River under a soiled Sky von Elnaro ================================================================================ Kapitel 4: Schiffsreise ----------------------- Ich wälze mich schon die halbe Nacht in meinem Bett herum, das gerade so in mein stockfinsteres Zimmer hinein passt. Es wirkt beklemmend. 20 Jahre lang habe ich mich im Bunker pudelwohl gefühlt und nun plötzlich nicht mehr? Wieso ist meine Reaktion so heftig? Wieder einmal spiele ich im Kopf durch, was mir alles passieren könnte, was ich alles verlieren könnte, wenn ich mich nach draußen traue. Also rein hypothetisch, denn ich habe so wenig Ahnung, was in der Welt abgeht, dass es mich beschämt. Am liebsten würde ich mich ablenken, indem ich einen Raum weiter zu Shine gehe, doch sie kann es nicht ausstehen, wenn ich sie nachts besuche, ganz egal, welchen Grund ich dafür haben mag. Ich kenne sie inzwischen seit zehn Jahren. Sie gehört wie selbstverständlich zu unserer zusammengewürfelten Patchwork-Familie, so wie Tear seit drei Jahren. Nur hat sich Tear dazu entschieden, in eine eigene kleine Wohnung neben uns zu ziehen. Manchmal sieht man sie tagelang nicht. Sozialer Kontakt wird ihr schnell zu viel. In diesem Punkt ist sie das exakte Gegenteil von mir. Nach einer unruhigen Nacht konfrontiere ich Papa und Mag mit meiner Entscheidung. Sie wirken auf eine skurrile Weise erleichtert und gleichzeitig verängstigt. Ich vermute, dass das für Eltern ein normales Gefühl sein könnte. Wir setzen uns gemeinsam an den schönen großen Holztisch im Wohnzimmer. Auch Shine setzt sich zu uns. Wir besprechen, welche Route ich nehmen sollte. Mein Weg führt mich mittels Boot, das sie für uns kontaktieren, aufs Festland. Danach ist es eine halbe Tagesreise mit den Motorrädern bis zur Stadt Mensonia, die von Shines Vater Octavian Lucard geleitet wird. Von dort aus brauchen wir zwei Tage bis zur Hauptstadt. Wir müssen also eine Unterkunft finden. Shine meint, dass sie das regeln könne. In der Hauptstadt treffe ich dann auf meinen Konvertierer und dann sehen wir einfach, wie es weitergeht. Ich packe einige Sachen zusammen, besuche das Archiv, aus dem ich mir handgezeichnete Landkarten besorge und studiere sie genau. Beide Motorräder werden zur Sicherheit generalüberholt. Ich muss mir selbst Mut zureden, aber jetzt ist es zu spät, um den Schwanz einzuziehen. Pünktlich zum Sonnenaufgang brechen wir am nächsten Morgen auf. Shine trägt eine auffällige neongelbe Jacke. Dass nichts Vergleichbares in Shattered Sky angefertigt wird, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Ausgefallene Farben wie diese können wir ja nicht einmal herstellen. Die Jacke muss demzufolge aus der Außenwelt stammen. Zumindest geht mir meine strahlende Shine damit nicht verloren. Tear ist dagegen komplett in Grautönen gehalten, als wolle sie sich hinter ihrer Freundin unsichtbar machen. Ich habe mich in eine karminfarbene Jacke geworfen, die Helena in meiner Lehrzeit speziell nach meinen Wünschen gestaltet hat. Hat sie echt gut gemacht. Diese Jacke ist und bleibt mein liebstes Kleidungsstück. Ich verstaue unsere Rucksäcke im Fach unter den Sitzen der Motorräder und erwähne beiläufig, wie sich Tear an mir festhalten sollte. “Und lehne dich auch ein bisschen mit in die Kurven hinein”, ergänze ich, während ich neben mir eine düstere Aura wahrnehme. Shine hat die Hände in die Hüften gestemmt und geht jeden Augenblick in die Luft. “Auf deinem Motorrad kann sie nicht mitfahren. Das weißt du und tauschen kommt nicht in Frage”, versuche ich sie zu beschwichtigen. “River Lucard!”, ermahnt sie mich. “Darüber reden wir noch!” Ich grinse sie an, steige auf und bitte Tear höflich, hinter mir Platz zu nehmen. Sie legt ihre Arme zaghaft um meinen Körper. “Fester!”, weise ich an. Shine stößt heiße Luft aus ihren Nüstern wie ein altes Ross, sagt aber nichts. Ich lupfte die Augenbrauen in ihre Richtung und fahre langsam los. “Den Brief hast du dabei, oder!? Mit allem Drum und Dran”, ruft sie mir nach und lässt danach ebenfalls den Motor an. “Klaro!”, gebe ich zur Antwort. Diesmal biegen wir im Wald an einer Kreuzung ab, die uns zum Anleger führt. Der Waldboden wirkt ausgelaugt. Heute fällt mir auf, wie viele tote Bäume im Wald stehen. Nicht jede Pflanze kann auf Dauer mit dem wenigen, durch den Nebel gestreuten Licht umgehen. Das schränkt auch die Auswahl der Ackerpflanzen ein, die wir anbauen können. Irgendwie ist alles im Arsch auf dieser Welt, in die ich hineingeboren wurde. Der Kai liegt in einer wind- und sichtgeschützten Bucht. Erst als wir in die letzte Kurve einbiegen, sehe ich eine hellgraue Yacht darin liegen. Ich weiß, dass hinter dieser Bucht die Ruinen einer großen Hafenstadt liegen, aber die bekomme ich nicht zu sehen. Wir fahren bis zum Rand des gemauerten Liegeplatzes und schieben die restlichen Meter. Ein schwarz gekleideter Mann steht an Bord neben dem Zugang. Ich beobachte ihn beim näherkommen und meine, nicht eine einzige Bewegung an ihm bemerkt zu haben. Außerdem fällt nun auf, dass die Yacht wohl schon bessere Tage erlebt hat. Sie könnte mehr als nur einen neuen Anstrich gebrauchen. Am Heck lese ich verwitterte Buchstaben, die ich zu “Star of the Ocean” zusammensetzen kann. Shine ruft der Marmorstatue ein herzliches “Haaallo” entgegen. Der Mann reagiert nicht, sondern blickt uns nur weiter aus dem einen Auge an, das nicht von einer dicken Haarsträhne verdeckt wird. Sie läuft mitsamt Motorrad über einen nicht gerade vertrauenserweckenden alten Holzsteg auf das Schiff und stellt uns, bei ihm angekommen, einander vor. “Das ist mein Onkel Julian und diese beiden sind River und Tear.” Der suspekt aussehende Mann nickt mir zu und geht danach stumm und ungelenk tiefer in die Yacht hinein. Okay, er lebt also doch. Das will ich mal als gutes Zeichen deuten. Ich schiebe mein Motorrad vorsichtig über die fast schon morschen Holzplanken auf das kleine Schiff. Darauf angekommen, bin ich zuerst erleichtert und dann überrascht. Halb hinter einem Türrahmen versteckt, beäugt mich ein putziges kleines Kind, hinter dem wiederum eine Frau steht. Wahrscheinlich ist Julian wegen seiner Familie so vorsichtig, was ich dann doch irgendwie verstehen kann. Die Frau kommt schmunzelnd auf uns zu, holt den halb verrotteten Steg ein und verschließt die graue Reling. Ich bedanke mich bei ihr, doch sie spricht mich erst an, als der Motor der Yacht gestartet wird. “Sehr gerne. Es ist immer aufregend, Prominenz überzusetzen. Bitte entschuldigen Sie die Zurückhaltung meines Mannes.” Ich lache verlegen. “Aaach, ich bin doch nicht prominent. In Shattered Sky kennt mich zwar jeder, aber darüber hinaus …-” Ich werde von Shine unterbrochen. “Sie meint mich, du Spatzenhirn!” “Oh …” Nun traut sich auch das Kind aus seinem Versteck hervor, ein kleiner Junge. Ich frage ihn nach seinem Alter und er zeigt mir verlegen eine Hand mit drei Fingern. Meine Güte, ist der zum knuddeln. Tear geht an mir vorbei und verwickelt das Kerlchen in ein zuckersüßes Gespräch übers Schifffahren. Das verschafft mir Zeit, seine Mutter, die sich als Fina vorstellt, ein bisschen über die die Welt da draußen auszufragen. Die Yacht ist geräumiger als ich es erwartet habe. Es gibt Stufen nach oben und nach unten. Wir bleiben auf der Etage und gehen in einen der Räume. Darin stehen ein Tisch und bequem aussehende, gepolsterte Bänke, auf die wir uns setzen. Tear kommt gemeinsam mit dem Jungen mit uns. “Deine Freundin und Maxi verstehen sich ja prächtig”, freut sich Fina. Darauf steigt Shine sofort ein und schickt mir ein freches Lächeln zu. “Sie kann halt gut mit Kindern.” Jaja, sehr witzig. Ist angekommen. Ich lächle müde und hebe eine Augenbraue. Danach widme ich mich den ernsten Themen. Mich interessiert besonders, warum die drei nicht in einer der Städte leben. “Eine Stadt ist kein Ort für ein Kind”, antwortet Fina. “Wenn Sie zum ersten Mal eine betreten, werden Sie es verstehen, River. Das ist übrigens ein sehr hübscher Name.” “Echt? Ich find ihn super merkwürdig, aber Danke! Meine Mutter hat ihn ausgesucht. Papa hätte mich Juan genannt, nach seinem Vater. Was meinen Sie, hätte das zu mir gepasst?” Ich sehe im Augenwinkel, wie Shine die Augen verdreht. Irgendwie habe ich das Gespräch weg von dem, was ich eigentlich wissen wollte, hin zu mir gedreht. Das passiert mir eigenartigerweise öfter. “Juan?”, wiederholt Fina und lacht. “Ja, das passt auch.” Mit Mühe lenke ich das Thema zurück. “Auf was soll ich in der Stadt Acht geben?” Die Frau denkt kurz nach. “Vermeiden Sie es, aufzufallen. Tun Sie, was andere tun und schalten Sie dabei Ihr Gewissen ab. Dann werden Sie zurechtkommen." Ich soll mein Gewissen abschalten? Geht das überhaupt? Ich seufze hörbar, doch ihr fällt noch etwas ein. “Das wird für Sie wahrscheinlich keine Rolle spielen, aber lassen Sie die Finger von gecrackten Crisps. Die Verwendung von Jailbreaks, Proxies oder Personality Sims wird hart bestraft.” Nun kneife ich die Augen zusammen. Hä, was? “Crisps?”, wiederhole ich wie ein Neandertaler, der über eine Hochkultur stolpert. Fina scheint mich zu verstehen und erläutert: “Achso, also, wenn Sie noch keinen haben, schickt Sie die Einlasskontrolle zuerst zur Meldestelle.” “Er hat einen”, wirft Shine ein. Sie hat die Arme verschränkt und wirkt abgeklärt. Ich lache gestellt. “Na, dann ist ja gut.” Shit, worauf habe ich mich da nur eingelassen? Das alles klingt für mich nach einem schlimmeren Gefängnis als unser Bunker. Zuversicht wird dadurch jedenfalls nicht geweckt. Fina beschreibt, dass sie es nicht schlecht hatte in Mensonia, ihr Mann Julian aber oft angeeckt sei. Zu seiner Sicherheit und, weil sie ihrem Kind andere Werte vermitteln will, als sie in der Stadt gelehrt werden, ziehen die beiden ein Leben außerhalb vor. Auch das verstehe ich. Hin und wieder sehe ich durch das Fenster hinter der Frau nach draußen. Nach schätzungsweise gerade einmal zwei Stunden erahne ich bereits Umrisse von Land. Durch den Dunst glaube ich einem brach liegenden alten Hafen zu erkennen, an dessen intaktem Ausläufer wir kurz darauf tatsächlich anlegen. Die Überfahrt war sehr viel kürzer als gedacht. Weit weg scheint unsere Insel nicht zu liegen. Shine, Tear und ich verabschieden uns von Julian, Fina und ihrem super niedlichen Kind und gehen mit unseren Motorrädern von Bord. Der Steg ist mir nicht geheuer. Ich bin froh, als mein Motorrad Land berührt. Und das ist nicht irgendein Land. Es ist Festland und bin irgendwie enttäuscht. Der Boden fühlt sich genau so an wie der auf der Insel. Er ist kein bisschen fester und, dank des Nebels, sieht die Umgebung auch kein bisschen anders aus. Shine kennt den Weg. Sie steigt mit jedem Mal etwas geschickter auf die Maschine, lässt sie an und fährt dann langsam voraus. Tear, die immer ruhiger wird, setzt sich hinter mich. Wir folgen der gepflasterten Straße, die sich in einem vergleichsweise guten Zustand befindet. Das macht das Reisen angenehm und wirkt sich positiv auf Shines Motorrad aus, das sich dadurch viel langsamer aufheizen wird, als ich es vermutet hatte. Die Umgebung sieht auch weiter drinnen nicht anders aus als die auf der Insel. Flaches Land mit graugrünen Wiesen, darauf einige stark verästelte Bäume und Büsche. In Sichtweite befinden sich die Ruinen einer Hafenstadt. Die Straße verläuft entlang eines ausgetrockneten Flussbetts. Die Pyramidenstädte müssen ihr Wasser dann wohl genau wie wir mühsam vom Meer auf ihre Felder transportieren und vom Salz befreien. Nach drei Stunden Fahrt über dieses langweilige Flachland pausieren wir und lassen Shines Maschine abkühlen. Wir setzen uns auf einen umgefallenen Baumstamm am Wegesrand, über den ich mich wundere. Waren Bäume früher wirklich so dick? Auf der Insel verarbeiten wir alles. Uralte Baumstämme liegen da nicht. Während ich unsere Sitzgelegenheit begutachte, ringt sich Tear durch, eine Frage zu stellen. “Können wir Mensonia eventuell auch auslassen? Ich bin mir noch unsicher, ob ich dort wirklich schon wieder hin kann …” Shine, die zwischen uns sitzt, streichelt ihrer Freundin beruhigend über den Rücken, überlässt die Antwort jedoch mir. “Mensonia ist fest eingeplant, sonst müssten wir in der Wildnis übernachten. Shine kann dadurch ihren Familienbesuch für dieses Jahr abhaken und ich lerne eine Pyramidenstadt kennen, bevor wir in die Hauptstadt kommen.” Sie seufzt ein leises “Okay”, erklärt aber nicht, womit genau sie ein Problem hat. Normalerweise erzählt Tear direkt, was sie denkt oder braucht. Nur bei dieser Sache ist sie verschlossen wie Fort Knox, was auch immer das ist. Sagt man halt so. Ich weiß einfach nicht, wie ich Rücksicht auf Tear nehmen soll, wenn ich nicht weiß, womit sie nicht klarkommt. Nervös werdend, spiele ich mit den Fingern an meinem Silberring herum, den ich von ihr geschenkt bekommen habe und nun um den linken kleinen Finger trage. “Gibt es einen Ort, den wir meiden sollen?”, frage ich verunsichert. Tear starrt regungslos auf die grauen Pflastersteine unter unseren Füßen. Auch die sonst so allwissend tuende Shine wirkt mit der Situation überfordert. Ich blicke sie auffordernd an. Sie bemerkt es und flüstert daraufhin verzögert zu ihrer Freundin: “Vielleicht hilft es dir, um mit allem abschließen zu können.” Tear nickt geistesabwesend. Ich fühle mich hilflos und bin mit diesem Gefühl wahrscheinlich nicht alleine. Vielleicht war es wirklich ein Fehler, sie mitzunehmen. Tears Unbehagen schlägt sich auf die allgemeine Stimmung nieder, was den zweiten Teil der Strecke anstrengend erscheinen lässt. Nach weiteren zwei Stunden Fahrt bemerke ich einen Helligkeitsunterschied auf der Ebene vor uns, der den Nebel etwas hellgrauer erscheinen lässt. “Das ist Mensonia”, haucht mir die hinter mir sitzende Tear zu. Bis zu diesem Augenblick war die Tragweite meiner Reise emotional noch nicht wirklich bis zu mir durchgedrungen. Offen gestanden hatte ich selbst damit gerechnet, dass wir jeden Moment umdrehen und es als netten Ausflug abhaken. Nun, wo die Fremde dieser hell erleuchteten Stadt in reale Sichtweite kommt, begreife ich so langsam, dass vor mir das Abenteuer meines Lebens liegt. Scheiße! Bin ich wirklich bereit dafür? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)