Lieben heißt Festhalten und Loslassen von DragomirPrincess ================================================================================ Kapitel 1: ----------- "Ähm… Entschuldigung." Erschrocken zuckte der muskulöse Mann mit der nachtschwarzen Sonnenbrille und dem ebenso schwarzen Anzug zusammen, als ich die Stimme erhob, um auf mich aufmerksam zu machen. Ich stand bereits eine ganze Weile hier, aber scheinbar hatte mich niemand bemerkt. "Wo kommst du denn her, Junge?!" Seine Hand war zu seiner Brust gezuckt und meine Ahnung, dass er dort unter seinem Jackett eine Schusswaffe hatte, schien sich weiter zu bestätigen. Tatsächlich beunruhigte mich der Gedanke, dass es sich hierbei um bewaffnete Leibwächter handelte wenig. Bereits am Tor hatte ich geahnt, dass diese Anzeige nicht von irgendwem gestellt worden war, was bei der angebotenen Bezahlung auch nicht mehr sonderlich überraschend gewesen war. So traditionell wie dieses Haus waren nur wenige, besonders in einer so modernen Stadt wie Tokyo. Und vor allem waren sie nicht so gut bewacht wie dieses. Allein auf dem Weg vom Tor zu dem Empfangsraum, in dem ich mich jetzt aufhielt, waren mir bereits zehn Überwachungskameras aufgefallen und ich hatte nicht einmal danach gesucht. "Ich war schon die ganze Zeit hier", antwortete ich ruhig, wenn auch ein wenig resigniert. Ein Kandidat nach dem anderen war weggeschickt worden und immer war eine weitere der Frauen in das Arbeitszimmer gerufen worden, in dem die Gespräche stattfanden. Scheinbar war es nicht mein Geschlecht gewesen, dass dafür gesorgt hatte, dass ich noch immer hier saß, sondern eher meine fehlende Präsenz. Als die Männer schon die Türen schließen und aufgeben wollten, hatte ich dann doch meinen Mund aufgemacht. "Mein Name ist Kuroko Tetsuya, ich bin Student an der Universität und ebenfalls wegen der Ausschreibung hier. Sie haben mich bloß übersehen." Jetzt erschien der Anzugträger doch überrascht. "Keine Sorge, das passiert mir jeden Tag, falls es Sie beruhigt." "Nebuya, was ist los?" Ein junger Mann trat durch die Tür, durch die alle Bewerber zuvor gegangen und zurückgekehrt waren, in den Raum ein und sprach so den Leibwächter, der vor mir so scheinbar endlos in Richtung Decke emporwuchs, an. Er trug einen der so formellen, grauen Hakama und Gi - Kombinationen mit den schmalen Nadelstreifen, die man sonst selbst zu Hochzeiten oder anderen traditionsreichen Veranstaltungen kaum mehr sah, doch an seinem Körper schienen sie kein bisschen veraltet, viel mehr schienen sie für ihn gemacht worden zu sein, so wie die helle Haut sich unter dem dreieckigen Ausschnitt auftat und in dieses feinen Gesichtszüge überging. Was mich aber mehr überraschte als dieses traditionelle Auftreten, das in dieser Umgebung nicht auffällig war, waren seine Haare, die alles Andere als japanisch wirkten, wie sich in einem feurigen rot zu leuchten schienen und die ebenso intensiven Augen hervorbrachten, die uneins in ihrer Farbe von dem dunkelhäutigen Bodyguard zu mir wanderten. "Akashi-sama", begann dieser zu sprechen, doch eine einzige Handbewegung des Mannes, der kaum älter als ich sein konnte, gebot ihn zu schweigen, während seine Augen sich auf mich legten und mich so durchdringend musterten, dass ich mich beinahe fühlte als würde er mir die Kleider mit ihnen vom Leib ziehen. "Und wer bist du?" Seine Worte spiegelten eine unheimliche Faszination wieder, die ich nicht verstehen konnte und die ich so auch noch nie gespürt hatte. Aber wenigstens übersah er mich nicht. Trotz seines intensiven Blickes zuckte ich mit keiner Wimper und wiederholte noch einmal meine Vorstellung. "Mein Name ist Kuroko Tetsuya, ich studiere im fünften Semester Erziehungswissenschaften an der Universität Tokyo." Einen Moment überlegte ich noch, dann hob ich die Hand zur Begrüßung, Yakuza oder nicht Yakuza, das war eine Sache der Höflichkeit. Überraschung trat auf seine Züge, doch langsam zog er die Hand aus seinem Ärmel und griff dann nach meiner. Ich erwiderte den Händedruck ohne Bedenken wie ich es gewohnt war und wich seinem Blick nicht aus. Es war ganz einfach, er suchte jemanden, der auf ein Kind aufpassen konnte und ich konnte das Geld brauchen um mein Studium zu finanzieren, denn langsam schlugen mir die Nachtschichten und vor allem die sich häufenden Diebstahlversuche während meiner Schichten auf meinen körperlichen und geistigen Zustand. Außerdem war es immer mein Wunsch gewesen Geld damit zu verdienen auf Kinder auszupassen und ihnen etwas beizubringen. Ich nahm aus dem Augenwinkel war, dass der Bodyguard sich wieder angespannt hatte und seine Hand nahe der Brust verharrte. Anscheinend lebte dieser Mann sehr gefährlich, wenn schon ein einfaches Händeschütteln als Gefahr angesehen wurde. "Du bist erstaunlich ruhig", stellte er fest, als er mich noch einen langen Moment betrachtete hatte, während sich unsere Hände berührten. "Keine Zweifel? Keine Angst davor, hier zu sein?" Ich war mir nicht einmal sicher, ob er mich damit etwas fragte oder ob er mit sich selber sprach, dennoch erwiderte ich noch immer seinen Blick. "Bis jetzt hat noch jeder das Haus wieder verlassen. Und es war nicht allzu schwer zu erraten, um was für eine Ausschreibung es sich handelte." Seine Augen hellten sich etwas auf, als ich das sagte und seine Mundwinkel hoben sich. "Ich würde mich gerne, etwas länger mit dir unterhalten. Komm, Kuroko-kun." Ohne zu widersprechen, ließ ich es zu, dass er mich duzte, weil es sich irgendwie richtig aus seinem Mund anhörte, wenn er sich so deutlich über mich stellte und es mich ohnehin nicht besonders störte. Er verwies, während er sprach, mit einer eleganten Geste auf die Tür in seinem Rücken, die der Bodyguard namens Nebuya für uns öffnete. Der Raum dahinter erschien trotz des einfallenden Sonnenlichts eines großen Fensters dunkel, geprägt von schweren, hölzernen Möbeln und dem von Papiertüren gedämpften Licht und strahlte dabei doch eine intensive Wärme aus, die mich in diesem sonst irgendwie kühlen, sterilen Haus doch etwas überraschte. An einem Tisch, der aus dem dunklen Holz gefertigt war, lagen sich vier Sitzkissen gegenüber, die sich rot von dem dunkelbraunen Holzboden abhoben. Ich folgte einer weiteren Aufforderung und nahm auf einem von ihnen Platz, die Hände im Schoß verschränkend. "Kann ich dir Tee anbieten, Kuroko-kun?" "Ja, sehr gerne." Es freute mich, dass er mir Tee anbot, denn so kurz wie die meisten der Gespräche in diesem Zimmer abgelaufen waren, war das wohl nicht vielen von ihnen passiert und das war ein gutes Zeichen. Wie aus dem Nichts erschien ein weiterer Anzugträger, dessen Haare mattgrau ausdruckslose, ja beinahe blinde Augen überschatteten und in dessen Blick ich Nichts als Leere lesen konnte. Er hielt ein Tablett in der Hand, das er vorsichtig abstellte, und ohne ein Wort zu sagen zwei Tassen Tee einschenkte, bevor er wieder ging. "Danke, Mayuzumi." Kaum hatte ich den Blick von ihm genommen, schien er einfach verschwunden zu sein. Etwas, das mir so seltsam bekannt vorkam und trotzdem eine ganz neue Erfahrung darstellte. War er- "Was denkst du, wie viele diesen Raum betreten haben ohne zu begreifen, was ich bin?" Ich war mir nicht ganz sicher, ob es eine rhetorische Frage war, die er da stellte, während er die Teetasse hob und die grüne Flüssigkeit darin betrachtete. Dennoch antwortete ich ihm ehrlich. "Sieben." Völlig überrascht von dieser so direkten, ja präzisen Antwort sah er auf. "Wie bitte?" "Sieben. Das ist die Anzahl derer, die innerhalb der ersten zwei Minuten wieder gegangen sind. Sie alle hatten diesen ängstlich-verstörten Ausdruck in den Augen."  Ich antwortete ruhig, obwohl solche Beobachtungen von den meisten Menschen eher negativ wahrgenommen wurden, hatte ich es mir nie abgewöhnen können, meine Mitmenschen zu beobachten und in ihrem Verhalten zu lesen. Noch einen Moment wirkte er verwirrt von meinen Worten, dann lachte er leise. "Acht", korrigierte er dann. "Eine hat sich davon nicht abschrecken lassen." Ich hob ebenfalls die Mundwinkel und griff dann nach der Tasse. Es waren insgesamt elf Frauen gewesen, das hieß, dass nur vier überhaupt Interesse an dem Angebot gehabt hatten, nachdem sie hierhergekommen waren. Wie viele bereits vor dem Haus umgekehrt waren, konnte ich jedoch nicht einschätzen. Ich nippte an dem zarten Porzellan in meiner Hand. Auf dem hellen Material hoben sich in zarten Linien Kirschblüten von dem matten Grauton ab. Es wirkte sehr edel und so als ob man es lieber schnell vor kleinen Kindern in Sicherheit bringen sollte, dachte ich nachdenklich, während ich probierte. Der Tee schmeckte mild, wahrscheinlich war er eher für Frauen bestimmt gewesen, doch ich musste zugeben, dass er auf jeden Fall genau richtig zubereitet worden war, denn es lag nahezu kein bitterer Nachgeschmack in dem warmen Getränk. Doch etwas anderes gefiel mir noch besser an dem zarten Geschmack. Der Hauch von Vanille, der in meinem Mund verweilte, auch nachdem ich geschluckt hatte. Auch er hatte seine Tasse angehoben und von dem Tee getrunken, aber kein Wort gesagt. Und so herrschte eine angenehme Stille zwischen uns, in der er mich scheinbar beobachtete und wir beide von dem Tee tranken. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass sich überhaupt ein Mann auf die Anzeige melden würde", stellte er dann ruhig fest und ich ließ den Tee kleine Kreise auf das matte Porzellan malen, während ich überlegte, was ich darauf antworten sollte. "Das ist nicht ungewöhnlich. Ich höre das oft genug in meinen Seminaren an der Universität." Wenn mich denn jemand bemerkte. "Aber für mich gibt es nichts, das mir mehr Spaß macht als mit Kindern zu arbeiten." Eine Tatsache, die sich leicht begründen ließ, wenn man bedachte, dass es scheinbar ein gewisses Alter gab, mit dem es im Allgemeinen begann, dass man mich übersah. "Es gab keinen Grund für mich, diesen Wunsch zu missachten, nur weil ich als Mann geboren wurde. Außerdem fehlen vielen Jungen im jungen Alter männliche Vorbilder, wenn ihre Väter den ganzen Tag arbeiten und sie auch im Kindergarten nur von Frauen betreut werden." Ein Missstand, der meiner Meinung nach viel zu selten thematisiert wurde. Und erstaunlicher Weise schien der Mann vor mir, diese Meinung zu teilen, denn er nickte meine Antwort ehrlich ab. "Eine Meinung, die mein Vater vermutlich sehr idealistisch mit dir teilen würde." Ich wurde aus dieser Antwort nicht ganz schlau und wurde doch das hintergründige Gefühl nicht los, dass es hier um etwas ging, das die Erziehung eines Yakuza-Erben betraf. Etwas, bei dem ich mich nicht ganz wohl fühlte, auch wenn der Mann vor mir so höflich mit mir und allen anderen Anwesenden umging "Und der ich zugegebener Maßen ebenfalls nicht abgeneigt bin." Er betrachtete mich über seine gefalteten Hände hinweg, an denen sein Kinn lehnte.  "Ich schätze deine Beweggründe sind dennoch eher leicht zu verstehen. Du brauchst das Geld für dein Studium, nicht wahr? Du hast bisher anderweitig gearbeitet, aber die Arbeit mit einem Kind hat dich mehr gereizt und das Gehalt hat den Rest getan." Anscheinend war er ebenfalls nicht schlecht darin Menschen zu lesen. Vermutlich auch eine Folge seiner Berufswahl. Wenn man ein derartiges Erbe als Wahl betiteln konnte. Ich bestätigte seine Worte mit einem Nicken, denn eine Antwort schien hier nicht nötig zu sein. "Wie alt bist du? 19? 20." Er schien sich enorm sicher zu sein und ich war doch etwas überrascht von seinen Worten. "Das stimmt, ich bin Anfang des Jahres 20 geworden." Kurz lag mir die Frage nach seinem Alter auf den Lippen, doch das Geräusch einer Tür hinter mir weckte meine Aufmerksamkeit, als ein dritter Anzugträger den Raum betrat. "Sei-chan." Er hatte schulterlange blauschwarze Haare und ich musste zugeben, diesmal war ich wirklisch überrascht von einer derart zutraulichen Art, mit der dieser Mann, seinem Vorgesetzten, ansprach. Zumindest wenn die Kleiderordnung die Hierarchie in der Art widerspiegelte wie ich es erwartete. "Du weißt, dass ich sehr viel für dich tun würde, aber deinen weinenden Sohn zu babysitten gehört da nicht zu." Weinenden? Sofort ergriff mich Besor- Warte mal, Sohn?! Der Mann vor mir war doch kaum älter als ich! In dieser Anzeige war es um sein Kind gegangen? Nicht seinen Bruder oder Neffen oder Cousin oder so etwas?! Dann hörte ich auch schon das Schluchzen eines Kindes, das durch die offene Tür drang, bis ein kleiner roter Schopf auftauchte, gefolgt von einem krabbelnden Körper, der sich gehüllt in sandbraune, ebenfalls traditionell aussehende Kleider schluchzend über den Boden vorwärts schob und immer wieder versuchte auf die Füße zu kommen, aber nach wenigen unsicheren Schritten wieder auf den Knien landete. Vor lauter Tränen brachte er kein einziges verständliches Wort heraus, auch wenn er das in seinem Alter bereits beherrschen sollte, kurze Sätze zu bilden und vor allem trotz seiner Aufregung zu laufen, denn egal wie ich es sah, dieser Junge war schon mehr als 2 Jahre alt. Hilflos führte ihn sein Weg zu dem Bein des Anzugträgers, doch der sah aus, als würde er ihn gleich wegtreten, wenn er auch nur wagte nach seinem Hosenbein zugreifen, was eindeutig sein Ziel war, da er auf die Füße kommen wollte. Sofort erhob ich mich aus meiner Position, aus Angst, dass dem Kind etwas zustoßen konnte, wo es doch ganz eindeutig etwas brauchte, und eilte zu ihm hinüber, um es zu allererst aus der Gefahrenzone Boden herauszuholen. Der kleine Körper war ganz kalt unter meinen Fingern. Hatte er sich die ganze Zeit auf dem nackten Boden aufgehalten? "Mibuchi." Hinter mit erhob sich auch der - es erschien mir noch immer seltsam so von ihm zu denken - Vater des Kindes, während er so kühl den Namen des Kinderschänders, zuckte es mir durch den Kopf, des Bodyguards aussprach, der eben eingetreten war. Sofort drehte ich mich zu ihm um, bereit ihm den kleinen Jungen zu übergeben. Vermutlich wollte er seinen Sohn lieber selbst halten, nicht wahr? Immerhin kannte er mich noch kaum und sein Kind weinte ja noch immer in meinem Arm. Er jedoch schritt ohne eine Geste dieser Art an mir vorbei und bedachte mich dabei kurz mit einem Lächeln. Ich war überrascht und etwas verwirrt. "Kannst du einen Moment auf ihn aufpassen, Kuroko-kun? Ich würde gerne mit Mibuchi allein sprechen." Ohne auf eine Antwort zu warten, schob er den zweiten Mann in den Nachbarraum und schloss die Tür hinter sich. Und ich blieb allein mit dem weinenden Jungen auf meinem Arm zurück. Langsam setzte ich mich auf das Sitzkissen und hob den Jungen auf meinen Schoß, um ihn anzusehen. Er hatte aufgehört zu weinen, vielleicht aus Angst vor dem ungewohnten Gesicht vor sich. Vielleicht auch nur, weil es der kalte Boden war, der ihn gestört hatte. "Na, jetzt sind wir beide alleine, was?", fragte ich das Kind ungerührt, das plötzlich mit einem Lächeln auf den Lippen den Kopf schieflegte und mich anstrahlte, als kannten wir uns schon ewig. Ganz ungerührt von meiner Fremdheit streckte der Junge mit den warmen, roten Augen mir seine kleine Hand entgegen und berührte meine Wange. "Bleiben." Überrascht blickte ich auf ihn hinab, erstaunt von dem Wort, das er da so langsam an mich gerichtet aussprach. "Meinst du mich?" Er sollte eigentlich bereits wissen, was die Worte bedeuteten, die er benutzte und dennoch erschien es mir seltsam, dass er nicht zuerst wissen wollte, wer ich war. Scheinbar sehr glücklich zog er sich aber stattdessen an meinem T-Shirt empor und legte dann seinen Kopf an meine Brust. Und ich konnte nicht anders als sanft die Finger über den kleinen Kopf gleiten zu lassen. "Wie heißt du denn?", fragte ich dann den Jungen, der seine Augen geschlossen hatte und sich meinen Fingern entgegenstreckte. Er schüttelte scheinbar etwas unglücklich den Kopf. "Mu..sa…sas…sa…si…si…shi", versuchte er es und seine Mühe überraschte mich. Ich versuchte mir daraus einen Namen zusammen zusetzen. Musasi? Nein, Musassi? Auch nicht. Dann erkannte ich ihn. Musashi! "Musashi?", schlug ich also vor und sah auf den kleinen Körper in meinem Arm hinab. Er nickte begeistert und wiederholte: "Musashi!" "Ich heiße Kuroko Tetsuya." Noch bevor ich ihm anbieten konnte, dass tetsu genügen würde, wiederholte er mit erstaunlich geschickter Zunge meinen Namen. "Kuroko Tetsuya-san." Ich musste etwas lächeln. "Tetsu ist genug." Immerhin hatte ich ja auch auf ein Suffix verzichtet. "Und, wie alt bist du, Musashi? Weißt du das schon?" Die hellen Augen blickten zu mir auf, doch hatte ihm diese Frage scheinbar noch niemand gestellt, denn er schüttelte hilflos den Kopf. "Schon gut", beruhigte ich ihn sofort, auch wenn das noch etwas war, das ich mit seinem Alter einfach nicht überein bringen konnte. "Wir fragen nachher einfach mal deinen Vater, ja?" Als hätte ich ein Zauberwort benutzt, versteckte der Junge augenblicklich seinen Kopf an meiner Brust und sagte kein weiteres Wort mehr. Und es war nicht schwer für mich zu erahnen, welches meiner Worte es wohl gewesen war, das diesen Effekt auf den kleinen Rotschopf gehabt hatte. Eine Tatsache, die mir deutlich Sorgen bereitete. Weshalb hatte ein Kind derart Angst vor seinem eigenen Vater. Sanft und beruhigend ließ ich meine Finger durch die weichen Härchen auf dem kleinen Kopf fahren und sprach das Thema nicht wieder an. "Hast du Lust etwas zu spielen?", schlug ich dann vor, um die Laune des Kindes wieder etwas anzuheben und griff ihn an der Brust, um ihn mir gegenüber auf einem weiteren Sitzkissen abzusetzen. Aus großen fragenden Augen sah er mich an, verharrte aber aufrecht sitzen ohne sich zu beklagen. "Okay, pass auf. Du musst deine Hände auf deine Oberschenkel legen." Ich machte ihm die Bewegung vor und ganz langsam konnte ich beobachten, wie er meine Haltung nachahmte, die Beine in eine kniende Position brachte und die kleinen Hände auf seine Oberschenkel legte. Fragend sah er mich an. "Genau so und jetzt trommeln wir darauf." Immer abwechselnd schlug ich sacht auf meine beiden Oberschenkel, während ich einen kurzen Blick zur Tür riskierte. "Kannst du das?" Eifrig nickte der Junge und begann zu erst noch unregelmäßig, dann langsam in meinem Takt auf die kleinen Beine in den weiten Hosen zu klopfen. Er strahlte über beide Ohren, als ebenfalls ein trommelndes Geräusch entstand. "Wie… ein…Pferd!", rief er langsam, aber begeistert und klar verständlich aus. Und ich musste darüber lächeln, er hatte das Spiel genau erkannt. "Genau, ein Pferd. Wir machen jetzt gemeinsam ein Rennen." Und als er mich verwirrt ansah und scheinbar überlegt, ob er aufstehen musste, fügte ich hinzu: "Nur auf unseren Knien." Er entspannte sich wieder und kehrte in die Ausgangsposition zurück. "Kannst du links und rechts unterscheiden?" Er nickte und hob die rechte Hand. "Rechts." Und wiederholte die Geste mit links. Noch immer sprach er enorm langsam, aber dafür wirklich deutlich und scheinbar sehr überlegt. Ich nickte ihm zu. "Gut, dann kannst du dich immer, wenn ich Rechtskurve sage nach rechts und bei einer Linkskurve nach links lehnen." Wieder deutete ich die Bewegung selbst an und erntete einen aufmerksamen Blick und ein Nicken dafür. "Dann fangen wir an. Unsere Pferde machen sich bereit." Ich rieb mir über den Stoff meiner Jeans. "Sie warten auf das Startsignal." Ich spannte mich ein bisschen an, um die Anspannung deutlich zu machen. "Und dann: Auf die Plätze, fertig… los!" Auf Kommando begann er mit mir zusammen rhythmisch auf seine Beine zu klopfen und sein Grinsen wurde immer breiter, als sich seinen kleinen Hände bald flinker bewegten als meine eigenen und es sich immer schwungvoller in die Kurven legte. Eine Weile ließ ich ihn einfach machen, dann machte ich erneut eine Ansage: "Und jetzt auf die Zielgerade!" Er gab noch einmal Gas, bemerkte gar nicht,  dass es hier weder einen Gewinner noch einen Verlierer geben würde. "Das Ziel!", rief ich dann und er stockte atemlos und laut lachend in seiner Bewegung, als er mich breit angrinste. Erst jetzt, da ich aufsah, bemerkte ich, dass die Tür zum Nebenzimmer sich bereits wieder geöffnet hatte und die beiden Männer uns bei unserem Spiel beobachteten, wobei ich deutliche Skepsis in beiden Augenpaaren sehen konnte, denn scheinbar konnten sie meine Beschäftigung nicht nachvollziehen. Ich seufzte innerlich und ließ wieder die Neutralität auf meine Züge gleiten. Es war der Anzugträger, der seinen Vorgesetzten so albern freundschaftlich angesprochen hatte, der das Schweigen brach. "Ich werde Musashi ins Bett bringen, Sei-chan. Ich erwarte, dass das das letzte Mal war." Damit hob er den Jungen vor sich irgendwie angewidert hoch und verließ, dieses Mal zumindest etwas auf seine Sicherheit bedacht, den Raum wieder. Oder wollte das zumindest, denn der Junge strampelt heftig und wiederholte wieder das erste Wort, das er zu mir gesagt hatte: "Bleiben, bleiben!" Diesmal viel weniger deutlich und bedacht wie alle seine Sätze zuvor. Der Blick des Vaters lag unlesbar auf mir, dann trat er an mich heran und ich erhob mich ebenfalls. "Mibuchi", forderte er den Träger des Kindes dann noch einmal zum Gehen auf und auch wenn das Kind unglücklich weinte, tat er dies. Es fiel mir schwer ruhig zu bleiben, wenn sie den Jungen so behandelten, aber ich hatte kein Recht mich in seine Kindeserziehung einzumischen. Auch wenn es eigentlich so absurd war einen Jungen in diesem Alter noch zu tragen, wo er doch eigentlich gerade jetzt seine Eigenständigkeit erlernen sollte. Die Tür glitt in ihre Ausgangsposition zurück und dämpfte den Klang des Weinens bis auf ein Minimum ab und ich riss mich am Riemen keine Wertung in meinen Blick zu legen, als ich mich zum Hausherren umdrehte. Dennoch wusste ich nicht, was ich sagen sollte, wollte es auch nicht sein, der das Schwiegen brach, und so beobachtete ich wortlos den Mann, den ich bis eben noch selbst auf maximal 22 Jahre geschätzt hatte. Er hatte einen Sohn und diesem fehlte anscheinend nicht nur eine liebenswerte Vaterfigur, sondern auch die Mutter. Verschiedene Theorien erblühten in meinen Gedanken, keine davon schien mir zu passen und noch weniger zeichneten sie sich in meinem Gesicht ab. Dann beendete er sein Taxieren, schritt um mich herum zum Tisch und setzte sich wieder hin. Auf dem Tisch wurden Blätter verteilt und als ich ebenfalls wieder Platz nahm, war es ein komplett ausformulierter Arbeitsvertrag, den ich in dem vor mir Liegenden erkannte. Das hieß…? Wurde ich gerade eingestellt? "Lies es dir bitte genau durch, bevor du unterschreibst. Einige Klauseln sind … lebenswichtig, könnte man sagen." Und obwohl seine Stimme so höflich und zuvorkommend war, verstand ich, was er damit andeutete. Das war etwas, was wohl nur geschah, wenn man als unbeteiligter für die Yakuza arbeiten wollte ohne wirklich in ihre Geschäfte verwickelt zu werden. Wir waren bereits auf dem Weg zur Tür, den Vertrag verstaut in meiner Tasche und begleitet von meinem zukünftigen Arbeitgeber und dem derzeitigen "Kindermädchen", das ich meiner Meinung nach gar nicht schnell genug in seinen Aufgaben ersetzen konnte. Und dennoch brannten mir noch immer eine Menge Fragen auf der Zunge. Wie alt war er? Wie alt sein Sohn? Wo ist die Mutter? Lebte sie noch? Hatten sie sich vielleicht getrennt? Warum fürchtete sein Sohn sich vor seinem eigenen Vater? Und weshalb war er so viel unsicherer, wenn der Hausherr anwesend war? So unsicher, dass er nicht einmal mehr richtig laufen konnte? Jede dieser Fragen schien die Schweigeklauseln des Vertrages zu überschreiten, die mich bereits auf Seite 1 begrüßt hatten und deren Wichtigkeit sich von Seite zu Seite noch zu steigern schien, wenn es um die Geschäfte ging, die in diesem Haus geschlossen wurden oder um die Sicherheitsvorkehrungen, die zu treffen waren. Tatsächlich hatte er mich gefragt, ob ich in der Lage wäre, eine Pistole zu bedienen. Eine Frage, die ich verneint hatte und dafür einen sehr skeptischen Blick geerntet hatte, aber keine weitere Antwort. Nur eine Frage traute ich mich letztlich doch zu stellen, bevor wir die Haustür erreichten. "Wie alt ist er genau? 30 Monate?" 2 1/2 Jahre, das schien mir angemessen, wenn ich seine motorischen Fähigkeiten bedachte, auch wenn diese nicht immer ganz genutzt wurden oder vielleicht einfach nicht genug gefördert wurden. Aber in diesem Alter waren es oft wenige Monate, die große Unterschiede in Fähigkeiten und auch in angemessenen Behandlung bedeuteten. Und die Größe war häufig ein trügerischer Ratgeber. "31", erhielt ich nur nach einem kurzen Zögern als Antwort, auch wenn ich dieses in seinen Augen nicht erkennen konnte. 2 Jahre und 7 Monate, das konnte hinkomm- "Das stimmt nicht, Sei-chan. Er hat im Februar Geburtstag, nicht im März", korrigierte der Dunkelhaarige ihn dann plötzlich mit einem Grinsen im Gesicht. "32 Monate." Jetzt legte sich eine kleine Falte auf meine Stirn. Er hatte sich sogar bei seinem Geburtstag vertan? "Was auch immer." Er drehte sich zu mir um und noch einmal legten sich die intensiven Augen auf mich. "Ich freue mich, dich bald wieder in meinem Haus begrüßen zu dürfen und hoffe auf gute Zusammenarbeit, Musashi scheint diese Aussicht zumindest zu gefallen." Sein Blick war unlesbar, als er meine Hand griff, sich dann abwendete und mich dort vor der Eingangstür stehen ließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)