Large Loneliness von Varlet ================================================================================ Kapitel 1: Large Loneliness --------------------------- Mit einem Glas Rotwein stand Jodie am Fenster und blickte in die beleuchtete Dunkelheit. Einige ihrer Nachbarn waren nicht zu Hause und feierten mit ihren Liebsten auswärts, andere luden die Familie zu sich ein. Tokyo im Winter war ein magischer Ort, egal zu welcher Tageszeit. Allerdings war es am Abend besonders schön dank der üppigen Weihnachtsbeleuchtung. Sie war überall: auf Gebäuden, Bäumen, Straßen, in Restaurants, sogar der Tokyo Tower und der Skytree erstrahlten noch heller. Es begann bereits im November, aber im Dezember setzte die Stadt noch einen drauf. Jodie lief gerne durch die Stadteile und sah sich alles an – auch mehrmals. Die Stadt war in ein wahres Lichtermeer getunkt. Die Agentin machte so viele Fotos wie möglich, wobei sie sich sicher war, alles in ihren Erinnerungen bewahren zu können. Allerdings hätte sie all dies gerne mit Menschen geteilt, die sie liebte. Shu, Camel und James hatten jede Einladung abgesagt. Die ersten Beiden mussten weiterhin vor der Organisation auf der Hut sein und durften sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen. James hingegen hatte sich auf die Arbeit fokussiert. Die Agentin fühlte sich allein und einsam. Sie war ein geselliger Typ, aber nun tat sie sich schwer, jemanden zu finden, der mit ihr Zeit verbringen wollte. Und so war sie auch am Weihnachtsabend allein in ihrer Wohnung. Normalerweise freute sie sich auf Weihnachten – egal wie schwer ihr Leben war und welche Schicksalsschläge sie erlitt. Aber jetzt hoffte sie, dass die Tage schnell vorbei gingen. Nach all den Ereignissen, die in diesem Jahr passiert sind, möchte ich meine Familie besuchen, hatte Camel erklärt. Kaum ausgesprochen, ruderte er zurück. Hätte Jodie gewollt, das er blieb, er wäre geblieben. Doch natürlich verstand sie seine Situation. Jodie nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas. Camel hatte es dieses Jahr nicht leicht gehabt. Er geriet in den Fokus der Organisation und musste um sein Leben kämpfen – mehr als einmal. Er veränderte seine Frisur und musste selbst jetzt noch auf der Hut sein, wenn er nach draußen ging. Daher war es ganz normal, dass der Agent seine Familie sehen wollte. Polizisten und Agenten hatten eine hohe Wahrscheinlichkeit in Ausübung ihrer Pflicht zu sterben. Sie würde sich ihm nicht in den Weg stellen, denn man konnte nie wissen, wann es das letzte Mal war. Trotzdem beneidete sie ihn. Er würde die Feiertage nicht allein verbringen. Ich muss nach New York, aber mach dir keine Sorgen, ich bin pünktlich zu Weihnachten wieder zurück, hatte James ihr Anfang Dezember mitgeteilt. Die Vorgesetzten wollten einen persönlichen Bericht der Ereignisse in Japan. Aber dann versank die Stadt im Schneechaos und jeder Flug wurde annulliert. Egal was James versuchte, er würde vor dem neuen Jahr nicht zurück nach Japan kommen. Wenigstens hatte er in New York Familie und Freunde, mit denen er die Weihnachtstage verbringen konnte. Sie wusste, dass er die Zeit genießen würde, aber auch, dass seine Sorge um Jodie ein stetiger Begleiter war. Egal was die Agentin versuchte, James fühlte sich weiterhin für sie verantwortlich. Und dann war da noch Shu. Sie hegte immer noch Gefühle für ihn und jedes Mal, wenn sie glaubte, diese überwunden zu haben, kamen sie zurück. Egal was Jodie auch tat, sie kam nicht von ihm los. Jodie nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Weinglas und seufzte. Die Agentin glaubte an ein Weihnachtswunder – so wie es in den vielen Filmen vorkam, die sie zur Weihnachtszeit gerne sah. Doch je später es wurde, desto mehr gab sie die Hoffnung auf. Es besteht die Möglichkeit, dass dich die Organisation an den Weihnachtstagen ausspioniert, um herauszufinden, welche Agenten sich noch in Japan befinden. Es wäre zu gefährlich, wenn sie mich in der Nähe deiner Wohnung sehen. Komme ich als Subaru, könnte meine Identität auffliegen, hatte er ihr erklärt. Auch das verstand Jodie. Sie verstand alles. Immer. Er hatte nicht ganz Unrecht, die Gefahr, dass sich die Organisation wieder auf Shuichi stürzte, war groß. Sein Leben war viel zu wertvoll, als das er dieses einfach so aufgeben konnte. Das hieß aber auch, dass er sich von ihr fern hielt. „Und deswegen bin ich jetzt alleine…“, murmelte Jodie leise zu sich selbst. Sie entfernte sich von dem Fenster, denn immer, wenn sie eine Silhouette sah, hoffte sie auf Besuch. Aber es läutete kein einziges Mal an der Tür. Jodie stellte das Weinglas auf den Tisch, räumte das benutzte Geschirr ab und begann in der Küche mit dem Abwasch. Als es schließlich doch noch an der Tür klingelte, machte ihr Herz einen Hüpfer. Es war ein Weihnachtswunder, da war sich Jodie sicher. Sofort griff sie nach dem Handtuch und trocknete sich die Hände ab. Sie eilte zur Haustür und öffnete diese voller Vorfreude. „Huh?“ Zwei kleine Kinder blickten sie mit großen Augen an. Scheinbar hatten sie noch nie eine Amerikanerin gesehen. Der Vater kam schnell dazu. „Entschuldigen Sie. Ich musste noch etwas aus der Wohnung holen und die Kinder haben sich scheinbar gelangweilt und sind auf dem Flur herumgelaufen. Dabei haben Sie versehentlich Ihre Türklingel gedrückt“, versuchte er zu erklären. Er verbeugte sich. „Ich bitte um Entschuldigung.“ „Oh…äh…nein, nicht doch…“, entgegnete die Agentin. „Das macht doch nichts…es sind schließlich noch kleine Kinder. Die probieren sich nun mal aus.“ „Vielen Dank für Ihr Verständnis.“ Er schaute zu seinen Kindern. „Entschuldigt euch bitte auch bei der netten Frau.“ Die Kinder schauten zwischen ihrem Vater und Jodie hin und her. „Entschuldigung“, gaben beide synchron von sich. Jodie setzte ein Lächeln auf und beugte sich nach unten. „Ich verzeihe euch. Aber macht das nicht nochmal, wenn ihr auf dem Flur seid und niemanden besuchen wollt.“ Der Vater beobachtete sie. „Dann stören wir Sie nicht länger. Kommt Kinder, wir gehen jetzt.“ „Ja, Papaaa“, riefen die zwei. Jodie sah der Familie nach, ehe sie die Tür schloss. Sie lehnte sich gegen diese und seufzte. Es war doch kein Weihnachtswunder geschehen, was Jodie überaus traurig machte. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, ging sie zurück ins Wohnzimmer, füllte ihr Weinglas auf und setzte sich auf das Sofa. Die Agentin nahm das Glas, lehnte sich nach hinten und schaute in die rote Flüssigkeit. „Frohe Weihnachten, Jodie…“, wisperte sie leise. Dieses Mal gab es kein Happy End für sie. Nur ein einsames Weihnachtsfest. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)