Traumtänzer von Calafinwe ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es blitzte, dieses Mal hatten die manuellen Studioblitze zeitlich so ausgelöst, wie ich es mir erhofft hatte. Trotzdem stimmte etwas nicht, das Gewicht meiner Spiegelreflexkamera hatte sich merklich verändert. Hatte ich unbewusst ein kleineres Objektiv angeschraubt, ohne mich daran zu erinnern? Ich wollte es gerade überprüfen, als ich jemanden über mir fluchen hörte. „Verdammt! Juno!! Pennst du?!“ Irritiert drehte ich den Kopf. Da stand ein dunkel gekleideter Mann neben mir und sprang dann schneller als ein Häschen auf der Hatz davon. Es blitzte erneut. Im nächsten Augenblick lag ich mit dem Rücken auf dem Boden. Ein Schatten kam heran und erhob sich drohend über mir. Ich versuchte, etwas zu erkennen und stellte fest, dass sich mein Körper seltsam taub anfühlte, kribbelte. Der blondhaarige Mann, der jetzt wieder neben mir stand, kam mir seltsam bekannt vor. Er starrte mich wütend an. „‘Tschuldige ...“, stammelte ich aus einem Reflex heraus. Die Benommenheit ließ etwas nach, mühevoll stemmte ich mich auf meine Arme, schüttelte den Kopf einmal, als ich aufrecht saß. Mein Gegenüber tat nichts, um mir auf die Beine zu helfen. „Hör endlich auf, mir dauernd im Weg zu stehen!“, fauchte er mich stattdessen an. Ich sah zu ihm hoch und erkannte endlich mehr Einzelheiten von ihm. Die strohblonden Haare hatte er mit Haargel lässig nach hinten gestylt. Er hatte ein kantiges Gesicht, doch das Kinn lief recht spitz zusammen. Seine blauen Augen funkelten mich an. Mehr noch als das Gesicht, das ich nicht nur einmal auf einem Bildschirm gesehen hatte, sagte es mir die schwarzgrau gestaltete Kampfausrüstung, dass ich hier eine Königsgleve vor mir hatte. Vor allem noch eine, die sehr real wie Luche Lazarus aussah. Er machte keinerlei Anstalten, mir aufhelfen zu wollen. Stattdessen verschränkte er die Arme und sah mir dabei zu, wie ich mich selbst auf meine zitternden Beine kämpfte. Sein Gesichtsausdruck wurde noch wütender. „Gaff mich nicht an, als wär‘ ich ein bunter Hund!“, keifte er. Er wandte sich um. Das Getöse, das um uns herum stattfand, nahm ich nicht wahr. Immer noch perplex sah ich dem blonden Mann hinterher, der mich an Ort und Stelle stehen gelassen hatte. „Luche warte!“, rief ich und stolperte ihm nach. Wider Erwarten blieb er stehen und drehte sich zu mir um. Grimmig betrachtete er mich einmal von oben bis unten, die Arme verschränkt.  ‚Falls das ein Cosplayer ist, ist er wirklich in-character!‘, ging mir durch den Kopf. ‚Wird wohl ein Traum sein ...‘ „Es tut mir leid, wirklich! Ich ...“, setzte ich an. „Juno!“, mahnte er. „Ich versteh wirklich nicht, wie du es zu den Gleven geschafft hast.“ Schon wieder dieser Name, den er vorhin auch schon erwähnt hatte. Meinte er mich damit? „Warum ...?“ „Klappe!“, fuhr Luche bedrohlich fort. „Ehrlich, der Boss muss beim Praxistest geschlafen haben, als du an der Reihe warst! Außer Theorie pauken kannst du nichts!“ Ich schluckte und sah verschämt zu Boden. Das klang ja wenig aufmunternd. Während ich meine Fußspitzen betrachtete, bemerkte ich, dass ich ebenfalls die Kampfausrüstung der Gleven trug. Geschiente Stiefel, in denen die gemusterte Lederhose steckte, dazu der schwarze Kurzmantel mit den auffälligen, silbernen Knöpfen, den ich offen trug und der ziemlich verdreckt war. Darunter war ein schwarzes Shirt. Interessiert betrachtete ich die Scheide, die sich an meinem linken Oberschenkel befand, die jedoch leer war. Ein Seufzen riss mich aus meinen Gedanken. Luche sah mich immer noch an, doch inzwischen schien sein Zorn Bedauern gewichen zu sein. Es stimmte ja, sportlich war ich nie besonders gut, so sehr ich mich auch bemüht hatte. „Es tut mir leid, wirklich!“, wiederholte ich lahm und kratzte mich verlegen am Hinterkopf. Er verdrehte die Augen. „Ich will ja niemandem absichtlich im Weg stehen“, fügte ich kleinlaut hinzu. „Es ist nur ...“ Luche stemmte die Hände in die Hüften. „... deine Augen-Hand-Koordination?“, beendete er meinen Satz. Ich schluckte. „Ich versteh’s nicht. Du musst doch selbst wissen, dass du genau da hinwarpst, wo Nyx seinen Magieflakon hinwirft, wenn du dein Kukri so lahmarschig wirfst. Und immer nur flach über den Boden!“, tadelte er. „Ihr solltet Diagonalwarp üben, nicht ‚wie bringe ich mich mit dem geringsten Aufwand in die beschissenste Position?‘! So kannst du dich ja auch gleich selbst umbringen.“ Ich sah ihn erschrocken an. Mir war nicht klar, wie genau der Fehler aussah, den ich begangen hatte. Aber Luches Beschreibung zufolge und seiner Reaktion direkt danach zu urteilen, muss es ein gravierender gewesen sein, ganz unabhängig davon, dass ich ihm wohl zusätzlich noch im Weg gestanden hatte. „Ehrlich, mich würde es nicht wundern, wenn du irgendwann im Boden stecken bleibst!“ „Entschuldige ...“, stammelte ich. „Würdest du ...“ „Nein! Ich bin nicht dein Kindermädchen!“ Sagte es und war verschwunden. Offenbar war er blitzschnell weggewarpt. Ich versuchte, ihn in meiner unmittelbaren Umgebung ausfindig zu machen, aber Luche war weg. Dafür nahm ich etwas anderes wahr. Ich befand mich innerhalb einer Arena, in deren Mitte einige Felsformationen in die Höhe ragten. Die Szenerie war von blauen Blitzen durchzuckt. Und viele andere Leute, die ebenfalls die Königsgleven-Uniformen trugen und hin und her warpten. „Definitiv ein Traum ...“, murmelte ich. „Ein sehr Realer.“ Der Mittelpunkt des Geschehens hatte sich zum Glück etwas entfernt, in meinem Bereich der Arena war ich offensichtlich für mich allein, wie ich mit einem schnellen Blick feststellte. Ich befand mich auf dem Trainingsgelände der Königsgleve. Mitten in einem Computerspiel. Ich schüttelte den Kopf, aber es half nichts. Das hier schien einer der echtesten Träume zu sein, die ich in meinem Leben haben würde. Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Früher war es mir schon gelungen, bewusst aufzuwachen, wenn ich mich konzentriere und es sich bei dem Traum um einen so genannten Wachtraum handelte. Am häufigsten war mir das bei Alpträumen passiert. Als ich die Augen wieder aufschlug, befand ich mich nach wie vor auf dem Trainingsgelände. Zugegeben, der Traum war noch nicht angsteinflößend genug, obwohl Luche schon ziemlich gruselig war in seinem Verhalten. Ich wollte es gerade erneut versuchen, als neben mir etwas blau aufblitzte. Ich zuckte zurück und fiel auf meinem Hintern. Luche war es zum Glück nicht. Dieses Mal stand mir eine junge Frau gegenüber, Jumpsuit, überraschend kurz geschnittene Version der Glevenjacke mit kurzem roten Cape daran. Die welligen braunen Haare hatte sie in einem Dutt zusammengesteckt. „Hoppla!“, meinte Crowe freundlich und hielt mir ihre Hand hin. Ich ergriff sie und ließ mir aufhelfen. „Danke ...“, hauchte ich. „Du musst mehr aufpassen. Luche verliert schnell die Geduld, vor allem wenn ihr Neulinge euch in seinen Augen dumm anstellt“, erklärte sie. Ein verschmitztes Grinsen stahl sich auf mein Gesicht, dann sah ich sie schüchtern an. „Bist du nicht der Meinung, dass ich mich dumm anstelle?“, fragte ich vorsichtig. „Nein“, meinte sie zu meiner Erleichterung nett. „Wir haben alle mal klein angefangen, selbst Luche. Nimm es dir nicht so sehr zu Herzen, was er zu dir sagt.“ Sie zögerte kurz. „Sag ihm nicht, dass ich das gesagt habe, okay?“, bat sie. „Klar!“ Meine Stimme klang schwach, gerade so, als hätte ich keine Kraft im Körper, keine in den Lungen. „Ich erklär dir am besten noch mal, wie das mit dem Warpen funktioniert.“ Ein Stein fiel mir vom Herzen, so erleichtert war ich darüber, dass Crowe mir ihre Hilfe anbot. Ich spitzte die Ohren. „Für’s Warpen benutzen wir in der Regel kleine Nachkampfwaffen, deren Kernelement aus einem seltenen Erz besteht. Standardmäßig handelt es sich dabei um Kukris. Diese gehören zur Standardausrüstung derjenigen, die im Nahkampf talentierter sind als in der Magie.“ Ich nickte, um ihr zu signalisieren, dass ich soweit verstanden habe. Dummerweise kam mir nichts von dem, was sie mir sagte, in irgendeiner Weise bekannt vor. Mir schien es eher so, als hätte ich heute meine allererste Theoriestunde in der Ausbildung der Königsgleven. „Einige andere Gleven, die vorwiegend Magie benutzen, haben in der Regel Kunai versteckt am Körper.“ Crowe hob ihr linkes Bein und zog mit der rechten Hand einen kleinen Knauf aus dem Stiefelschaft. Zum Vorschein kam eines der kleinen Wurfmesser. Sie steckte es wieder weg, nachdem ich es ausgiebig begutachtet hatte. „Unsere Hauptaufgabe ist es, den Gegner aus der Entfernung mit Magie zu bekämpfen, während die anderen sie im Nahkampf beschäftigen. Die Zauber, die wir wirken können, können sehr mächtig sein. Und fürchterlich schief gehen, wenn man sie falsch synthetisiert oder man den Magieflakon versehentlich auf die Kameraden oder nicht weit genug von sich selbst wegwirft. Merk dir das.“ „Üben wir das heute auch?“, fragte ich neugierig. „Nein. Wir müssen dir ja erst einmal das Warpen beibringen“, lachte Crowe. „Also pass auf. Die Kunst des Warpens können nur einige wenige Auserwählte erlernen. Üblicherweise stellen die in einem Praxistest fest, wer geeignet ist und wer nicht. Die Fähigkeit zu Warpen und Magie zu wirken, wird uns üblicherweise vom König gewährt. Falls du das schon wieder vergessen hast, lies es in unserer internen Datenbank noch mal nach.“ Ich nickte. „Beim Warpen wird auch ein kleiner Zauber gewirkt, den wir aber nur dadurch beeinflussen können, in welche Richtung wir unsere Waffe werfen.“ „Ist dabei schon mal etwas schief gegangen?“, erkundigte ich mich. Crowe sah mich schief an. „Wie meinst du das?“ „Na ja, ist schon mal jemand ...“, Luches Worte gingen mir durch den Kopf. „... in einer Wand gelandet?“ Sie sah mich abschätzig an. „Es kommt hin und wieder mal vor, dass sich jemand beim Werfen verschätzt. Das kann genauso schief gehen, wie wenn man zum Beispiel nicht weit genug wirft. Ich glaube, der schlimmste Unfall, den wir mal hatten, war ein gebrochenes Bein“, überlegte sie. „Aber lass dich davon nicht beunruhigen!“ Die Gleve hatte wohl meinen entsetzten Gesichtsausdruck gesehen. Ich seufzte einmal. „Beim Diagonalwarpen musst du deine Sinne sehr schnell koordinieren können. Anfangs ist es für den Körper ein Schock, wenn man das erste Mal erfolgreich warpt. Erinnerst du dich noch an das Übelkeitsgefühl?“, fuhr sie fort. „Ich hab damals für den Rest des Tages nichts mehr gegessen, so speiübel war mir.“ Ich schwieg. Crowe musste ja nicht wissen, dass mein Erinnerungsvermögen diesbezüglich einem schwarzen Loch gleichkam. „Ich hab‘ so meine Schwierigkeiten mit Höhe ...“, meinte ich stattdessen. Ein Umstand, der nicht einmal gelogen war. Ich hatte tatsächlich Höhenangst, die sich aber nicht jedes Mal bemerkbar machte, sobald es hinauf ging. In Flugzeugen oder Helikoptern zu fliegen, stellte kein Problem dar. Beides hatte ich schon gemacht und hatte meinen Frieden dabei, wenn es nicht zu starken Turbulenzen kam. Anders sah die Sache bei Seilbahnen oder wackeligen Aussichtsplattformen aus. Allein der Gedanke daran, dass ich in diesem Gelände wie eine echte Königsgleve herumwarpen sollte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Die Möglichkeit, aus Versehen in einer Wand zu landen, erschien mir gar nicht mehr so abwegig. Die junge Frau schien meine Unsicherheit zu bemerken. „Da musst du wohl durch. Oder du suchst dir einen anderen Job“, fand Crowe mitleidig. Ich schluckte. „Also, willst du’s noch mal versuchen? Wir bleiben vorerst hier in diesem Bereich des Geländes, dann kannst du in Ruhe üben. Ignorier die andern.“ „Okay ...“, stotterte ich. Ich sah an mir herab. Erst da fiel mir wieder ein, dass mir meine Waffe fehlte. „Huch?“ „Da!“ Mein Kukri lag einen Meter entfernt von mir am Boden. Hochrot hob ich es auf, ohne Crowe anzuschauen. Ich atmete einmal tief durch, um meine Nerven und meinen Puls zu beruhigen. Es klappte nur dürftig. „Konzentrier dich!“, mahnte die erfahrene Gleve. „Warp einmal senkrecht nach oben und dann wieder schräg auf den Boden. So brauchst du einen kleineren Radius und tust dich bei der Landung einfacher.“ Ich schnaufte noch einmal tief durch die Nase ein und wieder aus, aber es half alles nichts. Mein Herz, das mir mittlerweile bis zum Hals hoch klopfte, ließ sich nicht beruhigen. Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder und warf meine Waffe mit aller Kraft senkrecht nach oben. Als sich das Kukri dem Maximum seiner Flugbahn näherte, verspürte ich ein Kribbeln auf meiner Haut. Plötzlich zog sich mein Körper zusammen, im nächsten Augenblick fand ich mich einen Meter von meinem Kukri entfernt wieder. Zwanzig Meter über dem Erdboden, doch ich hatte keine Gelegenheit, mir darüber groß Gedanken zu machen. Fast wäre mir meine Waffe durch die Finger gerutscht. Ich bekam sie gerade noch so an der Klingenrückseite zu fassen, als mich die Schwerkraft schon wieder nach unten beförderte. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, warf ich die Klinge erneut, dieses Mal in die Richtung, in die mir Crowe gewiesen hatte. Dieses Mal kam das Kribbeln und Schrumpfen schneller, erneut tauchte ich plötzlich einen Meter von meinem Kukri entfernt in der Luft auf. Doch anstatt nach meiner Waffe greifen zu können, berührten meine Füße plötzlich den Untergrund und ich landete unsanft auf dem Boden der Tatsachen. Meine Knie gaben nach. Es gelang mir reflexartig, mich auf die Seite zu drehen und leicht abzurollen, wodurch ich den Aufschlag abmildern konnte. Trotzdem blieb es ein Aufschlag. Der Ohnmacht nahe blieb ich liegen. „Ahahaha, ist die Kröte wieder im Dreck gelandet ...?!“, hörte ich jemanden rufen. „Sei still!“ Verschwommen nahm ich wahr, dass Crowe weg warpte und einen Augenblick später wieder zurück war. Sie eilte an meine Seite. „Juno, geht’s dir gut?“ Ihr besorgtes Gesicht schob sich in mein Sichtfeld. „Mhm“, meinte ich tapfer und schob mich auf meine Ellbogen. Mir war speiübel. „Komm, du musst dich aufrichten, sonst übergibst du dich nur!“ Crowe griff mir unter die Achseln und zog mich in eine sitzende Position. Die Übelkeit ließ schnell nach, meine Sicht klärte sich wieder etwas. Vorsichtig bewegte ich meine Beine, ließ die Fußgelenke kreisen. Trotz der harten Landung schien ich nicht ernsthaft verletzt zu sein. „Kannst du aufstehen?“, fragte die Gleve. „Ja!“ Sie zog mich auf die Beine. Als ich in ihren Augen sicher stand, ließ sie mich los. Schwach lächelte ich ihr ins Gesicht und bückte mich dann nach meinem Kukri. Ich wollte es nicht noch einmal vergessen. Aufmunternd sah Crowe mich an. „Komm, wir lassen das mit dem Training für heute!“ Sie nahm mich am Arm und führte mich an den Rand der Arena. Ich folgte ihr auf wackligen Beinen hinein ins Gebäude, einmal um die Ecke nach links und dann den Gang entlang. Die ersten beiden Türen zu unserer Rechten standen sperrangelweit offen. Crowe schob mich in die zweite, bei der es sich um Umkleiden handelte. „Die lassen immer die Türen offen“, schimpfte sie gespielt. Sie schob sie zu und führte mich weiter in den Raum hinein zu Spinden an der Rückseite des Raums. Schräg gegenüber führte eine weitere Tür tiefer ins Gebäude. Nur am Rande nahm ich den Namen auf dem Schild am Schrank wahr. ‚J. Ofilius‘ stand dort. Es schien sich um meinen Spind zu handeln. „Zieh mal die Sachen aus, ich will sehen, wie schlimm es ist“, wies Crowe mich an. Ich starrte sie an. Und gehorchte. Schnell hatte ich mich der Jacke entledigt, die inzwischen eine gründliche Reinigung nötig hatte. Bei weitem zögerlicher öffnete ich den Knopf und den Reißverschluss meiner Hose und schob sie soweit über meinen Hintern hinab, dass ich sie problemlos im Sitzen ausziehen könne. Selbst durch meinen Slip hindurch fühlte sich die Sitzbank kalt an. Crowe hockte sich vor mich hin und betrachtete das, was von meinem linken Oberschenkel zu sehen war. Dort bildete sich gerade ein stattlicher blauer Fleck. „Das sieht übel aus“, kommentierte sie, als ich mich endlich der kompletten Hose sowie der Stiefel entledigt hatte. „Fühlst du sonst irgendwelche Schmerzen?“ Inzwischen tat mein ganzes linkes Bein an der Seite, auf der ich so unsanft gelandet war, weh. Vorsichtig bewegte ich noch mal meine unteren Extremitäten, wie ich es zuvor schon auf dem Platz gemacht hatte. Die Tatsache, dass ich alles bewegen konnte, auch die Zehen ließen sich spreizen, beruhigte mich ungemein. Einen Nerv hatte ich mir offensichtlich nicht eingeklemmt. „Es tut nur höllisch weh!“, meinte ich tapfer. „Und hier?“, fragte sie und kniff mir an meinen linken Oberarm. „AU!“, entfuhr es mir. „Dacht ich’s mir.“ Crowe stand auf und sah besorgt zu mir runter. Ich sah, dass ihre Gehirnzellen arbeiteten. „Hey, das tut nur ziemlich weh, aber es scheint nichts gebrochen zu sein.“, versuchte ich, ihre Sorgen abzuwiegeln. „Trotzdem, das hätte nicht passieren dürfen. So kannst du die nächsten Tage nicht trainieren.“ Ich ließ die Schultern hängen. Das fing ja gut an! „Na ja, es hilft alles nichts. Jetzt schauen wir erst einmal, dass wir dich unter die Dusche bekommen, du bist komplett verschwitzt!“ Ich starrte sie entgeistert an, während Crowe ganz ungeniert anfing, in meinen Hosentaschen zu kramen. Sie förderte einen kleinen Schlüsselbund zu Tage und schloss mit einem Kurzen meinen Spind auf. Ich räusperte mich. „Hm?“, machte sie. „Das ist privat“, erklärte ich und stand auf. Wenn einem Gefahr drohte, entwickelte man ungeahnte Kräfte. Anders konnte ich mir nicht erklären, wie ich es schaffte, die Gleve bestimmt von meinem Spind wegzuschieben. Ich hatte selbst keinen blassen Schimmer, was sich in dem Schränkchen alles finden würde. Crowe verzog sich in eine andere Ecke des Raums, als ich sie nicht weiter beachtete. An der Innenseite der Tür hing eine geknitterte Schwarzweiß-Fotografie. Sie zeigte mich und noch zwei andere Personen, die ich nicht erkannte. Ich starrte eine ganze Weile auf das Bild, ehe mich ein Knall aufschrecken ließ. „Brauchst du Hilfe beim Duschen?“, fragte Crowe durch den Raum. Ich sah zu ihr hinüber. Sie hatte sich komplett ausgezogen und hielt ein Handtuch ziemlich schlampig vor ihren Körper. Ich konnte einen Großteil ihrer rechten Brust sehen und spürte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg. Sie zuckte mit den Schultern. „Dann wohl nicht ...“, meinte sie nur und verschwand durch die andere Tür. Kurz darauf könnte ich Wasser aus einem Duschkopf rauschen hören. Ich wandte mich wieder meinem Schrank zu und wühlte schnell durch die Sachen. Oben fand ich Handtücher und diverse Hygieneartikel, mehrere Sätze Unterwäsche, Haargummis sowie verräterisch kleine, quadratische Plastikpäckchen, bei denen es sich nur um Präservative handeln konnte. Ich überlegte, ob ich noch mal versuchen sollte, endlich aus diesem Traum aufzuwachen. Andererseits waren die Schmerzen auf meiner linken Körperseite inzwischen viel zu real, als dass es sich dabei um einen Traum handeln konnte. Peinlich berührt von den Kondomen wandte ich meine Aufmerksamkeit der Handtasche zu, die versteckt unter der Kleidung auf dem Kleiderbügel hing. Zu meiner Enttäuschung befand sich darin keine Geldbörse und bei dem Mobiltelefon, das mir in die Finger geriet, scheiterte ich am Zahlencode. ‚Scheiße!‘, dachte ich frustriert. ‚Ich weiß weder was über mich, noch hab ich Geld zur Verfügung.‘ Vielleicht hatte ich ja Glück und jemand rief mich an, dann würde ich das Gerät benutzen und den Code ändern können. Sicherheitshalber fühlte ich an den Seiten der Handtasche entlang, nachdem ich jedes innen- und außenliegende Extrafach doppelt auf seinen Inhalt geprüft hatte. Es gab nicht die kleinste versteckte Extratasche. Also verfügte ich momentan über Lippenbalsam, einen kleinen Kugelschreiber aber keinen Block dazu, Papiertaschentücher und einem Handy, dessen Nutzung mir vorerst verwehrt blieb. „Scheiße ...“, murmelte ich. „Du stehst ja noch immer da!“, meinte jemand hinter mir. Ich fuhr herum. Crowe stand da, vergleichsweise züchtig in ein Handtuch gewickelt, und sah mich an. „Ist alles in Ordnung?“, hakte sie nach. „Ja. Ich ... Es ist nur alles ein bisschen viel auf einmal“, seufzte ich. „Verstehe ... Was hältst du davon, wenn du heute Abend mitkommst und einen mit uns drauf machst?“, schlug die junge Frau vor. Ich schluckte. Meinte sie damit etwa den Besuch beim Spießchenstand irgendwo in den Tiefen Insomnias? Dann fiel mir etwas ein. „Entschuldige, ich hab offensichtlich meinen Geldbeutel daheim liegen lassen, und ...“, offenbarte ich. „Macht doch nichts! Ich lad dich ein! Dann kommst du auf andere Gedanken!“ Crowe grinste. Ich ließ die Schultern hängen. „Es wird dir bestimmt gefallen.“ Vielleicht war es ja tatsächlich ganz nett. Die Szene im Film hatte die Freunde zwar in gedrückter Stimmung gezeigt. Trotzdem hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass sie wirklich eng miteinander waren. Und genau das war einer der Gründe, warum ich mich nicht aufdrängen wollte. Ganz abgesehen davon, dass Luche wohl auch dabei sein würde. Aber das sagte ich nicht. „Na komm, unter die Dusche mit dir!“, forderte Crowe. „So stinkend kannst du nicht vor die Tür gehen!“ Sie kam wieder zu mir herüber, sah in meinen Schrank und griff nach den Handtüchern. Dabei löste sich der Knoten in dem Handtuch, das sie sich umgewickelt hatte. Stoisch in die Luft blickend nahm ich ihr meine Handtücher ab und stapfte an ihr vorbei zu den Duschen.   * * *   Der Bus ruckelte durch die Straßen, die Luft in dem Fahrzeug war trotz der gekippten Fenster stickig. Crowe hatte gemosert, dass schon wieder eins der alten Modelle ohne Klimaanlage fuhr, als er in die Haltebucht der Bushaltestelle gelenkt wurde. Ich hatte nur mit den Schultern gezuckt und meine Handtasche an mich gedrückt. Wir waren nicht die einzigen Gleven, die den Fünfuhrbus in den Feierabend nahmen. Trotz des Gerangels schafften wir es, uns zwei Sitzplätze im hinteren Bereich zu sichern. Crowe ließ mich am Fenster sitzen, sie hatte ja gar keine Ahnung, wie dankbar ich ihr war. Danach hatten wir uns auf den Weg gemacht in die Untiefen dieses gefräßigen Schmelztiegels, der sich lucissche Hauptstadt schimpfte. Zunächst hatten wir noch eine weitere Haltestelle abgeklappert, auch der Gang war mittlerweile vollbesetzt. Danach hatte sich der Bus auf eine der Expressstraßen gezwängt, die sich auf Brücken durch die Großstadt schlängelten. Gebannt hatte ich die Aussicht genossen. Irgendwann hatte Crowe gekichert und gemeint, ich sähe aus, als wäre ich das erste Mal in einer Großstadt. Was natürlich nicht der Wahrheit entsprach, aber das verschwieg ich lieber. Tokio damals war schon sehr eindrucksvoll gewesen, aber gegen Insomnia kam die japanische Hauptstadt einem Fliegenschiss gleich. Die Skyline war atemberaubend. Ein Gebäude, das aus mehreren, miteinander verbundenen Towern bestand, überragte alles. Erst nach mehreren Minuten gebannten Draufstarrens wurde mir bewusst, dass es sich dabei um den Palast handeln musste. Ob sich König Regis und Prinz Noctis gerade dort befanden? Duzende solcher Fragen waren mir durch den Kopf gerauscht, aber auch keine hatte ich eine zufriedenstellende Antwort finden können. Lediglich soviel war mir klar, als dass es noch nicht zu jenem verhängnisvollen Tag der Vertragsunterzeichnung gekommen war, der in einem Blutbad und der Zerstörung der halben Stadt geendet hatte. Ein Schatten war mir übers Gesicht gehuscht. Der Bus folgte einer langgezogenen Kurve und der Palast verschwand wieder aus meiner Sicht. Immer wieder blieben meine Augen an Reklametafeln hängen, die vier ineinandergreifende Ringe zeigten, zusammen mit dem Spruch ‚Vorsprung durch Technik‘. Ich grinste jedes Mal, wenn wir an einem davon vorbeifuhren. Mein erstes Auto war seinerzeit ein Audi A2 gewesen, bevor ich auf einen Toyota Hybrid umgestiegen bin. Zahlreiche Erinnerungen verbanden mich mit meiner damaligen silbernen Suppenschüssel, die mich 13 Jahre lang sicher von A nach B gebracht hatte. Irgendwann verließ der Bus die Expressstraße und fuhr wieder hinab in die Häuserschluchten. Die Gehwege waren ziemlich voll. Läden mit den verschiedensten Waren reihten sich aneinander, Elektronikartikel, Klamotten- und Schmuckläden, vereinzelt Restaurants. Einmal erspähte ich sogar eine Spielhölle. Wir bogen mehrere Male ab, bevor Crowe mich an der Schulter zupfte. „Au ...“, keuchte ich, da es ausgerechnet die linke war. „Sorry“, meinte sie entschuldigend. „Die nächste müssen wir raus.“ Ich nickte. Wir standen auf und zwängten uns durch die anderen Fahrgäste hindurch zur Ausstiegstür. Mehrmals bekam ich Ellbogen oder Taschen an die linke Seite, wodurch sich meine Prellungen wieder bemerkbar machten. Ich bis die Zähne zusammen und hielt mich an einem der Griffe fest. Der Bus bog endlich in die Haltestelle ein und wir quetschen uns hinaus. „Endlich draußen!“, meinte Crowe. Sie tat es mir gleich und nahm einige tiefe Atemzüge. „Und jetzt?“, fragte ich. „Komm mit, wir müssen noch ein Stück weit laufen.“ Ich stolperte ihr hinterher und musste mich vorerst von meiner Umgebung abwenden, wenn ich den Anschluss nicht verlieren wollte. Crowe führte mich zunächst die Straße entlang, an der uns der Bus rausgelassen hatte. Nach mehreren hundert Metern – mir schien es, als kämen wir an einer weiteren Bushaltestelle vorbei – bogen wir rechts ab und folgten der Seitenstraße zwei Blocks. Danach lotste mich die Gleve einmal auf die andere Seite, wo es einen kleinen, umzäunten Platz rechts neben dem Hochhaus gab. Erst, als wir uns näherten, bemerkte ich, dass an der Rückseite eine etwa zwei Meter breite Eisentreppe in die Tiefe führte. Langsam stieg ich Crowe hinterher die Stufen hinab. „Alles okay?“, fragte sie besorgt. „Ja, mein Oberschenkel fängt nur grad wieder zu schmerzen an.“ Tatsächlich schlackerten mir die Knie, denn der Geruch von gebratenem Fleisch stieg mir in die Nase. Mein Magen machte sich lautstark bemerkbar. „Du meine Güte!“, lachte Crowe, als sie es wahrnahm. „Wann hattest du heute zuletzt was zu essen?“ Ich sah sie nur hungrig an und überwindete die letzten Stufen. Unten angekommen sah ich schon einen großen Tisch und drei Leute, die daran saßen, schwatzten und schmatzten. Ich schluckte. Wie ich es mir gedacht hatte, Luche war auch dabei. Bei den anderen beiden, die ihm gegenübersaßen und uns die Rücken zukehrten, konnte es sich nur um Libertus und Nyx handeln. Libertus Ostium war der einzige Angehörige der Königsgleve, den ich im Film bewusst als leicht übergewichtig wahrgenommen hatte. Und der Irokesenhaarschnitt von Nyx Ulric war einfach unverkennbar. Der Held der Geschichte musste einem ja schließlich auch optisch in Erinnerung bleiben. Pelna Khara war nicht dabei. Luche bemerkte uns als Erster. „Warum hast du die Kröte mitgebracht?“, fragte er, als er mich sah. „Halt die Klappe! Juno, hör einfach nicht auf ihn!“ Während sich die anderen beiden zu uns umdrehten, klappte der blonde Mann die Kinnlade einmal auf und wieder zu. Er warf mir noch einen wütenden Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf sein Abendessen. „Hi. Ihr habt ja lang gebraucht“, begrüßte Nyx uns. Libertus winkte nur und drehte sich dann wieder um. „Sorry, war nicht unsere Absicht“, meinte Crowe entschuldigend und wandte sich zu mir um. „Schon mal galahdische Spießchen gegessen?“ „Nee!“, kam meine prompte Antwort. „Na dann wird’s ja langsam Zeit!“ Meine Begleiterin und Mentorin, wie es mittlerweile den Anschein hatte, schob mich zum Grillstand hin. Crowe und der Bratmeister kannten sich offenbar. Fasziniert betrachtete ich die Spießchen, die über offenem Feuer vor sich hinbrutzelten. „Also? Welche willst du?“ „Dann wohl einmal von allem“, grinste der Verkäufer, als ich ihnen eine Antwort schuldig blieb. Ich beobachtete, wie er einen Teller zur Hand nahm und darauf von jeder Sorte ein Spießchen platzierte. Eigentlich war ich nicht so der Fleischesser, aber so ausgehungert, wie ich mich fühlte, würde mein Verdauungstrakt Zeter und Mordio schreien, wenn ich ihm jetzt Nahrung vorenthielt. Mit strahlenden Augen verfolgte ich, wie sich mir der Teller mit den Spießchen langsam näherte. „Ich mach das schon“, sagte Crowe schnell, als der Wirt Anstalten machte, mir Geld abdrücken zu wollen. „Einmal ihre Portion, und für mich das Übliche. Und zwei Bier.“ Ich hatte mich schon zum Tisch umgedreht, beim Stichwort Bier schluckte ich merklich. Auch Alkohol trinken gehörte nicht zu Dingen, die ich tat. Überhaupt hatte ich bisher sehr abstinent gelebt und war damit immer gut gefahren. Ich konnte nur hoffen, dass das hiesige Bier nicht dem Münchner Starkbier gleichkam. „Du meine Güte“, brummte Luche, als ich an den Tisch kam, und stand auf. Ich sah ihm forsch ins Gesicht, sagte aber nichts. Er lehnte sich ans Geländer, wie er es auch im Film getan hatte. Die Fleischspießchen forderten meine gesamte Aufmerksamkeit. Zuerst schnappte ich mir eines, an dem nur Fleisch hing. Eines der Spießchen hatte zusätzlich Lauch zwischen den Fleischstücken, das wollte ich mir deshalb bis zum Schluss aufsparen. Falls die anderen nicht schmeckten, konnte ich mit dem Lauch den Geschmack wenigstens etwas überdecken. Allerdings waren meine Sorgen völlig unbegründet. Die Spießchen waren würzig, aber nicht zu scharf. Das Fleisch fiel mir mehr wegen seiner Konsistenz auf und weniger wegen des Eigengeschmacks. „Nicht so gierig, junge Dame!“, mahnte Libertus. „Sonst überfrisst du dich!“ „Du brauchst grad reden!“, konterte Crowe, die ebenfalls an den Tisch gekommen war. Nachdem mein ärgster Hunger gestillt war, fiel mir Nyx‘ observierender Blick auf. Ich sah kurz zu ihm hin. „Entschuldige, ich hatte den Magieflakon heute echt dumm geworfen“, entschuldigte er sich. Ich verschluckte mich fast.  „Schon gut“, murmelte ich. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass Luche wegging. Als ich ihn außer Hörweite wähnte, sah ich die anderen drei ernst an. „Ist er immer noch sauer auf mich?“ „Ach, vergiss Luche. Er regt sich nur darüber auf, dass er heute mit den Neulingen trainieren musste“, erzählte Nyx. „Das hat er noch nie gemocht.“ „Ah.“ Zu mehr war ich nicht imstande. Nyx hatte mir gerade, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine wichtige Information gegeben. Ich schien noch ein Neuling bei der Königsgleve zu sein. „Und hast du’s jetzt verstanden, wie es mit dem Warpen funktioniert?“, erkundigte sich Libertus. Er hatte sein Abendessen ebenfalls beendet und sah mich freundlich an. „Ich denke ... schon ...“, stammelte ich aufgeregt. „Ich werd‘ nur ... jede Menge üben müssen.“ „Mussten wir alle. Wenn es dich tröstet, mir wird davon immer noch schlecht und ich mach das schon seit Jahren“, fügte er hinzu. Nyx grinste dezent. „Wie lange hat es bei dir ... bei euch gedauert, bis ihr so gut Warpen konntet?“, fragte ich und griff zu meinem letzten Spießchen. Von dem Bier hatte ich bisher nicht getrunken, während Crowe ihre Flasche schon zur Hälfte geleert hatte. „Bei mir hat’s ein halbes Jahr gedauert, aber unser Nyx hier hat es nach drei Wochen Training gekonnt“, erzählte Libertus. Ich sah den Gepriesenen an, als wäre er Supermann. Im Grunde genommen war er das ja auch. In dem Moment, für mich. Er sah verlegen zur Seite, als er meinen bohrenden Blick spürte. „Du hättest es genauso schnell gelernt, wenn sich Drautos dich zur Brust genommen hätte“, wiegelte er bescheiden ab. „Worauf ich dankend verzichtet habe ... Isst du das noch?“ Libertus deutete auf mein Fleisch-Lauch-Spießchen. Ich folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger und griff schnell nach dem Spieß, bevor er es mir stibitzen konnte. „Du solltest dringend das Werfen und vor allem das Zielen üben“, meinte Crowe, die rechts von mir saß. Ich nickte lahm. Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Schweigen legte sich über unseren Tisch, während wir Frauen unser Mahl beendeten, Libertus anfing, auf seinem Handy zu tippen und Nyx seinen rechten Unterarm inspizierte, als ob er eine frische Wunde hätte. Fieberhaft überlegte ich, was ich als Nächstes fragen könnte. Ich hatte seit jeher meine Schwächen bei der Interaktion mit anderen. Small-Talk war kein Problem, aber für tiefgreifende Gespräche fehlten mir oft die Themen, die sich für meine Mitmenschen eigneten. Und in der gegenwärtigen Situation musste ich höllisch aufpassen. Selbst eine einfache Frage, wie was am nächsten Tag anstünde, erschien mir zu verräterisch. Was, wenn morgen Wochenende oder ein arbeitsfreier Feiertag war? Das nicht zu wissen, konnte Misstrauen auf mich lenken, das ich vorerst vermeiden wollte. Luche kam wieder an den Tisch zurück und setzte sich an die Stirnseite. Er ignorierte mich hartnäckig. „Wird Zeit, dass Pelna aus dem Urlaub zurückkommt“, meinte er. Die anderen drei sahen sich an. Mein verwirrter Blick suchte Augenkontakt mit Libertus, fand ihn aber nicht. „Jetzt lass mal gut sein, Luche“, meinte Crowe. „Du bist als Neuling genauso häufig auf dem Hintern gelandet.“ Offensichtlich ging es doch wieder um mich. Ich legte mein letztes Spießchen, das mittlerweile sauber abgeleckt war, auf den Teller vor mir und richtete mich kerzengerade auf. „Was ist eigentlich dein Problem?“, fragte ich den blonden Mann rundheraus. Zornig starrte er zurück. „Fühlst du dich etwa stark, weil du glaubst, hier jemanden auf deiner Seite zu haben?“, konterte er, ohne auf meine Frage einzugehen. Tatsächlich hoffte ich, dass wenigstens Crowe mir beistehen würde, doch ich wagte es nicht, Luches stechendem Blick auszuweichen. Angriffslustig starrte ich zurück. Er legte den Kopf leicht schief und zog einen Mundwinkel nach oben. „Okay, ist gut jetzt, Kinder!“, ging Crowe dazwischen. „Ihr müsst euch hier nicht kloppen.“ Ich sah sie an, sah meine Bierflasche und griff danach. Als mein Blick zufällig wieder zu Luche glitt, grinste er mich fies an. Das Starrduell hatte er gewonnen. Ich versuchte, meine aufkeimende Wut hinunterzuschlucken, und sah auf den leeren Teller meiner Sitznachbarin. „Na? Zufrieden für heute?“, fragte sie mich. „Zufrieden“, bestätigte ich. „Gut, dann bring ich dich jetzt besser nach Hause“, meinte sie und stand auf. „Ihr wollt schon gehen?“, fragte Nyx erstaunt. „Ja“, bestätigte Crowe. „Wenn’s nach mir ginge, würde ich noch bleiben, aber du weißt ja selbst, dass Juno eine Bruchlandung hingelegt hat. Da ist Ruhe wichtiger als ein Trinkabend. Also? Kommt du?“ „Ja“, stotterte ich und machte, dass ich auf die Beine kam. „Also, wir sehen uns morgen!“ „Gute Nacht“, verabschiedete mich. Nyx und Libertus wünschten mir alles Gute, während Luche schwieg. Zum Glück sah er irgendwo anders hin. Ich beeilte mich und folgte Crowe die Treppe hinauf.   * * *   Crowe hatte Wort gehalten und mich bis nach Hause begleitet. Was insofern gut für mich war, als dass ich auch gleich wusste, wo ich wohnte. Der Schlüssel zu meiner Wohnung fand sich an dem Schlüsselbund wieder, der sich heute Nachmittag in meiner Hosentasche gefunden hatte. Die Gleve hatte sich von mir verabschiedet und hatte sich auf den Heimweg gemacht. Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, hetzte ich durch die Wohnung und fand nach kurzer Suche das, was ich jetzt brauchte. Eine Toilette! Seit geschlagenen fünf Minuten hing ich über der Schüssel und versuchte erfolglos, mich zu übergeben. Doch gerade in dem Augenblick, als die Lösung des Problems zum Greifen nahe war, schien es sich mein Magen wieder anders überlegt zu haben. Oder meine Nerven. Oder beides. Tränen rannen mir über die Wagen. Ausgelöst von der Anstrengung, mich zu übergeben, von dem unangenehmen Gefühl beim Warpen, von Luches Verhalten. Ich wusste es nicht. Vermutlich alle drei gleichzeitig. Vielleicht auch, weil ich partout nicht aus diesem Traum aufwachen konnte. Nachdem ich sicher war, dass ich mich heute doch nicht mehr übergeben würde, richtete ich mich vorsichtig auf und benutzte die Toilette entsprechend ihres ursprünglichen Zwecks. Wie im Wahn wusch ich mir danach die Hände und das Gesicht, betrachtete den langen Zopf dunkelbrauner Haare, der mir über die linke Schulter herabhing, ohne ihn davor richtig wahrgenommen zu haben. Schlurfte ins Schlafzimmer. Fiel ins Bett und fing das Heulen an. Irgendwann spät in der Nacht war ich eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)