1 - Das Wunder
Zuerst bemerkte ihn niemand, so still saß er. Die weißen Schwingen wie schützend um den Körper gewölbt, zusammengekauert und in einen Zustand des ätherischen Träumens entglitten, hielt man den Engel zuerst für eine steinerne Figur. Hoch über den Straßen der Stadt thronte er auf dem Glockenturm der Kirche und seine schlanke Gestalt wiegte sich zum Lied des Windes sanft hin und her; doch erst, als das Wesen mit einem plötzlichen Ruck die kraftvollen Flügel entfaltete, wurden die Menschen seiner gewahr. Sie sammelten sich auf dem Platz vor der Kirche, deuteten mit großen Augen, in denen sich ungläubige Faszination spiegelte, nach oben und konnten den Blick nicht lassen von der Kreatur, die dort, mit ausgebreiteten Schwingen und ganz in sich selbst versunken, auf dem Kirchturm kauerte und die Menschen unter sich nicht wahrzunehmen schien.
"Ein Zeichen Gottes!" wisperten sie ehrfürchtig, "Ein Wunder!" und die Atmosphäre heiliger Ehrfurcht, welche die engen Straßen durchwehte, war nahezu greifbar.
Ein Wispern lief durch die Gassen, erfüllte jeden Winkel der Stadt, ein prickelndes Gerücht jagte den Menschen nach und schlug jeden in seinen Bann: Ein Engel des Herrn war gekommen, um die Menschen zu segnen, ein Wunder war geschehen!
Auf feurigen Schwingen verbreitete sich die Neuigkeit über das Land, lockte Schaulustige und bewegte Gläubige an, die sich gleichsam und in einem alle Unterschiede überbrückenden Einverständnis aufmachten, die Segnung Gottes zu schauen.
Selbst als schließlich die Nacht hereingebrochen war, leerte sich der Platz vor der Kirche nicht. Während der Engel, unverändert reglos und die Menschen mit göttlichem Desinteresse strafend, hoch über ihnen allen wachte, wurden in der Menge erste Zweifel laut. Die wunderbare Stimmung der himmlischen Segnung wich verärgerter Skepsis und betrogenen Hoffnungen. Wo war das Wunder, wo Gottes Gnade, die das Auftauchen seines Dieners verhieß? Nichts hatte sich verändert, nur der Geflügelte thronte in heiliger Melancholie über der Stadt, reglos wie ein steinernes Abbild seiner selbst, unendlich traurig und gleichwohl rotes Leben ihn durchströmte wie tot. Der Glanz, den Gottesfürchtige und Schaulustige sich erhofft, das heilige Leuchten Edens, welches sie herbeigesehnt hatten, fehlte und die geflügelte Silhouette des Engels vor der sinkenden Sonne schien keine Garantie für ein Wunder zu bergen.
"Komm herunter!" forderte ein aus dem Umland angereister Händler herrisch und erntete breite Zustimmung von der Menge. "Ja, bring uns Gottes Segen!" riefen die Menschen, erst nur mit vereinzelten, schwachen Stimmen, schließlich mit dem dröhnenden Chor der versammelten Masse.
Der Engel rührte sich nicht, er wandte nicht den Kopf, er segnete die Menschen nicht, nur die Leere, in welche sein Blick entglitten war, schien Interessantes für ihn zu bergen. Ein Zweifler unter den Menschen erhob zögernd die Stimme.
"Haben wir gesündigt, Engel?", ein reumütiges Zittern mischte sich in die Worte des Redners und erschrockenes Wispern erfüllte die Stille der Nacht, "Strafst du uns deshalb mit Verachtung?"
"Leere Worte! Gott schickt den Sündern keinen seiner Boten!" unterbrach ein weiterer Sprecher ihn brüsk und deutete schwer atmend auf die einsame Gestalt über den Dächern der Stadt. "Er will nicht kommen, seinen Auftrag nicht erfüllen? Dann sehen wir, Brüder, dort oben keinen Engel des Herrn! Das Wesen weigert sich, zu uns herabzusteigen? Schießen wir es herunter!"
"Gotteslästerer!" schimpfte eine hohe Frauenstimme aus der Menge, "Frevler!", doch sie fand wenig Gehör unter den enttäuschten und betrogenen Menschen.
Ein Betteljunge warf den ersten Stein. Wirkungslos prallte das Geschoss an der Brüstung, die den Rundgang um die Kirchenglocken umschloss, ab, doch die verzweifelte Geste eröffnete den Angriff auf den Engel. Die Männer hatten ihre Bögen schnell bei der Hand und ein seelenzerfetzender Schrei durchschnitt die Nacht, als ein Pfeilhagel die Gestalt des Boten Gottes erreichte. Der Getroffene bäumte sich in brennender Pein auf und schlug entkräftet mit den weißen Schwingen, stürzte schließlich, die Brust von einem weiteren Pfeil durchbohrt, gleich einer erlöschenden Fackel zu Boden. Ein Schweif aus rotem Blut folgte dem fallenden Wesen, das nicht mehr die Kraft besaß, den Sturz abzufangen und legte sich als ein einem Leichentuch ähnlicher Schleier über die erloschene Gestalt.
Mit gebrochenen Augen und schmerzerfüllten Zügen, die vormals so anmutigen Flügel grotesk verrenkt und von den letzten Funken schwindenden Lebens erfüllt wurde der Engel von den beschämten Menschen umringt.
Reue regte sich in ihren von Ärger wirren Gesichtern, als Dutzende ungläubige Augenpaare verfolgten, wie der nutzlos gewordene Körper des Geflügelten seine irdische Form aufgab und als leuchtender Funkenzug dem Himmel zustrebte.
"Ein Wunder..." flüsterte jemand, doch rasch senkte sich erneut Stille über die schuldige Stadt.
2 - Fliegen lernen
Mit einem leisen Klicken schnappten die Schnallen ineinander und ein Zittern der Vorfreude durchlief Lûn. Das blonde Haar mit einer lässigen Bewegung des Kopfes zurückwerfend betrachtete der Junge sein Ebenbild in dem rauchigen Spiegel an der Wand und lächelte breit.
Kjela sah besorgt zu ihm auf. »Du wirst sterben, Lûn... Sie werden dich nicht tragen; und du wirst sterben- Lûn, das will ich nicht--!«
Lûn schüttelte zuversichtlich den Kopf und bewegte vorsichtig einen Arm. Jeder der Mechanismen funktionierte perfekt, mit den Gelenken des Jungen bewegten sich auch die künstlichen Flügel in mechanischer Harmonie und schienen fast wie eine natürliche Verlängerung seiner Arme. »Wer fliegt -wer frei ist-, Kjela, der kann nicht sterben.«
Unruhig erhob das Mädchen sich. Sie glaubte ihm nicht, glaubte nicht an seinen Erfolg, nicht an seine Schwingen, Lûn spürte es.
»Jeder sagt es. Der Priester. Wir Menschen sollen nicht fliegen, es entspricht nicht dem Willen der Götter.«
Lûn schwieg. Er wollte ihr nicht gestehen, dass weder der Priester noch dessen albernes Pantheon seinen mechanischen Flügeln etwas entgegenzusetzen hatten, ohnehin hätte Kjela ihm keinen Glauben geschenkt.
»In wenigen Stunden werde ich mit der Morgensonne fliegen.«, bemerkte er schließlich verträumt und begann sorgfältig, die künstlichen Schwingen von seinen Armen zu lösen.
Mit leeren Augen folgte Kjela den Bewegungen seiner Hände, erstarrt in Angst und Machtlosigkeit, den Mund von einem bitteren Lächeln umspielt.
Lûn bemerkte es mit einem missbilligenden Seitenblick und kniete schließlich neben ihr nieder.
»Sie funktionieren. Ganz bestimmt.«
Eine schüchterne Träne rann Kjelas totenbleiche Wange herab. Verzweifelt schlang sie die Arme um Lûn, presste seinen schmächtigen Jungenkörper mit all ihrer Kraft an sich. Er konnte sie zittern fühlen, konnte hören, wie jeder ihrer Atemzüge ihm ›Flieg nicht, Lûn, bitte, stirb nicht‹ zuzuraunen schien.
Sachte aber bestimmt löste er sich aus ihrer Umklammerung und konnte ihre Tränen noch immer nicht verstehen. Es gab keinen Zweifel daran, dass seine künstlichen Flügel ihn tragen würden.
Im ersten Morgengrauen schlüpfte Lûn durch die nur angelehnten Flügel des ehernen Portals in die Kirche und erklomm bebenden Herzens die enge Wendeltreppe, die auf den Kirchturm führte. Seine Hände waren zittrig vor Vorfreude und Erwartung, nur mühsam gelang es dem Jungen, den Halt an dem schmalen die Treppe umrandenden Geländer nicht zu verlieren.
Er atmete schwer, als er schließlich die Kirchturmspitze erreichte und sank erschöpft, den Rücken an die Brüstung gelehnt, zu Boden. Als seine Lunge in der schneidend kalten Luft des klaren Wintertags nicht mehr vor Anstrengung zu bersten schien und als das Beben seiner Hände einer seinen ganzen Körper umfassenden Spannung gewichen war, begann Lûn sorgfältig, seine mechanischen Flügel anzulegen.
Sorgsam zog er jeden einzelnen Riemen an und prüfte gründlich die exakte Funktionsweise eines jeden künstlichen Gelenks. Seine Konstruktion arbeitete perfekt, es gab keinen Zweifel daran, dass seine Schwingen ihn tragen würden. Lûn lächelte der müden Wintersonne entgegen und kletterte langsam auf die Brüstung.
Mit einem plötzlichen Ruck entfaltete der Junge seine Flügel, die in ihrer Spannweite seine Körpergröße weit überstiegen. Er reckte das Kinn in den eisigen Morgenwind und in seinen halbgeschlossenen Augen irrlichterte der Triumph eines mühsam errungenen Sieges.
Dann sprang Lûn.
Mit mächtigen Flügelschlägen fing er den Fall ab, und mit anmutiger Leichtigkeit erhob sich der Junge weiter und weiter in die Luft. Unter sich sah er das Dorf zunehmend kleiner werden, sah Menschen, die er einst gekannt hatte und die nun nur noch wimmelnde Punkte auf einer unendlich weit entfernten Erde waren. Mit sicheren Bewegungen seiner Schwingen zog Lûn seine Kreise über der Welt, schneller und höher, als er es sich je erträumt hatte, taumelnd in der Ekstase seines Fluges.
In immer neue Sphären des Himmels drang er vor, tänzelnd und träumend, einem Ziel entgegen, welches er nicht zu kennen brauchte.
»Ich fliege, Kjela, siehst du---!«, rief er mit verklingender Stimme.
Man fand die Leiche des Jungen auf dem Kirchturm, bereits starr von der Kälte des Winters. Das Messer, mit dem er sich die tödlichen Wunden an seinen noch immer von den künstlichen Schwingen verlängerten Unterarmen zugefügt hatte, umklammerte er noch mit einer verkrampften Hand, auf seinem Gesicht jedoch lag ein Ausdruck lebendigen Glücks, der den blutroten Schnee, welcher den Körper Lûns bettete, Lügen strafte.
Er war geflogen, dessen war sich Kjela sicher.