Ordinary life von -Lina ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Als Kroko am nächsten Morgen die Küche betrat, sah ihre Mutter sie ernst an. "Was?", fragte sie. "Jule, wir müssen reden." Kroko verdrehte die Augen. Das fing ja gut an. Sie setze sich lässig zu ihrer Mutter an den Küchentisch und begann, an ihren Haaren zu spielen. "Setz dich vernünftig hin. Und sieh mich wenigstens an, wenn ich mit dir rede!", sagte ihre Mutter barsch. Genervt setzte Kroko sich gerade hin und sah ihrer Mutter mit einem stechenden Blick in die Augen. Es war jener stechender Blick, der Kroko in ihrer Clique zur Queen gemacht hatte. "Wenn du hier weiter wohnen willst, gelten ab heute Regeln für dich...", begann ihre Mutter, doch Kroko hörte nicht zu. Ihre Gedanken schwirrten ziellos in ihrem Kopf hin und her. "Hast du das verstanden, Jule?" Drei Jahre. Vor drei Jahren war ihr Vater gestorben. Vor drei Jahren hatte sie ihn zum ersten Mal aufgesetzt, diesen stechenden Blick. Und mit ihm zusammen die Maske einer eiskalten Killerbraut, die gewissenlos lügt, stiehlt und betrügt, Leute erpresst und überfällt." Du wirst dir einen Job suchen. Ich kann dir nämlich kein Geld mehr geben." Vor drei Jahren hatte sie es zum ersten Mal gezeigt, ihr wahres Ich. Zumindest glaubte sie, das es ihr wahres Ich war. Vor drei Jahren hatte sie sich an die Spitze ihrer Clique gekämpft. Vor drei Jahren hatte sie Eddie... "Hörst du mir überhaupt zu, wenn ich mit dir rede?!" Die scharfe, schneidende Stimme ihrer Mutter riss Kroko aus ihren Gedanken. "Ja, ja. Mach dich mal locker." "Und wenn mir noch einmal, ein einziges mal zu Ohren kommst, das du Mist gebaut hast, packst du deine Sachen und gehst, ist das klar?!" "War's das jetzt?", fragte Kroko genervt, schob den Stuhl zurück und schlurfte in ihr Zimmer. Sie zog sich an, schminkte sich. Da kam Cora ins Zimmer gerannt. "Jule, Jule! Was machst du da?" "Ich schminke mich.", sagte Kroko gelangweilt und trug den Lippgloss auf. "Wo gehst du hin?" "Irgendwo." "Wo hin?" "Cora, du nervst!", fuhr Kroko ihre kleine Schwester an. Dann schnappte sie sich ihre Haustürschlüssel und ihre Jacke und stampfte aus der Wohnung. Sie ging die Straße entlang. Ihre Gedanken sprangen wild herum. Eddie. Der Jahrmarkt. Autoscooter. Eddie. Dieses Mädchen... Kroko hatte inzwischen die Fußgängerzone mit den Bänken, von denen aus man den See beobachten konnte erreicht. An diesem rothaarigen Mädchen mit dem Poncho blieben ihre Gedanken hängen, und plötzlich fühlte sie, wie ihre Knie weich wurden. Es, war, als hätte sich gerade ihr Magen umgedreht. Was war bloß mit ihr los? Den ganzen Tag schon fühlte sie diese Übelkeit, mal stärker, mal schwächer. Sie setzte sich auf eine der Bänke. Neben ihr ertönte ein vertrautes Geräusch. "Na Kroko? Wie isses?" Kroko drehte sich um. Es war das Tuckern von Rolles Motorroller. Rolle winkte ihr entgegen. Kroko hob gelangweilt die Hand, um ihm zu zeigen, das sie ihn wahrgenommen hatte. Rolle parkte neben der Bank und ließ sich neben Kroko nieder. "He, mach dich nich so breit..", murrte sie. "Ich war grad in dieser komischen WG.", erzählte er und Kroko wurde aus irgendeinem Grund schlagartig hellhörig. "Man fragt nach dir. Dieser Betreuer..." "Micha?" "..äh, genau. Er fragt, ob du nicht Lust hättest, die restlichen Stunden abzuarbeiten. Wenn du willst, kann ich dich hinbringen. Er meinte, du könntest sofort anfangen." "Was machst du eigentlich da?", fragte Kroko mißtrauisch. "Na ja, ich mach doch 'ne Ausbildung, als Sanitäter, das weißte doch. Und da mussten wir halt in diese WG, um den Umgang mit geistlich behinderten Patienten zu lernen. Was is nun? Willste mit oder nicht?" Kroko dachte kurz nach. Eine erneute Welle der Übelkeit überkam sie. "Ne du, lass mal gut sein." "Na dann... schade. Gut, ich muss weiter." Rolle stand auf. "He, Rolle." Er drehte sich um. "Yo?" "Danke.", sagte Kroko kurz angebunden und stand dann selbst auf. Sie ging die Straße weiter entlang. "Nichts zu danken.", murmelte Rolle. Als Kroko die Wohnung betrat, war ihre Mutter nicht da. Arbeiten, wahrscheinlich. Oder sie traf sich mit ihrem neuen Lover. Als sie in ihr Zimmer kam, erstarrte sie. Vor dem großen Spiegel stand Cora; und ihr Gesicht war ganz voller Schminke geschmiert. "Mein Gott, was hast du denn gemacht?", fragte Kroko und schmiß ihre Jacke aufs Bett. "Jule, ich hab mich geschminkt!" Cora lachte, und auch Kroko musste lachen. "Komm her." Sie griff nach einem der Abschminktücher, die auf ihren Tisch lagen und begann, Coras Gesicht sauber zu machen. "Jetzt machen wir das erst mal sauber...", sie griff sich ein zweites Tuch, "...und dann zeig ich dir wann das richtig macht, okay? Komm, setzt dich mal da auf den Stuhl..." "Jaa~aa! Du, Jule?" "Ja?" "Bist du jetzt wieder Jule zwei?" "...Ja." "Bleibst du das jetzt auch?" Kroko schwieg für eine Weile, während sie den knallgrünen Liedschatten aus dem Gesicht von Cora wischte. "...ja.", sagte sie schließlich. Beim Frühstück am nächsten Morgen ging es ruhig zu. Krokos Mutter las Zeitung, Cora schob sich ihr drittes Nutella-Brötchen in den Mund und Kroko... Kroko saß auf ihrem Stuhl und hielt sich den Bauch. Seit gestern war die Übelkeit stärker geworden. Dazu kamen stechende Bauchschmerzen. Plötzlich hielt sie sich die Hand vor den Mund. "Jule, was hast du?", fragte Cora. "I-Ich-Ich glaub, ich muss kotzen..." Sie rannte ins Bad und übergab sich. Was war bloß los? Sie setzte sich auf den Badewannenrand und sah sich im Bad um. Plötzlich fiel ihr Blick auf den Kalender, der neben dem Waschbecken war. Der 20. Kroko zuckte zusammen. Siedendheiß fiel ihr ein, dass ihre Regel seit fast zwei Wochen überfällig war. Ganz ruhig. Das hatte bestimmt nichts weiter zu bedeuten; bestimmt nur wegen der Aufregung... Kroko fühlte, dass sie sich erneut übergeben musste. Nach ein paar Minuten hatte sie sich wieder beruhigt. Sie rannte in ihr Zimmer, zog sich an und ging zur Tür. "Wo willst du denn hin?", fragte ihre Mutter. "Zur Apotheke.", antwortete Kroko kurz und hastete dann aus der Wohnung. Sie schloss sich ins Bad ein und las sich die Bedienungsanleitung durch. ,Wenn innerhalb weniger Sekunden ein blauer Balken erscheint, können Sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % davon ausgehen, dass sie schwanger sind.' Kroko schloss die Augen und klammerte sich am Toilettenrand fest. Bitte... bitte alles, bloss das nicht.... Sie lief zielstrebig die Straße entlang. Ihre Pumps klackerten, und ihre Haare flogen hinter ihr her. Sie hatte es erreicht. Das alte Lagerhaus, in dem sie sich immer mit ihrer Clique getroffen hatte. Vor drei Jahren hatte sie es zum ersten mal betreten, grell geschminkt und mit einem eiskaltem Blick, den sie heute noch beherrschte. Doch heute trug sie nur Mascara und Lippgloss. Keinen hellpinken Liedschatten, mit gelb-grünen Rändern und blauer Wimperntusche, keine grünen Fingernägel. Sie atmete tief durch und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Der Mascarer war vollkommen zerlaufen; die Tränen hatten schwarze Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Und dort standen sie. Genau wie vor drei Jahren. Lachten, machten Späße, schubsten sich herum. Plötzlich zeigte einer von ihnen auf sie, während Kroko weiter auf die Gruppe zuging. Sie begannen zu Grölen und Pfeifen. Als Kroko vor ihnen stand, klatschten sie. Eddie trat hervor, neben ihm das Mädchen mit den Ponchos. "Uh, wirklich, ich bin stolz auf dich! Das du dich noch hertraust ist wirklich eine Leistung.", sagte er hämisch. Die anderen aus der Clique lachten. "Wo haste denn den Krüppel gelassen?", fragte das Poncho-Mädchen. "Also... Sagt mir, holde Maid, was ist euer Begehren?", sagte Eddie und sein hämisches Grinsen wurde noch breiter. Croco schwieg. Warum bin ich eigentlich hier? Holte sie tief Luft. "Ich höre?" "Ich bin schwanger." Stille. Der bittere Nachgeschmack dieser Worte brannte auf Krokos Zunge. Eddie sah sie an und hob eine Augenbraue hoch. Dann lachte er. "Und jetzt? Was willst du von mir?" "Was ich von der will?!", fragte Croco wütend. Genau, was wollte sie eigentlich von ihm? "Falls du Geld willst, muss ich dich enttäuschen.", erklärte Eddie mit gespieltem Bedauern. "Und falls das alles war, kannst wieder gehen. Vielleicht spielt dein Krüppel-Freund ja den Daddy, was meinst du, Marlene?" "Marlene meint, Kroko sollte ihn mal fragen." Wieder lachte die Gruppe." Kroko starrte sie an. Warum war sie überhaupt hergekommen?" Jetzt mal im Ernst." Eddies Stimme war plötzlich hart geworden. Blitzschnell packte er mit einer Hand Croco Arm und zog sie zu sich. Mit der anderen drückte sie ihr Kinn hoch, so dass sie ihn ansehen musste. "Ich hoffe, du beseitigst diese kleine Unannehmlichkeit, und zwar schnell, sonst bekommst du nämlich Ärger mit mir, hast du das kapiert?" Dann holte er aus und schlug ihr uns Gesicht. Kroko ging zu Boden. Sie starrte zu Eddie hoch, stand auf und rannte mit wehendem Haar davon, das Gegröle der Gruppe im Ohr. Kroko lag in ihrem Bett und starrte an die Decke. Ihr Kopf war so leer... Sie stand auf und setzte sich an den Schreibtisch. Sie öffnete die unterste Schublade. Seit Jahren war sie verschlossen gewesen. Kroko holte den Inhalt heraus. Fotos. Von ihr und Eddie. Von der Clique. Von Cora, von Mutter. Von ihrem Vater. Ein Füller. Briefe von Eddie. Briefpapier. Ein rotes Band. Kroko legte die Fotos ordentlich zusammen und dann zur Seite. Vor lag das Briefpapier. Es waren weiße, unlinierte Blätter mit verschnörkelten Umrandungen. Sie zögerte einen Moment. Dann griff sie nach dem Füller und dem Briefpapier und begann zu schreiben. Es war fast ein Uhr nachts, als Kroko aufstand. Sie betrachtete sich im Spiegel. Dann zog sie sich an. Sie nahm die Fotos vom Schreibtisch und blickte auf fünf Briefumschläge. Einen für Mutter. Einen für Cora. Einen für Micha. Einen für Rolle. Und... einen für Eddie. Dann verließ sie leise ihr Zimmer. Sie wollte gerade zur Tür hinaus gehen, als sie aus Coras Zimmer ein Schluchzen vernahm. Sie sah nach. Coras saß in ihrem Bett und weinte. "Psst, Cora, was ist denn?", fragte Kroko leise. "Ich hatte einen schlimmen Traum...", flüsterte Cora. "Ich bin aufgewacht und du warst nicht da, Jule!" "Psscht!", sagte Croco gebieterisch. Dann setzte sie sich an den Bettrand. "Das war nur ein Traum. Manchmal träumen wir Menschen schlimme Sachen. Dann haben wir große Angst. Aber... Wenn wir aufwachen, dann ist der Albtraum für immer vorbei!" "Wirklich?" "Ja. Ich bin immer da. Das weißt du doch, meine Kleine." Cora nickte. Dann musterte sie Jule. "Warum bist du angezogen, Jule?" "Ich muss noch etwas erledigen. Schlaf jetzt.", flüsterte Kroko. Sie küsste ihrer kleinen Schwester auf die Stirn. Dann verließ sie die Wohnung und lief auf die Straße. Sie fühlte die Fotos in ihrer Jackentasche. Sie lief, lief immmer weiter. Ihre Gedanken waren immer noch so leer... Kopf hämmerte vor Schmerz und ihr war schlecht. Endlich war sie angekommen. Ein alte Brücke. Ja, sie kannte die Brücke. Hier hatte sie sich zum ersten mal mit Eddie getroffen. Hier war sie mit ihrem Vater sooft gewesen. Hier... Hier hatte alles begonnen. Langsam trat Kroko auf das Geländer zu. Mit jedem Schritt begann ihre Gedanken schneller zu kreisen. Wenn du hier wohnen willst.... könntest sofort anfangen... Krüppelfreund... sonst bekommst du ein Problem mit mir, klar.... Hör mir zu, Jule... Bist du jetzt Jule zwei? Kroko legte die Fotos auf das breite Geländer. Dann begann ihr Körper, sich wie von selbst zu bewegen. Blauer streifen... 95 %... Jahrmarkt... Autoscooter.... Eddie... die Clique... Micha.... gelbe Soße.... Es war alles so... so leicht von hier oben... man konnte fast die ganze Stadt sehen. Auf einmal durchströmte ein warmes Gefühl Krokos Körper. Sie wippte leicht hin und her. Vater... vor drei Jahren... grelle Schminke... Ich schminke mich, Jule! ... Und jetzt... für einen Moment wurde alles um sie herum ganz unscharf. Ja... Leg dich wieder hin. Wenn wir morgen aufwachen... dann... Kroko konnte nichts mehr erkennen.. alles um sie herum wurde schwarz... die Übelkeit... Schmerz... Schwarz... Stille... Blondes, wehendes Haar... Dunkelheit. Plötzlich war der Schmerz weg. Ein Windstoß wehte die Fotos von dem Geländer. Sie fielen... in die Dunkelheit. "Wenn wir aufwachen, dann ist der Albtraum für immer vorbei!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)