Wie Tanzen auf dem Vulkan von lady_j (Ein Advents-Zweiteiler für den Adventskalender des YuKa-Zirkels) ================================================================================ Kapitel 1: 6. Dezember ---------------------- „Ich friere mir den Arsch ab.” Kai verdrehte die Augen. Er hatte, unter größter Vorsicht, mit vielen Blicken über die Schulter, damit auch ja niemand es merkte, sein Handy aus der Tasche gezogen. Die Mission hatte ihn mehrere Minuten beschäftigt, in denen er eigentlich hätte arbeiten sollen. Und wofür? Dafür, dass Yuriy sich mal wieder über die Minusgrade in Moskau beschwerte. „Du hast keinen Arsch, den du dir abfrieren kannst”, schrieb Kai zurück, ließ dann schnell das Telefon verschwinden und beugte sich erneut über seine Tastatur. Er hasste die Praktika bei Hiwatari Enterprises. Doch leider erlaubte Soichiro ihm nichts, aber auch gar nichts, wenn er nicht zu ihnen antrat. Misaki pflichtete dem Alten sogar noch bei. Sie hatte Kai in ihrer sanften, aber bestimmten Art klargemacht, dass er sich in den letzten Jahren zu viel herausgenommen hatte. Nun, das mochte stimmen. Spontan ein Flugticket nach Moskau zu buchen und noch am selben Abend zu fliegen, wie er es im Sommer getan hatte, weil er es verdammt noch mal nicht mehr ausgehalten hatte in Japan, war seine bisherige Glanzleistung gewesen. Es war zwar keine schlechte Idee gewesen (er bereute nichts!), aber seine mangelnde Kommunikation an diesem Tag hatte für Aufruhr gesorgt. Er hörte noch immer Misakis Stimme durch ein imaginäres Telefon – „Du bist nach Russland geflogen?!” – Misaki schrie sonst nie. Kai musste schmunzeln, als er daran zurückdachte. Er hatte zwei herrlich sorglose Wochen mit Yuriy und den anderen verbracht. Und danach den Rest der Ferien im Hausarrest. Totally fucking worth it. Schon vorher hatte Soichiro ihn für das, was er wollte, arbeiten lassen. Doch nun war alles noch schwieriger geworden. Längere Tage bei Hiwatari Enterprises. Eine strengere Überwachung. Handyverbot während der Arbeitszeit. Die Excel-Tabelle vor ihm wartete noch immer darauf, mit Daten bestückt zu werden. Hoffentlich blieben diesmal alle Makros heil. Letzte Woche hatte er es dreimal nacheinander geschafft, eine Datei zu zerschießen. Was eventuell daran gelegen hatte, dass er nicht ganz bei der Sache gewesen war. Nicht nach den Fotos, die er beim Aufwachen in seinem Chat gefunden hatte… Kai räusperte sich laut, als müsse er sich selbst zur Disziplin ermahnen. So etwas war ihm früher nie passiert. Wenn er wollte, konnte er sich eine halbe Ewigkeit an einer Sache festbeißen, ohne gedanklich abzudriften. Deswegen war er ja auch so gut im Beybladen. Doch seit er sich ständig fragte, ob nicht vielleicht doch eine neue Nachricht auf seinem Telefon eingegangen war, war seine Konzentration dahin. Nichts, aber auch gar nichts im Büroturm von Hiwatari Enterprises war auch nur annähernd so verführerisch, wie die Ungewissheit in der Sekunde vor dem Blick auf den Bildschirm. Meistens wurde sein Warten belohnt. Eine halbe Stunde später konnte er eine Kaffeepause machen, ohne dass jemand Verdacht schöpfen würde. Er zog sich in eine Sitzecke zurück, die halb hinter ein paar ausladenden Pflanzen verborgen war. Zu seiner Rechten befand sich ein bodentiefes Fenster, von dem aus er über Tokio blicken konnte. Der Himmel über der Stadt war grau. Es schneite nicht, aber es war auch hier deutlich kühler geworden. Pärchen fingen an, weihnachtliche Dates zu organisieren, sie tranken Gingerbread Lattes oder Cinnamon Frappuccinos, und in den Fotoautomaten gab es jetzt überall Weihnachtsmotive. Neulich hatte Max das ganze Team gezwungen, ebenfalls Fotos zu machen. Eines dieser Bilder steckte jetzt hinten in Kais Handyhülle. Es zeigte die Bladebreakers – Takao, Max, Rei, Kyoujyu, Hiromi, Daichi und ihn selbst – in eine winzige Kabine gezwängt, mit nachträglich hinzugefügten Weihnachtsmann-Mützen auf den Köpfen. Das Foto war so klein, dass kaum etwas zu erkennen war. Er hatte sich nie besonders für die Weihnachtszeit interessiert, aber in diesem Jahr erinnerte sie ihn daran, wie viel Zeit seit dem Sommer schon vergangen war. Kai sah sich noch einmal kurz um, dann entsperrte er den Bildschirm. „Ich habe vielleicht einen flachen Arsch, aber du findest mich trotzdem sexy.” Fuck, ja. Ein jüngerer Kai – einer, der nur ans Beybladen dachte und zu cool war für jegliche menschliche Interaktion, die über ein Brummen hinausging – hätte die Nase gerümpft, wenn er gewusst hätte, zu was er einmal verkommen würde: Zu einem hibbeligen Nervenbündel, das allein wegen einer winzigen Nachricht zu explodieren drohte. Und auch jetzt würde er vor Scham im Boden versinken, wenn irgendjemand wüsste, wie es in ihm aussah. Er spielte noch immer den Coolen, Abgeklärten, Erwachsenen. Den, der über den Dingen stand, besonders über Liebesdingen. Aber sich selbst konnte er nicht belügen. Yuriy Ivanov hatte ihn in die Knie gezwungen, und das war das beste Gefühl der Welt. „Ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit”, antwortete er schließlich auf Yuriys Nachricht. Das zweitschönste Gefühl der Welt war, sich vorzustellen, dass Yuriy gerade genauso aufgekratzt war wie er. Dass er irgendwo in der Kälte stand und womöglich an ihn dachte, damit ihm etwas wärmer wurde. Immerhin hatten sie im Sommer genug gemeinsame Erinnerungen für genau solche Notsituationen geschaffen. Sie hatten gewusst, dass Kai nicht ewig in Moskau bleiben konnte, und jede freie Minute genutzt. Wirklich jede. Die Ausdauer vom Beyblade-Training brachte einige Vorteile mit sich. „Sollen wir heute Abend skypen?”, lautete Yuriys nächste Nachricht. Als ob er überhaupt fragen müsste. Natürlich würden sie skypen. Nichts, nicht einmal die sechs Stunden Zeitunterschied, würden Kai davon abhalten. Er ging gegen zehn Uhr abends ins Bett, schlief bis zwei und setzte sich dann an den Laptop. Inzwischen hatte er sich sogar an die unterbrochenen Nächte gewöhnt. „Wie immer :*”, tippte er. Hinter den Pflanzen rief jemand nach ihm. Kai schreckte hoch und ließ das Handy verschwinden. Er griff nach seiner Tasse, als hätte er sich eben erst hingesetzt. Der Kaffee war kalt, aber das sah man zum Glück ja nicht. „Woran denkst du, Kai?“, fragte Hiromi. „Du wirkst so abwesend.” An die Sommersprossen auf Yuriys Brust. An den Leberfleck auf seiner Hüfte. An den dünnen Streifen aus hellen Härchen, der den Weg zwischen seine Beine wies. Aber das konnte er Hiromi so natürlich nicht sagen. Erst recht nicht, während sie mit den anderen im Nudelrestaurant von Kyouyjus Eltern saßen und Ramen aßen. Immerhin hatte niemand Hiromis Frage mitgehört. Max, Takao und Daichi unterhielten sich über etwas, das sie bei ihrer letzten Reise in die Staaten erlebt hatten, und Rei war ganz auf seine Nudeln fokussiert. „Ich bin nur müde”, antwortete er. Er ließ den Blick über die Girlande aus künstlichen Tannenzweigen gleiten, die Max vor zwei Wochen abgeschleppt und mit dem Segen von Kyouyjus Eltern quer durch den Raum gespannt hatte. Max würde über Weihnachten mit seinem Vater wieder in die USA fliegen, um Judy zu besuchen. Rei würde demnächst zurück nach China gehen (was mit Weihnachten nichts zu tun hatte, er teilte seine Zeit zwischen beiden Ländern auf). Kais eigenes Leben würde einfach so weitergehen, er würde vielleicht mit Hiromi und Takao Essen gehen und sich von ihnen ein paar Becher der übersüßten Weihnachtskaffees andrehen lassen. Ansonsten würde er arbeiten. In Japan wurde der Jahreswechsel gefeiert, genauso wie in Russland. Doch leider hatte auch Yuriy keinen Urlaub nehmen können. Deswegen würde es noch eine ganze Weile dauern, bis sie sich wiedersehen würden. Er spürte, wie Hiromi ein Stück zu ihm heranrückte. „Muss ich mir Sorgen machen?”, fragte sie. „Arbeitest du wieder zu viel?” Beinahe hätte er süffisant gelacht. Dass er zu viel arbeitete, konnte man nun wirklich nicht behaupten. Aber Hiromi wusste auch nicht, dass er die Hälfte seiner Nächte auf Skype verbrachte. Niemand wusste das. Seltsamerweise hatten die anderen keinen Verdacht geschöpft, als er im Sommer nach Russland abgehauen war. Sie schienen davon auszugehen, dass seine Freundschaft mit den Borgs eng genug für so etwas war. Außerdem wussten sie von seinen immerwährenden Konflikten mit Soichiro. Womöglich, dachte Kai jetzt, passte es ganz gut zu ihm, sich eine Auszeit zu gönnen, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. „Ich bin okay, Hiromi”, sagte er. „Mir geht es gut. Sehr gut sogar.” Sie hob die Augenbrauen. „Oh? Das freut mich zu hören.” Nun wandte Kai sich doch um und sah sie an. Der Blick aus ihren braunen Augen hielt ihn fest, aber nicht auf unangenehme Weise. Über die Jahre hatte Kai angefangen, ihr zu vertrauen und meinte, dass dieses Vertrauen auf Gegenseitigkeit beruhte. Hiromi hatte ihm über die Zeit einige sehr persönliche Dinge über sich erzählt. Kai wusste das zu schätzen. Er hatte begonnen, sich ihr ebenfalls zu öffnen. Aber über Yuriy konnte er trotzdem nicht mit ihr reden. Es wussten überhaupt nur wenige Personen von ihnen. Eigentlich nur die anderen Mitglieder von Borg. Es war unmöglich, so etwas vor ihnen geheim zu halten. Yuriy hatte sein Team in seiner unvergleichlichen Art vor vollendete Tatsachen gestellt, was Kai gleichzeitig beeindruckte und beängstigte. Zum Glück hatten sich Boris, Sergeij und Ivan schnell wieder gefasst. Ihr größtes Problem schien zu sein, dass sie Kai nun erstmal nicht mehr loswerden würden. Aber inzwischen hatten auch ihre Sticheleien ihre Schärfe verloren und waren zu so etwas wie Running Gags geworden. Am meisten störte seine Anwesenheit wahrscheinlich Boris, der eiskalt gegen die Wand oder Tür klopfte, wenn Yuriy und Kai mal wieder zu laut waren (Kai hatte nicht gewusst, dass er überhaupt laut werden konnte, aber was auch immer Yuriy mit ihm machte, schaltete seine Scham komplett aus. Er hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen, wenn andere sie hören konnten). Hiromi legte den Kopf schief, ohne den Blick von ihm zu lösen. „Hat es einen bestimmten Grund, warum es dir so gut geht?”, wollte sie wissen. Kai lauschte in den Raum hinein. Alle anderen waren noch immer mit sich selbst beschäftigt. „Ja”, antwortete er leise. „Geht es um eine Person in deinem Leben?” „Vielleicht.” Kai war sicher, dass Hiromi diesen Befragungsstil allein für ihn entwickelt hatte. Wenn sie sich Stück für Stück vortastete, fiel es ihm leichter, zu kontrollieren, was er sagen wollte und was nicht. Sie griff nach ihrem Glas. „Willst du mir irgendwann mal mehr erzählen? Wir könnten uns auf einen Kaffee treffen. Ohne die anderen.” Kai dachte kurz nach. Ja, er wollte ihr von Yuriy erzählen. Er wollte überhaupt jemandem von Yuriy erzählen. Es war an der Zeit. „Das können wir”, sagte er. Fünf Minuten vor zwei Uhr klingelte sein Wecker. Kai hatte keine Sorge, dass irgendjemand sonst davon wach wurde. Soichiros und Misakis Schlafzimmer befanden sich zwei Etagen unter ihm. Nicht einmal tagsüber verirrte sich jemand in diese Ecke des familieneigenen Herrenhauses. Er schaltete die Nachttischlampe an und zog seinen Laptop zu sich heran, der wie fast immer neben ihm auf der Matratze gelegen hatte. Kai hatte sich zwar ein vergleichsweise kleines Zimmer ausgesucht, doch beim Bett machte er keine Abstriche. Und da er bisher keine Übernachtungsgäste hatte, belegten Bücher, Notizblöcke, Dranzer und eben sein Laptop den Platz neben ihm. Es dauerte wie immer ein wenig, bis die Verbindung zu Yuriy stabil war. Seitdem das Borg Team den Internetanschluss in ihrer Wohnung erneuert hatte, riss sie jedoch nicht mehr mitten im Gespräch ab. Und die Bildqualität war auch besser. In Yuriys Zimmer war es ebenfalls dunkel. Es schien, als würde es neben dem Computerbildschirm dort keine andere Lichtquelle mehr geben. Yuriy saß am Schreibtisch, ein Bein angewinkelt. Er trug ein T-Shirt und Sweatpants. Sein Anblick allein reichte, um Kais Puls zu beschleunigen. Er hoffte inständig, dass es Yuriy ähnlich ging. Alles andere wäre unfair. „Hey”, sagte er leise und lehnte sich gegen das Kopfende seines Bettes. Yuriy legte das Kinn auf sein angewinkeltes Knie. „Du siehst aus, als könntest du eine Umarmung gebrauchen”, stellte er fest. „Oh, glaub mir, ich könnte noch viel mehr gebrauchen als das”, meinte Kai. An dem verschmitzten Glitzern in Yuriys Augen erkannte er, dass der andere sehr wohl wusste, was er damit meinte. „Wie wäre es erstmal mit Hallo, wie war dein Tag, hast du etwas Schönes erlebt, bevor du mir zweideutige Angebote machst?!“, sagte er. Kai verdrehte die Augen. „Hallo, Snegurochka”, sagte er. „Mein Tag war ereignislos. Ich habe Excel-Tabellen befüllt.” „Mmmh, wie reizend.” „Was du gemacht hast, weiß ich schon”, fuhr Kai fort. „Du hast dir den Arsch abgefroren. Aber ich könnte dafür sorgen, dass dir jetzt etwas wärmer wird.“ Er war komplett verloren. Bei Yuriy setzte sein Hirn aus. Er konnte nur noch halbwegs artikulierte Anmachsprüche von sich geben und hoffen, dass der andere irgendwann anbiss. Aber Yuriy war grausam. Er tat nichts, als ihn mit seinen blauen Augen anzusehen und zu schmunzeln. Er ließ Kai zappeln wie einen Fisch an der Angel, und Kai hatte nicht einmal etwas dagegen. Ob Yuriy wusste, was er da tat? Vielleicht ahnte er es und betrachtete es als kleines Machtspiel zwischen ihnen. Vielleicht machte es ihn an. Kai konnte nicht aus seiner Haut, er hatte selten wirklich losgelassen und Yuriy gezeigt, wie schwach er ihn machte. Aber wenn es passiert war, hatte auch Yuriy ein wenig die Kontrolle verloren, hatte sich von ihm mitreißen lassen. Es waren ihre ehrlichsten Momente. Yuriy bewegte sich ein wenig. „Es ist tatsächlich etwas kühl hier”, gab er zu. Sein Gesichtsausdruck wurde ernster, als könnte er das Grinsen nicht länger aufrechterhalten. Es war der Moment, in dem Kai wie so oft realisierte, dass auch ein Videocall nicht dazu imstande war, eine Person zu ersetzen. Das Wollen in ihm wurde schmerzhaft. Er hätte sagen können: Ich vermisse dich. Aber das fiel ihm nicht leicht, und es würde nichts daran ändern, dass sie tausende von Kilometern voneinander getrennt waren. Manchmal verfluchte er sich dafür, überhaupt nach Russland geflogen zu sein. Denn nur deswegen musste er nun mit der Erinnerung an Yuriys Lippen, seinen Händen, seiner nackten Haut leben. Hätten sie sich im Sommer nicht gesehen, wären die zögerlichen Gefühle zwischen ihnen längst eingeschlafen und Kai hätte einfach weitermachen können, wie bisher. Ohne diese Sehnsucht nach etwas, das er nur einmal alle paar Monate haben konnte. „Du siehst müde aus”, stellte er fest. Es mochte an dem kalten Licht liegen, aber ihm war, als hätte Yuriy tiefe Augenringe. „Ich schlafe gerade nicht so gut”, sagte Yuriy leise, und, nach einer Pause: „Es wäre leichter, wenn du hier wärst.” Kai stieß die Luft aus. Hinter seinem Bauchnabel bildete sich ein heißer Knoten. „Du könntest herkommen”, sagte er, ehe er sich davon abhalten konnte. „Wir können uns den Preis für das Flugticket teilen.” „Das Geld ist nicht das Problem”, entgegnete Yuriy. „Ich kann nicht einfach freinehmen. Ich würde den Job verlieren, und ich brauche ihn, um die Uni zu bezahlen.” „Ich weiß”, seufzte Kai. „Verdammt, ich weiß.” Er rieb sich über das Gesicht. Gott, er war müde. Und einsam. Er ließ die Hand sinken und sah Yuriy an, der seinen Blick erwiderte. Es sah aus, als würde er sich auf die Innenseite seiner Wange beißen, aber Kai konnte nicht sicher sein. Inzwischen war sein ganzer Körper heiß. Er wollte aufspringen und durch den Raum laufen, um sich irgendwie Erlösung zu verschaffen. Jetzt seufzte Yuriy. „Verdammt, Kai”, sagte er. „Du fehlst mir.” Irgendetwas, das gleichzeitig gut und schmerzhaft war, übermannte Kai. Er wollte den Laptop von sich schleudern und Yuriy verfluchen. „So etwas darfst du nicht sagen”, stieß er hervor. „Ich explodiere hier.” Und endlich lachte Yuriy wieder. „Ich mag es, wenn du das tust”, sagte er. „Wenn ich das Gefühl habe, dass ich dich nur berühren muss, und du zerspringst.” Das war es. Das war der Grund, aus dem Kai nach Russland geflogen war, ohne Sinn und Verstand. Er wollte immer genau das, was am schwierigsten zu bekommen war. Yuriys Stimme, seinen Anblick, seine Gedanken konnte er haben. Aber was er am meisten wollte, war, ihn zu berühren. „Ich halt das nicht aus”, sagte er. „Ich auch nicht”, entgegnete Yuriy. „Ich kann mir vorstellen, dass du da bist, aber es reicht nicht.” Kai lachte kurz. „Oh, glaub mir, das tue ich auch! Jedes Mal, wenn ich…” Er räusperte sich. „Ich weiß, was du meinst”, sagte Yuriy lächelnd. Kais Wangen wurden heiß. Er hatte das nicht so offen zugeben wollen. Schließlich musste Yuriy wissen, dass es so war. „Wie wäre es…” Yuriy unterbrach sich. Vielleicht suchte er nach Worten. „Also, du könntest es dir jetzt vorstellen. Dass ich bei dir bin. Und ich stelle mir vor, dass du bei mir bist.” Jetzt war Kais ganzes Gesicht heiß. Er konnte das nicht, oder? Natürlich hatten Yuriy und er kommuniziert, wenn sie miteinander im Bett waren. Doch es waren eher kurze Fragen: Ist das in Ordnung? Hast du darauf Lust? Soll ich etwas anders machen? Aber darüber, was genau in ihren Köpfen vor sich ging, wenn sie alleine waren, hatten sie nie gesprochen. Vielleicht war genau das aber die Lösung. Vielleicht würde das den übermächtigen Druck in ihm etwas lindern. „Wir könnten es probieren”, meinte Kai. „Okay.“ Yuriy stand von seinem Stuhl auf. „Lass mich zum Bett rübergehen. Ist gemütlicher.“ Er schaffte es schon wieder, zu grinsen. Kai setzte sich auf. „Dann lass es uns richtig machen. Zieh dich aus“, sagte er und zog sich schon das Shirt über den Kopf. Wenn sie das hier taten, dann wollte er mehr von Yuriy sehen. Als das Bild auf dem Monitor des Laptops aufhörte zu wackeln, blickte Kai auf Yuriys Kopfkissen. Sofort erinnerte er sich daran, wie er sein Gesicht darin vergraben hatte. Wie es nach Waschmittel und Yuriy gerochen hatte. Das allein reichte, um seinem Körper eine erste Regung zu entlocken. Dann kletterte Yuriy ins Bett und zog die Decke halb über sich. Kai sah sein Gesicht und seine nackten Schultern. Leider konnte er die Sommersprossen auf ihnen nicht erkennen. Yuriy stützte den Kopf in die Hand. „Und jetzt?“ „Es war deine Idee!“, konterte Kai belustigt. Yuriy brummte. Sein Blick glitt über den Bildschirmrand hinweg. „Du könntest mir erzählen, was du am aufregendsten fandst, als ich bei dir war“, schlug Kai vor. „Oh!“ Yuriys Blick wanderte zurück zu ihm. „Das eine Mal in der Küche, glaube ich.“ Kai schluckte. Er wusste ganz genau, was Yuriy meinte. Dieses eine Mal, als sie allein in der Wohnung gewesen waren. Es hatte ganz unschuldig mit einem Kuss begonnen, doch irgendwann waren Kais Hände ganz von selbst in Yuriys Hose gewandert, und ehe er sich's versah, fand er sich auf den Knien wieder. Danach hatte Yuriy ihn auf die Anrichte gehoben und sich revanchiert. Sie hatten es gerade so geschafft, sich wieder anzuziehen, bevor Boris nach Hause gekommen war. „Das findest du doch nur so geil, weil Boris uns fast erwischt hätte!“, sagte Kai. „Möglich.“ Yuriy hob die Schultern. „Jedenfalls hätte ich jetzt gerade nichts gegen deinen Kopf zwischen meinen Beinen.“ Kai schnalzte mit der Zunge. Seine Körperwärme konzentrierte sich auf einen Punkt in seinem Unterbauch. Er rutschte etwas hin und her und verschob schließlich den Laptop, damit der nicht mehr direkt auf seinem Schoß lag. „Sag bitte“, verlangte er. Es war nur halb im Scherz gemeint. Yuriy verdrehte die Augen, dann rückte er näher an die Kamera heran. „Bitte“, sagte er in einem Tonfall, bei dem sich alle Härchen an Kais Körper aufstellten. Wie von allein wanderte seine Hand unter die Bettdecke, hin zu der schwelenden Hitze. Yuriys Augen verengten sich. „Ich würde dich auch unglaublich gerne küssen“, sagte er. „Am Hals“, ergänzte Kai und legte automatisch den Kopf etwas schief. „Genau. Ich könnte dir nochmal einen Knutschfleck machen.“ Kai lachte kurz. Der letzte Knutschfleck hatte mehrere Tage gebraucht, um abzuheilen, und war erst kurz vor seiner Rückkehr nach Japan ganz verblasst. Seine Hand hatte inzwischen ihr Ziel gefunden. Kai hatte befürchtet, dass es seltsam sein würde, sich vor Yuriy anzufassen. Aber der Bildausschnitt zeigte nicht alles. Und wenn sie dabei miteinander sprachen, konnte er sich beinahe vorstellen, dass es Yuriys Finger waren, die über seine Haut strichen. Kalt genug dafür waren sie. „Was willst du, Kai?“ Er schloss die Augen. „Ich will dich küssen und den schwarzen Tee auf deiner Zunge schmecken“, sagte er. „Und das Salz auf deiner Haut. Ich will dein Haar riechen, wenn du auf mir liegst. Und das Duschgel, das wir benutzt haben, als wir das Gleitgel nicht gefunden haben. Verdammt, ich werde das Zeug nie wieder riechen können, ohne an Sex zu denken.“ Er hörte, wie Yuriy lachte. Dann wurde das Lachen zu einem Seufzen, das einen Schauer durch seinen Körper jagte. Ein leises Stöhnen entwich ihm, das er instinktiv unterdrückte. Seine Hand bewegte sich dennoch weiter. „Du musst nicht leise sein“, sagte Yuriy. „Ich höre dich gerne. Das zeigt mir, dass ich etwas richtig mache.“ Kai fluchte leise. Er hielt immer noch die Augen geschlossen und war froh, schon zu liegen, denn bei Yuriys letzten Worten waren seine Knie weich geworden. Er rutschte ein Stück nach unten, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Die Bettdecke lag nur noch schief auf ihm. Die kühle Luft im Raum machte ihm eine Gänsehaut. „Weißt du, was ich am besten fand?”, fragte er. „Na?” Kai lächelte. „Unter der Dusche”, sagte er. „Als du mich gegen die Fliesen gedrückt hast. Die Wand war so kalt…” „Und du warst so heiß”, sagte Yuriy. „Dein Körper war wärmer als das Wasser. Und deine Haut war so weich. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich das realisiert habe.” Kai konnte Yuriys Hände noch immer auf sich spüren. Wieder und wieder strichen sie über seine Glieder, warm und fest und etwas rau, sodass es sich anfühlte, als würden sie Schicht um Schicht von ihm abschmirgeln, bis er ganz bloßlag. Yuriys Hände ertasteten jede Wölbung, jede Senke, glitten über ihn hinweg, in ihn hinein. Sein Orgasmus traf ihn unvorbereitet. Er stieß einen überraschten Laut aus, etwas Warmes explodierte hinter seinen Augen, dann übernahm sein Körper für ein paar lange Sekunden die Führung. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich seine Sicht wieder klärte. Schwer atmend blinzelte er gegen die Dunkelheit in seinem Zimmer an. „Verdammt, Kai”, drang Yuriys Stimme an sein Ohr. „Mir ist nie aufgefallen, wie heiß du klingst, wenn du kommst.“ Er war etwas heiser. Ein schwacher Laut entwich Kai. Er hatte keine Erinnerungen daran, ob er eben gestöhnt hatte oder nicht. „Bist du auch gekommen?“, fragte er. „... Jepp.“ Yuriy stieß die Luft aus. „Ich habe Selbstkontrolle, aber so viel nun auch nicht.“ Endlich drehte Kai den Kopf zur Seite, in Richtung des Bildschirmes. Sein Blick traf sich mit Yuriys. Er musste die Decke von sich geworfen haben, denn Kai konnte nun mehr von seiner nackten Brust sehen. Sie mussten beide lachen. „Ich glaube, ich muss mir ein Taschentuch holen“, stellte Kai fest. „Ich auch.“ Yuriy blickte an sich hinunter. „Meine Güte…“ „Hast du wieder zu weit geschossen?“ „So, wie du es sagst, klingt es wirklich schlimm.“ Immer noch lachend stand Kai auf. Er stakste zum Schrank, denn natürlich waren ihm die Taschentücher im Nachttisch just ausgegangen. Als er sich notdürftig gesäubert hatte, schlüpfte er endlich auch aus seinen Shorts und legte sich komplett nackt ins Bett. Er knautschte die Decke zusammen und schlang beide Arme um sie. Kurz darauf tauchte auch Yuriy wieder auf. Für einen Moment konnte er ihn vom Kinn bis zur Hüfte betrachten. Seine Augen suchten automatisch nach dem vertrauten Leberfleck, nach dem Schatten unter seinem Bauchnabel. Dann legte Yuriy sich auf den Bauch. Sein Gesicht füllte den Bildschirm aus. „Hey”, sagte er. „Hi”, sagte Kai betont lässig, doch irgendetwas flatterte aufgeregt in seiner Brust. Er war jetzt hellwach. „Ich finde, wir sollten das öfter machen”, fügte er hinzu. Yuriys Blick wurde nachdenklich. Kai sah, wie er sich kurz auf die Lippe biss. „Weißt du, Kai”, sagte er. „Scheiß drauf. Ich geh morgen zu meinem Chef und frage ihn, ob ich Ende Dezember ein paar Tage Urlaub nehmen kann. Das hier ist schön, aber… Aber das hält doch keiner aus. Ich will dich sehen. Richtig, meine ich.” Das Flattern in Kais Brust wurde stärker. Was würde das bedeuten, wenn Yuriy nach Japan kam? Musste er Hiromi und den anderen davon erzählen, was zwischen ihnen lief? Musste er ihn seiner Mutter vorstellen? Aber ja, scheiß drauf. Vielleicht war es langsam an der Zeit. Irgendwann würde er das eh tun müssen. „Okay”, sagte er. „Ende Dezember?” Das waren maximal noch zwei Wochen. Nur noch zwei Wochen, die er warten musste. „Ja”, sagte Yuriy. „Ende Dezember.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)