzelte ich die Stirn. Das wollte ich doch gar nicht sagen! „Und warum hackt der nur auf diesem verdammten Solo herum!? Dabei haben wir doch endlich unser Problemkind fertig. Er soll sich nicht so anstellen!“ Die Dunkelheit lichtete sich. Allmählich konnte ich immer mehr erkennen. Die Innenbeleuchtung des Autos strahlte mir entgegen. Es regnete. Die Scheibenwischer kratzten rhythmisch über die Frontscheibe. Die Lichter der bunten Reklametafeln und der Straßenlaternen spiegelten sich grell im Regenwasser wieder. Meine Augen brannten. Ich fühlte mich matt. Uruha, der neben mir saß, blickte mit müden Augen aus dem Fenster hinaus und zuckte zusammen, als ein Wasserschwall gegen die Scheibe spritzte.

Ich richtete meinen Blick wieder auf die Straße und unterdrückte ein leises Stöhnen. Diese grellen Lichter stachelten die Kopfschmerzen immer weiter an. Meine Augen tränten bereits. Doch ich würde den Teufel tun und Uruha bitten zu fahren. Wir waren bald zu Hause und er sah fertig aus. Mir entging nicht, dass er seinen Blick auf mich richtete, als ich meinen Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel presste. „Alles in Ordnung?“ „Kopfweh …“ Bremslichter erstrahlten vor mir. Die Autos wurden langsamer, als wir durch die Unterführung fuhren. Mein Atem wurde hastiger. Eine dunkle Vorahnung ließ mich unruhig werden. Meine Brust fühlte sich seltsam kalt an. Irgendwas stimmte hier nicht! Das orange Flackern der Tunnelbeleuchtung erhellte die Dunkelheit nur spärlich. Das ungute Gefühl verstärkte sich, wandelte sich immer mehr in Angst. Meine Finger zitterten, verkrampften sich am Lenkrad, sodass die Knöchel weiß hervortraten, je weiter wir fuhren. Vor uns erstrahlte ein weiterer Lichtkegel, erfasste die regennasse Straße und die grauen, trostlosen Wände. Grauen erfasste mich. Mein Atem stockte, mein Puls begann zu rasen. Wir durften nicht weiterfahren! Die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Meine Sicht verschwamm, weshalb ich kurz die Lider zusammenpresste. Gleißend helles Licht empfing mich an, als ich die Augen wieder öffnete. In dem Moment explodierte der Schmerz hinter meiner Stirn. Reflexartig schloss ich die Augen und drehte mich etwas weg. „Verdammter Trottel, schalt das Fernlicht aus!!“ Uruhas Stimme tönte genervt durch das Innere des Autos. „YUU BREMSEN!!!“ Panik! Unsagbare Angst schwang in seiner Stimme mit. Das Kreischen der Bremsen ertönte. Uruhas vor Panik geweitete Augen. Seine Finger, die sich in den Sitz krallten. Graue Wände. Oranges Licht. Schreie. Ein lautes Krachen. Angst - Todesangst. Schmerzen. Im Strudel, der Bilder und Empfindungen kristallisierte sich ein Gedanke klar und deutlich heraus: Oh mein Gott, ich hab Kouyou umgebracht!
 

„NEIN!!“ Mit einem Entsetzensschrei fuhr ich aus dem Traum hoch. Gleichzeitig wurde die Zimmertür aufgerissen. Licht flutete in den Raum, verdrängte die dunklen Schatten. Zitternd presste ich meine Hände an die Schläfen. Die Panik schüttelte mich, schnürte mir die Kehle zu. Diese Bilder. Sie waren so real. „Yuu!“ Eine dunkle Stimme irgendwo rechts neben mir. Die Matratze senkte sich. „Schh~ Es war nur ein Traum … nur ein Traum!“ Starke Arme legten sich um meinen bebenden Körper, hielten mich fest. Sie bewahrten mich davor auseinanderzubrechen, mich selbst in diesen Bildern zu verlieren. Ich keuchte, schnappte nach Luft. Und wie immer begannen die Bilder zu entschwinden. Ich versuchte sie festzuhalten, doch es funktionierte auch dieses Mal nicht. Mein Atem zitterte. Meine Wangen waren nass von den Tränen. Die dunkle Stimme war sanft, beruhigend. Ich wusste nicht, was sie sagte, aber die Melodie der Worte erdete mich. Eine zweite Gestalt erschien im Türrahmen und trat ins Zimmer. „Hier, trink das!“ Eine warme Tasse wurde mir in die Hände gedrückt. Sofort hielt ich sie fest und nahm die Wärme in mich auf, ließ die Eiseskälte in meiner Brust auftauen. Bebend hob ich sie an meine Lippen. Der Tee schmeckte süß. Das Zittern hörte nur langsam auf. „Geht’s wieder?“ Ich hob meinen Blick und begegnete den besorgten Augen meines Vaters. Eine kleine Hand legte sich auf mein Knie - die meiner Mutter. „Yuu?“ „Ja … es geht wieder. Es …“ Ich schluckte trocken und nippte an meinem Tee um nicht sprechen zu müssen. Diese entsetzliche Angst hielt mich noch immer in ihren Krallen fest. Es dauerte noch eine Weile, bis ich sie abschütteln konnte.
 

Meine Eltern fragten mich nicht, ob ich mich an den Traum erinnern konnte. Sie wussten, dass das nicht der Fall war. Und langsam kam ich mir ziemlich dämlich vor. Ich saß hier in meinem alten Zimmer, heulte mir die Augen aus dem Kopf weil ich einen Alptraum hatte und ließ mich von meinen Eltern trösten. Verflucht, ich war doch keine 10 mehr! Dennoch war es jede Nacht dasselbe Spiel und ich war jedes Mal mehr als nur erleichtert, dass ich in diesen grauenhaften Momenten kurz nach dem Aufwachen nicht alleine war. „Yuu?“ Ich sah auf, als meine Mutter nach einiger Zeit zu sprechen begann. „Dein Vater und ich haben über diese Alpträume geredet! Vielleicht … solltest du zu Dr. Adachi gehen.“ Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Du meinst den Seelenklempner!?“, entkam es mir. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme ungläubig klang. Sie seufzte und sah zu Boden, was anscheinend für meinen Vater das Stichwort war weiterzusprechen. „Sieh mal, Yuu. So kann es nicht weitergehen. Du wachst seit 1 ½ Monaten jede Nacht schreiend auf. Du schläfst kaum, weil du Angst hast wieder einen dieser Alpträume zu haben. Du bist den ganzen Tag müde und kommst doch nicht zur Ruhe. Du hast keinen Hunger mehr, isst kaum etwas. Du hast abgenommen. Sag mir nicht, dass dir das noch nicht aufgefallen ist! Wir machen uns doch nur Sorgen um dich. Vielleicht hilft es dir einfach darüber zu sprechen.“ Ich sah ihn skeptisch an. „Über was denn? Ich kann mich doch an nichts erinnern!“ Er schüttelte streng den Kopf und kurz darauf spürte ich, wie meine Mutter über meine Wange streichelte. „Wir dachten eher an die Sache mit Uruha, Schatz.“ Bei seinem Namen zog sich meine Brust schmerzhaft zusammen. Aua. Ihn hier in dieses Gespräch einzubringen war ein Schlag unter die Gürtellinie. Dabei tat ich doch mein Bestes um ihn zu vergessen. Nur wollte es nicht so ganz klappen. „An den Unfall kannst du dich nicht erinnern und das ist … na ja nicht ok, wir müssen das jedoch akzeptieren. Aber vielleicht macht dir auch die Trennung von Kouyou so zu schaffen.“ Mein Vater mischte sich wieder ein: „Du kannst es dir ja ansehen. Wenn es nicht besser wird, musst du auch nicht mehr hin.“ Mum sah ihn kurz böse an und widmete mir anschließend wieder ihre Aufmerksamkeit. „Aber du solltest es zumindest versuchen. Schlechter kann es ja nicht werden.“
 

In dem Fall hatte sie Recht. Sie beide hatten Recht. Ich heulte mich jede Nacht in den Schlaf, nur um ein paar Stunden später wieder aus einem Alptraum hochzuschrecken. Meistens konnte ich danach auch nicht mehr einschlafen und las, sah einen Film oder schrieb Gedichte auf meinem Laptop. Das beruhigte mich. Von Uruha hatte ich seit der Trennung nichts mehr gehört, was aber nicht bedeutete, dass ich ihn vergessen könnte! Nein, der Kerl spukte jede freie Sekunde in meinem Kopf herum. Ich ertappte mich häufiger als mir lieb war dabei, dass ich mir wünschte, von ihm in den Arm genommen zu werden und seine Nähe zu spüren. Mir fehlten unsere Gespräche, seine Witze und selbst das Fernsehen war nicht dasselbe ohne ihn. Gott ich hatte nicht gewusst, dass ich so sehr in ihn verliebt gewesen war. Es hatte sich nie so ernst, so tief angefühlt. Vielleicht, weil ich unbewusst immer gewusst hatte, dass er mich liebte. Ich musste mich nie sonderlich anstrengen um ihn für mich zu gewinnen. Dafür hatte er alles Erdenkliche dafür getan, dass ich ihn wieder an mich heranließ. Es war schon oft der Fall gewesen, dass ich mich gefragt hatte, ob es eine gute Idee gewesen war zu gehen, oder ob ich hätte kämpfen sollen. Doch egal wie ich es drehte und wendete, es kam nie eine befriedigende Antwort heraus. Selbst wenn wir beide uns wieder vertragen hätten, hätte ich noch immer nicht Gitarrespielen können. Außerdem hätte ich es innerhalb dieser zwei Monate auch nicht wieder perfekt beherrscht. Seit dem Unfall waren wir beide nicht mehr auf derselben Wellenlänge. Ich hatte versucht zu ihm aufzuschließen, doch es war immer offensichtlicher geworden, dass ich die verpasste Zeit nie mehr wieder aufholen konnte, selbst wenn meine Freunde langsamer gingen. Dann hätten sie mich eben erst zwei Monate später aus der Band gekickt, oder besser gesagt: Ich hätte die Band verlassen um ihnen die Möglichkeit zu geben weiterzumachen. Uruha und ich hätten uns kaum mehr gesehen und schließlich wäre es dann sowieso zur Trennung gekommen. Entschlossen schüttelte ich die Gedanken ab. Dieses „hätte“ und „wäre“ half mir nicht weiter. Mein Leben spielte jetzt hier in Mie und seines in Tokyo.
 

Ruki und Kai hatten noch länger versucht mich zu erreichen, aber ich war nicht ans Telefon gegangen und die SMS’ hatte ich gelöscht ohne sie zu lesen. „Ich werde es versuchen. Aber wenn ich das Gefühl habe, dass es mir nicht weiterhilft breche ich es ab, in Ordnung?“, schlug ich schließlich vor, auch wenn es mir entschieden gegen den Strich ging einen Seelenklempner aufzusuchen. Ich war doch nicht einer der Leute, die durchdrehten oder die ihr Leben nicht mehr in den Griff bekamen. Warum also einen Psychologen konsultieren? Zu diesem Vorschlag konnten meine Eltern jedoch nicht nein sagen. Zumindest zeigte ich ein bisschen guten Willen, was meinen Vater mit Sicherheit beruhigte. Er würde nicht versuchen auf mich einzureden und mich umzustimmen. So war es auch dieses Mal. Er nickte zustimmend und meine Mutter begann zu lächeln. Dann streckte sie sich leicht. „Ich geh wieder ins Bett. Wenn was ist … du weißt ja, wo du mich findest!“ „Gute Nacht, Mum!“ Sie erhob sich mit einer fließenden Bewegung und trat auf den Flur hinaus, während sie ihre langen, schwarzen Haare zu einem Zopf flocht.
 

Entgegen meiner Erwartungen blieb mein Vater an meinem Bett sitzen und wartete ruhig, bis meine Mum im Schlafzimmer angekommen war. „Ich muss gestehen, mir gefällt diese Sache mit dem Psychiater genauso wenig wie dir!“ Überrascht hob ich die Augenbrauen und lehnte mich rückwärts an die Wand, sodass ich ihn besser ansehen konnte. „Sohn, ich kenne dich lange genug um zu wissen, was du von so einem Arztbesuch hältst!“ „Warum erwartest du dann von mir, dass ich hingehe?“ Er fuhr sich durch die Haare und schüttelte den Kopf. „Deine Mutter denkt, dass es besser für dich wäre darüber zu sprechen. Du bist seit 1 ½ Monaten zu Hause und hast mit keinem Wort erwähnt warum ihr euch getrennt habt oder warum du beschlossen hast die Band zu verlassen. Versteh mich nicht falsch. Es ist schön, dass du mal die Zeit hast hier zu sein. Vor allem nach dem Unfall hätten wir gerne viel mehr Zeit mit dir verbracht. Aber es ist etwas ungewöhnlich, verstehst du? Die Band … war immer dein Leben!“ Ich zog die Beine an und legte meinen Kopf in den Nacken. Die Stille dehnte sich zwischen uns aus. Jedoch war sie nicht unangenehm. Meine Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum. Wo sollte ich anfangen? Konnte ich über Uruha sprechen? Mit meinem Vater darüber sprechen? Ich wusste nicht, wie unser Verhältnis vor dem Unfall gewesen war. Hätte ich mit ihm oder Mum darüber gesprochen? Hätte ich es für mich behalten? Tatsache aber war, dass ich jemanden zum Reden brauchte. Das alles runterzuschlucken machte mich kaputt. „Ich kann nicht mehr Gitarre spielen!“, entkam es mir plötzlich. Der Satz schlug ein wie eine Bombe. Nicht nur bei ihm, wie ich mir eingestehen musste. Ich hatte es gewusst, hatte mich oft genug darüber beschwert, dass es nicht funktionierte. Aber es ihm jetzt zu sagen war, als würde ich einen Teil meiner Seele verlieren. Ich fühlte mich nicht mehr ganz. Mir wurde immer bewusster, dass ich es vermisste – extrem vermisste. Und … Gott es tat so weh! „Wie meinst du das?“ Am liebsten hätte ich weiterhin an die Decke gestarrt. Nur war das Thema zu ernst, als dass ich an ihm hätte vorbeireden können. „So, wie ich es gesagt habe. Seit dem Unfall … kann ich es nicht mehr. Es strengt mich extrem an einfache Akkorde oder Rhythmen zu spielen, von Solis brauche ich gar nicht erst anzufangen. Uruha hat mit mir geübt – stundenlang, aber ich bekomm es einfach nicht hin.“ Zitternd atmete ich ein und erwiderte seinen rigorosen Blick. „Welche Band braucht schon einen Gitarristen, der nicht Gitarre spielen kann?“
 

„Also haben sie dich aus der Band geworfen?“ „Nein!“ Ich starrte auf meine Finger hinunter und befand, dass ich die Nägel mal wieder abknipsen musste. Dieses Gespräch war hart. Verdammt, ich hatte das Gefühl ihn zu enttäuschen. „Nein, ich bin gegangen nachdem Uruha mich verlassen hat. Ich … ich hab gehört, dass die Verträge nicht mehr verlängert werden, wenn wir nicht innerhalb von zwei Monaten auf der Bühne stehen. Selbst wenn ich das mit Uruha wieder hinbekommen hätte, wären wir spätestens in zwei Monaten an diesem Punkt angelangt. Für mich war es bereits nach dem Unfall vorbei. Aber ich kann von den anderen nicht erwarten, dass sie ihre Träume wegen mir aufgeben.“ Er seufzte leise und legte seine Hand auf meine Schulter. „Solange du es nicht bereust, Yuu, ist es in Ordnung! Aber du bist nicht glücklich damit, nicht wahr?“ Wieder spürte ich dieses vertraute Gefühl, das mir die Kehle zuschnürte. Irgendwie wunderte ich mich tatsächlich, dass ich überhaupt noch dazu in der Lage war zu heulen. Der Tränenvorrat musste doch langsam erschöpft sein! „Ich vermisse Kouyou.“ Viel zu lange hatte ich nicht darüber gesprochen, hatte meine Gefühle für ihn versucht zu unterdrücken, aber sie waren da, egal wie sehr ich versuchte nicht zu spüren, was ich für ihn empfand.
 

„Als er mir im Krankenhaus gesagt hat, dass er mein Partner wäre, dachte ich zuerst er würde einen Witz machen. Zwei Männer? Das ist einfach nicht … nicht normal!“ Leise schniefte ich und wischte mir fahrig über die Wangen. „Aber er hat sich wirklich angestrengt und wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht. Ich glaube nicht, dass ich mich wieder in ihn verliebt habe, selbst wenn er es glaubt. Eher habe ich mich noch mehr in ihn verliebt. Und jetzt … jetzt haben wir uns gestritten wegen … wegen einem Missverständnis und ich … ich kann es ihm nicht sagen, sonst wird er diese Welt für mich aufgeben in der er jetzt lebt. Aber ich … ich vermisse ihn. Er …“ Meine Stimme brach. Ich konnte nicht weitersprechen. Eigentlich hatte ich nicht so viel reden wollen. Das alles zu sagen, meine konfusen Gedanken für meinen Vater in Worte zu fassen war schmerzhaft. Ein sanfter Druck auf meiner Schulter ließ mich den Kopf heben. „Yuu, warum denkst du, dass du für ihn diese Entscheidung treffen musst?“ Der Satz traf mich, wie ein Speer. Die Tränen stoppten, mein Herzschlag setzte für ein paar Sekunden aus, ich bekam keine Luft mehr. Das tat ich doch gar nicht, oder? „Kouyou ist alt genug um selbst zu entscheiden, was ihm wichtiger ist! Wenn er sich für dich entscheidet, dann weil du ihm wichtiger bist als das Leben, das er jetzt gerade führt. Ansonsten würde er sich für die Band entscheiden! Und wer sagt, dass es tatsächlich so ablaufen wird, wie du es dir nun ausmalst? Das Schicksal ist nicht in Stein gemeißelt. Eine Entscheidung, kann deinen ganzen Pfad ändern – zum Guten und zum Schlechten! Ab und zu ist es besser den Dingen freien Lauf zu lassen! Du hast die Optionen für dich schon ausgerechnet und festgeschrieben. Was, wenn du jetzt draufkommst, dass du irgendwo einen Rechenfehler gemacht hast? Du kannst nicht mehr zurück.“ „Aber was ist mit den anderen?“ „Du musst an dich selbst denken! Hör auf den barmherzigen Samariter zu spielen!“ Die ganzen Wochen hatte ich versucht damit klar zu kommen. Dann kam mein Vater, hörte mir fünf Minuten zu und zeichnete ein detailgetreues Bild meiner Misere. „Was soll ich jetzt machen?!“ Er drückte meine Hand und begann zu lächeln. „Hör doch einfach mal auf dein Herz.“

Kapitel 34

~Uruha POV~
 

Es heißt immer ‚Die erste Liebe vergisst man nicht!’. Sie ist unvergleichlich und schreibt sich mit löschfester Tinte ins Gedächtnis. Ein Leben lang. Das war eine Lüge. An meine erste Liebe konnte ich mich nicht mehr erinnern. War es ein Mädchen gewesen? Ein Kerl? War er oder sie hübsch gewesen? Konnte er oder sie gut küssen? Hatten wir miteinander geschlafen? Wie lange hatte unsere Beziehung gedauert? Ich wusste es nicht mehr. Das alles verblasste wenn ich an Aoi dachte. Er war nicht meine erste Liebe gewesen - eigentlich nicht einmal mein Typ. Ich hatte es immer bevorzugt der Starke in einer Beziehung zu sein. Aoi mit seinem unbezwingbaren Willen und seiner Art alles selbst in die Hand zu nehmen passte absolut nicht in mein Beuteschema. Doch er hatte mich weggefegt wie ein Orkan und als sich der Wind schließlich wieder gelegt hatte, war ich ihm bereits hoffnungslos und unwiderruflich verfallen. Ich war verliebt. Bis über beide Ohren. „Uruha!“ Ertappt! Mit einem Ruck landete ich wieder im Hier und Jetzt. Die Wände des Konferenzzimmers hatten dasselbe Grau wie die Wolken, die heute den Himmel bedeckten. An einer Längsseite befanden sich ebenso graue, wuchtige Aktenschränke, die den schmalen Raum noch enger wirken ließen. Auf dem runden Konferenztisch vor mir, standen zwei Wasserkaraffen, zwei Thermoskannen mit Kaffee, Milch, mehrere Gläser und Tassen und eine zierliche, kristallene Schale mit Zucker. Um den Tisch herum drängten sich fünf Konferenzstühle mit schwarzen, harten Plastiklehnen. Die einzigen Farbflecke im Raum waren zwei Bilder eines Künstlers, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Sonderlich aufregend sahen die Leinwandklecksereien auch nicht wirklich aus.
 

Etwas verlegen erwiderte ich den ungeduldig musternden Blick unseres Managers. „Und? Was sagst du dazu?“ Ähm … worüber hatten wir eigentlich gesprochen? Ein kurzer Blick auf die Uhr und ich wusste, dass ich mich vor 20 Minuten aus dem Gespräch ausgeklinkt hatte. Obwohl er nicht hier im Raum war und ich eigentlich nie wieder an ihn denken wollte, beherrschte Aoi meine Gedanken und ließ nicht zu, dass ich mich auf meinen Job konzentrierte. So unauffällig wie nur möglich schielte ich zu Reita hinüber, welcher langsam den Kopf schüttelte und dabei die Augen verdrehte. „Nein … das finde ich nicht gut.“ Manager-san hob die Augenbrauen und beugte sich dann etwas weiter zu mir hinüber. „Hast du überhaupt zugehört?“ „Tut mir Leid ich war etwas abgelenkt!“ Bevor ich mir die Blöße gab und ihn vor allen hier anlog, rückte ich lieber mit der Wahrheit hinaus. Es war wohl mehr als nur offensichtlich, dass ich nicht zugehört hatte. Ein leises Seufzen war zu hören. „Du bist in letzter Zeit generell etwas abgelenkt. Ich mache es dir nicht zum Vorwurf. Dass Aoi ausgestiegen ist, war für uns alle ein Schock. Aber wenn wir ehrlich sind, haben wir das bereits kommen sehen.“ Außer meinen Bandkollegen kannte niemand die genaueren Umstände unserer Trennung. Sie waren alle davon überzeugt, dass Aoi in einer Nacht-und-Nebel-Aktion seine Sachen gepackt und mich abserviert hatte weil ihm der ganze Druck zu groß wurde. Deshalb besaß ich im Moment einen Liebeskummerfreischein, den ich durch meine chronisch gedankliche Abwesenheit immer wieder einlöste. Da ich den ganzen Klatsch und Tratsch sowieso nicht mehr hören konnte und es niemanden etwas anging, wie sehr es an meinem Ego kratzte, dass er mich betrogen hatte, hielt ich dazu einfach meine Klappe und gab den ganzen Spekulationen darüber keinen weiteren Nährboden.
 

„Wir haben gerade über die Auswahl eines Gitarristen gesprochen. Du warst bei den Sessions auch dabei und du bist derjenige, der am engsten mit dem neuen Bandmitglied zusammenarbeiten muss. Daher legen wir auf deine Meinung großen Wert.“ Ich rieb über meine Schläfen und griff nach den Lebensläufen, die auf dem Tisch lagen. Langsam blätterte ich sie durch. Hin und wieder waren an den Ecken mit Bleistift Notizen dazugeschrieben. Einige der Lebensläufe konnte ich gleich weglegen, andere wiederum mussten wir uns noch mal durchsehen. „Um ehrlich zu sein, fand ich keinen wirklich berauschend. An Aoi kommt so schnell niemand ran.“ Und das sagte ich nicht, weil ich besonders nett sein wollte, sondern weil es tatsächlich stimmte. Aoi war unglaublich gewesen. Instinktiv schien er zu wissen, wie er meine Parts und Rukis Gesang zusätzlich hervorheben oder unterstützen konnte. Er hatte einige der Soli komponiert, die ich spielte. Er war niemand gewesen, der unbedingt auf ein Solo pochte. Solange wir intern wussten, aus wessen Feder es stammte war es für ihn in Ordnung gewesen. Er war ein Teamplayer durch und durch. Bei den Bewerbern hier hatte ich einfach nicht das Gefühl, dass sie die Sache ernst nahmen. Sie wollten berühmt sein, eine Menge Kohle verdienen, vor den Freunden angeben und Mädels abschleppen. Ihnen ging es nicht um die Musik und nicht um die Fans. Das war bei uns anderen immer der Fall gewesen. Die Musik und die Fans. Was wir dabei verdienten war Nebensache. „Ich würde diese drei in die nähere Auswahl nehmen. Die anderen kommen für mich gar nicht in Frage. Weder vom Können noch vom Charakter!“ Unser Manager sah sich die Lebensläufe durch, die ich ihm hinhielt und nickte langsam. Anscheinend hatten die anderen drei bereits ihre Kommentare dazu gegeben. „Ich würde sagen, wir laden diesen Ochi-san für eine Woche ein. Ihr könnt euch ja ansehen, wie es läuft.“
 

„Nein, nein und nochmals nein! Ich weigere mich diesen Ochi-san in die Band aufzunehmen!“ Ruki fluchte wie ein Bauarbeiter und verschränkte die Arme vor der Brust. Beinahe hätte man seine Art bockig nennen können. Doch das Wort passte nicht zu unserem Sänger. „Reita! Hör endlich auf einen Graben in den Boden zu laufen und setz dich hin, das macht mich verrückt!!“ Reita hob die Augenbrauen, tat aber ohne ein Widerwort, was Ruki verlangte. Im Moment war mit dem Vocal nicht gut Kirschenessen. Er war wütend über die gesamte Situation, in die wir geschlittert waren. „Kannst du mir sagen, warum du diesen Kandidaten ablehnst?“ Kai war der Einzige von uns, der noch nicht die Geduld verloren hatte. Ruki warf ihm einen Blick zu, der sehr deutlich besagte, dass er an Kais Zurechnungsfähigkeit zweifelte. „Dieser Kerl hat noch nie in einer Band gespielt, außer dieser einen Komikergruppe und ganz eindeutig hat er ein kleines … nein … ein großes Egoproblem!“ Der Vocal rümpfte die Nase. „Wenn ich mir meinen Arbeitskollegen schon selbst aussuchen kann, dann sicher nicht einen, bei dem es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich ernsthaft mit ihm aneinander gerate. Mit so jemanden kann ich nicht arbeiten!“ Kai seufzte leise. „Aber er ist gut! Er hat seinen Teil beinahe ohne Fehler gespielt und er hat Potential. Er ist ein roher Diamant und muss noch geschliffen werden, was für uns sogar vorteilhafter wäre, da er nicht über verquere Ansichten verfügt und sich noch was sagen lässt. Ein Profi wäre da schon schwieriger.“ „Ich sagte nein!“ Der Drummer schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. „Sei nicht so engstirnig! Wir müssen eben Kompromisse eingehen, Ruki! Die Zeit läuft uns davon!“ Ich griff nach der Thermoskanne und schenkte mir großzügig Kaffee in die Tasse. Ich musste zugeben, dass ich von besagtem Herrn auch nicht gerade überzeugt war. Dennoch hatte Kai sehr richtig betont, dass wir keine Zeit mehr hatten. Ruki schüttelte den Kopf. „Wir werden ihn nicht einladen. Tanaka-san, ok. Diesen Kurosaki-san, von mir aus. Aber dieser Kerl kommt mir nicht über die Schwelle!“ Das war eindeutig mehr als nur ein bisschen Abneigung. In Rukis Augen brannte der Hass. Das würde in der Tat nichts werden. „Ich schlage vor, wir sehen uns diesen Tanaka-san an. Ruki hat Recht bei Ochi-san bin ich auch nicht ganz überzeugt, auch wenn er die Gitarrenstimme recht passabel gespielt hat. Ich denke so leicht ist dieser Diamant nicht zu schleifen, Kai!“, mischte auch ich mich wieder ein, nachdem ich ein paar Schlucke vom Kaffee getrunken hatte. Unser Manager wartete noch, ob jemand etwas dagegen zu sagen hatte und nickte dann. „Na gut, dann eben so.“ Damit war das Meeting auch beendet. Gott sei Dank. Wirklich viel hatte ich davon ja nicht mitbekommen.
 

Ich erhob mich extra langsam um mit Ruki gleichzeitig an der Tür anzukommen. „Warum bist du so gegen diesen Ochi-san?“ Ich hatte Ruki zwar unterstützt, weil der Mann auch mir etwas seltsam vorgekommen war, aber das erklärte nicht den brennenden Hass, den Ruki wohl für ihn empfand. Dazu kannte er ihn doch einfach zu wenig. Der Vocal gab mir auch keine Antwort, bis wir den langen Gang zu unserem Proberaum hinuterliefen. „Ich weiß, dass du auf Aoi im Moment nicht gut zu sprechen bist, Uruha. Aber er ist … war mein bester Freund …“ In dem Moment erkannte ich, dass auch Ruki an seiner plötzlichen Abreise zu knabbern hatte. Auch wenn ich es verstand, dass Aoi mich nicht mehr sprechen wollte, verstand ich dennoch nicht, wieso er Ruki oder die anderen aus seinem Leben kickte. Sie hatten ihm doch nie etwas getan! Daher nickte ich leicht, als Ruki auf eine Antwort zu warten schien. „Ich habe gehört wie er über Aoi gesprochen hat. Das war … unterster Gangster-Jargon. Du willst gar nicht wissen, als was er ihn alles betitelt hat. Ich will eigentlich auch gar nicht wissen, wie er uns betitelt, wenn er mit seinen Kumpels spricht.“ Er hielt mir die Tür zum Proberaum auf. „Danke!“ „Gerne … Wir sind Arbeitskollegen, aber wir sind auch Freunde.“ Natürlich waren wir das. Wenn man beinahe 24 Stunden, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr aufeinandersaß, dann ließ man diese Leute eben näher an sich heran. Ich hatte oft das Gefühl, dass mich die Roadies besser kannten als meine eigene Familie. Ruki strich sich die Haare zurück und setzte sich auf das Sofa. Er startete den Laptop und sah mich wieder an, während er wartete, bis das Gerät hochfuhr. „Mit jemandem wie ihn will und kann ich nicht arbeiten, geschweige denn will ich mit ihm befreundet sein.“ Diesen Einwand verstand ich natürlich. „Du hast Recht. Entweder er passt zu uns, oder nicht. Ich verlasse mich auf deinen Instinkt, Ruki. Das habe ich immer getan.“ Was auch der Grund war, weshalb ich ihn auch jetzt unterstützt hatte. „Ich weiß. Im Moment drängt das Management uns, dass wir einen neuen Gitarristen aufnehmen. Bei diesem Druck macht man schnell einen Fehler. Ich will nicht, dass die Band auseinanderbricht, nur weil wir uns für den falschen Mann entschieden haben!“
 

Ich blieb Ruki die Antwort schuldig, da es in dem Moment an der Tür klopfte. Reita, der sie gerade erst hinter sich zugezogen hatte, drehte sich um und öffnete sie erneut. Zuerst schien er mit jemanden zu sprechen, dann nickte er und hielt die Tür weiter auf. Eine junge Frau in engen Bluejeans, einem roten Rollkragenpulli und ärmellosen Parka betrat den Proberaum. Sie schien sich nicht ganz wohl in ihrer Haut zu fühlen, als Reita sie zum Sofa geleitete. Mit einer fließenden Bewegung ließ sie sich auf der Kante nieder und legte ihre Hände in den Schoß. Ich runzelte die Stirn. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, aber ich konnte nicht wirklich sagen woher. Kai begrüßte sie und stellte uns der Reihe nach vor. Sie nickte leicht. „Danke ich weiß wer Sie sind“, sagte sie dann leise. Dennoch hatte ihre Stimme einen angenehmen klang. „Ich wollte auch gar keine großen Umstände machen. Es ist nur … ich bin gerade auf dem Heimweg von der Uni gewesen und wollte Yuu fragen, ob er vielleicht zum Abendessen vorbeikommen möchte.“ Yuu? Sie nannte ihn Yuu? Wieder musterte ich sie von oben bis unten. Ich erstarrte, als ich begriff. Sie hatte längere Haare gehabt und da sie sich heute nicht so aufgebrezelt hatte, hätte sich sie beinahe nicht erkannt! Das war das Flittchen, das mir meinen Freund ausgespannt hatte. Reita holte zischend Luft. Ahh jetzt hatte er auch kapiert, dass er die Wurzel allen Übels in unseren Proberaum geholt hatte! Auch Ruki und Kai schienen zu verstehen. Vermutlich warf Kai mir auch deshalb einen warnenden Blick zu. Er besagte deutlich, dass ich mich zusammenreißen sollte. Ohne es zu merken, ballte ich meine Hände zu Fäusten. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr eine verpassen sollte, oder nicht. Vielleicht würde es mir danach besser gehen! Wollen tat ich es definitiv! „Wie heißt du?“, fragte Reita dann plötzlich. Was interessierte ihn das? Sie sollten lieber zusehen, dass sie dieses Miststück aus dem Proberaum entfernten, bevor ich noch Scheiße baute. Eigentlich war ich ja nicht der gewalttätige Typ, aber bei ihr könnte ich glatt eine Ausnahme machen! Warum zum Teufel bildete sie sich ein hier auftauchen zu können? Zuerst drang sie in mein Privatleben ein und jetzt erschien sie auch noch an meinem Arbeitsplatz? Wollte sie mich verhöhnen? Wusste sie eigentlich, was sie mir damit antat? Siedend heiß brodelten der Hass und die Wut in meinen Adern.
 

„Oh Entschuldigung … Rumiko. Ich heiße Rumiko! Ist … ist Yuu hier?“ Ru-chan! Ich hatte es gewusst! Und verdammt noch mal sie war nicht halb so hässlich, wie ich sie in Erinnerung hatte! Kein Wunder, dass er sich in sie verguckt hatte. Gleich darauf hätte ich mich für diesen Gedanken selbst schlagen können. Das war keine Entschuldigung für ihn fremd zu gehen! „Nein ist er nicht!“ Meine Stimme klang wie Reibeisen. Ich musste mich heftig zurückhalten um nicht ein gehässiges „Bitch“ dranzuhängen. Sie seufzte traurig und schien in sich zusammenzusinken. „Schade ich … er hat sich seit Wochen nicht mehr bei mir gemeldet. Dabei hat er mir versprochen mich anzurufen, wenn er die Sache mit dir geklärt hätte.“ Na sieh mal einer an. Da hatte er nicht nur mich verarscht. Beinahe hätte sie mir ja leidgetan. Aber nur beinahe. Und von welcher Sache redete sie da? Was hatte er mit mir klären wollen? Hatte er vor gehabt sich von mir zu trennen? Aber warum hatte er dann zugelassen, dass ich ihn fickte? Ich weigerte mich das Wort Sex auch nur zu denken. Sex hatten Leute, die sich liebten. Aoi und ich hatten keinen Sex gehabt. Wir hatten nicht miteinander geschlafen! Nicht, wenn er mich zuvor schon monatelang mit dieser Schlampe betrogen hatte. „Habt ihr das öfter getan? Euch einfach getroffen?“ Rukis Stimme holte mich aus meinen Gedanken. Er schien seine Neugierde nicht mehr zügeln zu können, das hörte ich ihm an. Da es hier um seinen besten Freund ging, konnte ich es irgendwie verstehen. Außerdem gab sie so breitwillig Antwort, dass es schon beinahe keinen Spaß machte sie auszuhorchen. Sie nickte leicht. „Ja er war gelegentlich übers Wochenende bei mir!“ Ich erstarrte wieder und schnappte nach Luft. Wieso gab sie das einfach so zu!? Ich hätte gelogen, dass sich die Balken biegen, wenn ich gewusst hätte, dass sein ehemaliger Lebensgefährte im Raum war! Reita stieß mir seinen Ellenbogen in die Rippen, was wohl ein eindeutiges Zeichen für mich sein sollte jetzt bloß die Klappe zu halten. „Kennst du ihn schon lange?“ Sie begann zu lachen und nickte. „Klar, schließlich bin ich seine Cousine!“ Die Worte sickerten nur langsam in mein Bewusstsein. Es war wie ein Schock. Ich hatte gehört, was sie gesagt hatte, aber ich verstand es nicht. „WAS!?“ Ungläubig starrte ich sie an. Ihr Satz war nun endgültig in meinem Hirn angekommen. Seine Cousine?! Sie nickte leicht. „Ja ich bin erst kurz nach Yuus Unfall nach Tokyo gezogen, weil ich an der Uni genommen wurde. Davor hab ich mit meinen Eltern in Hakodate gelebt. Darum haben wir uns auch recht selten gesehen. Wir haben es ausgenutzt, dass wir in derselben Stadt wohnen. Er war froh jemanden aus der Familie hier zu haben – einfach um ein bisschen reden zu können.“
 

Ruki sah zwischen uns hin und her. „Oh … dann bist du gar nicht das Miststück mit den Videos?“ Sie runzelte die Stirn. Vermutlich über seine unverblümte Ausdrucksweise. Kai hätte ihm vielleicht denselben Blick schicken sollen, wie mir. Doch dann schien es bei ihr Klick zu machen. „Sie meinen diese Frau, die ihm diese anzüglichen Videobotschaften geschickt hat?“ „Woher weißt du davon?“, fragte ich dazwischen. Meine Stimme klang seltsam gepresst. „Wir haben darüber geredet, als er das letzte Mal bei mir war. Er wollte sie anzeigen – wegen Belästigung. Aber ich glaube dazu hätte sie mehr machen müssen als nur SMS’ zu schreiben und Videos zu schicken. Er wollte sich da noch schlau machen!“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Er wollte sie anzeigen? Sie war gar nicht sein Betthäschen? Er wollte sie nicht? „Warum … warum hat er mir das nicht gesagt?“ Meine Stimme war nur ein heißeres Flüstern. Sie sah mich an. Ihr Blick war ruhig, arglos. Sie wusste nicht, dass Aoi und ich uns getrennt hatten. „Er wollte dich nicht beunruhigen. Yuu meinte es wäre schon schlimm genug, wenn er sich damit herumschlagen müsste. Außerdem wäre er selbst Schuld, wenn er ihr in betrunkenem Zustand seine richtige Telefonnummer gibt.“ Der Rest des Gesprächs ging irgendwie unter. Mir war heiß und kalt zugleich. Ich presste meine zitternden Hände auf meinen Magen, da ich das Gefühl hatte mich gleich übergeben zu müssen. Die Wahrheit traf mich wie ein Keulenschlag. Ich verlor den Boden unter den Füßen. Er hatte mich nie betrogen! Er war bei seiner Cousine gewesen und hatte mich vor diesen Nachrichten lediglich in Schutz nehmen wollen. Und ich? Ich hatte ihn angeschrien und mit ihm Schluss gemacht. Meine Augen begannen zu brennen. Meine Sicht verschwamm. „Oh Scheiße!“
 

Noch bevor ich selbst begriff, was ich tat, war ich auf den Beinen und stolperte auf die Tür zu. „Uruha! Was denkst du, was du da machst!?“ Reita baute sich vor mir auf und hielt mich am Ellenbogen fest. Fassungslos starrte ich ihn an. „Ich … fahre nach Mie!“ Erst als ich es aussprach wurde mir bewusst, dass ich diese Entscheidung bereits gefällt hatte, als mir klar wurde, dass sie seine Cousine war. Verständnislos runzelte er die Stirn. „Was jetzt?“ Mechanisch nickte ich. „Natürlich! Ich muss mich bei ihm entschuldigen. Ich … ich muss mit ihm sprechen. Vielleicht … Oh Akira ich war so dämlich! Er hat mich nicht betrogen! Er … ich hab ihm nicht zugehört! Dabei wollte er es mir erklären! Ich hab … er … wir …“ Wann war ich das letzte Mal so durch den Wind gewesen? Selbst als ich glaubte, dass er mich betrogen hatte, war ich nicht so durcheinander gewesen. Doch jetzt rasten meine Gedanken in meinem Kopf hin und her wie bei einem Ping Pong Spiel. Es war mir nicht möglich einen herauszugreifen. Er verflüchtigte sich viel zu schnell wieder, weil neue hinterherdrängten. Reitas Griff wurde fester. „Spinnst du? Es wird dunkel und wir waren den ganzen Tag im Label. Du bist zu müde um dich jetzt noch vier bis sechs Stunden hinters Steuer zu setzen!“ „Aber ich muss-“ „Du musst gar nichts!“, wurde ich streng unterbrochen. „Was soll ich ihm denn erzählen, wenn du unterwegs einen Unfall hast? Meinst du es ist ihm ein Trost, dass es auf dem Weg zu ihm passiert ist? Du hast keine Sachen dabei! Und vor allem kannst du nicht um Mitternacht an der Tür klingeln und nach Aoi verlangen!“ Nun … das leuchtete ein. Etwas enttäuscht schnaubte ich und ließ mir von Reita die Jacke in die Hand drücken. „Ich schlage vor, ich fahr dich jetzt nach Hause. Du packst ein paar Sachen ein und dann fahren wir zu mir. Wir können kochen oder wir nehmen etwas unterwegs mit, ganz egal. Dann sehen wir einen Film oder spielen von mir aus noch an der Playstation und dann gehst du ins Bett, damit du morgen früh losfahren kannst.“ Er hatte Recht. So war es vermutlich am Vernünftigsten. Ich hatte zwar nicht vor den Wagen um den nächsten Baum zu wickeln, aber wer konnte mir schon garantieren, dass das nicht passierte? Reita wartete weder auf meine noch auf die Zustimmung der anderen, sondern schob mich langsam zur Tür, nachdem auch er seinen Mantel angezogen hatte. Ich kann nicht einmal mehr sagen, ob ich mich von den anderen verabschiedet hatte, oder nicht. Ich war mit meinen Gedanken bereits wieder bei Aoi.
 

Reita wartete tatsächlich geduldig, bis ich alle Sachen zusammengepackt hatte. Er war sogar mit mir einkaufen gegangen – ich wollte nicht mit leeren Händen bei Aoi auftauchen. Nicht nach alldem was passiert war. Und obwohl ich genau wusste, was ich wollte, war Reita in diesen Dingen immer ein toller Berater. Da wir beide keine Lust hatten uns noch stundenlang in die Küche zu stellen fiel unsere Wahl auf einen kleinen Rahmenladen, der auch riesige Portionen zum Mitnehmen machte. Dazu noch ein Salat, zwei Dosen LifeGuard für Reita und zwei Coladosen für mich und schon war unser Abendessen fertig. Meine Stimmung schwankte den ganzen Abend lang. Entweder war ich völlig euphorisch und schwebte ich auf Wolke 7, weil ich endlich wusste, dass er mich liebte und diese ganze Geschichte nur ein Missverständnis war, oder ich war deprimiert, weil ich einfach nicht verstand warum er gegangen war, obwohl sich alles so einfach hätte aus der Welt schaffen lassen. Wollte er die Trennung? Ich hatte tatsächlich Angst! Aber wenn ich nicht zu ihm fahren würde, würden wir uns nicht mehr wieder sehen, das war mir bewusst. Von allen Dingen konnte ich das am wenigsten ertragen. Ich schlief schlecht. Die ganze Nacht wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, überlegte, wie ich am besten erklären konnte, warum ich hier war und verwarf die ganzen schönen Worte wieder. Ganze Szenarien wirbelten in meinem Kopf herum. Was, wenn er mich gar nicht rein ließ? Was wenn er mir nicht zuhören wollte? Doch schließlich, inmitten einer schnulzigen Liebeserklärung, übermannte mich der Schlaf.
 

„Uruha?! Ich dachte du wärst schon längst weg!“ Reitas Stimme riss mich am nächsten Morgen aus einem Traum. Er musste gut gewesen sein, denn ich grinste immer noch dämlich vor mich hin, als ich mir den Schlafsand aus den Augen rieb. „Hmm?“ Der Bassist stand mit verschränkten Armen vor mir und sah mich abwartend an. „Los! Komm in die Gänge! Es ist bereits zehn Uhr!“ Während ich aus dem Bett sprang und im Badezimmer verschwand, machte er für mich Frühstück. Hastig schlang ich es hinunter und verschwand dann erneut im Bad um meine Haare zu föhnen. Zwar hatte ich vorgehabt sie lufttrocknen zu lassen, aber es war zu kalt draußen. Ich wurde nicht oft krank, aber ich musste es ja nicht auch noch herausfordern. Reita hatte mir noch einmal Mut zugesprochen und anschließend mit einem ‚Du machst das schon.’ die Tür hinter mir geschlossen. Es war genau 10:45 Uhr als ich endlich den Motor startete und losfuhr. Die Fahrt selbst verlief recht ereignislos. Die Straßen waren frei und ich kam zügig voran, während ich auf einem Radiosender die Charts der Woche verfolgte. Aois Elternhaus lag nicht direkt in der Stadt sondern etwas außerhalb, was den Vorteil hatte, dass man dem Großstadtchaos entkam. Die Einfahrt war frei, weshalb ich das Auto auf der Seite parkte, damit ich die Zufahrt nicht blockierte. Ich atmete tief durch und ließ meinen Kopf gegen die Kopfstütze fallen. Scheiße. Jetzt war ich hier und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Mein Hirn war wie leergefegt. Aber ich war auch nicht den ganzen Weg hier her gefahren, nur um dann im Auto vor dem Haus zu warten und unverrichteter Dinge wieder heim zu fahren. Also atmete ich tief durch, sprach mir selbst Mut zu und stieg aus. Es sah immer noch so aus, wie damals, als ich das letzte Mal hier war. Aois Mutter liebte Blumen und im Gegensatz zu ihrem Sohn hatte sie eindeutig einen grünen Daumen. Die Pflanzen gediehen wirklich prächtig in ihrem Garten, zumindest die, die um diese Jahreszeit eben wuchsen. Ich schluckte trocken, als ich die Stufen zur Eingangstür hochstieg und den Daumen auf die Klingel presste. Jetzt war es zu spät. Ich konnte nicht mehr abhauen. Zuerst blieb alles ruhig im Haus. Doch dann hörte ich, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde und die Tür öffnete sich. „Kouyou! Was für eine freudige Überraschung!“ Aois Vater begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln, so als wäre alles wie immer. „Was beschert uns denn das Vergnügen?“ Ich öffnete die Lippen. „Hiroki-san … Ist Yuu hier? Ich muss dringend mit ihm sprechen. Ich … ich hab einen riesigen Fehler gemacht!“

Kapitel 35

~Aoi POV~
 

Wie ich es versprochen hatte besuchte ich diesen Seelenklempner. Es war nicht halb so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Praxis war ein heller, freundlicher Ort. Die Wände waren weiß, es gab große Fenster, Möbel aus Holz und gemütliche Polstersessel. Die Sekretärin, eine kleine, freundliche Dame mit grauem, schütteren Haar, rotem Lippenstift und Nickelbrille, war schon längst nicht mehr in dem Alter, in dem sie mich als Mitglied einer berühmten Band erkannt hätte. Außer mir waren keine anderen Patienten anwesend. Auch das beruhigte mich etwas. Ich brauchte keine Schlagzeile über mich, in der es hieß, dass ich bei einem Psychologen gesichtet wurde. Das fehlte mir noch zum krönenden Abschluss. Sie bat mich ihr zu folgen und führte mich in einen Raum. Schon beim Eintreten raubte mir der Ausblick den Atem. Die komplette Außenfassade war verglast, weshalb man eine unvergleichbare Aussicht direkt auf die Bucht genießen konnte. Sie holte noch zwei Gläser und einen Wasserkrug, stellte alles auf das kleine, hölzerne Beistelltischchen und deutete auf die Couch. „Bitte nehmen Sie Platz. Der Doktor ist gleich für Sie da!“ Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Er wirkte nicht sonderlich schaurig. Keine Sessel mit Gurten, auf denen man festgeschnallt wurde, keine Liegen oder Medikamentenschränke. Nur ein Sessel und eine braune Couch, auf der weiße Zierkissen drapiert waren. Was wohl die Miete für diese Praxis kostete? Eigentlich war ich froh darüber es nicht zu wissen. Nicht nur die Lage der Praxis, sondern auch die Einrichtung zeugte davon, dass der Besitzer alles andere als arm war. Obwohl man versucht hatte sie recht schlicht wirken zu lassen überzeugten die wuchtigen Bücherregale, der Schreibtisch aus dunklem Holz, der Perserteppich und die Malereien (verdammt war das Bild in der Mitte ein Monet?) vom Gegenteil. Als ich nach weiteren fünf Minuten immer noch alleine im Raum war, beschloss ich sie mir genauer anzusehen. Uruha hätten diese Bilder mit Sicherheit erfreut. Malerei war etwas, das ihn begeistern konnte. Ich selbst sah dort meistens nur Farbkleckse, die ein Kind genauso gut hätte auf die Leinwand spritzen können. Doch diese Bilder gefielen mir. „Mögen Sie die Malerei?“ Beinahe wäre ich vor Schreck zusammengezuckt. War ich so sehr in der Betrachtung der Bilder versunken gewesen, dass ich nicht gehört hatte, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss? Ich drehte mich um und verbeugte mich vor dem Herrn, der nun das Zimmer betreten hatte. Auch er widersprach meinem Bild von einem Psychologen. Mit seinem vollen braunem Haar, das bereits von einigen silbernen Streifen durchzogen wurde, der glatten Rasur und seinen Rundungen sah er Sigmund Freud so gar nicht ähnlich.
 

„Nein, eigentlich nicht. Ein Freund von mir ist begeistert davon. Doktor Adachi, nehme ich an?“ Er nickte, „In der Tat, das bin ich. Sie müssen Shiroyama-san sein?“ Er setzte sich in den Sessel und überließ es mir, ob ich lieber stehen blieb oder ob ich mich auf die Couch setzte. Ich tat Letzteres, weil es für mich seltsam war mich im Stehen zu unterhalten. „Aber nachdem Sie die Bilder so eingehend studiert haben, nehme ich an, dass sie Ihnen gefallen.“ Überrascht sah ich ihn an. Ich hatte damit gerechnet, dass er mich gleich über das ganze Prozedere hier aufklären, mir eine Preisliste vorlegen und dann eine Fragerunde starten würde. Dass wir uns über diese Bilder unterhalten würden, stand sicher nicht auf meiner Liste. „Naja ich verstehe sie, wissen Sie? Mit Landschaften kann ich etwas anfangen aber die Interpretation von diesen abstrakten Malereien überlasse ich dann doch lieber den Profis!“ Er nickte zustimmend. „Also sind Sie ein Mann der Tat und nicht der Gedankenspinnereien?“ Ich stockte bei der Frage wieder. Eigentlich sollte sie nicht so schwer zu beantworten sein, sie forderte mich dennoch. „Ich weiß es nicht.“ Meine Antwort war ehrlich. „Eigentlich weiß ich nicht wirklich wer ich bin. Ich nehme an Sie haben meine Akte angefordert?“ Als er nickte fuhr ich fort. „Dann wissen Sie auch, dass ich vor ziemlich genau einem Jahr einen schweren Unfall hatte. Ich lag mehrere Monate im Koma und als ich schließlich wach wurde konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Das ist auch bisher nicht der Fall.“ „Das habe ich Ihren Akten entnommen, ja.“ „Um zu Ihrer Frage zurückzukommen. Ja ich denke schon, dass ich ein Mann der Tat bin. Andererseits bin … war ich Musiker von Beruf. Ich denke in diesem Bereich muss man seinen Gedanken freien Lauf lassen. Sonst würden bestimmte Melodien niemals komponiert werden. Allerdings glaube ich, dass es ein anderes Gedankenspinnen ist als das, was Sie gemeint haben.“ Oh scheiße … wann war ich denn unter die Philosophen gegangen? Seltsamerweise gefiel es mir sogar! „Wissen Sie das, oder denken Sie das nur?“ Ich stockte wieder und überlegte mir die Antwort genau. „Nun, eine Melodie zu entwickeln ist wie malen. Maler malen mit Pinsel und Farben, Musiker mit Instrumenten und Tönen. Was er schließlich sieht bleibt dem Betrachter überlassen. Nur der Künstler alleine weiß, was er mit dem Endprodukt aussagen möchte, stimmen Sie mir da nicht zu?“ Er sagte weder ja noch nein, sondern erwiderte meinen Blick. „Sie haben interessante Ansichten. Wollen Sie was trinken?“ Er selbst schenkte sich bereits Wasser in sein Glas. Seine Art gefiel mir. Er zwang mich zu nichts, machte das, was er tun wollte und nahm nicht übertrieben Rücksicht. „Ja, gerne!“
 

„Soweit ich mich entsinne sind Sie auch wegen Bildern hier, nicht wahr?", fragte er, nachdem wir uns beinahe eine halbe Stunde über alles Mögliche unterhalten hatten. Es war die erste Frage, die er mir bezüglich meines Termins heute stellte. „Ja, so kann man es auch sagen.“ Er hob nur die Augenbrauen, doch alleine diese Geste brachte mich schon dazu zu reden wie ein Wasserfall. „Ich habe Alpträume. Schlimme Alpträume. Seitdem ich wieder hier in Mie bin ist keine Nacht vergangen, in der ich nicht völlig verstört und mit Herzrasen wach geworden wäre. Da sind diese Bilder … wenn ich aufwache sind sie da, direkt vor meinen Augen. Ich kann sie erkennen, jedes einzelne. Doch wenn ich versuche danach zu greifen, entschwinden sie wieder. Nur die Empfindungen bleiben.“ Etwas verstört sah ich auf das Wasserglas in meiner Hand hinunter. „Welche Empfindungen? Was fühlen Sie, wenn Sie wach werden?“ Ich hob den Blick wieder und runzelte die Stirn. Was ich fühlte? „Verzweiflung. Hilflosigkeit. Angst. Panische Angst! Aber da ist noch etwas … ich habe nicht das Gefühl, dass es um mich geht, verstehen Sie? Ich habe nicht Angst vor diesen Bildern …“ Ich stockte. Verdammt das klang doch ziemlich daneben. Doch er machte nur eine leichte Bewegung, die andeutete, dass ich weitersprechen sollte. „Meine Hände zittern und ich habe oft starke Kopfschmerzen.“ „Was glauben Sie, was die Bilder Ihnen zeigen?“ Mein Blick glitt zum Fenster und hinauf in den blauen Himmel. „Was sie mir zeigen?“ Seine Stimme war irgendwie beruhigend. „Nun ja. Ich denke Sie wissen im Unterbewusstsein sehr wohl, welche Bilder es sind. Sie können sie nur nicht klar sehen.“ Eine Weile herrschte Schweigen zwischen uns. „Der Unfall … ich glaube ich träume vom Unfall!“ Das Wasser schwappte im Glas umher, als ich es an meine Lippen hob und einen kleinen Schluck trank.
 

Ich war gerade viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich mich noch groß hätte unterhalten können. Mit meiner Vermutung hatte ich Recht, das wusste ich. Aber ich verstand nicht, warum diese Bilder jetzt kamen. Warum nicht schon kurz nach dem Unfall? Diese Frage stellte ich ihm auch. „Ganz sicher kann ich mir noch nicht sein, aber bei Ihnen wurde eine Amnesie diagnostiziert. Ich vermute, dass Sie sich kurz nach dem Unfall einfach wegen dieser Amnesie nicht erinnern konnten. Doch jetzt kehren Ihre Erinnerungen langsam zurück. Dafür muss es einen Auslöser gegeben haben. Können Sie sich daran erinnern, wann diese Alpträume das erste Mal vorkamen?“ Überlegend runzelte ich die Stirn. Die Träume hatten in der Nacht angefangen, in der sich Uruha von mir getrennt hatte. War das der Auslöser? Oder gab es einen anderen? Als ich nicht antwortete nickte er leicht. „In Ordnung, lassen Sie die Frage einfach auf sich wirken. Wir sprechen in der nächsten Sitzung darüber.“ Ich nickte automatisch. So wirklich hatte ich nicht mitbekommen, was er gerade gesagt hatte. Er gab mir noch ein bisschen Zeit um mich wieder zu fangen. Dann sprachen wir über die Zeit nach dem Koma. Wie es war wieder ins Leben einzusteigen, mein Beruf, das Gitarrespiel, Uruha. Ja ich erzählte ihm auch von meinem Exfreund, auch wenn ich eigentlich der Meinung war, dass er hier in diesem Raum nichts verloren hatte. Aber wenn ich mir Hilfe erwartete, musste ich wohl oder übel auch kompromissbereit sein. Außerdem gab es ja das Arztgeheimnis, was bedeutete, dass alles was ich erzählte hier in diesem Raum bleiben würde. Zuerst hatte ich geglaubt, dass zwei Stunden für so eine Sitzung extrem lang wären. Doch jetzt erkannte ich, dass es viel zu wenig Zeit war. Ich hatte nicht einmal die Hälfte von dem erzählt, was tatsächlich vorgefallen war. Doch Dr. Adachi schien sehr zufrieden mit mir zu sein. Er nahm mir das Versprechen ab noch mal über den Auslöser der Alpträume nachzudenken. Jetzt, wo ich mit jemanden über die gesamte Situation gesprochen hatte, fühlte ich mich irgendwie … besser. Beinahe erleichtert. Ich ließ mir einen weiteren Termin geben und verabschiedete mich sowohl vom Arzt, als auch von der Sekretärin. Dann zog ich meine Jacke über und lief die Stufen des Gebäudes nach unten. Nach den ganzen Offenbarungen konnte ich nicht still stehen - ich brauchte ganz dringend Bewegung.
 

Zu Hause angekommen fanden meine Füße von selbst den Weg zum Strand hinunter. Ich wollte ein bisschen alleine sein um meine Gedanken ordnen zu können. Die Wände in meinem Zimmer konnte ich einfach nicht mehr sehen. Obwohl es bereits Mitte April war, war es immer noch recht kühl, weshalb ich den Reißverschluss der Jacke noch etwas höher zog. Meine Schritte lenkten mich am Strand entlang. Die Luft war frisch und schmeckte salzig. Auch wenn ich es nicht gerne zugab, das Gespräch hatte gut getan. Mit einem Unparteiischen zu sprechen und einfach einmal alle Gedanken, die in meinem Kopf herumschwirrten, los zu werden, hatte mir geholfen alles klarer zu sehen. Seltsamerweise ließen sich meine konfusen Gedanken jetzt ein bisschen besser ordnen. Ich war nach wie vor davon überzeugt die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Das Schlimmste wäre für mich, wenn Uruha mir eines Tages vorwarf, dass er wegen mir alles aufgegeben hatte. Andererseits hatte mein Vater in einem Punkt recht: Vielleicht hatte ich vorschnell gehandelt. Vielleicht hätte ich es einfach laufen lassen müssen. Das Schicksal ging hin und wieder verworrene Wege, wodurch man das Endergebnis nicht immer absehen konnte. Möglicherweise kam noch irgendwo eine Weggabelung – weiter hinten, die man von diesem Standpunkt aus nicht sehen konnte. Ich kletterte auf einen der Felsen und starrte gedankenverloren aufs Wasser hinaus. Warum zerbrach ich mir darüber immer noch den Kopf? Das mit Uruha war vorbei. Die Band hatte ich verlassen. Ich wollte hier einen neuen Anfang wagen. Doch so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte, war es nicht. Die Ketten umgaben mich noch immer, auch wenn ich geglaubt hatte sie zerreißen zu können, wenn ich Tokyo verließ. Meine Gefühle und Gedanken abzustellen war allerdings schwieriger, als meinen Hintern in eine andere Präfektur zu verfrachten. Schade, eigentlich. „Hey Brüderchen! Wie lange willst du noch Statue spielen? Lass uns nach Hause gehen, bevor du dich erkältest!“ Erschrocken drehte ich mich um und konnte ein Grinsen nicht verkneifen, als ich Kazuya hinter mir stehen sah. „Erschreck mich nie wieder so! Was machst du hier?“ „Mum hat mich zum Essen eingeladen! Klingt als gäbe es heute ein Festmahl!“ Ach ja? Hatten wir heute was zu feiern? Andererseits kochte Mum sehr gerne und da sich Kazuyas Freundin auf einer Reise befand war er ausnahmsweise abkömmlich. Vielleicht versuchte sie sich an einem neuen Rezept. „Mit hier meinte ich eigentlich hier am Strand.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich mache es genauso wie du! Wenn ich über etwas nachdenken muss, gehe ich oft am Strand spazieren. Das hilft!“ „Du hast Sorgen?“ „Nicht direkt Sorgen … ein schwieriger Fall im Krankenhaus. Dabei ist die Kleine erst drei Jahre alt und schon so tapfer!“ Es war ein vertrautes Gefühl neben ihm nach Hause zu laufen. Er erzählte mir von seinem Job im Krankenhaus. Aus der Art, wie er erzählte schloss ich, dass er mit Leib und Seele Arzt war. Selbst jetzt konnte er nicht ausschalten, sondern sinnierte laut über mögliche Behandlungsmethoden seiner kleinen Patientin. „Du weißt schon, dass ich dir in diesem Bereich nicht helfen kann, oder?“, fragte ich schließlich, als er weitere Therapien aufzählte. Ein leises Lachen entkam ihm. „Ja, ich weiß. Aber ab und zu hilft es mir laut zu denken.“ „Na dann…“ Vielleicht sollte ich das auch mal versuchen.
 

Wir waren beinahe zu Hause angekommen, als uns ein einzelner Fußgänger entgegenkam. Er war sehr schlank und trug einen knielangen, schwarzen Mantel, dessen Kragen aufgestellt war. Der Schal flatterte im Wind nach hinten. Ohne erkennbaren Grund machte mein Herz plötzlich einen aufgeregten Hopser und begann schneller zu klopfen, meine Handflächen wurden nass, mein Atem ging hastiger. Nervös begann ich an meinen Ärmeln zu zupfen, während meine Augen wie hypnotisiert jede Bewegung des Unbekannten verfolgten. Mein Bruder, der ihn noch nicht bemerkt zu haben schien, erzählte munter weiter. Die Gestalt kam mit festen Schritten direkt auf uns zu. „… habe mir überlegt, dass wir vielleicht … Yuu, hörst du mir überhaupt zu?“ Kazuya sah mich fragend von der Seite aus an und folgte schließlich meinem Blick. „Sieh mal einer an, mein Bruder bekommt Besuch!“ Seine Worte rissen mich aus der Trance. Das war kein Trugbild! Er war hier! Verdammt! Er war tatsächlich hier! Und er war genauso schön, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Seine dichte Mähne fiel über seine Schultern, seine dunklen Augen blitzten auf, als sich unsere Blicke trafen. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Wo zum Teufel war das verfluchte Loch im Boden, wenn man mal eines brauchte?! „Hallo Kazuya. Hallo Yuu.“ Seine Stimme war Balsam für meine geschundene Seele, umhüllte mich warm und zärtlich wie Honig. Ich hatte sie so sehr vermisst. Sofort wurde mein Herzschlag ruhiger. Noch immer hatte er diese Wirkung auf mich. „Hey Kouyou, schön dich mal wieder zu sehen. Ich denke du willst zu ihm! Dann bin ich ja überflüssig.“ Dabei warf Kazuya mir einen kurzen, warnenden Blick zu, ignorierte mein stummes Flehen, er möge bleiben und marschierte an uns vorbei zum Haus meiner Eltern.
 

Uruha sagte kein Wort, sah mich nur aus diesen verführerischen, dunklen Augen an, in denen ich immer wieder versinken konnte. Sein Parfum stieg in meine Nase – Gucci Rushes. Ob er wusste, wie sehr ich diesen Geruch liebte? Immer noch konnte ich ihn nur anstarren. Niemals hatte ich damit gerechnet, dass er hierher kommen würde! Er hatte mir unmissverständlich klar gemacht, dass er mich nie mehr wieder sehen wollte. Dennoch stand er gerade vor mir – viel zu nahe und doch viel zu weit weg. „Was machst du hier?“ Ich schluckte trocken. Meine Stimme war heißer, die Kehle wie zugeschnürt. „Ich wollte dich sehen.“ Überrascht riss ich die Augen auf. „Und mich bei dir entschuldigen!“ Ich öffnete die Lippen und schloss sie gleich wieder. Mein Kopf fühlte sich an wie leergefegt. Ein klarer Gedanke – unmöglich. „Deine Cousine, Ru-chan, war gestern im Proberaum.“ Und seinem Erscheinen nach hatte sie zweifellos das ganze Missverständnis aufgeklärt. „Es tut mir so unendlich leid. Meine Reaktion und jedes Wort, das ich zu dir gesagt habe. Ich hätte dich ausreden lassen sollen, aber ich Idiot war so festgefahren in der Meinung, du hättest mich betrogen, dass ich dir gar nicht zuhören wollte.“ Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch die Haare und lachte leise auf. „Ich habe die ganze Nacht kaum geschlafen. Hab immer wieder Szenarien durchgespielt. Ich habe mir überlegt, was ich dir sagen möchte. Und jetzt … jetzt kann ich mich an keines der schönen Worte erinnern, die ich mir für dich zurechtgelegt hatte.“
 

Mit einem Mal fühlte ich mich aufgekratzt, ganz kribbelig. Stehen zu bleiben und ruhig zuzuhören war unmöglich. „Hast du was dagegen, wenn wir ein paar Schritte laufen?“, fragte ich dazwischen. Er schien erleichtert zu sein, dass ich ihm zumindest zuhörte und stimmte zu. Der Sand knirschte leise unter unseren Schritten, als wir eine Weile wortlos nebeneinander herliefen. Gerade als ich nachfragen wollte, weshalb er hergekommen war, räusperte er sich. „Ich war so ein Narr, Yuu. Die Zeit nach dem Unfall war unglaublich schwer für mich. Zuerst musste ich Angst haben, dass du es nicht schaffst und ich alleine zurückbleiben würde. Dann wachst du auf und fragst mich, wer ich wäre. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Schock für mich war. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit! Ich hatte entsetzliche Angst dich zu verlieren! Da du dich nicht mehr an mich erinnert hast war plötzlich alles so … unsicher. Ich befürchtete, dass du mich verlassen würdest!“ Er schloss die Augen, als hätte er Schmerzen und drückte seine Hand auf seinen Bauch. „Unsere ganze Beziehung stand auf Messers Schneide und drohte auf die eine oder andere Seite zu kippen. Ich liebte dich, aber ich war mir nicht sicher, inwiefern du diese Liebe erwiderst und ob ich dir tatsächlich etwas bedeutete. Du hast mir nie irgendwelche Anhaltspunkte gegeben. Du warst so gleichgültig gegen alles, was ich machte. Nein, nicht gleichgültig … du hattest Angst vor mir! Aber ich wusste, ich könnte dir beweisen, dass wir zusammengehören, wenn ich nur mehr Zeit mit dir verbringen dürfte. Ich schwor mir, dass du dich wieder in mich verlieben würdest. Ich konnte nicht akzeptieren dich zu verlieren!“ Er stockte erneut und presste die Lippen aufeinander.
 

Der Wind spielte mit seinen Haaren und wehte sie über seine Schulter nach vorne, weshalb ich nicht erkennen konnte, welche Emotionen sich auf seinem Gesicht spiegelten. Kurz darauf schien er sich wieder gefangen zu haben. „In solchen Momenten neige ich dazu … sehr zu klammern, wie dir vielleicht aufgefallen ist. Wäre der Unfall nicht gewesen und du hättest von einer Frau solche Videobotschaften bekommen … ich hätte mich totgelacht darüber. Ich hätte dir niemals vorgeworfen, dass du mich betrügen würdest. Es wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen.“ Uruha sah scheu zu mir hinüber und schluckte trocken. Seine Finger spielten nachlässig mit einem der Armbänder, die er trug. „Aber … nach diesem Unfall habe ich dir nicht mehr vertraut. Nicht, wegen dem Unfall selbst, sondern weil du plötzlich nicht mehr der Mann warst, den ich kannte. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Dabei habe ich dir noch groß erklärt, dass unsere Beziehung auf Vertrauen basierte.“ Er atmete tief durch und bückte sich. Als er sich wieder erhob hatte er einen kleinen Stein in der Hand. Langsam strich er mit dem Daumen darüber, holte aus und ließ ich auf dem Wasser springen. Drei Mal klappte es, dann ging er unter. „Als ich erkannte, dass diese Frau die Bitch war, die du im Club abgeschleppt hast, ist bei mir eine Sicherung durchgebrannt. Ich war wirklich überzeugt davon, dass du mich seit Monaten hintergehst. In dem Moment waren meine schlimmsten Ängste Realität geworden. Ich hätte mit allem leben können. Aber nicht mit dem Wissen, dass du mit einer Frau schläfst oder sie küsst während wir zusammen sind. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass du sie im Arm hältst, mit ihr kuschelst und ihr die Worte ins Ohr flüsterst, die du sonst mir zuhauchst.“ Seine Stimme war ein dunkles Knurren.
 

Obwohl ich ihn nicht unterbrechen wollte, musste ich mich einschalten, als ich merkte, dass er von falschen Tatsachen ausging. „Mach mal halblang Kouyou! Mit ihr lief nie etwas, mit ihr läuft nichts und mit ihr wird auch nichts laufen!“ „Du bist mit ihr-“ „Das einzige, das ich im Club getan habe war, sie zu küssen, weil ich wissen wollte, wie es ist ein Mädchen zu küssen.“ „Aber-“ „Soll ich dir was verraten? Du küsst tausend Mal besser.“ „Idiot!“ Er schnaubte und schüttelte den Kopf. „Sie hatte ihre Finger an deinem Schwanz und du bist mit ihr zu den Nischen gegangen! Ich hab euch gesehen.“ Ich hob die Augenbrauen. „Blödsinn! Setz das nächste Mal gefälligst deine Brille auf und guck bis ganz zum Ende zu! Als ich kapiert habe für was die Dinger gut sind und was sie von mir wollte, hab ich sie stehen lassen, hab mir einen Whiskey geholt und bin zu unserem Platz zurückgegangen! Glaubst du wirklich ich hätte nach meinem Krankenhausaufenthalt sofort mit der Ersten geschlafen, die mir über den Weg läuft? Noch dazu, wenn ich weiß, dass ich eigentlich seit drei Jahren in einer festen Beziehung lebe? Ich wusste doch, was du für mich empfindest.“ Ohne es zu wollen, war ich etwas lauter geworden. „Oh … das … naja….“ Ich seufzte leise. „Die Nachricht, die du gelesen hast war eine von vielen, die ich von ihr bekommen habe. Ich bin nie zu ihr gegangen, kein einziges Mal. Ich wollte sie anzeigen, weil sie mich nicht in Ruhe ließ …“ „Ich weiß.“ Wieder senkte sich Stille über uns. Uruha schien diese Infos erstmal verdauen zu müssen.
 

„Verzeihst du mir, dass ich so ein Dummkopf war?“, flüsterte er schließlich. „Du hast eine Haarbürste nach mir geworfen!“ Auch wenn ich seine Wut nachvollziehen konnte, war ich doch noch schockiert darüber, dass er in Kauf genommen hatte mich zu verletzen. Seine Wangen färbten sich vor Verlegenheit rot. „Ich war so sauer … und ich … wollte dich nicht mehr sehen! Plötzlich standest du im Türrahmen und hast mich nicht mehr aus dem Bad gelassen … Du hast so wunderschön ausgesehen. Deine Haare waren noch nass und deine Lippen rot, vom Küssen. Ich wusste, wenn du erst reden würdest, würde ich dir alles verzeihen. Aber ich befürchtete nur Lügen zu hören. Ich musste gehen, bevor ich weich werden würde. Und … du warst so stur …“ Er biss sich auf die Unterlippe und schluckte trocken. Mit diesem Geständnis hatte ich nicht gerechnet. Er war wütend und verletzt gewesen und dennoch hatte er mich begehrt? Ein gutes Gefühl. Selbst im Nachhinein, wie ich feststellen musste. Mein innerer Gott jubelte vor Freude darüber. „Jetzt sag ich dir auch etwas und ich will, dass du mir aufmerksam zuhörst!“ Uruha hörte auf mit dem Armband zu spielen und atmete durch. Dann nickte er knapp und sah mich ernst an. „Wir haben beide Scheiße gebaut. Hier geht es nicht darum, ob ich dir verzeihe oder du mir verzeihst. Was passiert ist, ist passiert. Ich kann mich nicht dafür entschuldigen derjenige zu sein, der ich bin. Der Unfall hat uns beide verändert. Ich denke wir müssen hier einen Schlussstrich ziehen …“ Uruha wurde mit einem Mal extrem blass und zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. „… und neu anfangen.“ Da es bereits langsam dunkel wurde, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht so genau sehen, aber ich glaube er lächelte. „Du hast Recht. Ich hatte Angst. Aber nicht vor dir und auch nicht vor einer Beziehung mit einem Mann. Ich hatte Angst dich zu enttäuschen! Du warst immer für mich da, hast mir geholfen, wo du konntest und ich konnte dir nicht geben, was du gebraucht hättest! Ich hab dir angesehen, wie schwer es dir gefallen ist mich nicht liebevoll zu berühren oder mich zu küssen. Du hättest nach allem was passiert war Halt gebraucht und den konnte ich dir nicht geben. Ich war nicht für dich da, als du mich am Dringendsten gebraucht hast. Ich musste erstmal mit mir selbst klarkommen.“ „Das wusste ich doch! Ich habe von dir nicht erwartet, dass du dich um mich kümmerst. Aber ich hätte wissen müssen, dass du dir den Kopf darüber zerbrichst. Du warst schon immer so, wolltest dich immer um mich kümmern. Deshalb li-“ Er stockte wieder und sah auf das Wasser hinaus. „Was?“ Er schüttelte den Kopf. „Ach nichts!“
 

„Die Sache mit dieser … Dame hätten wir dann offensichtlich geklärt, oder?“, fragte ich dann, um die unangenehme Stille zu durchbrechen. Uruha nickte und biss sich nervös auf die Unterlippe. Ein leises Knurren entwich mir. Verdammt wenn er das tat wollte ich ihn küssen. Dabei war ich mit meiner Ansprache nicht einmal halb fertig! „Eine Sache schreibst du dir gefälligst ein für alle Mal hinter die Ohren! Ich würde dich nie, nie, nie … NIEMALS betrügen!“ „Ich weiß! Es tut mir Leid.“ Seine Stimme klang brüchig. Unvermittelt griff er nach meiner Hand und hielt mich am Handgelenk fest. Ich blieb stolpernd stehen und drehte mich perplex zu ihm um. Er drückte meine Hand sanft und streichelte mit dem Daumen über meinen Handrücken. Seine Haut fühlte sich warm an. Sein Blick war ernst und fest auf mich gerichtet. „Ich bitte dich, gib mir noch eine Chance, Yuu. Die ganze Zeit ohne dich war eine Qual. Ich habe es vermisst mit dir zu sprechen oder in deinen Armen zu liegen. Ich habe es vermisst neben dir einzuschlafen und am nächsten Morgen wieder neben dir aufzuwachen. Ich habe es vermisst dich zu küssen oder dich zu streicheln. Gott … Yuu, ich habe dich so schrecklich vermisst. Du bist das Wichtigste in meinem Leben. Ohne dich fühlt sich alles so seltsam leer und sinnlos an. Ich würde alles für dich aufgeben, selbst die Musik, würdest du das von mir verlangen. Ich … ich liebe dich!“ Erst als er seine Hände wieder wegzog bemerkte ich, dass er mir einen Ring angesteckt hatte. Er war silbern, doch in der Mitte war ein dunkelbraunes Lederband eingeflochten. Ich erinnerte mich, dass wir diese Ringe kurz vor unserer Trennung in einem Laden gesehen hatten. „Wir haben darüber gesprochen uns Ringe zu besorgen um zu zeigen, dass wir zusammengehören und unsere Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen. Wenn du mich nicht mehr willst, dann steht es dir frei mir den Ring zurückzugeben. Aber wenn du mich immer noch liebst, bitte ich dich ihn weiterhin zu tragen, damit alle sehen können, dass du mir gehörst. Ich liebe dich, mehr als alles andere auf dieser Welt. Gib uns noch eine Chance, bitte.“
 

Als ich meine Finger zu einer Faust schloss und mit dem Daumen liebevoll über den Ring streichelte, entkam ihm ein leises Schluchzen. Erschrocken sah ich auf. Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich hasste es, wenn er weinte – wenn er wegen mir weinte. Uruha war eigentlich keine Heulsuse, weshalb mich sein Weinen aus dem Konzept brachte. Mit einem Schritt überbrückte ich die Distanz, die sich noch zwischen uns befand, presste meinen Körper an seinen und schlang meine Arme um seinen Nacken. Überraschung blitzte in seinen dunklen Augen auf. Seine Lippen öffneten sich einen Spalt. Sein heißer Atem streifte meine Lippen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mich auf die Zehenspitzen stellte und meine Lippen hauchzart über seine gleiten ließ. „Natürlich liebe ich dich! Mehr, als du dir je vorstellen kannst, Kouyou. Und … gibst du auch mir eine Chance?“ Er erschauderte und beugte sich vor, um mich in einen unendlich zärtlichen Kuss zu verwickeln. Meine Lider schlossen sich flatternd. Seine Lippen bewegten sich warm und weich gegen meine, schmeckten etwas salzig von seinen Tränen. Ich spürte, wie sich seine starken Arme um meine Taille legten und mich näher an seinen harten Körper zogen. Es fühlte sich so unglaublich gut an, so richtig, als wir in einem leidenschaftlichen Zungenspiel versanken. Beinahe konnte ich spüren, wie das Band der Liebe, das uns verband erneut entflammte. Ich gehörte ihm. Mit Leib und Seele. Und er gehörte für immer und unwiderruflich mir.

Kapitel 36

~Uruha POV~
 

Konzentriert knabberte ich auf dem Kaugummi herum und zielte auf die Dartscheibe, die ca. 2 ½ Meter vor mir an der weißen Wand des Hobbykellers hing. „Es ist mir eigentlich egal was wir machen, Aoi. Wenn es dein Wunsch ist, können wir natürlich auch ins Kino gehen!“ Damit ließ ich den ersten Dartpfeil fliegen. Das laute ‚Tock‘, mit dem der Pfeil schließlich in der Zielscheibe stecken blieb, übertönte für einen kurzen Moment sogar Steve Perrys Stimme, die aus den Lautsprechern der Stereoanlage plärrte und die Zuhörer aufforderte niemals den Glauben aufzugeben. Wie passend. „Verdammt! Nur 20 Punkte!“ Eigentlich hatte ich es ja auf den Triple Ring abgesehen gehabt. Schade, der Schuss war wohl danebengegangen. Da Aoi immer noch 80 Punkte hinter mir lag und ich noch zwei Schuss übrig hatte, war es jedoch nicht so schlimm. So schnell würde er mich nicht einholen – vor allem, da er es nicht wirklich auf einen richtigen Wettkampf abgesehen hatte. Ein kurzer Blick über die Schulter bestätigte mir, dass er es sich auf dem geräumigen, schwarzen Sofa gemütlich gemacht hatte, sich Popcorn in den Mund schob und das Ganze mit reichlich Bier runterspülte. „Wir können auch gerne etwas Anderes machen, aber unser Städtchen bietet nicht so viel Zerstreuung wie Tokyo!“, antwortete er und leckte sich das Salz von den Fingern. Wie von unsichtbaren Fäden gelenkt drehte ich mich weiter zu ihm um und biss mir auf die Unterlippe. Ich konnte gerade noch ein heißeres Stöhnen unterdrücken, als seine rosa Zungenspitze sinnlich über die Kuppe des Zeigefingers leckte. Verdammt noch Mal, warum wurde mir dabei so unverschämt heiß?
 

Blöde Frage. Ich kannte die Antwort doch schon. Sie war 171 cm groß, hatte verwuschelte, schwarze Haare, ein verdammt heißes Lippenpiercing, schlanke, lange Beine und einen festen, knackigen Arsch. Ich begehrte diesen Mistkerl. Mit jeder Faser meines Daseins begehrte ich ihn. Er erwiderte meinen Blick und schon begann sich dieses freche Lächeln auf seine Lippen zu schleichen. Das Lächeln, das mich immer dazu brachte den Rest der Welt zu vergessen. Er sah so unwiderstehlich aus und, verdammt noch mal, ich wollte ihn schon wieder! Mein Schwanz drückte unmissverständlich gegen den Reißverschluss der dunklen Jeans, die ich heute trug. Sein wissender Blick ließ mich nur noch härter werden. Dabei hatten wir heute schon drei Mal Sex gehabt! Oder waren es erst drei Mal gewesen? Nachdem wir gestern Abend zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder gegessen hatten, hatten wir uns auf Aois Zimmer zurückgezogen und geredet. Jedoch war die Unterhaltung recht kurz gewesen, da er bereits nach einer viertel Stunde in meinen Armen eingeschlafen war. Er hatte dabei so friedlich ausgesehen, dass ich es nicht über mich gebracht hatte ihn zu wecken. Wir hatten noch eine ganze Woche Zeit bevor ich zurück musste und er schien den Schlaf wirklich zu brauchen. Auch wenn er für mich nach wie vor der schönste Mann auf diesem Planeten war, konnte ich seine unnatürliche Blässe und die dunklen Augenringe kaum übersehen. Heute Morgen wurde ich dann von süßen Küssen geweckt und eins führte zum anderen. Dasselbe galt für die Dusche und für den Balkon. Gut, dass die Nachbarn nicht zu Hause waren.
 

Auch jetzt hätte Aoi vermutlich nichts dagegen, wenn ich langsam über ihn klettern, ihn aus seinen Klamotten schälen und mich langsam und genüsslich in ihm versenken würde. Er war genauso unersättlich wie ich – vor allem nachdem wir uns so lange nicht mehr gesehen hatten. Sein Blick verdunkelte sich mit einem Mal, wurde intensiver. Dieser wunderschöne Teufel rief mich wie eine Sirene. Ich wollte meine Lippen über seine weiche Haut gleiten lassen, wollte ihn schmecken und seine Lustschreie hören. Ich wollte ihn berühren, seinen Körper an seine Grenzen treiben, ihn an der Klippe balancieren sehen und ihm dann den kleinen Schubs verpassen, der ihn fallen ließ. Dennoch verbannte ich diese Gedanken energisch aus meinem Kopf. Wir konnten nicht nur den ganzen Tag übereinander herfallen wie die Karnickel – zumindest nicht im Haus seiner Eltern, auch wenn ich davon ausging, dass den beiden durchaus klar war, dass wir uns nicht nur über die Bettwäsche hinweg ansahen. Obwohl ich sonst eigentlich wenig Skrupel hatte, was den Sex anging, war es mir doch etwas peinlich. Daran änderte auch das Wissen, dass sein Vater gar nicht zu Hause sondern auf der Arbeit war, nichts. Seine Eltern hatten akzeptiert, dass Aoi und ich uns liebten. Es war ihnen auch egal, wenn wir vor ihnen kuschelten oder uns küssten. Aber mehr wollte ich ihnen wirklich nicht zumuten, auch wenn sie damit einverstanden waren, dass ihr Sohn einen Mann als Partner auserkoren hatte. Aois heißer Atem streifte bebend über meine Lippen, als ich mich weiter zu ihm hinunter beugte. Seine Lider schlossen sich in freudiger Erwartung, als ich ihm näher kam. Der Kuss widersprach den heftigen Gefühlen, die in mir tobten. Er war sanft, vorsichtig, so als wäre es unser allererster Kuss. Nur ein kaum merkbares Streifen unserer Lippen, zu wenig um das Verlangen in mir zu stillen, zu viel um mich von ihm zu lösen. Seine Arme schlangen sich um meine Schultern. Ein sanfter Ruck und schon pressten sich seine Lippen fordernd auf meine. Seine kecke Zunge leckte zärtlich über meine Unterlippe, bettelte um Einlass, welchen ich ihm ohne weiteres gewährte. Begierde blitzte in seinen dunklen Augen auf, als der Kuss in einem stürmischen Zungenspiel endete. Seine Finger klammerten sich an mein Shirt, zogen mich zu sich hinunter, was ich zum Anlass nahm mich zu ihm auf die Couch zu legen und ihn fest in meine Arme zu schließen. Sofort schmiegte er sich an mich. Ob ihm bewusst war, dass unsere Körper zusammenpassten wie zwei Puzzleteile? Seine Bauchmuskeln waren fest und dennoch waren sie nachgiebig, als ich darüber streichelte. Ein leiser Seufzer entkam ihm, als ich meine Lippen auf seine rechte Schläfe drückte.
 

„Sag mal Schatz …“ Ich machte eine Kaugummiblase und ließ sie mit einem leisen ‚Plop‘ zerplatzen. „… ich habe da eine Frage, die mir schon seit gestern Abend auf der Zunge brennt.“ „Hmm?“ Sein Lächeln wirkte träge und zufrieden, als er zu mir hoch sah. Ich verstand die Aufforderung als solche und fuhr fort. „Warum hast du eigentlich nicht gleich reinen Tisch gemacht und mir alles erzählt? Das hätte uns beiden doch einiges erspart!“

Der Blick, den er mir daraufhin zuwarf, wirkte etwas zerstreut. Er presste die Lippen aufeinander und sah zu, wie ich mir umständlich eine Handvoll Popcorn aus der Schüssel angelte. „Um ehrlich zu sein, hatte ich das vor. Ich wollte mit dir darüber sprechen und dir alles erklären. An dem Tag, an dem ich Tokyo verlassen habe, war ich im Proberaum.“ Überrascht runzelte ich dir Stirn. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er da gewesen war, sondern angenommen, dass er den Schwanz eingezogen und sich nicht mehr getraut hatte mir und den anderen unter die Augen zu treten. „Ich bin später gekommen, weil ich davor noch beim Arzt war“, ergänzte er. „Aber … warum bist du dann gegangen?“ Da er nicht sofort antwortete beschloss ich ihm etwas Zeit zu geben und begann seelenruhig das Popcorn zu essen. Jedoch schien er immer mehr und mehr in seinen Erinnerungen zu versinken. „Yuu? Lässt du mich auch an deinen Gedankengängen teilhaben?“ Wie üblich brachte ihn sein Name dazu mich wieder wahr zu nehmen. Ein schwaches Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er etwas ungelenk in die Popcornschüssel griff. Seine Stimme klang etwas kratzig, als er wieder zu sprechen begann. „Ich wollte gerade den Proberaum betreten, als ich meinen Namen hörte. Ich weiß ja, wie es dem Lauscher an der Wand ergeht, dennoch konnte ich nicht anders als zuzuhören.“ Ich stutzte. Er hatte gelauscht? Kurz tauchte ich in meinen Erinnerungen an diesen Tag ab. Das was ich gesagt hatte war doch wohl absehbar gewesen. Hatte ich ihn damit so sehr verletzt, dass er gegangen war? „Nein, das hast du nicht. Es war wohl klar, was du nach alldem von mir hältst. Um ehrlich zu sein habe ich auch nichts anderes erwartet.“ Ups … ich hatte mal wieder laut gedacht. „Aber, warum dann?“ Er fuhr sich durch die kurzen Haare und atmete tief durch.
 

„Kou, das mit uns hätten wir schon irgendwie hinbekommen. Ich war zuversichtlich, dass sich alles zum Guten wenden würde, wenn ich dir alles erkläre. Natürlich hat es wehgetan zu hören, wie du plötzlich über mich sprachst. Dennoch hatte ich es nicht anders verdient! Ich hätte mit dir schon viel früher darüber reden müssen, damit es gar nicht erst so weit kommt!“ Mein Blick heftete sich wieder auf den Mann vor mir. Aoi war schon immer so verdammt vernünftig und einsichtig gewesen, wenn es um solche Dinge ging. Dennoch verstand ich nicht. „Wenn du das gewusst hast, was hat dich dann dazu gebracht mich und die anderen im Glauben zu lassen du hättest mich betrogen, deine ganzen Sachen zu packen und nach Mie abzuhauen?“ Ich konnte nicht verhindern enttäuscht zu klingen. Er hatte alles weggeworfen, was wir uns so mühsam wieder aufgebaut hatten. Aois Seufzen klang, als trüge er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern. „Die Band … Kou, es ging um die Band!“ „Die Band?“ Zweifelnd musterte ich ihn. Das war doch wohl ein schlechter Scherz, oder? „Ich hätte doch alles zerstört, wenn ich länger geblieben wäre!“ Mein Kiefer klappte nach unten. Gott, er meinte das ernst! Obwohl ich mir vorgenommen hatte ein ruhiges Gespräch mit ihm zu führen, konnte ich spüren, wie der Ärger in mir hochkochte, als seine Worte wirklich in meinem Hirn ankamen. „Bist du noch zu retten!? Du belügst und verlässt mich wegen der Band!?“ Meine Finger schlossen sich um seine Oberarme und schüttelten ihn. „Bist du verrückt deswegen alles aufs Spiel zu setzen!?“ Grenzenlose Verwirrung spiegelte sich in seiner Miene wider. „A…aber … die Band ist dein Leben!“ Ich schüttelte heftig den Kopf. „Nein Yuu! Nein. DU bist mein Leben! Ich dachte, wir beide hätten das klargestellt! Ich brauche dich! Ich liebe dich! Ich würde sofort mit der Musik aufhören, die Band in den Wind schießen, würdest du das von mir verlangen!“ „A…aber-“ „Hör auf mir zu widersprechen! Yuu, du kleiner Dummkopf, warum glaubst du, dass du für mich entscheiden musst was ich brauche und was nicht? Warum kannst du nicht akzeptieren, dass ich nur dich will! Dich! Nicht die Band. Nicht die Musik. Keine Noten und keine Gitarren. Nur dich!“ Ich erwiderte seinen Blick fest und legte meine Hand an seine Wange. Liebevoll streichelte ich mit dem Daumen über seine leicht geöffneten Lippen.
 

„Du willst mich?“, flüsterte er heißer. Seine Augen wirkten noch dunkler als sonst. „Wäre ich denn sonst hier?“ „Vermutlich nicht.“ „Ganz sicher nicht!“, erwiderte ich schmunzelnd. Er schloss die Augen und drückte seine Nase an meine Brust. „Tut mir Leid.“ Ah! Wenigstens entschuldigte er sich dafür. „Ich will, dass du mir etwas versprichst!“ Sofort lag sein fragender Blick auf mir. „Triff nicht meine Entscheidungen! Wir können über alles reden, über alles diskutieren, aber versuch nicht mich aus deinen Gedankengängen rauszuhalten und dann einfach zu handeln, weil du davon ausgehst, dass es für mich das Beste ist!“ Als er zu einer Antwort ansetzte, legte ich ihm meinen Zeigefinger auf die Lippen. „Nein, Yuu. Du wirst nicht mehr für mich entscheiden! Du wirst mit mir darüber reden! Verstanden?“ Stille. „Yuu? Versprich es mir!“ Seine warme Hand legte sich auf meine, während er mir einen zarten Kuss auf die Handinnenfläche hauchte. „Ich verspreche dir, dass ich meine Überlegungen mit dir teile, ja?“ Das war zwar nicht ganz die Antwort, die ich hätte hören wollen, doch ich gab mich damit zufrieden und fing seine weichen Lippen zu einem innigen Kuss ein. Ich wollte, dass er alles um sich herum vergaß. Die Sorgen, die er sich machte, die Band, den Unfall. Alles außer uns beide. Ein heißeres Stöhnen entkam ihm, als ich meine Finger über seinen Rücken streicheln ließ und ihn noch enger an mich zog. Seine Lippen öffneten sich einen kleinen Spalt, was ich zum Anlass nahm um meine Zunge über seine Unterlippe gleiten zu lassen und sie zwischen meine Zähne zu ziehen. Herb, männlich, Aoi. Ich liebte seinen Geschmack. „Das fühlt sich gut an, Kou.“ Seine Stimme war nur ein leises Murmeln. Ich küsste ihn erneut und schloss die Augen, als er sich drehte, sodass sein Kopf an meiner Brust zu liegen kam.
 

„Ich weiß, es geht mich eigentlich nichts an, aber wie läuft es mit der Band?“ Seine warmen Finger schlichen sich unter mein Shirt und begannen meine empfindliche Haut zu streicheln. Ich schnaubte leise. „Den Jungs geht’s gut soweit. Ruki schreibt im Moment Songs, Kai schlägt sich wie üblich mit dem Management herum und Reita versinkt in seinen Basslines. Also eigentlich alles so wie immer. Außer, dass du uns allen fehlst!“ Ich hatte gehofft ihm damit eine Reaktion abzugewinnen, aber er sah mich nur weiterhin abwartend an. „Habt ihr noch keinen Ersatz?“ Warum klang seine Frage so unbeteiligt? So als wollte er wissen, wie das Wetter morgen sein würde. „Wir haben ein paar Auditions hinter uns und uns für einen der Männer entschieden, aber um ehrlich zu sein wäre es uns allen lieber, wenn du wieder zurückkehren würdest! Wir standen nur unter Zugzwang, weil wir nächsten Montag einen Liveauftritt haben.“ Er erstarrte neben mir. „Ich will dich nicht dazu zwingen …“, lenkte ich sofort ein. „… aber ich wünsche mir wirklich, dass du mit mir wieder zurück nach Tokyo kommst. Dort ist unser zu Hause, unsere Wohnung, unsere Freunde, unser Job!“ Ich zog ihn fester an mich und sah zu ihm hinunter. Aoi machte keine Anstalten sich aus meiner Umklammerung zu befreien, sondern starrte mich immer noch wie vom Donner gerührt an. Dann schüttelte er langsam den Kopf und räusperte sich. „Uruha, ich bin nicht mehr der Musiker, der andere mit seinen Melodien begeistert oder der auf der Bühne steht, so als würde ihm die ganze Welt gehören.“ Ein humorloses Lachen war zu hören. „Verdammt noch mal, ich kann eine Gitarre ja nicht mal richtig halten, selbst wenn ich wollte. Vom Spielen brauchen wir gar nicht erst anzufangen.“ Meine Hoffnung er würde wieder nach Hause und in die Band zurückkommen, verpuffte bei seinen Worten. „Ich habe mich entschieden nicht mehr auf der Bühne zu stehen. Das ist ok für mich, weil ich mich nicht daran erinnern kann, was ich durch diese Entscheidung verliere. Ich möchte, dass ihr weitermacht, dass ihr der Welt zeigt wer Gazette ist und warum diese Band euch alles bedeutet.“ Aoi drehte sich leicht, damit er zu mir aufsehen konnte. Seine Lippen drückten sich auf meine Brust. „In dieser Zukunft habe ich keinen Platz mehr, Kouyou. Ihr könnt nicht alles aufgeben und darauf warten, bis ich euch wieder einhole. Das könnte Jahre dauern und bis dahin ist euer Traum zu Ende geträumt. Macht bitte nicht den Fehler aus Solidarität zu mir eure Karriere aufzugeben. Ich kann mit allem klar kommen aber nicht damit, dass du mir das eines Tages vorwirfst!“ Entschlossen schüttelte ich den Kopf. „Das wird niemals geschehen!“ „Sag das nicht!“ Unsere Lippen trafen sich zu einem zärtlichen Kuss. „Sag das nicht Uruha, das kannst du nicht versprechen!“
 

Gerne hätte ich ihm widersprochen, aber ich wusste, dass er Recht hatte. „Und was ist mit uns? Wie geht es mit uns weiter, wenn du hier bleibst?“ Ein köstlicher Schauder durchlief meinen Körper, als er seine weichen Lippen über meinen Kiefer gleiten ließ und schließlich mit seinen Zähnen an meinem Ohrläppchen zog. „Ich liebe dich Kouyou und ich will mit dir zusammen sein. Ich habe es ein Mal geschafft dich aufzugeben, aber dazu fehlt mir jetzt die Kraft. Selbst wenn mein Leben davon abhängen würde, könnte ich es nicht. Es jagt mir eine Heidenangst ein und ich weiß auch nicht, ob wir eine Fernbeziehung hinbekommen, aber … Gott, Kou … ich will es zumindest versuchen!“ Seine Worte machten mir tatsächlich Mut. Dennoch plagten auch mich die Zweifel. Es war schon schwierig genug gewesen eine normale Beziehung zu führen als wir noch in derselben Band spielten. Jetzt würden wir uns durch die Arbeit und die Distanz kaum noch sehen und damit konnte ich nicht gut umgehen, das wusste ich schon jetzt. Ich war jemand, der gerne in der Nähe seines Partners war. Das alles würde nicht mehr der Fall sein. Es grauste mich schon jetzt, wenn ich daran dachte alleine in unserer Wohnung zu leben. Niemand würde da sein und mich begrüßen wenn ich nach Hause kam, niemand würde mich fragen wie mein Tag war oder mich einfach nur in den Arm nehmen. Verdammt, ich vermisste ihn schon jetzt, dabei lag er doch warm und anschmiegsam in meinen Armen. „Kannst du es dir nicht noch einmal überlegen? Du musst ja nicht in der Band mitspielen, aber komm doch bitte nach Hause!“ Er schlang seine Arme fester um mich und lehnte seine Stirn an meine, bevor er zu sprechen begann. „Wenn du mich liebst, dann akzeptier diesen Wunsch, bitte!“ Ich stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus und nickte leicht. „Ich liebe dich. Ich kann dich nicht noch einmal verlieren, Kou. Wir werden das hinbekommen.“ Als ich die Stirn runzelte begann er heißer zu lachen. „Guck nicht so skeptisch! Lassen wir es doch einfach laufen. Wir sehen dann ja, wie es weitergeht!“ Ich musterte ihn und musste unweigerlich grinsen, als er mit dem Zeigefinger über meine Stirn streichelte. „Du bekommst Falten, wenn du weiterhin so guckst!“ Mit einem leisen Lachen kapitulierte ich. „Na gut … Laissez les bons temps rouler!“

Kapitel 37

~Aoi POV~
 

Mit einem leisen ‚Rums‘ stellte ich Uruhas Koffer an der Tür ab und blieb etwas unsicher vor meinem Freund stehen. „Fahr vorsichtig und melde dich, wenn du zu Hause bist!“ Verdammt ich hörte mich an wie eine Glucke, was Uruha wohl auch so zu sehen schien – er verdrehte die Augen. „Ich kann dich auch jede Stunde anrufen oder sogar die ganze Strecke über auf freisprechen gehen.“ Entschlossen schüttelte ich den Kopf. „Schon gut, so war das ja nicht gemeint. Es würde mich nur erleichtern, wenn du mir Bescheid gibst, dass du gut angekommen bist, ja?“ „Ich melde mich, versprochen.“ Etwas befangen biss ich mir auf die Unterlippe, was Uruha ein leises Knurren entlockte. Seine Arme legten sich fest um meine Hüften, während ich in den Tiefen seiner dunklen Augen versank und mich an ihn lehnte. „Ich werde dich schrecklich vermissen“, flüsterte ich leise. „Nicht so sehr, wie ich dich vermissen werde.“ „Schleimer!“ Sein heißer Atem streifte über meine Lippen, als er sich zu mir hinunterbeugte, um seine weichen Lippen auf meine zu drücken. Mit einem zufriedenen Seufzen erwiderte ich den sinnlichen Kuss und ließ meine Finger durch seine seidigen Haare gleiten. Die Wärme seines Körpers hüllte mich ein, hieß mich willkommen. Sein Parfum stieg mir in die Nase. Mit geschlossenen Augen genoss ich seine Umarmung, bis er den Kuss unterbrach und seine Handfläche an meine Wange legte. Zärtlich zeichnete er mit dem Daumen meine Unterlippe nach. „Du bist dir sicher, dass du hier bleiben willst?“ „Hmmm …“ „Du könntest dir das Konzert auch Backstage ansehen!“ Etwas genervt stemmte ich meine Hände an seine Brust und schob ihn von mir. „Uruha, darüber haben wir doch schon hundert Mal geredet.“ „Du könntest es dir auch von unserer Wohnung aus im Fernsehen ansehen!“ „Das kann ich doch hier auch!“ Uruha bettelte seit ein paar Tagen, dass ich ihn nach Tokyo begleiten sollte, war damit bei mir aber immer wieder auf Granit gestoßen. Die Entscheidung hier zu bleiben fühlte sich richtig an. Zurück nach Tokyo zu gehen hingegen, löste in mir ein Chaos an unterschiedlichen Gefühlen aus, die mir mehr Angst machen als dass sie das Verlangen weckten ihn zu begleiten. „Na gut …“ Er klang enttäuscht. Doch dann schüttelte er den Kopf und seine Augen blitzten übermütig auf. „Bis später, Aoi. Ich liebe dich!“ Ich konnte spüren, wie sich meine Lippen zu einem glücklichen Lächeln verzogen. „Ich liebe dich auch!“ An den Türrahmen gelehnt sah ich dabei zu, wie er den Koffer zum Wagen trug. Der Wind spielte mit seinen Haaren und wirbelte ein paar seiner Strähnen nach hinten. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf seinen Hintern glotzte, als er seine Sachen in den Kofferraum hievte und mir über die Lippen leckte. Er sah einfach nur heiß aus in der engen Jeans und dem dunklen T-Shirt. Hätte ich gekonnt, hätte ich ihn einfach wieder in mein Zimmer gezogen, hätte ihn langsam aus seinen Klamotten geschält, während meine Lippen über seine weiche Haut- „Wir sehen uns spätestens nächstes Wochenende!“, rief er zu mir hoch und riss mich aus meinen Tagträumen. „Viel Spaß heute Abend und vergiss nicht mich anzurufen!“ Ich wank, als er sich hinters Steuer setzte und kurz darauf verschwanden die Rücklichter seines Wagens hinter der nächsten Kurve.
 

Ich ließ mich gegen die geschlossene Tür sinken, legte meinen Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er war weg. Warum fühlte ich mich deshalb plötzlich so leer? „Das war’s? Du lässt ihn tatsächlich gehen?“ Erschrocken riss ich die Augen auf und starrte direkt in die meines Vaters. Er stand mit verschränkten Armen in der Küchentür und musterte mich, als hätte ich gerade eine riesen Dummheit begangen. Dieser prüfende Blick war mir verhasst! Irgendwie bekam ich das Gefühl als wäre ich ein kleines Kind, das etwas Falsches gemacht hat und sich nun deshalb entschuldigen muss. „Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich kann ihn schlecht hier behalten, wenn er arbeiten muss!“ „Lässt dich das tatsächlich so kalt?“ Ungläubig runzelte ich die Stirn. „Das ist nun mal so!“ Obwohl meine Stimme sicher klang, krümmte ich mich innerlich. Natürlich ließ es mich nicht kalt! Die Sehnsucht nach meinem Gitarristen hielt mich bereits wieder in ihren Fängen, dabei war er noch keine fünf Minuten weg. „Du hast mir doch vorgeschwärmt er wäre die Liebe deines Lebens!“ Ich wusste, dass er übertrieb – maßlos. Dennoch machte es mich wütend. Warum zum Teufel mischte er sich hier überhaupt ein? „Worauf willst du hinaus?“ „Du hast gerade den Mann gehen lassen, der für dich die Welt bedeutet … ohne mit der Wimper zu zucken! Dabei liebst du ihn doch, oder nicht?“ Was soll die Frage? Natürlich liebte ich ihn. Gerade deshalb musste ich ihn gehen lassen. Uruha liebte das Leben als Musiker. Er brauchte dieses Leben. Hier bei mir zu bleiben würde ihm das Leuchten in seinen Augen nehmen und dafür wollte ich nicht verantwortlich sein! „Wie soll das dann mit euch beiden weitergehen?“ Das wusste ich doch selbst nicht – nicht jetzt. Wir hatten zu wenig Zeit gehabt um uns darüber klar zu werden. „Yuu Shiroyama ich rede mit dir!“ Entschlossen erwiderte ich seinen ernsten Blick. „Lass das mal unsere Sorge sein. Wir werden eine Lösung finden!“ „So wird es aber keine Lösung geben! Das zarte Pflänzchen eurer Liebe wird verdorren noch ehe es erblüht!“ Wut flackerte in mir auf. Warum redete er immer gegen mich? Warum zum Teufel konnte er mich denn nicht ein einziges Mal unterstützen? „Tu mir einen Gefallen und halt dich da raus! Das ist für dich nicht von Belang und außerdem sind Fernbeziehungen nicht im Vorhinein zum Scheitern verdammt!“, schnauzte ich ihn an. Obwohl ich mich im Recht fühlte, wandte ich meinen Blick ab, als er mich durchdringend musterte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verschwand er wieder in der Küche. Verdammt! Da ich gerade viel zu wütend war um ihn um Verzeihung zu bitten, stieg ich die Treppe nach oben und betrat mein Zimmer. Unschlüssig blieb ich mitten im Raum stehen, öffnete dann jedoch die Tür und trat nach draußen auf den Balkon. Von dort aus kletterte ich aufs Dach, wo ich mich schließlich auf den Rücken legte, um den Ausblick aufs Meer und die wärmenden Sonnenstrahlen zu genießen.
 

„… denn jetzt schon wieder?“ Die Stimme meiner Mutter drang an mein Ohr. Da ich sie so klar hören konnte, musste sie direkt unter mir auf der Terrasse stehen. „Müsst ihr beide euch denn dauernd streiten? Ich dachte es wäre besser geworden, seitdem Yuu in der Band ist.“ Verblüfft riss ich die Augen auf, als mir klar wurde, dass sie von der Zeit vor dem Unfall sprechen musste. Ich war mit meinem Vater sehr gut klargekommen, seitdem ich in Mie lebte, weshalb diese Frage für mich sehr überraschend war. Hatten wir uns früher oft gestritten? Mein Vater gab keine Antwort, sondern brummelte nur vor sich her. „Hiroki! Ich rede mit dir!“ „Jaja, schon gut! Ich hatte ja nicht vor mich mit ihm zu streiten. Ich verstehe nur nicht, wie er Kouyou jetzt einfach gehen lassen kann, nachdem sie endlich wieder zueinander gefunden haben!“ Da seine Stimme etwas dumpfer klang musste er wohl im Wohnzimmer sein. Ich konnte beinahe sehen, wie er im Raum auf und ab tigerte. „Denkst du nicht, dass das ihre Sache ist?“ Ein dunkles Seufzen war zu hören, dann ein Rascheln, so als ob er sich auf die Couch gesetzt hatte. „Nein, nicht ganz! Hast du nicht mitbekommen, dass er keinen einzigen Alptraum hatte, seitdem Kouyou hier war? So ruhig hat er in der ganzen Zeit vorher nicht ein einziges Mal geschlafen! Er hat wieder normal gegessen und ist nicht mehr so bleich, wie noch vor einer Woche! Ich habe Angst, dass er wieder einen Rückfall erleidet! Ich mache mir doch nur Sorgen.“ „Hast du ihm das auch so gesagt? Au, diese blöden Dornen!“ Sie räusperte sich leise, so als wäre ihr der Fluch unangenehm. Er klang entsetzt, als er antwortete. „Natürlich nicht!“ „Und wieso glaubst du dann, dass er versteht auf was du hinauswillst?“ „Mein Gott, Frau. Er ist doch kein Kleinkind mehr! Er braucht Uruha und das weiß er auch!“ Während er sich weiter echauffierte schweiften meine Gedanken ab. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich keine Alpträume mehr gehabt hatte. Jetzt, da er es angesprochen hatte, erkannte ich, dass es die Wahrheit war. In Uruhas Nähe zu sein, ihn bei mir zu haben schien mich tatsächlich soweit beruhig zu haben, dass die Alpträume verschwunden waren. Ich erinnerte mich auch, dass sie angefangen hatten, als Uruha und ich uns gestritten hatten und er gegangen war. Die ganze Nacht hatten mich Alpträume geplagt, aber wie auch sonst konnte ich mich nicht daran erinnern was sie mir gezeigt hatten.
 

„Ich habe heute mit Dr. Adachi gesprochen.“ Der Name des Arztes aus dem Mund meines Vaters ließ mich hellhörig werden. „Er sagte, dass-“ „Warte … du hast was?“ Meine Mutter klang entsetzt. Mir ging es ähnlich. Wie war das nochmal mit dem verdammten Arztgeheimnis? Ich konnte beinahe sehen, wie mein Vater die Augen verdrehte und mit den Schultern zuckte. „Er hat angerufen und wollte wegen eines Termins nachfragen, weil seine Assistentin wohl krank war und sich etwas verschoben hat …“ „… und ihr seid ins Plaudern gekommen und habt schließlich über Yuu gesprochen?“ Nun mischte sich auch Neugierde in ihre Stimme. „So ungefähr.“ „Ungefähr?“ „Naja nicht direkt! Ich wollte wissen, wie es sein kann, dass er weiß wie man einen Computer bedient, aber riesige Probleme dabei hat auch nur einen Akkord auf der Gitarre zu spielen.“ Es entstand eine kurze Pause, in der sogar ich die Luft anhielt. „Ich weiß, dass es falsch ist, aber was hat er gesagt?“ Sie klang, als würde sie sich bei der Frage äußerst unwohl fühlen. „Tja … das Können ist nicht das Problem!“ Was zum Teufel hieß das schon wieder? Ich konnte es doch offensichtlich nicht, sonst würde ich bereits wieder auf der Bühne stehen! Meine Mutter musste wohl genauso ungläubig aussehen. „Dr. Adachi glaubt, dass er das Gitarrespielen irgendwie mit dem Unfall in Verbindung bringt – unbewusst natürlich. Die Angst, dass etwas Ähnliches passieren könnte hemmt ihn und verhindert, dass er sich ernsthaft bemüht zu spielen.“ Mein Unterkiefer klappte nach unten. Im Grunde genommen hieß das doch, dass ich mir selbst im Weg stand, oder? Dennoch konnte ich nicht anders als an die vielen Stunden zurückdenken, in denen ich mich verzweifelt darum bemüht hatte mit den anderen Schritt zu halten. Ich hatte es versucht! Ich hatte alles gegeben. So tief im Unterbewusstsein konnte das doch gar nicht verankert sein, dass ich es mit monatelangem Üben nicht in den Griff bekam! „Ich weiß nicht, ob ich es ihm erzählen sollte. Der Arzt meint, dass er selbst draufkommen sollte.“ „Und du denkst?“ „Dass er dabei ist einen riesen Fehler zu begehen, den er nie mehr wieder rückgängig machen kann. Vielleicht muss er es wissen um weitermachen zu können. Die Musik ist sein Leben. Das war sie schon immer. Ich weiß, dass der Unfall viel von ihm gefordert hat und auch, dass es sicher nicht leicht ist wieder in sein altes Leben einzusteigen. Aber das war das Leben, das er sich immer erträumt hat. Er wird es bereuen, wenn er es aufgibt. Vielleicht nicht jetzt gleich. Vielleicht nicht nächste Woche, aber irgendwann mit Sicherheit. Und dann wird es zu spät sein!“ Seine Worte hallten noch lange in mir nach.
 

Das Fehlen der wärmenden Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht ließ mich zwei Stunden später wach werden. Als ich träge blinzelte erkannte ich eine dunkle Silhouette zu meiner rechten Seite. Vater hatte sich neben mich gesetzt und sah auf das Meer hinaus. Schweigen. Nur das Rascheln der Blätter war zu hören, als der warme Wind an den Ästen der Bäume rüttelte. Noch vor einer Woche war es eiskalt gewesen. Jetzt war es Frühling geworden. Leise Töne, die sich zu sanften Melodien verdichteten, mischten sich unter das leise Rauschen. Mama spielte wieder. Sie hatte sich früher oft ans Klavier gesetzt und uns vorgespielt. „Tut mir leid, ich hätte dich nicht so anfahren dürfen.“ Ich hasste diese Stille zwischen uns. „Du bist früher immer hier rauf gekommen, wenn du nachdenken musstest.“ Überrascht sah ich zu ihm hinüber und musterte ihn. Silberne Streifen durchzogen sein schwarzes Haar. Er wirkte müde, doch seine Augen glänzten aufmerksam, wodurch er viel jünger wirkte, als er eigentlich war. Die Fältchen um seinen Augen und dem Mund fielen nicht so deutlich auf, wenn er so ernst guckte, wie jetzt gerade. „Ja, der Himmel ist wunderschön.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu, verbarg ein Schmunzeln, welches ich dennoch deutlich sehen konnte. „Ich glaube eher weniger, dass es der Himmel war, der dich hier rauf getrieben hat, sondern viel mehr der Anblick des Meeres. Du hast es immer geliebt.“ Ich folgte seinem Blick auf das blaue Wasser, in dem sich die Sonnenstrahlen spiegelten. „Es lässt mich tief durchatmen, wenn ich das Gefühl habe keine Luft zu bekommen. Es muss schön sein einfach da raus zu fahren und sich einfach dorthin treiben zu lassen, wohin die Wellen wollen. Frei sein. Keine Verpflichtungen und Zwänge zu haben. Tun und lassen, was man will! … Was ist?“ Sein forschender Blick verunsicherte mich. „Das hast du schon einmal gesagt. Mit genau dem gleichen sehnsüchtigen Glitzern in deinen Augen.“ „Was hast du geantwortet?“ „Dass du es machen sollst wie das Meer. Lass dich treiben, sieh dir die Welt an, lebe deine Träume aber mach nicht den Fehler und lass Dinge los, an denen du festhalten möchtest. Sie werden dir nicht folgen.“ Die Worte waren so vertraut. Ich setzte mich auf, schlang meine Arme um mein Knie und sah auf die tanzenden Wellen hinunter, während die Klaviermelodien sanfter wurden.
 

„Als Kazuya sechs war, hatte ich begonnen ihm das Gitarrenspielen beizubringen. Weißt du, als Vater möchte man einen guten Draht zu seinen Söhnen haben. Man möchte etwas finden, das man zusammen machen kann - ein gemeinsames Hobby. Kazuya war zwar am Anfang begeistert, aber mit der Zeit hat er sich mehr für seinen Elektrobaukasten interessiert, als für das Instrument oder die Noten. Eines Morgens kam ich an seinem Zimmer vorbei und ich weiß noch, dass ich mich gewundert hatte, als ich hörte wie er eine alte Melodie fehlerfrei spielte. Ich hätte es ihm nie zugetraut, also trat ich ein um ihm zu gratulieren. Mich hat beinahe der Schlag getroffen, als ich dich an der Gitarre sitzen sah. Du warst kaum groß genug um sie zu halten! Deine Augen haben vor Begeisterung geleuchtet und deine Finger haben gezittert, weil sie zu schwach waren die Saiten unten zu halten. Ich erkannte dein Talent und begann dich zu unterrichten und dich zu fördern. Du warst gut! Schon damals wusste ich, dass du eines Tages besser sein würdest als ich.“ Diese Worte bedeuteten mir die Welt. Vor allem, weil ich wusste, dass er mir damit seinen Respekt entgegenbrachte. Er fand mich gut! Etwas, das nicht jeder von sich behaupten konnte. Ich hatte schon bemerkt, dass er ein sehr strenger Lehrer und Beobachter war. Leichtfertig gab er niemals ein Lob. Er streckte die Beine aus und stöhnte leise. „Ich werde alt!“ Mir entschlüpfte ein leises Lachen. Nicht nur er. „Wenn man Kinder fragt, was sie eines Tages werden möchten antworten sie meist Polizist, Feuerwehrmann oder Lehrer. Du sagtest seit klein auf, dass du entweder Profisurfer oder Gitarrist einer berühmten Band werden wolltest. Es war dir egal, was die Leute von deinen Träumen hielten und ob sie damit einverstanden waren oder nicht. Ich weiß noch, wie du mit diesem miesen Semesterzeugnis nach Hause gekommen bist. Ich habe geschimpft. Doch du hast mich nur angesehen und gemeint ‚Was willst du denn? In Musik und Sport habe ich Bestnoten.‘“ Er lachte leise und schüttelte den Kopf. Naja daran konnte ich mich nicht erinnern, aber die Antwort klang nach mir. Eine Hupe ertönte irgendwo unter uns, dann das Dröhnen eines Motors. „Du kannst dir nicht vorstellen wie sauer mich diese Scheißegal-Haltung gemacht hat. Kazuya und Nami waren gute Schüler. Du warst genau ihr Gegenteil und das alles nur, weil du keine Lust hattest zu lernen, denn blöd warst du ja nicht.“
 

Sein Blick war immer noch aufs Meer gerichtet. Er schien mit seinen Gedanken ganz weit weg zu sein. Mama begann mit einer neuen Melodie. Sie war traurig, beinahe melancholisch. Die Töne schienen in mir nachzubeben, während ich seine Worte nochmal im Geiste widerholte und versuchte Erinnerungen an diese Zeiten zu finden. Doch wie schon so oft herrschte nur diese allesumfassende Dunkelheit in meinem Kopf. „Wir sind damals oft aneinander geraten, wir beide. Streit schien an der Tagesordnung zu stehen, dabei meinte ich es nur gut.“ Natürlich hatte er es gut gemeint. Welche Eltern wollten ihrem Kind schon etwas Schlechtes? Ich nickte nur leicht zur Bestätigung, hoffte aber, dass er weitererzählen würde. Es war so wichtig mehr zu erfahren. Ich musste alles wissen. Vielleicht konnte ich mit den Erzählungen mein Gedächtnis wieder zurückbekommen. „In diesem Sommer hattest du den schweren Surfunfall. Seit diesem Tag bist du nur selten aufs Bord gestiegen. Dafür hast du dich immer mehr auf die Musik konzentriert. Du warst früher schon gut, aber ich merkte, dass du innerhalb kürzester Zeit extreme Fortschritte machtest. Aber das war schon immer so bei dir. Wenn du etwas nur wirklich gewollt hast, hast du es dir geholt, ohne Wenn und Aber.“ Sein Blick wirkte … stolz. „Ich war erleichtert, als du die Schule mit Ach und Krach wenigstens abgeschlossen hattest. Dann kam die nächste Hiobsbotschaft. Anstatt dir einen anständigen Job zu besorgen und ein nettes Mädel kennen zu lernen hingst du nur mit deiner ‚Band‘ in Bars und Kneipen herum. Unser Verhältnis verschlechterte sich zunehmend und eines Tages, nach einem ziemlich heftigen Streit, hast du einfach deine Koffer gepackt, dich von deiner Mutter verabschiedet und bist zu Kazuya nach Tokyo gefahren.“ „Zu Kazuya?“ „Ja, er hat dort studiert und dich schon öfters gefragt, ob du nicht in die Stadt kommen möchtest.“ Ich streckte mich und fächerte mir etwas Luft zu. Mir war zu warm, aber ich genoss es hier zu sitzen und ihm zuzuhören, wie er von früher erzählte. Ich kannte die Erzählungen von Uruha und den anderen ab der Zeit in Tokyo. Aber ich hatte nicht gewusst, wie es zu Hause gewesen war und warum ich nach Tokyo gekommen war – nun ja, zumindest nicht so genau. Es bedeutete mir viel, dass er so ehrlich zu mir war. Wann hatten wir wohl das letzte Mal so miteinander gesprochen? „Wie ging es weiter?“ „Wir haben einige Zeit nichts von dir gehört. Eines Abends bekam ich einen Anruf. Ich war überrascht, dass du dich meldetest. Du sagtest nicht viel, nanntest mir nur eine Uhrzeit und einen Kanal im Fernsehen. Du wusstest ja, dass dein alter Herr neugierig genug war um nachzusehen. Ich war so stolz auf dich, als ich dich auf der Bühne gesehen habe. Du hast deinen Traum verwirklicht, hast ihn gelebt, so wie du es dir immer gewünscht hast. Noch am selben Abend bin ich den ganzen Weg nach Tokyo gefahren. Du warst überrascht, als du mir die Tür geöffnet hast. Wir haben lange miteinander gesprochen.“ Und scheinbar hatten wir uns wieder vertragen.
 

„Daraufhin sind wir wieder besser miteinander klar gekommen. Du bist hin und wieder am Wochenende hier in Mie gewesen. Wir haben uns oft zusammen Noten angesehen oder einfach nur gespielt. Es hat uns beiden Freude gemacht. Als du Uruha mitgebracht hast, wusste ich, dass er etwas Besonderes war. Du hast zwar immer von deinen Freunden erzählt, aber du hast sie nie nach Hause eingeladen.“ „Hattest du nie etwas dagegen, dass ich mit einem Mann zusammen bin?“ Er stockte, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. „Um ehrlich zu sein haben deine Mutter und ich sowas schon vorhergesehen. Er war der Einzige, den du öfters mitgenommen hast. Wir haben uns eigentlich nur gefragt, wann ihr beide es merken würdet.“ Er lachte leise. „Dennoch war ich etwas geschockt, als ihr uns eröffnet habt, dass ihr mehr füreinander empfindet. Lächerlich, oder? Gleichzeitig wusste ich auch, dass ich dich erneut verlieren würde, wenn ich mich gegen dich und ihn stellen würde. Das wollte ich auf keinen Fall erneut riskieren. Du bist mir ähnlicher, als du denkst. Wäre ich an deiner Stelle gewesen, hätte ich genauso reagiert. Ich sagte mir, dass du auch mit einem anderen Mann hättest kommen können und Uruha war mir vom ersten Augenblick an sympathisch. Er ist höflich, gesprächig, er versteht etwas von Musik und sogar von Basketball und vor allem macht er dich glücklich. Mehr muss ich nicht wissen um euch meinen Segen zu geben.“ „Danke!“ Meine Stimme brach. Zu hören, dass er mich und auch meine Beziehung zu Uruha tolerierte, sie sogar für gut befand machte mich wirklich glücklich. „Weißt du, du hast mein Talent an der Gitarre, aber die Liebe und Hingabe zur Musik hast du von deiner Mutter geerbt. Wenn du der Meinung bist, dass du in diesem Bereich nicht mehr weitermachen kannst, dann ist das in Ordnung. Du musst nicht auf einer Bühne stehen oder eine Gitarre in den Händen halten um mich stolz zu machen. Das bin ich auch so. Aber du brauchst Kouyou um dich herum. Dies ist einer der Momente in dem du an Dingen festhalten und dich nicht wieder forttreiben lassen sollst.“ „Was würdest du an meiner Stelle machen?“ Obwohl ich die Antwort bereits kannte musste ich die Frage stellen. Er erhob sich und legte seine Hand auf meine Schulter, um sie kurz zu drücken. „Steig ins Auto und fahr zu ihm. Das ist es, was ich tun würde. Ich kann dir nur diese eine Antwort geben, aber schlussendlich liegt die Entscheidung bei dir.“ Damit ließ er mich mit meinen Gedanken alleine.

Kapitel 38

~Uruha POV~
 

„Do nothing but cry day and night …“ Die ersten Klänge von Dahlia erfüllten das Innere des Wagens, als ich auf die Autobahn auffuhr und ordentlich Gas gab. Ich mochte es schnell zu fahren, das war schon immer so gewesen. Aoi, der vor dem Unfall auch der Schnellsucht verfallen war, wäre vermutlich erschrocken, wenn er nun neben mir gesessen hätte. Ich betätigte den Blinker und überholte einen schwarzen Wagen vor mir, der auf der Spur dahinkroch. Wenn der Fahrer nicht bald etwas mehr Gas gab, würde er rückwärts fahren. Ein tiefer Seufzer entkam mir. Ich hatte mir tatsächlich Hoffnungen gemacht, dass er mit mir zurückkommen würde. Einfach weil die letzte Woche so wunderbar verlaufen war. Wir waren wie verliebte Teenager - nein … wir waren schlimmer gewesen. Meine Lippen kribbelten noch immer von unserem Abschiedskuss. Vielleicht hätte ich schwerere Geschütze auffahren müssen um Aoi zu überzeugen. Ich setzte mir die Sonnenbrille auf und begann die Melodie mitzusummen. Die Fahrt an sich war im Gegensatz zur Hinfahrt wirklich anstrengend und zäh. Ich musste mehrmals ausfahren um mir die Beine zu vertreten und die Müdigkeit etwas zu verbannen. Mit jedem Kilometer, den ich fuhr, wurde das Gefühl stärker umkehren zu müssen. Diese Fernbeziehung würde nicht lange gut gehen, das merkte ich schon jetzt. Aoi war mir wichtiger als die Band und das Leben als Musiker. Auch wenn es mir schwer fiel ihn zu akzeptieren, machte sich der Gedanke in mir breit meine Gitarre an den Nagel zu hängen und nach Mie zu ziehen. Für ihn war ich bereit dieses Opfer zu bringen. Ich wollte ihn wieder lachen sehen. Ich wollte glücklich sein! Aoi war derjenige, der mich glücklich machte. War es dann nicht egal ob in Mie oder Tokyo? Wenn er sich nicht dazu überwinden konnte zurück zu kommen, konnte ich es ihm dann nicht einfacher machen?
 

Ich fuhr erneut von der Autobahn ab und parkte den Wagen im Schatten eines Baumes. Der Radio blinkte ein Mal auf und verstummte, als ich den Schlüssel aus dem Zündschloss zog und ausstieg. Ich kramte nach meiner Geldtasche, griff nach den leeren Plastikflaschen und warf sie in den nächsten Mülleimer. Anschließend stiefelte ich über den Asphalt des Parkplatzes zur Tankstelle hinüber und machte mich über das Kühlregal her. Auf dem Fernseher, der an der Ecke mit Zeitschriften hing, liefen gerade die Nachrichten. Irgendwelche politischen Treffen, das Wetter, zwei Unfallwarnungen und schließlich die Top-Events des heutigen Tages. Ich zog die Augenbrauen zusammen, als ich das Foto unserer Band sah. Ich musste dringend mit Kai reden. Es gab hunderte Fotos, die er hätte nehmen können und dann nahm er ausgerechnet dieses hier? Mit einem Schulterzucken wandte ich mich vom Fernseher ab und streifte durch die Regale auf der Suche nach etwas Essbarem. Mein Magen hing in den Kniekehlen, dabei hatte Aois Mutter mich mit einem wundervollen Frühstück überhäuft. Schließlich landeten zwei Wasserflaschen, ein belegtes Brot, ein Eiskaffee und ein Schokoeis auf der Theke der Kasse. Das Mädchen dahinter beobachtete mich kritisch, schien sich aber nicht zu trauen mich anzusprechen. Sie lächelte nur, warf ihre langen Haare über die Schulter und zog die Einkäufe mit zitternden Fingern über das Lesegerät. Freundlich verabschiedete ich mich von ihr und war froh, wieder aus der Tankstelle zu kommen. Wenigstens hatte sie weder zu kreischen begonnen noch hatte sie nach einem Autogramm gefragt! Den Eiskaffee leerte ich noch auf dem Weg zum Auto. Den Rest meines Einkaufs legte ich auf den Beifahrersitz, schnallte mich an und fuhr weiter, während ich an meinem Eis knabberte. Wow und schon wieder stand ich im Stau. Die Jungs würden mir dafür die Ohren abreißen. Eigentlich hätte ich gestern schon zurückfahren müssen. Da der Soundcheck aber erst ab 14:00 Uhr angesetzt war, war ich der Meinung gewesen, dass ich genauso pünktlich ankommen konnte, wenn ich bereits am frühen Morgen losfuhr. Dadurch war mir eine Nacht mehr mit Aoi vergönnt gewesen. Jetzt stellte ich fest, dass das so ziemlich die dämlichste Idee war, die mir nur hatte einfallen können. Dieser verdammte Stau wurde nicht besser und wir krochen auf der Autobahn herum, was mir den letzten Nerv raubte. Vielleicht sollte ich doch über die Landstraßen fahren. Gerade als ich abfahren wollte, begann mein Handy zu klingeln. Ich steckte es in die Freisprechanlage und hob ab. „Wo zum Teufel bist du!?“ Oh wow das nannte man doch eine nette Begrüßung, oder? „Äh … hallo Kai. Dir auch einen schönen Tag!“ Klasse! Ausfahrt verpasst. Jetzt konnte ich bis zur Nächsten weiterkriechen. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, hatte ich einen wütenden Kai am Apparat. Nicht, dass ich deswegen gleich in Panik ausbrechen würde, aber mit einem wütenden Kai war nicht gut Kirschenessen. „Wo bist du? Hast du die SMS nicht bekommen?“ Ich drehte den Deckel von der Wasserflasche und genehmigte mir ein paar Schlucke. „Welche SMS?“ Ein leises Seufzen war zu hören. Die Wut schien schneller wieder verraucht zu sein, als ursprünglich angenommen. „Wirklich, du solltest deinen Anbieter wechseln. Bei dir kommen immer nur die halben Nachrichten an! Wir haben den Soundcheck vorverlegt!“ Ich runzelte die Stirn und begann auf dem Handy herumzutippen, da es sowieso nicht weiterging. „Ich hab nichts bekommen! Da ist nichts in meinen empfangenen Mails. Wann soll ich also bei der Halle sein?“ „Tja, was meinst du, warum ich dich gerade jetzt anrufe, hmm?“ „Oh ….“ „Ach ja … Ich hoffe dir geht es besser und du kotzt dir nicht mehr die Seele aus dem Leib? Oder warte Mal … hattest du jetzt Halsschmerzen oder Migräne? Ich hab‘s gleich … ich frage Reita nochmal. Der erzählt nämlich jedes Mal etwas anderes. Ich bin schon gespannt, was du heute hast.“ Oh scheiße! Dieser Idiot! Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr mir durch die Haare. „Kai, ich …“
 

„Schon gut, ich hab dem Management gesagt du hättest dir was eingefangen und liegst deshalb flach. Wie geht es ihm?“ Warum wusste der Kerl immer alles? Das war ja beinahe gruselig. Bei genauerer Überlegung allerdings war es wohl kein Wunder, wenn Reita sich verschiedenste Krankheitsbilder aus den Fingern saugte. „Gut … eigentlich viel besser!“ Ich betätigte den Blinker und fuhr auf die rechte Spur zurück, da es dort etwas schneller ging. „Wir haben uns ausgesprochen und uns wieder vertragen. Ich denke es war gut, dass er eine Auszeit bekommen hat. Vielleicht wollten wir einfach viel zu schnell wieder auf der Bühne stehen. Wir haben alle nicht daran gedacht, dass ihn das vielleicht doch überfordern könnte.“ „Schön zu hören! Und was zweiteres angeht … er hat nie etwas gesagt! Er hätte sich melden können.“ „Seien wir doch ehrlich! Das hätte er nicht! Das Management hat doch bereits Druck gemacht, dass wir bald auf die Bühne müssen, wenn wir unsere Verträge unterschrieben wiedersehen wollen.“ Im Hintergrund ertönte ein lautes Scheppern, dann ein ‚Sorry, Kai!‘ Der Drummer murrte ein leises ‚Pass doch auf‘, schien sich dann aber wieder aufs Gespräch zu konzentrieren, während das nächste Getöse zu hören war. „Kommt er mit?“ „Ich habe versucht ihn zu überreden, aber er möchte nicht zurück nach Tokyo. Ich gebe zu mit dem Gedanken gespielt zu haben ihn einfach gefesselt und geknebelt auf die Rückbank zu setzen, aber das wäre sicher nicht gut angekommen.“ Kai schien den Raum zu verlassen, da die Geräuschkulisse etwas gedämpft wurde. „Nein, ich denke nicht, dass das gut angekommen wäre. Aber wie soll das jetzt weitergehen, wenn er in Mie bleibt?“ Ich nahm die Ausfahrt und verließ die Autobahn fürs Erste. „Ich weiß es nicht. Wir werden es einfach probieren müssen.“ Bevor er weiterfragen konnte räusperte ich mich. „Warum habt ihr überhaupt den Soundcheck vorverlegt? Ist etwas nicht in Ordnung?“ Das lenkte ihn genug ab um mir nicht weiterhin auf den Zahn zu fühlen. Ich wollte ihn nicht mit meinen Zweifeln, geschweige denn mit meinem gedachten Austritt von Gazette, konfrontieren. Das alles war noch zu unüberlegt um es überhaupt irgendjemanden gegenüber auszusprechen. Dazu kam, dass Kai sich sicher dazu verpflichtet fühlen würde mit den anderen zu reden. Und wenn es eine Sache gab, die ich heute mit Sicherheit nicht brauchte, war es eine ‚Lasst-uns-versuchen-Uruha-zu-überreden‘-Aktion. Noch bevor er mir allerdings die Infos geben konnte, hörte ich jemanden seinen Namen rufen. „Warte mal kurz!“ Leises Gemurmel war zu hören, dann war Kai wieder am Apparat. „Ich muss los, das war gerade dringend. Aber nochmal kurz zu deiner Frage: Nein, es ist nichts passiert, aber ich dachte es wäre besser, wenn wir etwas mehr Zeit hätten, damit Kurosaki-san sich mit dir besser abstimmen kann, was die Gitarrenstimmen angeht. Das ist aber nicht weiter schlimm.“ „In Ordnung. Ich bin vermutlich doch etwas früher hier. Wenn wir gleich anfangen, sollte sich das schnell absprechen lassen!“ „Ist gut. Pass auf dich auf. Bis später dann!“ „Ja bis-“ Ich konnte mich gar nicht mehr verabschieden, da Kai bereits aufgelegt hatte.
 

Es dauerte noch eine knappe Stunde, bis ich auf den Parkplatz vor der Halle einbog und endlich den Wagen abstellen konnte. Ich fuhr mir durch die Haare, zog das Haargummi raus und band sie mir wieder zu einem Pferdeschwanz zusammen. Wie versprochen wählte ich Aois Nummer, während ich durstig eine der Wasserflaschen leerte. Überraschenderweise dauerte es länger, bis er ans Handy ging. Im Hintergrund war es laut. „Hallo Schatz, ich bin endlich angekommen.“ „Hey Kou. Wie war der Verkehr? Bist du gut durchgekommen?“ Seine Stimme wirkte wie Balsam auf meine Seele. Die Sehnsucht nach ihm legte sich etwas. Ich seufzte. „Frag nicht … von einem Stau zum anderen. Vermutlich wäre es besser gewesen, wenn ich bereits gestern Abend gefahren wäre!“ Er schnalzte ungehalten mit der Zunge. „Erstens hätte ich dich nachts nicht mehr fahren lassen und zweitens hättest du eine heiße Nacht mit mir verpasst!“ Ich konnte sein anzügliches Grinsen beinahe sehen. Ich erschauderte, als diese unverkennbare Hitze durch meinen Körper strömte. „Das wäre es definitiv nicht wert gewesen!“ Sein leises Lachen drang durchs Handy. „Schön zu hören! Vermisst du mich? Ich tue es nämlich.“ Ich ließ meinen Kopf gegen die Kopfstütze sinken und schloss kurz die Augen. „Ja. Seltsam, nicht wahr? Dabei haben wir uns doch erst vor ein paar Stunden getrennt. Trotzdem fühlt es sich an, als wären es Jahre.“ Wieder nahm der Lärm auf Aois Seite Überhand, sodass ich nicht verstehen konnte, was er antwortete. „Schatz? Wo bist du? Es ist so laut!“ Ein Dröhnen setzte ein. „Beim Friseur!“ Überrascht öffnete ich die Augen und sah kurz in den Rückspiegel. „Beim Friseur?“ „Ja, mir wurde von mehreren Seiten glaubhaft versichert, dass ich unbedingt eine neue Frisur gebrauchen könnte.“ „Davon hast du heute Morgen gar nichts gesagt!“ Nicht, dass ich darauf pochte, dass er mir seinen Tagesplan vorlegte, aber beim Frühstück hatte er gemeint, dass er noch nicht wusste, was er tun wollte. Das Getöse im Hintergrund verstummte. „Das war auch eine spontane Aktion. Meine Eltern sind in die Stadt gefahren und weil ich nicht alleine zu Hause versauern wollte, habe ich mich mit Nami und Kazuya zum Mittagessen verabredet. Da meine Lieblingsschwester heute ausnahmsweise frei hat, habe ich sie auch zum Shoppen begleitet und tja … jetzt sitzen wir beide beim Frisör fest. Sie braucht Strähnchen!“ Ich konnte mich eines Schmunzelns nicht erwehren. Lieblingsschwester. Wenn man nur eine hatte, konnte man das getrost sagen. „Ist das mein Lieblingsschwager?“ Namis Stimme drang durch den Hörer, was mich zum Lachen brachte. „Schöne Grüße!“, trällerte sie. „Schöne Grüße zurück!“ Ich hörte, wie Aoi ihr die Nachricht weitergab und schüttelte den Kopf. Sie war genauso quirlig wie ihr jüngerer Bruder. Kazuya hingegen war eher der ruhige und nachdenkliche Typ. Soweit ich wusste war er Kinderarzt, während Nami wohl einige namhafte Firmen beriet. „Gib ihn mir mal!“, forderte sie Aoi auf, welcher bestimmt verneinte. „Dann frag ihn, welche Farbe besser passt. Uruha!? Rot oder blond?!“ Ich zuckte aufgrund der Lautstärke zusammen, genoss aber die Blödeleien der Geschwister. „Was ist ihr lieber?“ Aoi hatte mich vermutlich auf Laut gestellt oder das Headset auf, denn Nami antwortete sofort. „Ich denke blond, aber Aoi ist für Rot!“ „Weil blond dir einfach nicht steht!“ Aoi schien etwas genervt zu sein. „Uruha gib ihr bitte eine Antwort. Ich beuge mich deinem Urteil, auch wenn du blond sagst, aber sie hört nicht mehr damit auf zu diskutieren! Übrigens … wann beginnt der Soundcheck?“ „Jetzt gleich. Ich sollte mich wohl beeilen.“ „Schade … Dann los! Vergiss nicht, ich guck mir das Konzert heute Abend an!“ „Das will ich doch schwer hoffen.“ „Bis später!“ Ein leichtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. „Sag Nami, dass ich auch für Rot bin!“ „Danke!!“, kam es von ihr. „Na dann … bis bald ihr zwei. Yuu?“ „Hmm?“ „Ich liebe dich.“ „Ich dich-“ Wuuuuhhhhhh! Der verdammte Föhn ging wieder an.
 

In der Halle begrüßte mich der übliche Trubel, der vor Konzerten herrschte. Zwei Tontechniker trugen Kabelrollen an mir vorbei, ein Roadie kam mit zwei Mikrophonständern angelaufen und auf der Bühne lief bereits die Lichtshow ab. Ruki stand inmitten der dafür zuständigen Leute und gab Anweisungen. Typisch. Wenn er nicht mitmischen konnte, würde ihm wohl wirklich etwas fehlen. Ich wich zwei Männern aus, die eine der größeren Boxen in Richtung Bühne schleppten und hob die Hand um Ruki zu begrüßen, als sein Blick in meine Richtung schweifte. „Hey Uruha!“ Ein Arm legte sich um meine Schultern. Ich musste gar nicht lange raten, wer sich da an mich hängte. „Du musst ein bisschen leidender dreinschauen! Du warst bis gestern immerhin noch krank!“ Mit erhobenen Augenbrauen drehte ich mich zu Reita um. „Schön dich zu sehen und danke für die Rückendeckung.“ „Kein Problem. Hat es sich zumindest gelohnt?“ Entschlossen nickte ich, während wir beide zur Bühne schlenderten. „Ja, mehr als gelohnt.“ Ich sah mich um, konnte Kai aber nirgends entdecken. Daher schwang ich mich auf einen Hocker und begann zu erzählen, wie es mir seit der Abreise ergangen war. Reita hörte still zu, kommentierte hin und wieder etwas und brachte mich mit seinem trockenen Humor zum Lachen. Als ich damit schloss, dass Aoi in Mie bleiben wollte, runzelte er die Stirn. „Ich hoffe du hast ihn ordentlich flachgelegt, sodass er zumindest weiß, was ihm entgeht!“ „Reita, das …“ „... geht mich nichts an, ich weiß! Trotzdem!“ Naja in dem Punkt hatte er Recht. „Ich habe gerade mit ihm telefoniert. Er meinte, dass er mich vermisst!“ „Wer vermisst dich?“ Ruki stellte sich zu uns. In seinen Augen blitzte Interesse auf. „Hast du unseren verlorengeglaubten Gitarristen gefunden?“ Ich stieß ein leises Schnauben aus. „Sag mal Reita, hast du allen hier erzählt, dass ich nach Mie gefahren bin? Wenn ja, kann ich es dem Management auch gleich erzählen!“ Ruki kam ihm zuvor. „Quatsch. Er hat dich wirklich ehrenhaft verteidigt. Nur blöd, dass du zwei Tage hintereinander was anderes hattest.“ Als ich die Augen verdrehte rempelte er mich an. „Uruha wir kennen dich lange und gut genug um zu wissen, was du gemacht hast. Das letzte Mal musste Aoi dich nach Hause tragen, weil du dir eingebildet hast mit Fieber und Halsschmerzen zu den Proben zu müssen. Dich hätte einfaches Unwohlsein nicht zu Hause gehalten.“ Recht hatte er. „Was gibt’s Neues?“ Also begann ich mit meiner Erzählung von vorne. Ruki reichte es zu wissen, dass wir uns wieder vertragen hatten, doch auch er wirkte enttäuscht, als ich berichtete, dass Aoi wohl noch einige Zeit nicht nach Tokyo kommen würde. Ich unterbrach mich, als sich Sotooka-san mit einem süffisanten Lächeln zu uns gesellte. Immer mehr verstand ich, warum Aoi ihn nicht hatte leiden können. Schleimig, wie eine Schlange! „Schön Sie zu sehen Uruha-san! Geht es Ihnen wieder etwas besser?“ Ich rang mir ein leichtes Lächeln ab und bejahte die Frage. „Was genau hatten Sie noch einmal? Haben Sie an die Arztbestätigung gedacht?“ „Äh, ja … ich …“ Glücklicherweise rettete Kai die Situation, indem er auf die Bühne kletterte und durch Rukis Mikro den Start des Soundchecks angab. Ich erwiderte Sotooka-sans musternden Blick und folgte Reita und Ruki zur Bühne, wo Kurosaki-san, unser neuer Gitarrist, bereits vorbildlich bei Kai stand und sich den Gurt der E-Gitarre um die Schultern legte. „Schleimer“, murmelte Ruki und stiefelte zu den beiden hinüber. Ich hielt Reita am Ärmel fest, bevor er die Treppe zur Bühne hochsteigen konnte. „Wie macht er sich?“ „Eigentlich ganz gut. Aber der Kerl ist absolut vorlaut und unfreundlich. Ansonsten … joa. Beim Soundcheck kannst du ihn dir nochmal genauer ansehen.“ Ich nickte zustimmend und lief über die Bühne, um mir meine Gitarre umzulegen. „Schön, dass du wieder hier bist! Geht es dir besser?“ Kurosaki-san hatte anscheinend noch nicht mitbekommen, dass ich nicht krank gewesen war. Ich bedankte mich für die Nachfrage und bestätigte ihm, dass es mir wieder gut ging. Dass die Diagnose Liebeskrank nicht als Krankheit zählte musste er ja nicht unbedingt wissen. Kai warf jedem von uns eine Wasserflasche zu und ging mit uns zusammen nochmal die Setlist und anschließend den Auftritt durch. Dann ging es mit Vollgas an die Generalprobe und dem Soundcheck. Immerhin wollten wir den Fans einen grandiosen Abend bieten.

Kapitel 39

~Aoi POV~
 

Die Kieselsteine unter meinen Schuhsolen knirschten leise, als ich aus dem Leihauto stieg und die Tür zufallen ließ. Das Hochgefühl, das mich durchflutete, war unglaublich. Ich war mit dem Auto gefahren – ohne in Panik auszubrechen und ohne einen Unfall zu bauen. Nachdem das Zittern und das Angstgefühl nach den ersten paar Kilometern nachgelassen hatten, hatte es tatsächlich Spaß gemacht verbotenerweise mit 150 Sachen über die Autobahn zu rasen. Mit einem verhaltenen Lachen drückte ich die Schließen-Taste auf dem Autoschlüssel. Das Licht der aufblinkenden Scheinwerfer erhellte die Dunkelheit für einen kurzen Moment. Der Parkplatz war so voll, dass ich mich wunderte überhaupt eine Parklücke in der Nähe des Eingangs gefunden zu haben. Als ich nun darauf zuging erbebte der Boden von den dunklen Basstönen und dem kreischenden Gitarrensound. Ich war spät dran, doch das tat meiner Euphorie keinen Abbruch. Da noch immer Fans, die keine Karten ergattern konnten, hoffnungsvoll vor dem Eingang der Halle herumlungerten und darauf warteten ein Mitglied ihrer Lieblingsband zu sehen, hielt ich mich weit davon entfernt und schlenderte in der Dunkelheit auf den Türsteher zu, der am Hintereingang darauf aufpasste, dass keine ungebetenen Gäste die Halle betraten. „Hey! Du kannst gleich wieder umdrehen! Kein Zutritt für Unbefugte!“, schallte mir eine dunkle Stimme entgegen, kaum dass ich in Sichtweite kam. Sie war mir seltsam vertraut. Für einen Japaner war der Kerl, der breitbeinig vor der Tür stand, riesig. Er zog an seiner Zigarette und stemmte seine muskelbepackten Arme in die Seiten. Ein goldener Ohrring blitzte im Licht der schwachen Außenbeleuchtung auf. „Sitzt du auf den Ohren? Kein Zutritt für dich!“ Unbeirrt setzte ich meinen Weg fort, was ihn definitiv wütend machte. „Diese verdammten Jugendlichen, man hat nichts als Ärger mit denen!“ Er warf die Zigarette weg, trat sie aus und kam mir mit schweren Schritten entgegen. „Ich will einen angenehmen Abend haben und in Ruhe meinen Job machen. Solche Typen wie dich kann ich absolut ni- Ich glaub ich träume, Aoi?“
 

Ich zuckte etwas verlegen mit den Schultern. „Hallo.“ Der Mann begann zu lachen und schüttelte den Kopf. „Unglaublich, ich habe nicht damit gerechnet, dass du uns einen Besuch abstatten würdest!“ „Na dann ist die Überraschung wohl gelungen! Uruha hat mich eingeladen. Er meinte ich sollte mal vorbeisehen, wenn ich es einrichten kann.“ Das stimmte zwar nicht ganz, aber das musste er ja nicht wissen. Gemeinsam schlenderten wir zum Eingang hinüber. Er warf mir immer wieder verstohlene Blicke zu, so als wäre ich ein Geist und würde verschwinden, wenn er mich nicht im Blick behielt. „Du siehst gut aus!“ Das war eine Feststellung und keine Frage, daher nickte ich nur leicht und zuckte vage mit den Schultern. „Wie ist das Konzert?“ „Bis auf den letzten Platz ausverkauft, was aber kein Wunder ist, nachdem ihr so lange Zeit keines mehr gegeben habt. Das erste Set ist beinahe zu Ende, soweit ich weiß.“ Mit einem Ruck zog er die Tür auf und ließ mich eintreten. Ein dunkler, schmaler Gang führte in das Innere der Konzerthalle. An den Wänden stapelte sich ein Karton auf dem anderen. Das Licht flirrte. „Gemütlich hast du’s hier“, meinte ich sarkastisch, was ihn zum Lachen brachte. „Tja, es gibt Schlimmeres, aber das muss ich dir wohl nicht erzählen.“ Er gab mir eine knappe Wegbeschreibung und trat anschließend wieder nach draußen. Noch bevor sich die Tür geschlossen hatte, folgte ich dem schmalen Gang bis zu einer dicken Eisentür, durch die ich schließlich den Haupttrakt der Halle betrat. Es war, als würde man in eine andere Welt eintauchen. Die Decke war höher, die Gänge breiter und an den Wänden hingen teure Gemälde. Es war still, weshalb ich davon ausging, dass das erste Set tatsächlich vorbei war. Etwas unsicher lief ich den Gang hinunter und wandte mich nach Links. Mit jedem Schritt spürte ich, wie die Aufregung in mir wuchs. Es machte mir etwas Angst nicht zu wissen, wie die anderen wohl auf mein Erscheinen reagieren würden. Sie hätten Grund genug wirklich wütend auf mich zu sein. Dennoch war das Verlangen Uruha zu sehen stärker und drängte mich dazu weiterzugehen. Vor einer Tür mit der Aufschrift Garderobe blieb ich schließlich stehen. Mit laut pochendem Herzen klopfte ich an und griff nach der Klinke, um die Tür zu öffnen. Das Erste, was ich sah, war ein langer, weißer Tisch, auf dem Schminksachen, Haarspray, Tassen, Flaschen, Handys und sonstiger Kleinkram lagen. An der Wand darüber hingen fünf große, kippbare Spiegel, an deren Seiten schwenkbare Lampen eingebaut waren. Der Boden darunter wurde von einem großen Teppich bedeckt. Über den weißen Stühlen, mit roter Polsterung hingen Jacken. Stille schlug mir entgegen. Ich schob die Tür weiter auf und stieg über ein Shirt, das vor mir auf dem Boden lag. Überrascht sah ich mich um. An der Längsseite des Raumes, direkt neben dem Schminktisch befanden sich ein Kühlschrank, sowie ein Waschbecken und eine Theke, auf der zwei Kaffeemaschinen und ein Wasserkocher standen. Ein geräumiges, rotes Ecksofa nahm den Platz an der gegenüberliegenden Wand der Theke ein. Es war so positioniert, dass eine Seite mitten in den Raum ragte und somit den Schminkbereich und diesen Bereich abtrennte. Der Raum, der überwiegend in den Farben Rot und Weiß gehalten war, war leer. Jetzt fiel mir auch auf, dass ich keinem der Staffleute begegnet war, obwohl hier vor allem in der Pause ein riesen Trubel herrschen sollte. Mit gerunzelter Stirn lief ich weiter und wäre beinahe über Uruhas Chucks gestolpert. Das war also definitiv der Aufenthaltsraum. Ich warf einen Blick in den Spiegel, als ich daran vorbeilief. In dem grellen Licht wirkte ich blass, was den dunklen Lidschatten noch mehr betonte. Es war wohl eine gute Idee gewesen meine Deckhaare wieder Pink zu färben. Das bisschen Farbe ließ meine Gesichtszüge weicher wirken. Die schwarze Jeans, deren zahlreiche Schlaufen und Bänder mit Silberschnallen befestigt waren, hing locker an meinen Hüften, während sich der schwarz-weiße Pulli eng an meinen Oberkörper schmiegte.
 

Auf dem niedrigen Tischchen, das vor dem Ecksofa stand, befand sich neben zahlreichen Gummibärchentüten, einem Tank Top (vermutlich von Reita) und zwei Kaffeetassen auch ein kleiner Fernseher, dessen Bildschirm abwechselnd die Bühne und die Fans zeigte. Es war ein überwältigender Anblick. Die Halle war zum Bersten voll. Überall Menschen, die mit erwartungsvollen Gesichtern auf die leere Bühne starrten und hofften, dass es bald weiterging. Noch während ich über die Sofalehne gebeugt die Videobilder betrachtete, wurde die Tür geöffnet. Ertappt zuckte ich zusammen und biss mir auf die Unterlippe. „Aoi?“ „Chirac-san?“ Sie schüttelte den Kopf und kam sofort auf mich zugetippelt. „Oh, mon Dieu! Lass dich ansehen, mon polisson!“ Ihre offensichtliche Freude, mich wiederzusehen, erleichterte mich. „Schlingel? Ich habe doch nichts angestellt!“, verteidigte ich mich schmunzelnd, was sie mit einer entschlossenen Handbewegung abtat. „Non, hast du nicht? Du bist doch einfach so gegangen ohne au revoir zu sagen! Das macht man nicht mit einer Dame!“ Meine Wangen brannten heiß. Ich hatte nicht nur ihr nicht auf Wiedersehen gesagt. Sie musterte mich und begann dann gutmütig zu lächeln. „Geht es dir besser?“ Mit einem Nicken ging ich um das Sofa herum und setzte mich. „Ja, danke. Ich bin eigentlich hier, weil ich die anderen sehen wollte. Wo sind sie denn?“ Mit einem Mal wurde ihr Gesichtsausdruck düster. „Der junge Mann, der für dich eingesprungen ist, hatte einen accident, als er die Bühne verlassen wollte.“ „Einen Unfall?“ Sie stieß die Luft aus und setzte sich auf die Sofalehne. „Oh oui! Er ist die Treppe runtergefallen, die zur Bühne hoch geht.“ Mitfühlend verzog ich das Gesicht. „Er sagt er wäre geschubst worden und weißt du was? Es würde mich nicht wundern, wenn jemand den Drang dazu hatte. Dieser junge Mann est impossible. Absolument gar keinen respect pour rien ni personne!!“ Je mehr sie sich aufregte, desto mehr verfiel sie in ihre Muttersprache. Allerdings konnte man wohl deutlich raushören, dass sie meinen Nachfolger nicht sonderlich gut leiden konnte. „Hat er sich verletzt?“ Sie machte eine Kaugummiblase und ließ sie platzen. „Ich glaube am linken Arm. Dr. Sugita kümmert sich um ihn.“ Ah ja. Dann war er wohl in guten Händen. Der Arzt war immer dabei, wenn wir Konzerte hatten oder auf Tour gingen. Ich hatte mich auch von ihm mehrmals durchchecken lassen und er hatte auf mich immer sehr kompetent gewirkt. Das Klingeln ihres Handys riss mich aus den Gedanken. Sie sagte nicht viel, doch ihr Blick blieb währenddessen auf mich gerichtet. „Ich muss los. Du kannst gerne hier warten und dir über den Bildschirm das Konzert ansehen. Bis später dann!“ Ich kam gar nicht mehr dazu etwas zu sagen, denn schon schloss sich die Tür hinter ihr.
 

Da mir nicht viel anderes übrig blieb, beschloss ich tatsächlich sitzen zu bleiben und mir das Konzert auf dem Bildschirm anzusehen. Hinter der Bühne wäre ich vermutlich nur im Weg und ich wollte niemanden von der Arbeit ablenken. Als von draußen lautes Gekreische zu hören war, richtete ich meinen Blick wieder auf den Bildschirm. Kai und Reita betraten die Bühne. Sie wirkten konzentriert, aber dennoch konnte ich die Freude in ihren Gesichtern erkennen. Sie waren glücklich wieder auf der Bühne zu stehen und ich gönnte ihnen dieses Glück von Herzen. Reita zupfte an seinem weißen Oberteil und legte sich schließlich den Bassgurt um, während das Gekreische an Lautstärke zunahm. Dann begannen die beiden dem Publikum ordentlich einzuheizen. Die dunklen Basstöne ließen mein Herz schneller klopfen. Selbst hier vibrierte der Boden. Als schließlich Uruha die Bühne betrat konnte ich meinen Blick gar nicht mehr von ihm abwenden. Der Stoff der Hose schmiegte sich eng an seinen Arsch, als er die E-Gitarre aus der Halterung nahm. Verdammt, der Kerl sah in den engen Hosen und dem Netzoberteil, das mehr enthüllte, als es verbarg unglaublich heiß aus. Er wirkte aufgekratzt, aber glücklich, als er liebevoll über die harten Stahlsaiten strich und schließlich in den Rhythmus einstieg. Mir war noch nie aufgefallen, wie filigran seine Finger waren - bis jetzt, als ich zusah, wie er der Gitarre scheinbar mühelos diese harmonischen Klänge entlockte. Mein Herz machte einen doppelten Rückwärtssalto, als er seinen Kopf in den Nacken legte und sich über die vollen Lippen leckte. Oh Gott, wie hatte ich nur glauben können auch nur eine Woche ohne ihn zu überstehen? Unruhig rutschte ich auf dem Sofa herum und biss mir auf die Unterlippe. Mein Schwanz zeichnete sich bereits sehr deutlich in meiner Hose ab. Es war eindeutig Verlangen, das mich durchströmte. Seine fließenden Bewegungen ließen in mir den Wunsch entstehen meine Hände über seinen Körper streicheln zu lassen. Ich wollte ihn an mich ziehen, seine Haut an meiner spüren. In meiner Phantasie schlichen sich meine Finger unter sein Shirt und zogen es ihm über den Kopf. Dann öffnete ich den Gürtel, ließ meine Finger ganz langsam unter den Bund seiner Hose schlüpfen, während ich meine Lippen über seinen Hals streifen ließ. Ich würde meine Finger um seinen Sch- Schluss! Ich musste damit aufhören! Jetzt sofort! Mein Atem ging schneller, ich zitterte. Um mich abzulenken wandte ich den Blick ab und griff in eine der Tüten mit den Gummibärchen, wodurch Reitas Tank Top vom Tisch fiel. „Verflucht!“ Ich hob es wieder auf und warf es aufs Sofa hinüber. Erst jetzt fiel mir die kleine Rolle mit dem roten Seidenband auf, die zusammen mit Uruhas Handy auf dem Tisch lag.
 

Neugierde durchströmte mich, als ich danach griff. Ich zögerte. Eigentlich ging mich das gar nichts an. Trotzdem drängte es mich an den roten Bändchen zu ziehen. Sie lösten sich und schon war ich dabei das Papier auseinanderzurollen. „Oh wow!“ Fasziniert starrte ich darauf hinunter. Das waren ja Uruha und ich. Zuerst hielt ich es aufgrund der vielen winzigen Details für ein Foto. Doch als ich mit den Fingern darüberstrich bemerkte ich die feinen Bleistiftlinien. Unglaublich. Wer auch immer das gezeichnet hatte, er war mehr als nur gut darin. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Bild selbst zu. Es musste wohl ein Auftritt sein. Wir standen auf der Bühne - Rücken an Rücken, die Gitarren in den Händen. Es schien, als würden wir gerade auseinander gehen. Obwohl unsere Körper einander zugeneigt waren, schwangen unsere Haare in einer Vorwärtsbewegung nach vorne. Mein Lachen war fröhlich, beinahe euphorisch. Uruha wirkte gelöst – richtig glücklich. Seine Augen glänzten vor Freude. Sein Lachen war leise. Es war heiß auf der Bühne. Die Menge in der Halle tobte. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schloss meine Augen. Die Scheinwerfer waren so grell, dass ich sie nicht offen halten konnte. „YUU BREMSEN!!!“ Die Kopfschmerzen kamen so plötzlich und mit solcher Heftigkeit, dass ich kaum wusste, wie mir geschah. Schwindel erfasste mich. Ich spürte, wie ich vom Sofa rutschte. Die Zeichnung brannte sich tief in meinen Kopf ein. Ein anderes Bild erschien. Uruha lehnte am Türrahmen und sah zu mir hinüber. Plötzlich begann das Bild zu flackern. Ich hörte meine eigene Stimme. „Wie lange beobachtest du mich schon?“ Argwöhnisch musterte ich ihn. Er begann zu grinsen. „Lange genug. Du warst so in die Noten vertieft, ich wollte dich nur ungern aus deiner Trance reißen.“ Er betrat den Raum. Erst jetzt fiel mir auf, dass er zwei Platten trug. „Du hast Abendessen gemacht?“ Ich war überrascht. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass wir etwas bestellen würden. „Du hattest noch ein bisschen was im Kühlschrank.“ „Hmmm …“ Ich warf einen Blick auf die Noten und zuckte zusammen, als Uruha einfach den Teller draufstellte. „Aoi, wirklich! Du solltest mal eine Pause machen, wir werden Cassis schon bis zum Ende der Woche fertig bekommen.“
 

Ein anderes Bild legte sich über das Erste. Reita und Uruha standen an der Holztheke einer Bar. Beide hatten ein Glas in der Hand und schienen sich über etwas zu unterhalten. Sie Stroboskoplichter blitzten auf. Rockmusik erklang im Hintergrund. „Hey ihr beiden!“ Ich stellte mich zu ihnen und verlangte nach einem Bier. Seltsamerweise schien ich meinen Blick nicht klar fokussieren zu können, irgendwie war alles seltsam verschwommen. „Heyyyyyy Aooooiiiii!“ Uruha legte seinen Arm um mich und hielt mir seinen Vodka hin. „Probier das Mal!“ Reita verdrehte die Augen. „Ihr beiden solltet nach Hause gehen! Ihr seid doch schon ganz dicht!“ Seltsamerweise fanden wir beide das irre witzig und prusteten los. „Hast du gehört? Wir sind ganz dicht!“, lallte Uruha und stützte sich an meiner Schulter ab. Ich runzelte die Stirn und griff nach der Bierflasche, die mir der Barkeeper hinhielt. „Heißt das nicht eigentlich anders?“ Reita entwand mit die Flasche. „Bist du noch ganz dicht? Die gehört mir!“ Uruha neben mir begann wieder zu kichern. „Ja genau … so heißt das!“ Reita fluchte leise und zeigte auf den Ausgang. „Seht zu, dass ihr nach Hause kommt!“ Das Bild verblasste und schon trat ein Neues an dessen Stelle. Uruha lag auf der Couch – einen Arm auf seinem Bauch, den anderen über die Armlehne. Sein Blick wirkte entrückt. Seine Haare waren zerzaust, so als ob er bereits mehrfach hindurchgefahren war. Das Make-up war etwas verwischt und er sah müde aus. Er blinzelte träge zu mir hoch, als ich langsam über ihn kletterte. Seine Augen weiteten sich. „Aoi, was … was hast du vor?“ Ich wusste es nicht. Gott ich hatte keine Ahnung, was ich gerade machen wollte. Ich stützte meine Hände neben seinem Kopf ab und beugte mich über ihn. Er hob seine Arme an, legte sie an meine Brust. Ich spürte einen sanften Druck, ließ mich davon aber nicht abhalten. Entschlossen überbrückte ich die letzten Zentimeter und presste meine Lippen auf seine. Er erstarrte unter mir. Dann jedoch krallten sich seine Finger in mein T-Shirt und er begann meinen Kuss zu erwidern. Er schmeckte nach Vodka und Zigaretten und nach … hmmm … Uruha. Seine Lippen öffneten sich einen Spalt, als ich über seine Unterlippe leckte. Sofort nutzte ich die Gelegenheit und ließ meine Zunge in seine Mundhöhle gleiten. Er zögerte keine Sekunde, sondern kam mir entgegen. Seine Zunge tanzte keck um meine, neckte sie an der Spitze und strich hart über deren Mitte. Ein heißeres Stöhnen entkam mir, als wir den Kuss vertieften. Niemand hatte mich je so geküsst wie er. Erneut verblasste das Bild und wich einem weiteren. Wir lagen beide im Bett. Uruha schien friedlich zu schlafen. Seine Lippen waren zu einem zufriedenen Lächeln verzogen, seine Hand lag an meiner Schulter, so als versuchte er mich festzuhalten. Ich hob meine Hand und streichelte zärtlich über die weiche, glatte Haut seines Oberarms. Überrascht stockte ich als er mit einem leisen Schnurren die Augen aufschlug. Er blinzelte träge und ein glückliches Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er mich neben sich wahrnahm. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand in den Magen geboxt. Er war … wunderschön! „Guten Morgen … äh … geht es dir gut?“, fragte ich etwas verlegen, was dazu führte, dass er erschrocken die Augen aufriss und knallrot anlief. „Wir … haben wir … gestern-“ „Hast du das ernst gemeint?“, unterbrach ich sein Stammeln. Er wandte betreten den Blick ab. „Was genau meinst du denn?“ Mir entkam ein leises Knurren. Diese Antwort würde ich nicht gelten lassen. Er würde gefälligst mit mir reden! Deshalb krabbelte ich über ihn, legte meine Hand sanft an seine Wange und verhinderte damit, dass er mir erneut auswich. „Die drei Worte, die du gestern immer wieder gerufen, gestöhnt und gehaucht hast, während ich dich in den Himmel gevögelt habe!“ Er wurde mit einem Mal blass, dann wurden seine Wangen feuerrot. „Nein, Kouyou, sieh mich an! Hast du sie ernst gemeint?“ Die Zeit schien still zu stehen. Niemand von uns beiden bewegte sich. Ich traute mich nicht einmal mehr zu atmen, da ich Angst hatte, den Moment zu verlieren. Dann hob er seinen Blick und sah mir offen und ernst in die Augen. „Ja … ich liebe dich.“
 

Ein weiteres Bild tauchte auf und noch eines. Immer mehr Bilder stürmten auf mich ein. Wie Puzzleteilchen fielen sie auf ihren Platz und bauten sich zu einem großen Gesamtbild zusammen. Der Surfunfall, die Streitereien mit meinem Vater, das erste Treffen mit Ruki, Uruha und Reita, die Proben, unser erster Auftritt, die durchzechten Nächte, der Plattenvertrag, Uruha und ich beim Ausarbeiten von Melodien, unser erster Kuss, der Unfall …

In meinem Inneren herrschte ein einziges Chaos. Ich wusste nicht mehr, ob ich nun traurig, euphorisch, entsetzt, ängstlich, ärgerlich, am Boden zerstört oder glücklich sein sollte. Immer wieder wechselten sich die Empfindungen ab, sodass ich vermutlich gleichzeitig lachen und weinen hätte können. Doch davon war ich meilenweit entfernt. Überwältigt von den stechenden Kopfschmerzen konnte ich nichts anderes tun, als zuzulassen dass mich die Bilder überschwemmten, bis selbst das letzte Teilchen an seinem Platz war. Mein Atem war nur ein angestrengtes Keuchen, ein verzweifelter Versuch meines Körpers genug Luft in die Lunge zu bekommen. Den Versuch die Augen zu öffnen gab ich sofort wieder auf, als eine neuerliche Schmerzwelle über mich hineinbrach. Die Geräusche um mich herum schienen seltsam verzerrt. Nur das Rauschen des Blutes in meinen Ohren übertönte beinahe meine angestrengten, unregelmäßigen Atemzüge. Ich drückte meine Stirn auf den kühlen Boden, während ich darum kämpfte die Herrschaft über meinen Körper zurückzuerlangen. Ungelenk versuchte ich eine bequemere Position zu finden. Selbst meine Finger, die ich auf meinen Schädel gepresst hatte, fühlten sich steif an, als ich sie aus den Haaren löste. Jede noch so kleine Bewegung beschwor eine weitere Schmerzwelle herauf, die mir den Atem raubte. Mir wurde schlecht, weshalb ich es aufgab und hilflos und vor Pein zitternd auf dem Boden liegen blieb. Als die Tür geöffnet wurde, wäre ich vor Erleichterung beinahe in Tränen ausgebrochen. „Los, rein da!“ Die unterschwellige Wut in der Stimme ließ mich meinen Hilferuf hinunterschlucken. Ein Rumpeln war zu hören, dann ein Stöhnen. Die Tür fiel mit einem lauten Klicken ins Schloss, was den Männchen in meinem Kopf den Startschuss gab meine Gehirnwindungen mit dem Hammer zu bearbeiten. Ein weiteres Poltern drang an meine Ohren. Schwere Schritte, die plötzlich vom Teppich verschluckt wurden. Krampfhaft versuchte ich ein gequältes Stöhnen zu unterdrücken, als sich mein Magen aufgrund der immer schlimmer werdenden Kopfschmerzen umdrehte. „Ich glaube wir beide haben da ein kleines Problem!“ In meinem Kopf sprang ein Lämpchen an. Ich kannte diese Stimme, konnte sie aber niemanden zuordnen. Die Schreie der Fans wurden lauter, weshalb die gestammelte Antwort unterging.
 

„Was hast du gesagt?“ Aufgrund der unverhohlenen Drohung in der Stimmlage, begann der andere Mann erneut zu stottern. „Bitte … nicht … ich … ich habe-“ Er würgte, so als würde ihm jemand die Luft abdrücken. „Ich habe dir ausdrücklich gesagt, was du tun sollst. Ich dulde keine Fehler!“ Mich fröstelte. Der Mann begann keuchend nach Luft zu schnappen und schien an der Wand hinunterzurutschen. „Bitte … ich … ich kann doch nichts … nichts dafür … einer … einer hat sich ja verletzt!“, presste er heißer heraus. „EINER? Du verdammter Idiot, das war der Falsche!“, fuhr er ihn an, sodass ich zusammenzuckte. „Ich sagte doch du sollst das so drehen, dass sich Ruki den Hals bricht!“ Entsetzt schnappte ich nach Luft und riss die Augen auf, was den Schmerz hinter meiner Stirn erneut zum Explodieren brachte. Selbst meine Ohren klingelten. Seine Stimme klang seltsam dumpf, als er weitersprach. „Gazette ist nur so gut, weil das Arschloch alles im Blick hat. Ohne ihn können sie gleich zusammenpacken! Und du hast es versaut!“ Bei dem dumpfen Schlag und dem Schmerzenslaut, der darauf folgte, presste ich die Lippen aufeinander und versuchte krampfhaft etwas durch den weißen Schleier, der sich über mein Sichtfeld gelegt hatte, zu sehen. „Nein! N-nein bitte!“ Pfeifend stieß er den Atem aus. „Wie würde es dir gefallen, wenn morgen die Fischer deine Leiche aus dem Wasser ziehen?“ „Nein! Oh mein Gott! Nein, bitte … bitte nicht!!“ „Ja, da hast du Recht. Solange du mir mein Geld schuldest, bin ich dein Gott! Aber ich habe eine andere Idee mit der du deinen Fehler wieder gut machen kannst. Wenn du sie erfolgreich ausführst erlasse ich dir sogar deine Schulden!“ Eine unheimliche Ruhe war die Antwort auf sein Versprechen. Selbst auf der Bühne herrschte Stille. … „Was muss ich tun?“ Kai begann wieder auf das Schlagzeug einzudreschen. Ein zufriedenes Lachen war zu hören. „Gut. Sehr gut. Ich wusste doch, dass wir uns gleich verstehen! Deine Stolperfalle war ja nicht ganz umsonst! Der Gitarrist hat sich an der Hand verletzt und so wies aussieht kann er nicht mehr spielen! Da sie das Konzert nicht unterbrechen wollen, haben sie sich dazu entschieden es Playback fortzusetzen. Da wir dummerweise keine Aufnahme mit der fehlenden Gitarrenstimme haben, wird die ganze Band unplugged spielen.“ Langsam verschwand der weiße Schleier vor meinem Sichtfeld – ich konnte die Tischbeine vor mir sehen. Meine Kopfschmerzen dröhnten jedoch im Rhythmus der Basslines weiter. „Du wirst sie vor den ganzen Fans auffliegen lassen! Dieser Vertrauensbruch wird sie endgültig ruinieren!“ Sein düsteres Lachen hallte im Raum wieder, während sich in meinem Magen ein eiskalter Klumpen bildete.
 

„Ich habe es so satt ihnen ihre versnobten Ärsche hinterherzutragen! Und noch mehr hasse ich es Morishitas scheiß Anweisungen auszuführen! Jetzt ist ein für alle Mal Schluss damit.“ „Aber … aber sie sind doch sowas wie das Gesicht des Labels!“ „Dann sind sie eben das Aushängeschild des Labels. Na und? Das ist mir scheißegal! Schade, dass es nicht schon beim ersten Versuch geklappt hat! Sonst müsstest du jetzt nicht die Drecksarbeit für mich machen!“ „B-beim ersten Mal?“ „Natürlich beim ersten Mal, oder was glaubst du wer eigentlich für den Autounfall von Aoi und Uruha verantwortlich war? Nur schade, dass sie nicht abgekratzt sind.“ Ich erstarrte unfähig dazu einen klaren Gedanken zu fassen. Mit diesem einen Satz schien die ganze Welt stehen zu bleiben. Der Unfall! Dieser Kerl hatte mit dem Unfall zu tun? „Wie?“ Sein Lakai stellte die Frage, die mir auf der Zunge lag. Er stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Ich habe ihnen beim Meeting ein Mittelchen ins Glas gemixt. Es ist nicht nachweisbar, hat aber den Effekt, dass sich die Pupillen weiten. Der Unfall war nur eine Frage der Zeit.“ Ich umschlang meinen Oberkörper mit den Armen und krallte die Finger in den Pullover um das unkontrollierte Zittern, das mich erfasst hatte in den Griff zu bekommen. Dieser Kerl hatte versucht uns umzubringen! Panik stieg in mir hoch, als ich wieder die gleißend hellen Lichter vor mir sah und Uruhas Angstschreie in meinem Kopf wiederhallten. Dieses Arschloch war dafür verantwortlich, dass unser Leben auseinandergebrochen war! Ihm hatte ich monatelangen Krankenhausaufenthalt und Reha zu verdanken. Mein Körper krümmte sich, als meine Kopfschmerzen eine neue Dimension erreichten. Dennoch schaffte ich es keinen Laut von mir zu geben. „A-aber warum die beiden und nicht Ruki?“ Wieder waren ein dumpfes Poltern sowie ein Schmerzenslaut zu hören. „Weil es Aoi, dieser selbstgerechte Wixxer, verdient hat! Er hat wohl schon vorher etwas gemerkt und mich nicht mehr aus den Augen gelassen. Es geschieht ihm nur recht. Das einzig Positive ist, dass er das Gedächtnis verloren hat und ich seine Visage hier nicht mehr sehen muss, auch wenn ich nur zu gerne auf seinem Grab getanzt hätte.“ Mein Atem stockte. Noch nie hatte ich solch abgrundtiefen Hass in der Stimme eines anderen Menschen gehört. Ich fuhr erneut zusammen, als die Tür geöffnet wurde. „Ah, hier sind Sie! Kommen Sie bitte!“ „Ich bin sofort da!“ Die Tür wurde wieder geschlossen. „Du weißt, was du zu tun hast! Enttäusche mich kein zweites Mal, das würde dir wirklich leidtun!“
 

Erst als sich die Tür erneut schloss, traute ich mich wieder durchzuatmen. Ich blieb für ein paar Sekunden liegen, begann dann aber mich mit zitternden Armen in die Höhe zu stemmen. Die Augen hielt ich geschlossen. Dennoch überkam mich ein heftiges Schwindelgefühl, weshalb ich mich matt gegen das Sofa lehnte. Immer wieder begann sich der Raum zu drehen, wenn ich versuchte meine Augen zu öffnen. Hilflose Wut erfasste mich. Wie sollte ich meinen Freunden helfen, wenn ich hier herumsaß und mit den Kopfschmerzen um die Herrschaft über meinen Körper rang? Es kostete mich übermenschliche Kraft die Kopfschmerzen auszublenden und auf die Beine zu kommen. Schwankend stolperte ich auf die Tür zu und trat auf den Gang hinaus. Um das Gleichgewicht zu halten, legte ich meine Hand an die Wand und zwang mich dazu weiterzulaufen. Ich wusste wo die Bühne war. Ich kannte diese Halle. Meine Schritte wurden fester, je weiter ich den Gang entlanglief. Die Musik nahm an Lautstärke zu, schien mir mehr Sicherheit zu geben, bis ich schließlich an den verdutzten Roadies vorbeieilte. Ich wusste nicht genau nach wem ich Ausschau hielt, bis ich unseren Manager zusammen mit Tsukoyomi-san am Bühnenaufgang stehen sah. „Aoi!“ Die Überraschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Dann jedoch weiteten sich seine Augen und er griff hastig nach meinem Oberarm. „Hey, ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst schlimm aus! Willst du dich hinlegen?“ Entschlossen schüttelte ich den Kopf, wurde aber schon von Tsukoyomi-san und ihm in einen kleinen Nebenraum gezerrt, in dem ein Sofa stand. Ein Wasserglas wurde mir in die Hände gedrückt. Während ich es leerte erzählte ich von dem Sabotageversuch. Zweifelnd sah mich der Manager an. „Aoi, bist du dir sicher, dass du dir nicht den Kopf gestoßen hast? Ist dir schwindlig? Sollen wir Doktor Sugita holen?“ Ich unterdrückte den Fluch, der mir auf den Lippen lag. „Himmel nochmal, behandle mich nicht wie ein kleines Kind! Das kannst du mit deinem Sohn machen!“ Erneut presste ich meine Handflächen an die Schläfen. Meine Sicht verschwamm und ich musste mich hinlegen, als der Schwindel zurückkam. Auf der Bühne begann bereits das nächste Stück. Die Zeit lief uns davon. Irgendwie musste ich ihm die Situation begreiflich machen können. „Hast du erkannt, wer es war? Hast du jemanden gesehen?“ Träge versuchte ich den Schleier vor meinen Augen wegzublinzeln. Er glaubte mir? So plötzlich? „Nein, aber ich kenne die Stimme. Ich bin mir sicher, dass ich sie irgendwo schon mal gehört habe, aber ich kann mich nicht erinnern wo genau das war.“ „Kann es sein, dass-“ Er wurde durch das laute Hämmern an der Tür unterbrochen. „Ja?“ Einer der Bühnentechniker kam in den Raum gestürzt. Die Musik wurde lauter. „Wir haben ein Problem! Inugami-san hat sich alleine im Regieraum eingeschlossen!“ Wir stöhnten gleichzeitig auf. Verflucht. „Können wir irgendwie in den Raum gelangen?“ Der Techniker schüttelte den Kopf. „Wir haben schon alles versucht! Er hat die Tür von innen verbarrikadiert und ignoriert uns. Aber … ich verstehe nicht … was hat er denn vor?“ Ich spürte den ernsten Blick unseres Managers auf mir. „Er will die Band ruinieren, indem er einen Skandal provoziert!“
 

Als die Musik endete, setzte mein Herzschlag für einen kurzen Moment aus. Da die Fans, jedoch weiterjubelten, war ich mir sicher, dass nur das Stück zu Ende war. Die Vermutung bestätigte sich gleich darauf, als Ruki den nächsten Song ansagte. Entschlossen stellte ich das Glas auf dem Boden ab und erhob mich schwankend um aus dem Raum zu taumeln. „Aoi? Wo willst du hin?“ „Etwas unternehmen!“ Die beiden liefen neben mir her, versuchten aber nicht mich aufzuhalten. „Was genau hast du vor? Wenn du einen Plan hast, dann rede mit uns!“ Beinahe hätte ich gelacht. „Einen Plan? Ich war selten so planlos wie jetzt gerade, aber ich kann nicht rumsitzen und zusehen, wie so ein eifersüchtiger, intriganter Mistkerl die Träume meiner Jungs zerstört, für die sie mehr als nur hart gekämpft und gearbeitet haben!“ Mit langen Schritten lief ich den Weg zur Bühne hinunter. „Und deshalb läufst du jetzt zur Bühne? Um was genau zu tun?“ Ich wirbelte herum und funkelte ihn wütend an. „Sie dort runterholen! Dann ist die Sache doch gegessen!“ „Nein, er kann genauso die Musik laufen lassen.“ „Himmel, dann haben wir eben eine CD eingelegt um die Fans zu bespaßen! Im Nachhinein kann uns niemand nachweisen, dass es Playback war und darum geht es doch, oder?“ Das schien auch den beiden einzuleuchten, denn sie folgten mir, ohne einen weiteren Einwand vorzubringen. Wir liefen gerade unter der Bühne hindurch um zum vorderen Aufgang zu gelangen, als plötzlich die Musik aussetzte. Ich stolperte, konnte mich aber gerade noch fangen. Die Fans johlten. „Licht aus!“ Unser Manager schaltete sich ein. Tatsächlich schien ihn jemand gehört zu haben, denn auf der Bühne wurde es schlagartig stockdunkel, was bei den Fans nur noch größeren Jubel auslöste. Unter den Roadies jedoch brach ein Tumult aus. Auf der Suche nach einem Ausweg ließ ich meinen Blick durch die Gegend schweifen. „Guten Abend liebe Gazette-Fans!“ Als die Stimme sich über die Lautsprecher einschaltete zögerte ich keine Sekunde mehr. Ich entriss einem der Männer, die gerade vorbeiliefen, eine Gitarre. Als ich das Funk-Übertragungsset in die Klinkenbuchse schob bemerkte ich, dass diese eine meiner Gitarren war. Ich zerrte mir den Gurt über den Kopf und trat auf die Vorrichtung für die Hebebühne. „Hoch!“ Als niemand reagierte wirbelte ich zum Manager herum. „Zum Teufel, fahr mich hoch!!“ Er schien wohl etwas in meinem Blick gesehen zu haben, denn er nickte nur und gab jemanden ein Zeichen. Die Bühne wackelte unter meinen Füßen und hob sich dann langsam.
 

„Wir haben euch einen ganz besonderen Abend versprochen! Einen Abend, den ihr nie mehr wieder vergessen werdet.“ Der ruckartige Stopp der Hebebühne zeigte mir an, dass ich oben angekommen war. Der Saal erstreckte sich in völliger Dunkelheit vor mir. Nur schemenhaft ließ sich die Menge erkennen, die vor Begeisterung über die Ankündigung eines unvergesslichen Abends zu kreischen begann. Meine Finger waren eiskalt, fühlten sich steif an, als ich ich sie um das Plektrum legte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich den Blick schweifen ließ. Selbst in der Dunkelheit ließ sich erahnen wie groß diese Halle wirklich war. Und … sie war ausverkauft. „Deshalb haben wir eine ganz besondere Überraschung für euch!“ Meine Finger, die das Plektrum krampfhaft festhielten wurden mit einem Mal locker, als ich die linke Hand an die kalten Stahlsaiten der Gitarre legte. Sie fühlten sich gut an unter meinen Fingerspitzen. Ich hielt den Atem an und ließ ihn dann wieder langsam entweichen. Die Nervosität legte sich durch die Atemübung ein bisschen. Dennoch fühlte ich mich, als würde ich unter Strom stehen, als ich ein paar Schritte nach vorne trat, sodass ich wahrlich im Rampenlicht stehen würde. „Der Moment, auf den Ihr alle gewartet habt-“ In der Hoffnung die Stimme übertönen zu können, ließ ich das Plektrum über die Saiten kratzen. Der Sound, der aus den Lautsprechern hallte war gewaltig. Gleißend helles Licht explodierte um mich herum. Das Kreischen der Fans erreichte ein neues Level, während ich meine Finger über die Saiten tanzen ließ und der Gitarre Klänge entlockte, die ich mir vor ein paar Wochen niemals hätte erträumen lassen. Das Lampenfieber war verschwunden. Ich dachte nicht an die grellen Lichter, nicht an die Fans und auch nicht daran, dass ich seit Monaten Probleme hatte einer Gitarre auch nur einen einzigen Akkord zu entlocken. Selbst die Kopfschmerzen traten für diesen einen Moment in den Hintergrund. Das Einzige, das zählte war jetzt auf der Bühne zu stehen und alles zu geben. Das zu tun, was ich liebte. Mein Vater hatte gesagt, dass ich ohne die Musik nicht leben konnte und in dem Moment, als ich die Saiten anschlug merkte ich, dass er damit recht gehabt hatte. Das hier war mein Leben. Die Bühne. Die Fans. Meine Band! Mein Körper begann sich von selbst im Klang der Musik zu bewegen. Die Scheinwerfer blendeten mich und verstärkten die Kopfschmerzen nur noch mehr, weshalb ich es tunlichst vermied ins Licht zu sehen. Dennoch begann ich bereits um jeden Ton zu kämpfen. Ich warf den Kopf in den Nacken, als ich den letzten Akkord spielte und die Saiten zu einem Vibrato verzog.
 

Genau in diesem Moment setzte eine weitere Gitarre ein. Uruha übernahm so leicht, als wäre es tatsächlich einstudiert gewesen. Seine Melodie wirkte viel sanfter als meine und doch schienen sie hervorragend aufeinander abgestimmt zu sein. Ich überließ ihm die Führung, untermalte sein Spiel mit dem Rhythmus und konzentrierte mich darauf gegen die Kopfschmerzen anzukämpfen, die mich immer mehr in die Knie zwangen. So leicht es mir vorher gefallen war zu spielen, desto schwieriger wurde es je länger ich auf der Bühne stand, da sich meine Finger um das Griffbrett herum versteiften. Ich wurde langsamer, was Uruha wieder ausglich, in dem er plötzlich unterstützende Elemente einbaute. Ein starker Rücken lehnte sich an meinen, hielt mich aufrecht, als ich taumelte. „Das ist kein Traum, oder? Du bist tatsächlich hier!“ Unglaube schwang in seiner Stimme mit. „Ich bin hier“, flüsterte ich, während ich meinen Kopf nach hinten auf Uruhas Schulter legte. Als sich die Halle zu drehen begann, schloss ich die Augen und vertraute darauf, dass Uruha weiterhin mein Fels in der Brandung sein würde. Der Bass setzte ein, rettete uns, indem er den Übergang zum Pre-Chorus schuf, in den Kai und Ruki gleichzeitig einstiegen. Im Nachhinein weiß ich nicht mehr, wie ich es schaffte den Song zu beenden. Obwohl mein Kopf bereits in anderen Sphären schwebte, landeten meine Finger bis zum letzten Ton treffsicher auf den Saiten und Bünden. Der Applaus und das Gebrüll der Menge drangen nur gedämpft zu mir hindurch. Das Licht ging wieder aus. Starke Arme legten sich um meinen Oberkörper. In dem Moment, in dem Uruha mich an seine Brust zog, um mich heftig zu umarmen und seine Lippen auf meine zu pressen, gaben meine Beine nach. Ein leiser Fluch perlte über seine Lippen. Dann verlor ich den Boden unter den Füßen. Meine Muskeln spannten sich an, warteten auf den Aufprall, doch meine Stirn sank nur gegen Uruhas Schulter, während er mich von der Bühne trug. Automatisch schlang ich meinen Arm um seinen Nacken und drückte meine Lippen an seinen Hals. „Kou? Es tut mir leid!“ Er stockte kurz, stieg dann aber die Treppen weiter nach unten. „Wovon sprichst du?“ Mir entkam ein Laut, der halb Lachen halb Schnauben war. „Von allem. Ich war kein sonderlich toller Partner im letzten Jahr … ich hätte dich sogar beinahe gehen lassen! Dabei war unsere Beziehung das Einzige, das ich niemals bereut habe.“ Ich spürte, wie er unwirsch den Kopf schüttelte. „Es ist egal! Jetzt bist du ja hier!“ So etwas konnte auch nur er sagen. Dieser liebevolle Idiot. Er war viel zu gut für mich. „Kou? Ich glaube … wir sollten doch mal in einen Onsen gehen“, nuschelte ich. Als die heilende Dunkelheit erneut ihre Arme ausbreitete, ließ ich mich, im Wissen, dass Uruha auf mich aufpassen würde, hineinfallen.
 

Ein seltsamer Druck um meinen Arm und das darauffolgende Piepsen ließ mich langsam wach werden. „Der Puls ist in Ordnung. Es scheint wohl alles ein bisschen viel gewesen zu sein. Aber das ist wohl kein Wunder!“ Das Ratschen eines Klettverschlusses drang an mein Ohr, dann wurde mein Arm angehoben. „Er sollte in der nächsten Stunde schon wieder fit sein. Falls nicht, ruft ihr mich nochmal!“ Eine Tür wurde geöffnet und fiel wieder ins Schloss. Schritte waren zu hören, ein Stuhl scharrte über den Boden. „Du bist dir wirklich sicher, dass sein Gedächtnis zurückgekommen ist, Uruha?“ Rukis Stimme kam von irgendwo links neben mir. Eine Hand legte sich auf meine Wange. „Ja, schon. An diesem Solo haben wir beide vor dem Unfall gearbeitet und dann hat er noch ein paar Dinge gesagt, die nur so Sinn ergeben.“ Mir entkam ein heißeres Stöhnen. „Aoi? Hey! Wach auf!“ Jemand tätschelte meine Wange, bis ich erschöpft die Augen öffnete und direkt in Uruhas dunkle Seelenspiegel blickte. „Hey, da bist du ja!“ Wieder hörte ich das Schaben von Stühlen, dann tauchten plötzlich die Gesichter meiner Bandkollegen in meinem Blickfeld auf. Sie alle wirkten besorgt. „Wie fühlst du dich?“ Mein Blick ging zu Ruki, der bei mir auf dem Sofa saß und mich eingehend musterte. „Als hätte mich ein Bus überfahren!“ Nicht, dass ich einen Vergleich hätte. Ich versuchte mich aufzusetzen, unterließ es aber sofort wieder, als mir schwindlig wurde. „Mann, guckt nicht alle so. Wir sind hier nicht auf einer Beerdigung!“ Kai beugte sich über das Sofa und schüttelte den Kopf. „Du siehst aber gerade mehr wie eine Leiche aus. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“ „Du solltest fürs Erste etwas liegen bleiben. Dr. Sugita meinte die Erinnerungen hätten dich erschlagen!“ Naja so konnte man das natürlich auch bezeichnen. „Unser Manager hat uns alles erzählt. Du hast uns den Arsch gerettet, da oben!“ Reita streckte mir seine Faust entgegen. Ich hob meinen Arm und stieß unsere Knöchel zusammen. „Das war das Mindeste, nachdem ich euch hängen gelassen habe. Das tut mir verdammt leid, Leute!“ Ruki hob die Augenbrauen. „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“ „Äh…“ Verwirrt runzelte ich die Stirn. Was wollte er denn noch hören? Wollte er einen Seelenstriptease haben? „Du zahlst den nächsten Bowlingabend! Dann sind wir wieder quitt“, meinte er dann nur trocken und griff nach seiner Teetasse. Ergeben hob ich meine Arme. „Alles, was ihr wollt. Aber, heißt das, dass ich wieder dabei bin? Was ist denn mit meinem Ersatz?“, hakte ich nach. Kai verdrehte die Augen. „Wir sind ehrlich froh, dass wir ihn los sind! Für dich gibt es keinen Ersatz.“ Oh Mann, jetzt wurde es aber wirklich sentimental.
 

Doch bevor ich etwas erwidern konnte, wurde die Tür lautstark aufgerissen. Die Klinke knallte gegen die Wand. „DUUUU!!!“ Erschrocken wirbelte ich herum, hatte aber keine Gelegenheit mehr zu erkennen, wer den Raum betreten hatte, da bereits der Fußboden auf mich zukam. Ich überschlug mich, schaffte es aber, mich auf den Rücken zu rollen. Entsetzensschreie hallten um mich herum. „Ich bring dich um! Du verfluchter, scheiß Bastard!“ Zwei starke Hände schlossen sich um meine Kehle. „Hören Sie auf!“ Kais Stimme hallte durch den Raum. Meine Finger bohrten sich in die Hände des Angreifers, doch der Griff wurde nicht lockerer, nicht einmal, als ich mich unter ihm zu winden begann und ihm mein Knie ins Kreuz rammte. „Ich war so nahe dran! So nahe! Und dann … du schon wieder!“ Vor meinen Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen. Ich bekam keine Luft, musste atmen! „Dafür wirst du bezahlen! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Wenn ich in die Hölle komme, dann nehme ich dich mit!!“ Plötzlich verschwand das Gewicht von meiner Brust. Röchelnd zog ich die Luft in meine Lunge und setzte mich auf. „NEIN! Lasst mich! Loslassen!!“ „Yuu!“ Eine Hand legte sich auf meinen Rücken. „Alles klar bei dir?“ Uruha musterte mich besorgt – schon wieder. Als ich den Blick hob, erstarrte ich. „Sie?!“ Sotooka-san wehrte sich heftig gegen zwei der Securitymänner, die ihn mit vereinten Kräften in Schach hielten und versuchten ihn aus dem Aufenthaltsraum zu schieben. „Du hättest sterben müssen.“ Sein Blick bohrte sich in meinen. „Ihr hättet beide sterben müssen!!“ Uruha erstarrte neben mir. „Was meinen Sie damit?“ Seine Stimme war fest, doch ich spürte das Zittern seiner Finger auf meinem Rücken. Sutooka-sans Blick war irre als er in ein lautes Lachen ausbrach. „Bei dem Autounfall hättet ihr beide draufgehen müssen!“ Dann fiel die Tür ins Schloss.

Kapitel 40 - Epilog

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe euch hat das Intro gefallen.
Bis nächste Woche =) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So liebe Leute!
Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen
Übrigens: Alles was Uruha erzählt entspricht der Wahrheit =)
LG und bis nächste Woche
Eure dani Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (128)
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Von:  Gedankenchaotin
2016-04-03T19:06:26+00:00 03.04.2016 21:06
Huhu oder so,

schade, dass es schon zu Ende ist, aber es tat gut zu lesen, dass die beiden nicht ohne einander könne und in Guten, wie in schlechten Zeiten (Seifenoper sei gegrüßt), füreinander da sind.
Gerade Uru hat das sehr, sehr oft bewiesen.
Die Geste am Ende fand ich wirklich sehr süß von den beiden, auch wenn Akemi wohl gar nicht wusste, wie ihr überhaupt geschieht.
Wann kommt es schon mal vor, dass zwei Mitglieder einer bekannten Band bei einem im Wohnzimmer sitzen. oô

Ich werde dich und deinen Schreibstil auf jeden Fall weiterverfolgen
und danke dir für 40 wunderbare Kapitel :)

MYV
Antwort von:  dani
03.04.2016 21:10
Hi Myv!

Vielen Dank für dein Liebes Kommi!
Ja leider ist es schon vorbei, aber man weiß ja nie ...
*schmunzel* Tja ich weiß etwas sehr viel Kitsch zum Schluss aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Meine Charas leiden während den Storys recht oft, aber sie bekommen dann doch ein Happy End .. meistens jedenfalls *lacht*
Es freut mich, wenn du mir weiterhin treu bleiben willst!

LG dani
Von:  Kai-san
2016-04-03T17:06:24+00:00 03.04.2016 19:06
Nabend ❤

Ich kann es kaum glauben das es schon das Ende ist Q. Q
Es hätte ruhig noch weiter gehen können :) doch soll man nicht aufhören wenn es am schönsten ist?

Es gab so viele Höhen und Tiefen, gelacht und auch geweint aber die ganze Story hat mir so verdammt gut gefallen, das ich bei der heutigen Benachrichtigung von Mexx Schnapp Atmung bekommen hab und gar nicht lesen wollte ^^* Immer hin das letzte Kapitel.

Ich hoffe das es bald was neues zu lesen gibt und bis dahin bleibt mir nur zu sagen,

Vielen, vielen dank für deine Fanfic <3

Hab eine schöne Woche, lass dich nicht ärgern und man liest sich bei der nächsten FF :)

Lieben Gruß
*schmuss, kraul und Kekse da lass*
Antwort von:  dani
03.04.2016 19:18
Hi Kai-san!

Vielen dank für dein liebes Kommi. Ja, leider ist es nun soweit und die Story ist vorbei.
Du sagst es: Man sollte aufhören, wenn es am Schönsten ist. So sehr ich euch auch gerne die Wochenenden versüßt habe, ich halte nichts davon die Story mit Gewalt immer mehr auszubauen. Aber es wird definitiv hin und wieder einen OS von mir geben *zwinker*

Es würde mich freuen, wenn du dann natürlich auch dabei bist!
LG dani
Von:  TheNamelessLiberty
2016-04-03T15:40:39+00:00 03.04.2016 17:40
Da ist es nun also...das...Ende!
*tief durchatmet*
Ich will immer noch nich so recht wahrhaben das es nun vorbei ist. Das ich nicht jeden Sonntag voller Spannung auf ein weiteres Kapitel warten kann, dass muss ich erst noch verdauen XD

Auch dieses Kapitel oder besser gesagt der Epilog war wie immer super toll geschrieben.
Das Aoi und Uruha der kleinen ihr Studium finanzieren finde ich super, so konnten sie auch einen Teil zu ihrem Leben beitragen.

Die gesamte Fanfic war eine reine Achterbahnfahrt und ich weiss jetzt schon das ich sie sicher noch einige Male lesen werde um wieder in den Genuss davon zu kommen. Habe wirklich noch nie so eine gute Fanfic gelesen die über so viele Kapitel hinweg ging.
Ich würde mich ja riesig freuen wenn ich bald noch mehr AoixUruha von dir zu lesen bekomme (wunschdenken)


Dann sage ich mal bis zur nächsten Fanfic?

Lg und vielen vielen Dank noch mal
Lin ♥
Antwort von:  dani
03.04.2016 19:17
Hi Lin!

Ja, das war es, leider. Ich bin auch etwas überrascht, dass das alles nun schon wieder vorbei ist - es ist sehr schnell gegangen. Aber es freut mich, dass ich euch die Sonntage etwas versüßen durfte und es euch so gut gefallen hat.
Wie gesagt ... ich mag es hin und wieder wenn das Ende etwas kitschig ist und das musste auch nach den ganzen Höhen und Tiefen, durch die die beiden gegangen sind auch sein. Es freut mich, wenn du die FF so toll findest, dass du sie ein paar mal lesen wirst - jetzt da sie fertig ist, musst du wenigstens nicht mehr gespannt auf das nächste Kapitel warten *zwinker*
Mal sehen, ob ich mich demnächst mal an einen OS setzen kann - mein Zeitplan ist im Moment ziemlich eng.

Aber ich denke eigentlich schon, dass es bald wieder was zu lesen geben wird =)

LG dani
Von:  Evallina
2016-04-03T14:58:04+00:00 03.04.2016 16:58
Huiuiui, das ist jetzt qirklich das Ende.
Und das erste mal das ich einne Kommentar zu deiner wundervollen Fanfic schreibe. Allerdings hab ich mir das selbst vorgenommen, am Ende zu kommentieren.

Ich hab direkt von anfang an mitgefiebert, "damals" als das erste Kapitel Onlie kam. Ich mag deinen flüßigek schreibstil wirklich sehr. Die Empfindungen, die Wortwahl, einfach alles. Es lässt sich so gut mitverfolgen, lässt einen mitfühlen (und weinen...), aber alles in einem: du schreibst wirklich wundervoll.

Die Fanfic insgesamt war wirklich ein Kampf, was alles passiert ist. Aber ich bin selbst überglücklich das innerhalb der Band, und vor allem zwischen Aoi und Uruha alles gut ist. Es gab so viele stellen, da hätte ich Aoioder Uru gerne eins übergebraten xDD
Ich hoffe sehr, du schreibst bald wieder eine solch großartige Fanfic ♥

Oh und..vielleicht sogar sowas wie ein Spin-Off zu Reiruki~?
Zu den beiden hätte ich mir gegen Ende hin sogar etwas mehr als andeutung gewünscht, wenn ich ehrlich bin, die beiden haben immerhin auch eine ganz besondere Beziehung zueinander <3

Liebe grüße,
Nao <3
Antwort von:  dani
03.04.2016 19:14
Hi Nao!

Vielen Dank für dein Kommi zum Abschluss meiner FF. Es freut mich sehr, dass es dir gut gefallen hat und dir mein Schreibstil sowie die einzelnen Kapitel zusagen =)
Danke sehr auch für das Lob! Es ist immer wieder schön zu lesen, dass sich die Leute wirklich so sehr über die FF freuen.
Natürlich, wie du schon sagtest, ist die FF geprägt von sehr vielen Höhen und Tiefen, die natürlich alle schon irgendwie begründet sind und auch ihre Berechtigung haben. *zwinker* und ja ich kann es verstehen, dass du den beiden gerne eins übergebraten hättest *lach*
Hmmich habe Rei und Ruki nicht ganz umsonst so reingebracht ... wie bereits angedeutet bin ich dabei eine weitere Story zu schreiben, die sich ganz um die beiden drehen wird (so jetzt hab ich die Katze doch aus dem Sack gelassen) Allerdings möchte ich es eigentlich noch nicht versprechen. Die FF wird erst online gehen, wenn sie wirklich fertiggestellt ist. Durch den Stress mit der Arbeit, der Uni und auch Privat ist es oft schwer genug Zeit zu finden, um wirklich an der Story zu arbeiten. Daher kann das noch etwas dauern. Wie gesagt .. OneShots sind allerdings schon ein bisschen im Entstehen ;)

Vielen Dank nochmal
LG dani
Von:  YutakaXNaoyukis_Mika
2016-04-03T14:43:53+00:00 03.04.2016 16:43
T.T
Warum schon Ende? Das ist viel zu früh. *schnief*
Aber ich muss gestehen, dass ich die Story liebe. Hab sie regelrecht verschlungen.
Ein wirklich schönes Ende für die beiden und die Band.

Danke, dass du uns diese FF geschenkt hast. <3
LG
Mika
Antwort von:  dani
03.04.2016 16:53
Hi Mika!

Vielen Dank für dein liebes Kommi. Das hat mich sehr gefreut. Ja, leider ist es schon vorbei, aber ich halte nichts davon Storys unnötig auszubauen - daher ist schon nach 40 Kapiteln Schluss.
Allerdings habe ich Ideen für den ein oder anderen OS im Kopf und bin eigentlich schon ein bisschen dabei eine weitere Story auszuarbeiten *zwinker* Also nicht allzu traurig sein.

LG dani
Von: abgemeldet
2016-03-28T17:14:32+00:00 28.03.2016 19:14
yay aoi erinnert sich wieder *--* da freut sich uru sicher auch :3 gut das yuu endlich wieder gitarre spielen kann <3
schade das es das letzte kapitel ist die ff war echt toll *o*
Antwort von:  dani
28.03.2016 19:17
Vielen Dank für dein Kommi.
Tja es kommt ja noch der Epilog, dann ist aber wirklich schluss.
Aber ich hoffe, es hat dir gefallen.

LG dani
Von:  Kai-san
2016-03-28T09:55:27+00:00 28.03.2016 11:55
Hallo :3

Oh man, jetzt kommt nur noch der Epilog und dann aus? Q. Q Ich hoffe doch wir bekommen bald wieder was von dir zu lesen :3

Kann mir vorstellen, daß Aoi von den ganzen Puzzleteilchen erschlagen wurde, die ganzen Eindrücke, wie er in die Band kam, er mit Uruha zusammen kam der Unfall und alles. Und dann war dieser auch noch von Sotooka-san geplant?! Ich hoffe echt dieses miese Arsch bekommt noch seine gerechte Strafe!!!!Ò.ó

Oh ja, Aoi hat Ihnen echt den Arsch gerettet da oben, bin heil froh das er es rechtzeitig geschafft hat und das alles so gut verlaufen ist. Gebe Kai vollkommen recht, niemand kann Aoi ersetzen und ich bin froh wenn er jetzt wieder mit den anderen zusammen auf der Bühne steht.

Dir auch schöne Ostern und lass dich die Woche nicht ärgern, bis nächsten Sonntag <3

Antwort von:  dani
28.03.2016 12:18
Hi Kai-san!

Danke für dein liebes Kommi. Ja du hast Recht - total schade. Ich hätte euch gerne noch ein paar mehr Kapitelchen hochgeladen, aber dann wäre die Story zu viel geworden und das sollte nicht so sein. Es muss ein gutes Ende haben und nicht mit aller Gewalt weitergeführt werden.
Zu Sotooka-san werden wir im Epilog noch ein bisschen was hören, aber nicht mehr sonderlich viel.
Aoi ist im Moment genau da, wo er auch sein will und wo ihn die anderen brauchen. Wie gesagt - ich bin selbst ein riesen Fan von Happy Ends.... Drama ok, solange es nur während der Story geschieht und da habe ich euch doch einiges geboten *lacht*
Ich wünsche dir eine schöne Woche.
Bis demnächst

LG dani
Von:  TheNamelessLiberty
2016-03-27T22:18:28+00:00 28.03.2016 00:18
Dieser miese kleine...****!!!!!!!!
Ich wusste das da noch was kommen musste...der war mir am Anfang schon so komisch vorgekommen und da Aoi ja auch nicht so recht wusste wieso er ihn nicht leiden konnte, war irgendwie klar das er noch eine wichtige Rolle spielen würde.
Aber das er sogar hinter dem Unfall steckte...meine Güte ey...ich kanns immer noch nicht lauben.
Welch ein Glück hat Aoi sich wieder erinnern können und den Abend und auch die Band gerettet!

Hach und nun nur noch der Epilog...was mach ich denn jetzt ohne diese FF ohne Aoi und Uruha? *geht weinen*

Bis nächste Woche..und dir auch frohe Ostern =)

Lin
Antwort von:  dani
28.03.2016 12:15
*kicher*
Au ja ... ich hab da ziemlich nen Dreh draus gemacht - aber wenn du von vorne ließt, merkst du wirklich (wenn man das Ende kennt) dass da etwas nicht ganz so stimmt *zwinker*
Tja ... ich lass meine Charas gerne leiden ... aber eigentlich gibt es immer ein Happy End. Ich mag es, auch wenn es hin und wieder recht kitschig ist *lach*

Ja, nur noch der Epilog und die Story ist vorbei. Ich kann aber sagen, dass ich bereits an ner neuen bastle ... aber ob und wann ich sie hochladen werde, steht noch in den Sternen. Ich werde dich aber gerne darüber informieren, wenn du das möchtest ... Aber vielleicht gibt es ein paar kleine OneShots *zwinker*

Vielen Dank für die Osterwünsche. Bis nächste Woche

LG dani
Antwort von:  TheNamelessLiberty
28.03.2016 12:54
Ja damit hast du vollkommen recht..ich werde eh alles noch einmal lesen sobald der Epilog da ist =)

Oh Gott wenn du wirklich schon was im Hinterköpfchen hast wäre das genial! Und ja du darfst mich darüber gerne informieren. Ich liebe diese FF und deine Art zu schreiben..das liest sich alles wie ein gutes Buch das niemals Enden soll *~*
Antwort von:  dani
28.03.2016 13:02
*lach* Uii noch eine Von-vorne-Leserin =)
Es würde mich freuen, wenn du die Story auch weiterempfehlen würdest

*lach* ja ich habe da was im Hinterlöpfchen, allerdings nicht mehr mit Aoi und Uruha (als Story) was OneShots angeht ... da hab ich auch so ein, zwei Gedanken *zwinker*
Und natürlich informiere ich dich gerne darüber =)
Von:  Kai-san
2016-03-20T21:54:15+00:00 20.03.2016 22:54
Hallo :)

Ich schaffe es mal an dem gleichen Tag nen Kommi zu schreiben, ha! Bin ich gut X3

Ich bin auch nicht für ne fernbeziehung zu haben. Kann Uruha voll verstehen. Oh bitte Aoi, schwing deinen Hintern zurück Q. Q ich hoffe er macht das richtige und die Kopf wascherei von seinem Papa hat geholfen.
*hoff*
Oh ja, Reita ist echt der Hammer xD

Noch zwei Kapitel und dann Feierabend? QAQ *an dein Bein klammer* bitte, bitte nooooooooooiiiiiiiiiin!!!!! Was sollen wir denn machen wenn es kein Aoiha mehr gibt? *schnief*

Einen schönen Abend und bis nächsten Sonntag *müde ins Bettchen krabbel*
Von:  YutakaXNaoyukis_Mika
2016-03-20T13:42:32+00:00 20.03.2016 14:42
Hach ja, nicht leicht für die beiden, aber sie packen das schon. Sie haben sich immerhin auch wieder vertragen und das auch ordentlich "gefeiert", wenn ich das mal so sagen darf *hust*
Sich Kai dabei vorzustellen, wie er ausflippt, weil Uruha nicht pünktlich anwesend ist, ist irgendwie witzig, aber durchaus denkbar.
Das mit Reita war irgendwie klar. Vielleicht konnte er sich einfach nicht merken, wem er was erzählt hat und hat dann einfach was erzählt, was ihm in den Sinn kam. So is er eben, der Gute.
Trotzdem sollte Aoi seinen knackigen Hintern nach Tokyo bewegen, diesen arroganten Neu-Gitarristen verbannen und zeigen, wer wirklich zu GazettE und vor allem Uruha gehört. Nämlich AOI!

So, jetzt kommt nur noch ein Kapitel oder? T^T
So ne Grütze, das soll noch nicht aufhören.*schnief*

LG
Mika


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