From Snow and Light von _Delacroix_ ================================================================================ I. -- „Boah, wie cool ist das denn?“, entfuhr es Reki, während er seine Nase gegen die eiskalte Scheibe drückte. In den letzten fünf Stunden hatte ihn die Welt dort draußen nicht sonderlich interessiert. Jetzt aber, wo sie endlich durch die dicke Wolkendecke gebrochen waren und die Berge von Asahikawa (1) sie begrüßten, fiel es ihm schwer, mit dem Hintern brav auf seinem Sitz zu bleiben. Die Frau von der anderen Seite des Ganges warf ihm einen skeptischen Blick zu, sagte aber nichts. Möglicherweise, weil Langa sich eben jenen Moment aussuchte, um mit einem leisen Stöhnen seine Beine auszustrecken. Weit kam er dabei nicht. Zwischen ihrer Sitzreihe und der vor ihnen war kaum genug Platz, um überhaupt einmal die Position zu wechseln. Reki schenkte ihm einen aufmunternden Blick. „Hast du so was Cooles schon mal gesehen?“ „Er hat Okinawa von oben gesehen und Québec und vermutlich noch diverse andere Städte“, antwortete Miya an Langas Stelle und wackelte mit den Füßen. Er hatte Glück. Aufgrund seines Alters und seiner eher geringen Größe verfügte er über so etwas wie Beinfreiheit. Außerdem schienen die Stewardessen irgendwie einen Narren an ihm gefressen zu haben und so hatten sie Miya den ganzen Flug über mit Gratiserdnüssen und anderen Leckereien verwöhnt. Etwas, was ihm diverse böse Blick von hinten eingebracht hatte. Jetzt drehte er den Kopf, um zwischen seiner und Langas Rückenlehne hindurch in die hintere Reihe spähen zu können. „Noch mal vielen Dank für die Einladung, Sakurayashiki-san“, flötete er. Reki konnte dessen leises „Pah“ durch seine Kopfstütze hindurch hören. „Wenn ich gewusst hätte, dass ‚Ich mache eine Geschäftsreise nach Hokkaido‘, seit neuestem ‚Wollt ihr mich nicht nach Hokkaido begleiten?‘ bedeutet, hätte ich es nicht erwähnt.“ Reki hörte das Rascheln von Stoff, gefolgt von einem scharfen Klatschen, das Joe mit einem „Au!“ quittierte. „Ich hab doch gar nichts gesagt“, verteidigte er sich. „Ich weiß aber, was du sagen wolltest“, schnappte sein Sitznachbar zurück. „Und nur zu deiner Information, ich weiß ganz genau, dass du hier deine Finger im Spiel hast.“ „Ich?“, entgegnete Joe und klang ernsthaft ein wenig verstimmt, „Wieso verdächtigst du nicht erst mal deine Blechbüchse?“ „Weil CARLA die Buchung ordnungsgemäß aufgegeben hat.“ „Und?“ „Und“, echote Cherry, „ich bin trotzdem hier. Auf dem Sitzplatz neben dir. In der Economy Class. Weil man mich auf ‚meinen Wunsch hin‘ aus der Business Class hinunter gestuft hat. Und jetzt frage ich dich, warum sollte ich einen bequemen Liegesitz und ein warmes Handtuch eintauschen, um fünf Stunden lang neben einem müffelnden Gorilla auf einem Platz ohne Beinfreiheit zu kauern?“ „Vielleicht war’s ja ein Computerfehler?“ Reki musste nicht durch die Lücke zwischen den Sitzen sehen, um zu wissen, dass Joe grinste. Ein weiteres Klatschen erklang und in ihm wuchs die Vermutung, dass Joe gerade noch einmal Bekanntschaft mit Cherrys Fächer gemacht hatte. „Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, CARLA zu manipulieren“, hörte er Cherry knurren, „Aber du kannst dir sicher sein, ich finde es heraus. Spätestens wenn ich meine Beine wieder spüren kann.“ Joe erwiderte irgendetwas darauf, doch Reki hörte schon nicht mehr hin. Die beiden „Erwachsenen“ stritten ohnehin die meiste Zeit. Da verpasste er nicht viel, wenn er einfach wieder aus dem Fenster sah und sich an den Anblick des schneebedeckten Asahi-dake (2) gewöhnte.   II. --- „Sakurayashiki-san?“, fragte Miya und wippte auf den Fußballen vor und zurück. „Ist es in Ordnung, wenn ich euch zum Heiwa Dori (3) begleite?“ Cherry schenkte ihm einen überraschten Blick. „Ich wusste nicht, dass du dich für Kalligrafie interessierst“, stellte er fest, während er sich einen dicken, cremefarbenen Schal um den Hals schlang. Reki war es ein Rätsel, warum er noch nicht blau gefroren war. Er hatte schon zu frieren begonnen, da waren sie noch nicht einmal am Gepäckband angekommen. Cherry dagegen sah genauso aus wie immer. Einzig seine Haori (4) ließ vermuten, dass er mit so etwas wie niedrigen Temperaturen gerechnet hatte. Miya verzog das Gesicht. „Also …“, begann er, wurde aber von Joe unterbrochen: „Ich glaube nicht, dass Miya zum Heiwa Dori will, um sich anzusehen, wie du schiefe Schriftzeichen in einen Eisblock kratzt“, stellte er fest. Cherry stemmte die Hände in die Hüften. „Nur zu deiner Erinnerung, diese „schiefen“ Schriftzeichen haben deinen Flug bezahlt. Und ich kratze sie nicht ins Eis, ich brenne sie ein.“ „Dann solltest du ein oder zwei mehr einbrennen. Ich könnte für den Rückflug wirklich etwas mehr Beinfreiheit vertragen.“ Cherry trat näher an ihn heran, den nächsten Kommentar bereits auf der Zunge und Miya nutzte die Chance, um eilig zwischen den beiden abzutauchen. Betont lässig kam er auf Reki und Langa zu. „Und was habt ihr vor?“, wollte er wissen und linste unter der Kapuze seiner Sweatjacke hervor. Die großen, lilafarbenen Ohren ließen ihn ein bisschen wie eine Katze wirken. Eine Katze, die sich besonders dick eingemummelt hatte. Reki zupfte an dem Ärmel seines knallgelben Sweatshirts herum. Er hatte es auf Langas Empfehlung hin über ein weiteres Sweatshirt gezogen und es irgendwie geschafft, auch noch eine Jacke darüber zu bekommen, ohne das sie aus allen Nähten geplatzt war. Nun fühlte er sich ein wenig eingeengt, aber für seinen Geschmack hätte es ruhig noch ein bisschen wärmer sein können. Neben ihm schloss Langa seine weiß-blaue Daunenjacke. „Powsurfing“, murmelte er in ihren Kragen hinein. Von ihm war zwar nicht mehr viel zu sehen, doch das, was Reki unter all den Daunen noch erkennen konnte, strahlte vor Begeisterung. „Du kommst doch mit, oder?“ „Klar“, behauptete Reki eilig, „Das wird super!“ „Da hat der Schleim doch keine Ahnung von.“ Reki wusste nicht, wie Miya das nur anhand irgendeines englischen Wortes erraten hatte, doch noch bevor er zu seiner Verteidigung ansetzen konnte, winkte der auch schon ab. „Wie auch immer, mir ist das zu nass. Ich gehe und schaue mir die Eisfiguren an. Ich habe gehört, dieses Jahr soll es eine zu Final Fantasy geben. Ein riesiges Chocobo mit einem Mogry auf dem Kopf. Da muss ich unbedingt ein Foto von machen.“ Freudig hob er sein katzenförmiges Handy. „Schätze, wir sehen uns später.“ Er winkte lässig über seine Schulter hinweg und beeilte sich, zu Cherry und Joe aufzuschließen, die bereits lauthals zankend in Richtung Shuttlebus marschierten. Reki blickte ihnen noch einen Moment lang nach, dann wandte er sich an Langa. „Also“, begann er und legte unbeholfen eine viel zu kalte Hand in seinen Nacken, „Von was genau habe ich jetzt keine Ahnung?“ III. ---- Reki wusste nicht, was er von Langas mysteriösen Powsurfing-Plänen halten sollte, vor allem weil der sich absolut weigerte, ihm mehr als die allernötigsten Details anzuvertrauen. Zugegeben, er hätte sich über die Suchfunktion seines Handys schlau machen können, doch erstens war er sich nicht so sicher wie man „Powsurfing“ eigentlich schrieb und zweitens behielt er seine Hände lieber in den Jackentaschen. Immerhin, als ein anderer Shuttlebus sie eine Dreiviertelstunde später vor einem Sessellift abgesetzt hatte, hatte er das Gefühl, wenigstens zu verstehen, was Miya mit „Mir ist das zu nass“, gemeint hatte. Irgendwie fühlten sich seine Schuhe nämlich komisch an. Dabei stand er gerade mal seit fünf Minuten im Schnee. Oder eher obendrauf. Im Fernsehen versanken die Schauspieler mit den Füßen immer in einer leuchtend weißen Schicht. Er dagegen stand auf einer harten, gelb-grauen Masse, auf der sich deutlich die Spuren diverser Skier abzeichneten. „Bereit für deine erste Fahrt im Sessellift?“ Reki war sich da nicht sicher. Das Ding war ganz schön groß und wenn er das richtig gesehen hatte, hielt es nicht an, um Leute ein- oder aussteigen zu lassen. Man musste beim Fahren aufspringen. Insgeheim war er froh, dass er nicht auch noch Skier an den Füßen hatte oder ein großes Gepäckstück. Vorsichtig blickte er zu Langa. Er war nur wenige Minuten weg gewesen, doch seit seiner Rückkehr schleppte er einen großen schwarzen Stoffsack mit sich herum, über dessen Inhalt er sich genauso stoisch ausschwieg, wie über das „Powsurfing“. Reki war Langas Schweigen längst gewohnt, doch er musste zugeben, er war neugierig. Gerne hätte er gewusst, was genau sein Freund da aufgetan hatte und ob es wirklich etwas mit diesem „Powsurfing“ zu tun hatte. Langa schenkte ihm einen langen Blick. „Du musst dich neben mich auf den Punkt stellen“, erklärte er und deutete auf einen ganz besonders dunklen Fleck im Schnee. Ergeben stellte sich Reki auf die genannte Stelle. Der Sessellift gab ein unheimliches Quietschen von sich, dann noch eines, dann traf kaltes Metall auf seine Kniekehlen und Reki ließ sich nach hinten sinken. Einen Moment lang musterte er seine Füße, die nun knapp über dem Boden baumelten, der mit mäßiger Geschwindigkeit unter ihm vorbeizog. Dann verriegelte der Sicherheitsbügel und es ging aufwärts.   Der Berg vor ihm wurde hoch und höher, die Welt unter ihm klein und kleiner und der Sitz unter seinem Hintern schaukelte immer stärker im eiskalten Wind. Unwillkürlich rutschte Reki ein Stück zur Seite, bis er mit der Schulter gegen die von Langa stieß. Dieser warf ihm einen zufriedenen Blick zu. „Im Sessellift fühlt es sich fast so an, als könnte man fliegen“, murmelte er. Reki war sich da nicht so sicher. Hätte er das Gefühl fliegen zu können, sein Magen würde sich nicht bei jedem Quietschen weiter verknoten und auch das Schaukeln wäre dann sicher nur noch halb so schlimm. Doch Langa blickte mit glänzenden Augen in Richtung Tal und Reki beschloss seine Bedenken lieber für sich zu behalten. Wenn Langa Sessellifte so gern mochte, wollte er sie ihm nicht madigmachen. Kurz entschlossen atmete er durch, dann ließ er den Kopf auf die Schulter seines Freundes sinken. Sicher würde es ihm nichts ausmachen, wenn er kurz die Augen schloss. Nur so lange, bis die Welt aufhörte zu schaukeln und sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. IV. --- Der Schnee auf dem Berg entpuppte sich als ganz anders als der Schnee im Tal. Hatte er unten noch auf zusammengedrücktem, plattem Zeug gestanden, so stand er nun inmitten von pulvrigem Weiß, dass ihm völlig ungeniert in die Schuhe und in die Socken rieselte. Langa schien das gar nichts auszumachen. Er hatte den schwarzen Sack vor ihnen in den Schnee sinken lassen und nestelte mit ungewohnter Präzision an einem Reißverschluss herum. „Ich habe sie für uns ausgeliehen“, erklärte er, während er ein langes Stück Holz aus seiner Verpackung befreite. Einen Moment lang starrte Reki es an, dann erkannte er die glatte Oberfläche und die gleichmäßige Wölbung. „Das ist ja ein Board!“, entfuhr es ihm. Langa nickte, während er noch ein Zweites hervor beförderte und den Transportsack zusammenzufalten begann. „Das ist ein Yuki-Ita“, erklärte er, während Reki neugierig um die beiden Boards herumlief. Sie sahen ein bisschen wie zwei unbemalte Longboards aus, nur das sie keine Räder zu haben schienen. Dafür hatte jemand eine Schnur an ihnen angebracht. „Yuki-Ita sind anders als normale Snowboards. Die Beine werden hier nicht festgeschnallt. Das heißt, du musst das Board komplett mit deinem Gleichgewicht steuern.“ „Und dafür ist die Schnur?“ „Du sagtest doch, dass du den Gedanken nicht magst, deine Beine könnten fest mit einem Board verbunden sein“, erklärte Langa weiter, „Da dachte ich …“ Reki schenkte ihm ein breites Grinsen und streckte ihm die Faust zu einem Faustcheck entgegen. „Das wird die coolste Abfahrt überhaupt!“ Langa nickte zuversichtlich, während Reki bereits den Fuß auf eines der Boards stellte. Der Grip der Oberfläche war gut. Außerdem war es sehr angenehm, mal keinen neuen Schnee in den Schuh zu bekommen. „Hast du noch irgendeinen Tipp für mich?“, fragte er über die Schulter hinweg. Langa überlegte. „Wer unter dir fährt, hat Vorfahrt“ (5), entgegnete er schließlich. Reki war sich nicht sicher, ob das wirklich das war, was Langa hatte sagen wollen, doch er beschloss, dass er das bei der Abfahrt schon selbst herausfinden würde. Hoch motiviert stieß er sich mit dem freien Fuß ab, so gut es im pulvrigen Schnee eben ging und begann erst langsam und dann immer schneller auf dem Leihboard in Richtung Tal zu gleiten.   Es war nicht besonders schwer, das Gleichgewicht darauf zu halten und nach ein oder zwei zaghaften Versuchen funktionierte es auch mit den Kurven schon ganz gut. Das lange Holzboard erinnerte ihn wirklich ein bisschen an sein Skateboard, das er, wenn auch nur sehr widerwillig, daheim gelassen hatte. Auch an die Ausschilderung der Piste hatte er sich schnell gewöhnt. Er folgte einfach den blauen Markierungen den Berg hinunter, ließ sich hier und da von einem Skifahrer überholen und gewöhnte sich an das Gefühl des Boards, wenn es über die eine oder andere Unebenheit hinweg glitt. Vielleicht konnte er mit diesem Holzding ja sogar einen Olli machen. Immerhin konnte er den auf seinem Skateboard zu Hause auch. Reki verlagerte sein Gewicht leicht zur Mitte des Boards hin, entschlossen, das direkt einmal auszuprobieren, dann hob er den hinteren Fuß und presste ihn auf den Tail. Das Board schoss nach oben, Reki zog den vorderen Fuß an der Seite nach vorne … Zu spät wurde ihm klar, dass das Board deutlich länger war als seines. Einen Moment lang flog er durch die Luft, dann landete er mit einem dumpfen Plopp im Schnee. Weiße Flocken stoben um ihn herum und machten ihm das Sehen schwer. „REKI!“, hörte er Langa rufen und reckte mühsam den Arm in die Luft. Er hörte das Geräusch von Holz, das sanft über den Schnee hinweg glitt, dann verstummte es plötzlich und eine Hand schlang sich um seine. Reki atmete auf, während er sich von Langa aus dem Schnee ziehen ließ. „Scheint, als müsste ich an meinem Ollie noch ein bisschen arbeiten“, scherzte er, während Langa stoisch versuchte, den Schnee von seinen Schultern zu wischen. Einen Moment lang starrten sie einander an. Langa ausdruckslos wie immer und er mit einem schiefen Grinsen im Gesicht. „Du bist voller Schnee.“, brach Langa schließlich ihr Schweigen. Seine Hand verschwand irgendwo in Rekis Haaren. „Keine Ahnung, wie du das hinbekommen hast.“ Reki lehnte sich in die Berührung. Er wusste es noch sehr viel weniger. V. -- Reki seufzte, als er sich in das heiße Wasser des hoteleigenen Privat-Onsens sinken ließ. Dampfwolken stiegen um ihn herum auf und verschwanden in der Dunkelheit. Einzelne Schneeflocken fielen auf das Wasser, schmolzen aber beinahe sofort. Vorsichtig ließ er sich nach hinten sinken. „Du hast schon wieder Schnee im Haar“, bemerkte Langa als er beinahe geräuschlos neben ihm ins Wasser glitt. Reki bemühte sich um ein Lächeln. „Scheint, als hätte ich eine Karriere als Schneemann vor mir“, witzelte er. Langa schüttelte den Kopf. „Wenn du so weiter machst, wirst du noch krank“, warnte er ihn und Reki tauchte prompt noch bisschen tiefer in das heiße Wasser ein. „Ich kann nichts dafür“, behauptete er, „Ich ziehe Schnee einfach an.“ Es hatte ein Scherz werden sollen, doch irgendwie wollte ihm das Grinsen nicht so recht gelingen. Er wusste nicht, wieso er gerade jetzt an Langas erste Abfahrt denken musste. An die alte Mine und an den Sprung, mit dem er den Schnee zu ihm nach Okinawa gebracht hatte. Schnee war für ihn stets etwas Fremdes, etwas Exotisches gewesen, doch jetzt, wie er hier im heißen Wasser saß, kam es ihm so vor, als wäre er schon immer ein Teil seines Lebens gewesen. Fast so wie …   „WUHU!“ erklang es und Reki zuckte heftig zusammen. Etwas Großes flog über ihn hinweg und landete mit einem lauten Platsch im Wasser. Tropfen spritzten in alle Richtungen und für einen Moment sah er nur noch weißen Dampf. Als sich die Schwaden schließlich lichteten, war das Erste, was er sah, Langa, der stoisch in den Nebel starrte. „Du hättest uns warnen können“, stellte er tonlos fest. „Nah“, kam es aus der weißen Masse heraus, „Ihr habt so beschäftigt ausgesehen.“ Reki spürte, wie er rot um die Nasenspitze wurde. „Die Nummer war trotzdem uncool“, murrte er. „Ja, Mama“, kam es aus dem Nebel zurück. Einen Moment lang war Reki versucht aufzuspringen und der kleinen Nervensäge Manieren beizubringen, doch Langa legte – fast als hätte er es geahnt – eine Hand auf seine Schulter und hielt ihn so davon ab. „Wenn du jetzt aufstehst, wird dir nur wieder kalt“, erinnerte er ihn. „Außerdem hat‘s ja keiner gesehen.“ Reki musste ihm recht geben. Er wollte lieber nicht wissen, was Cherry zu diesem Benehmen gesagt hätte. Apropos Cherry … „He Kleiner, wo hast du eigentlich die anderen gelassen?“ Einen Moment lang hörte er nur das leise Gluckern des Wassers, dann lehnte sich Miya plötzlich neben ihm an den Beckenrand. „Ach, weißt du“, entgegnete er und sah dabei ein ganz klein wenig wie eine hungrige Katze aus, „Ich glaube, die machen einen kleinen Umweg.“ VI. --- „In fünfzig Metern rechts abbiegen“, quakte eine elektronische Frauenstimme und Kaoru stapfte zuverlässig weiter die Straße hinunter. Joe folgte ihm, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben. „Hör mal“, versuchte er es ein weiteres Mal, „Ich glaube nicht, dass das der Weg zum Shuttle Bus ist.“ Kaoru drehte sich noch nicht einmal zu ihm um. „Natürlich ist das der richtige Weg“, entgegnete er. „CARLA hat ein hochmodernes Satelliten-Navigationssystem. Sie kann sich beim Navigieren gar nicht irren.“ Joe war sich da nicht so sicher. Er hätte schwören können, er hatte schon vor Längerem ein kleines unscheinbares Holzschild mit einem Bus darauf gesehen. Und es hatte ganz klar in die andere Richtung gezeigt. Aber Kaoru wollte nichts von Schildern hören. Er wollte noch nicht einmal einen Blick auf sie werfen. Er vertraute einfach voll und ganz auf das Urteil seiner elektronischen Assistentin. Schlimmer noch, er beschleunigte sogar seinen Schritt, fast so, als wollte er beweisen, dass hinter dem nächsten Gebäude ganz sicher ihre Busstation zu finden war. Joe stieß einen resignierten Seufzer aus. So hatte er sich seinen Ausflug nach Hokkaido nicht vorgestellt. Er hatte an Ramen-Restaurants gedacht, an heißen Sake und an eindrucksvolle Eisskulpturen. Er hatte nur Letztere bekommen. Und jetzt? Jetzt war er drauf und dran, in einem Hinterhof zu landen, nur weil Kaoru nicht in der Lage war, ein einziges Mal zuzugeben, dass sein Spielzeug nicht so perfekt war, wie er es gerne hätte. Unwillkürlich lief er ebenfalls ein bisschen schneller. „Wenn wir wegen dir das Abendbrot verpassen, mache ich dir keinen Mitternachtssnack.“ „Gut“, schnappte Kaoru zurück, „Das musst du auch gar nicht, denn wir sind in einer Minute da.“ Joe zog die Augenbrauen hoch. „Ach, ja?“, fragte er, während Kaoru mit hoch erhobenem Haupt um die Ecke bog. Er wollte noch etwas ergänzen, doch CARLAs „Sie haben ihr Ziel erreicht“, nahm ihm die Worte aus dem Mund. Kaoru blieb mitten in der Kurve stehen und starrte mit großen Augen um die Ecke. Langsam trat Joe näher. Sie mochten sich häufig streiten, doch es war ihm sehr wohl bewusst, dass das ein schwieriger Moment für seinen Freund war. Seine Assistentin hatte sich geirrt, sogar schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit. Das musste er sicher erst einmal verarbeiten. „Komm“, versuchte er ihn vorsorglich zu beruhigen. „Das kann selbst dem Besten mal passieren. Dann stehen wir jetzt eben in einem Hinterhof und –“ „Kojiro“, unterbrach Kaoru ihn und zeigte mit einer schwachen Geste um die Kurve. Joe folgte seinem Fingerzeig, blickte um die Ecke und beinahe wäre ihm der Mund offen stehen geblieben. Das musste ein Witz sein. Das musste einfach ein Witz sein.   Tausende kleine Lichter erhellten einen Tunnel im Schnee. Sie funkelten so hell wie die Sterne und hätten so in ziemlich jedem seiner letzten Dates ausnehmend gut gefallen. Und Kaoru? Der sah aus, als stünde er kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Nicht wegen des Tunnels, da war sich Joe sicher. Unauffällig blickte er zu dem Armband, mit dem sein Freund seine K.I. zu steuern pflegte. Er hatte keine Ahnung, was mit CARLA nicht in Ordnung war, doch irgendwas war definitiv im Argen. Vielleicht hatte die dämliche Blechbüchse sich einen Virus eingefangen, oder Kaoru hatte sie versehentlich mit gewaschen. Was auch immer es war, wenn er es nicht schnell unterband, würde es Kaoru den ganzen restlichen Aufenthalt vermiesen. Er würde in seinem Hotelzimmer verschwinden, die Tür abschließen und nicht wieder herauskommen, bis er die K.I. einmal von oben bis unten durchleuchtet hatte. Und er würde den Rückflug umbuchen und den Eltern der Jungs irgendeine Ausrede auftischen müssen. Nein, nein, nein. So durfte ihr Ausflug auf keinen Fall zu Ende gehen. Er musste etwas unternehmen. Er musste … Joe räusperte sich umständlich. „Äh … Überraschung“, improvisierte er und erntete dafür einen besonders schrägen Seitenblick. „Überraschung?“, wiederholte Kaoru. Joe beeilte sich zu nicken. „Ja, äh klar“, flunkerte er, „Du glaubst doch nicht, dass CARLA das da mit einem Shuttle Bus verwechseln würde, oder?“ „Ich glaube auch nicht, dass du das da mit einer Überraschung verwechselst.“ Joe zwang sich zu einem Grinsen. „Nicht?“, fragte er und versuchte möglichst nonchalant dabei auszusehen. „Ich fand einfach, nach den vielen Schriftzeichen heute, hast du dir auch mal etwas Schönes verdient.“ „Und dann bringst du mich zu einem Tunnel aus Licht?“ „Ja, wäre dir ein Ramen-Restaurant denn lieber gewesen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)