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Lights of Eden

The Envoy
von

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Auf der Flucht

Wie definiert man Frieden? Ist Frieden ein Zustand, also die Zeit in der kein Krieg herrscht oder ist er ein Gefühl, das sich aus dem Inneren jeder glücklichen Seele entwickelt?

Vielleicht ist er aber auch etwas Anderes. Etwas, dass die Menschen erst verstehen müssen, bevor sie es sehen können.

Den vollkommenen Frieden wird es erst an dem Tag geben, an dem das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wieder hergestellt ist. Erst dann wird es der Menschheit erlaubt sein nach dem Tode durch das Tor von Eden zu treten und im Paradies Gottes zu leben.

So lautet die Prophezeiung.
 

I. Auf der Flucht
 

Es war dunkel. Schon seit einigen Stunden hatte sich der Schleier der Nacht über dem Land ausgebreitet. Ein kalter Nordwind strich über die zerstörte Straße und lies das verdorrte Gras an den Bordsteinrändern erzittern. Der Himmel hatte eine grausige Farbe angenommen. Zwischen dem nächtlichen Schwarz mischte sich blutrotes Licht und riesige graue Staubwolken zogen heran. An beiden Seiten der breiten Straße standen verkohlte und bis auf die Grundmauern zerschmetterte Häuser. In manchen loderten noch kleine schwache Flämmchen und verbreiteten ein schummriges Licht. Das Einzige was von den Baumalleen und Gärten übrig geblieben war, war ein Haufen heißer dampfender Asche. Es roch nach Staub und verbranntem Holz. Eine Stille hatte sich über der ganzen Vorstadt ausgebreitet, die jetzt von einer Wolke der Zerstörung und des Todes umgeben war. Als einziges Geräusch war ein fernes Dröhnen zu hören, das eindeutig von einem der riesigen Mutterschiffe kam, von denen schon allein ein einziges so groß war wie der US-Staat Ohio.

Plötzlich löste sich eine Gruppe dunkler Gestalten aus dem Nebel. Weitere folgten. Es waren Menschen. Flüchtlinge, die versuchten aus der Innenstadt zu entkommen, wo der Angriff am stärksten gewütet hatte. In ihren Gesichtern spiegelte sich der Schmerz und die Hoffnungslosigkeit derer wieder, die schon gestorben waren und dennoch das scheinbar leichtere Los gezogen hatten.

Die Flüchtlinge trugen Koffer. Manche zogen auch Wagen hinter sich her, in denen sie ihre toten Angehörigen transportierten. Ein schrecklicher Anblick. Viele von ihnen waren verletzt und nur wenige bekamen Hilfe. Jede paar Meter kamen sie ins Stolpern, fielen hin, standen wieder auf, um dann ein weiteres Mal in den Dreck zu fallen. Eine krank wirkende Frau aber stand nicht mehr wieder auf, sondern blieb im Straßengraben zwischen den Trümmern liegen, ohne wirklich beachtet zu werden. Jedes Gesicht war starr nach vorne gerichtet. Einzelschicksale spielten keine Rolle mehr. Das Einzige was jetzt noch zählte war das eigene Leben.

Die Menschenmasse reichte bis hin zum Horizont, doch so viele es auch waren, dies war nur ein sehr kleiner Teil derer, die ursprünglich einmal in Molington-Town gelebt hatten. Die Stadt war erst vor drei Jahren, also 2149 entstanden. Der Gründer James Molington hatte immer viel Wert auf Ordnung und Sauberkeit in der City gelegt, doch seitdem er am 17.April letzten Jahres das Zeitliche gesegnet hatte, hatte sich eigentlich fast niemand mehr um dieses Anliegen gekümmert. Seit zwei Tagen war dies sowieso nicht mehr von Belang. Schon Wochen vorher hatte man überall auf der Welt Nachrichten empfangen können, in denen es hieß die Erde werde von unbekannten Flugobjekten angegriffen. Natürlich hielt es die halbe Menschheit ersteinmal für einen miesen Scherz, aber bald stellte sich heraus, dass es alles andere war, als nur eine raffinierte Lüge der Medien um mehr Einschaltquoten zu bekommen.

Der träge Fluss aus Hoffnungslosigkeit und Angst bewegte sich nur langsam und mit jedem Schritt schwanden die Kräfte. Die Zeit verging und immer wieder sackten Menschen einfach in sich zusammen und blieben am Straßenrand liegen. Langsam löste sich der Verband auf. Während die jungen Leute weiter vorne gingen, quälten sich in den hinteren Reihen die Alten und Schwachen. Sie hatten sich schon längst mit der Gewissheit abgefunden, dass sie den nächsten Morgen nicht mehr erleben würden.

Mitten in einer der vorderen Reihen kämpfte ein Mann ende zwanzig mit seinen Gefühlen. Sein dunkelbraunes ausgefranstes Haar fiel ihm in dicken Strähnen in sein Gesicht, das mit einer Mischung aus Dreck und Blut bedeckt war. Der Mann trug eine zerschlissene Jeans und ein Hemd, das früher einmal weiß gewesen war. Die schwarzen Wildlederschuhe waren an allen Seiten zerkratzt und der tonfarbene Rucksack hing staubig an der rechten Schulter hinab. Der Mann drehte leicht den Kopf nach links. Was er sah, waren die zerstörten Bauten der Vorstadt von Molington, die Überreste von Autos und Geräten und dazwischen -- leblose Körper und Menschen, die immer noch verzweifelt um ihr Leben kämpften. Wie gerne würde er ihnen jetzt helfen, aber er konnte nicht. Sein Körper hatte sich gegen ihn verschworen und seine Beine trugen ihn immer weiter. Er war auf der Flucht, wie alle anderen.
 

Mitten in der Nacht hatte das Grollen und Ächzen aus der Ferne nachgelassen und die Flüchtlinge schlugen ein Lager auf. Doch nicht alle wollten sich ausruhen. Getrieben von der Angst vor einem neuen Angriff, gingen sie weiter. Der junge Mann sah ihnen kopfschüttelnd nach. Er konnte sie zwar zum Teil sehr gut verstehen, denn auch er hatte große Furcht, aber allerdings musste man in solchen Situationen einen kühlen Kopf behalten.

Jonathan Stalker hatte schon oft in der Klemme gesteckt. Viel zu oft, dachte er. Doch er musste zugeben, dass, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, dies das Schlimmste war, das er bis jetzt in seinem kurzen Leben miterleben musste. Auch er hatte die Nachrichten am Anfang für einen kuriosen Scherz gehalten und sich vor dem HoloTV fast vor lachen übergeben, aber als er am Morgen des 5. Septembers schlaftrunken aus dem Fenster seines im 27. Stock gelegenem Zweiraumapartment gestarrt hatte, musste er ersteinmal dreimal den Kopf gegen die kalte Metallwand hämmern um zu begreifen, dass dieses riesige Dings, das über der Stadt schwebte wie ein mächtiger Raubvogel auf der Jagd, tatsächlich da war und nicht nur eine verspätete Folge des Cocktails, den er sich am vorherigen Abend gleich gläserweise eingefüllt hatte. Danach hatte er die ganze Szenerie ehrfürchtig beobachtet, genauso wie alle anderen, und gleichzeitig verstanden, dass es für einen Gag der Medienwelt eine Nummer zu groß war. Das größte Hologramm, das je projiziert wurden war, war eine naturgetreue Nachbildung einer Hyperlinerakete aus den 30ern. Sehr beeindruckend, wie Jonathan fand. Aber das, was nun auf sie zukam, war mindestens fünfzigmal so groß. Nach dieser phänomenalen Feststellung brach die Panik in ihm aus und er versuchte sich in Gedanken zu beruhigen. Vielleicht war es gar nicht feindselig? Vielleicht wollten sich die Außerirdischen nur mit den Menschen anfreunden?

Klar, und dazu bringen sie ihre Kriegsschiffe mit!, mischte sich ein besonderes stechender Gedanke ein.

Kriegsschiffe? Das Wort hallte in Jonathans verkaterten Gehirn wieder. Wollten sie Krieg führen? Wenn ja, dann hatte die Menschheit keine Chance. Widerwillig starrte er wieder zu dem monströsen Gebilde auf, das sich nun langsam vor die Sonne schob. Das Material aus dem es gefertigt worden war, hatte einen merkwürdigen Glanz. Dieses Metall war seltsam oder, was zutreffender war, fremdartig. Minuten vergingen, ohne dass sich etwas bewegte. Gut, überlegte er, Gut. Dann bleibt vielleicht noch Zeit zum Sachenpacken.

Im nächsten Moment kam ihm der Gedanke ziemlich bekloppt vor und er entschied sich vorher noch etwas normales anzuziehen, denn er stand immer noch im Pyjama in der Mitte seines Zimmers. Während er hinüber zum Kleiderschrank hechtete, fuhr er mit der Hand über den schmalen Schlitz des Bewegungssensors des HoloTV´s und schaltete somit das Gerät an. Gespannt schaute er auf die winzigen Partikel, die sich nun in der Luft zu einem Bildschirm zusammenfassten. Er streifte sich die Jeans über die Knie, wobei er auf der Kante seines Wandbettes Platz nahm. Er wollte unbedingt Einzelheiten über seine jetzige Situation in Erfahrung bringen und in diesem Fall war das TV seine einzige Informationsquelle, denn er glaubte kaum, dass seine allmorgendliche Zeitung an diesem Tag noch ankam. Doch das Einzige, was auf dem Hologrammbildschirm zu sehen war, war eine Übertragungsstörung in den Farben Grau und Schwarz. Das Raumschiff blockierte alle Sequenzen. Verstört und noch panischer als zuvor schaltete Jonathan den Apparat ab und widmete sich nun hektisch seinem weißen Hemd. Eigentlich zog er jeden Samstag seinen Universalsuite an, aber dieses futuristische Modeteil war viel zu kompliziert und nahezu ungeeignet für einen schnellen und erfolgreichen Abgang. Also griff er auf seine alten Stücke zurück und versuchte krampfhaft alle Knöpfe zu schließen, belies es dann aber bei drei und schnürte zügig seine Schuhe. Danach sprang er von der Bettkante auf und stopfte alles, was ihm unter die Linse kam in seinen ausgebeulten Markenrucksack. Als er sich diesen dann vollbeladen auf den Rücken schwang, passierte etwas. Ein silbriges Licht schoss plötzlich aus dem unteren Teil des Flugobjektes, das sich nun direkt über dem Stadtzentrum befand. Als es die Erde erreichte, konnte Jonathan ein leichtes vibrieren spüren, das dann zu einem lauten Dröhnen anschwoll und näher zu kommen schien.

"Scheiße!" Schnell löste er sich aus seiner Schreckstarre und stürzte hinaus auf den Flur.

Er bemerkte wie die Druckwelle 27 Stockwerke unter ihm vorbeiraste und er sah wie die Lichter im Flur der Reihe nach ausfielen. Dieses Ding hatte einen Stromausfall verursacht. Keuchend und voller Angst rannte er zu den Fahrstühlen, doch dort fiel ihm ein, dass auch diese nicht mehr funktionierten. Jetzt drehte er völlig durch. Er raste in Richtung Treppenhaus und stemmte sich gegen die elektronische Gleittür, die ihm seinen Fluchtweg versperrte. Es gelang ihm seine Finger mit einiger Kraft in den Spalt zu schieben und somit die Tür zu öffnen. Er rannte auf den stillstehenden Rolltreppen bis in das Erdgeschoss. Er hatte seinen Wagen direkt vorm Eingang geparkt. Abermals zwängte er sich durch ein paar Gleittüren, ohne dass ihm auch nur ein menschliches Wesen unters Auge gekommen wäre. Doch als er auf die Straße hinaus stürmte, wäre er fast von einem Fahrzeug überrollt worden. Die gesamte HighHallStreet glich einer bunten Karnevalsveranstaltung. Der Boden hatte sich nach oben gewölbt und der Asphalt war an allen Stellen gerissen. Überall auf den zerstörten Strassen, die stockwerkähnlich hinauf in den Himmel führten, rannten die Menschenmassen schreiend um ihr Leben. Autos hatte die Welle zu Boden gerissen und kleine Wohnblöcke waren durch die gewaltige Wucht einfach in sich zusammengefallen wie Kartenhäuser. Doch wie ein Wunder war Jonathans kugelförmiger Wagen verschont geblieben und parkte nach wie vor rechts neben dem Eingang zum Block 47. Bis auf ein paar Kratzer im dunkelblauen Lack schien alles noch funktionstüchtig zu sein. Vor dem kleinen X5-Xilocar war eine meterhohe metallene Ampelsäule auf die Straße gekippt und blockierte so die Ausfahrtsmöglichkeit. Jonathan hatte sich hinter das U-förmige Steuer geklemmt, löste die Handbremse, legte sämtliche Stabilisationshebel auf dem Armaturenbrett um und schmiss den Rückwärtsgang ein. Das wohlbekannte surren des Xilo-Antriebes drang an seine Ohren und er fühlte sich auf eine seltsame Weise beruhigt. Mit einem kleinen Ruck rollten die Kugelräder über heruntergekrachte Stahlträger und Betonklötze. Das X5 bestand nur aus vier Kugeln. Die Größte bildete das Cockpit. Die anderen drei kleineren waren so an deren Unterseite angeordnet, dass das Gefährt optimal ausgeglichen war. Sicherheit wurde bei den neuen Modellen groß geschrieben.

Er schaltete ein paar Gänge hinunter und trat dann aufs Gas. Nun raste er durch die innere City und versuchte verzweifelt jeder Menschenseele auszuweichen, doch er schwor sich bereits im Inneren, dass er es auf Opfer ankommen lassen würde um sein eigenes kleines Leben zu retten, das für manche Menschen zwar bedeutungslos gewesen wäre, aber es war nun mal sein Leben. Plötzlich war er dazu gezwungen einen 360º Schlenker mit akrobatischen Ausmaßen zu vollführen, da er nur so einem ihm von der Seite entgegenkommenden Schweblaster ausweichen konnte. Während er sich drehte, sah Jonathan wie die drei Container knapp an ihm vorbeischwebten und tratt gleich wieder in die Vollen, nachdem die Gefahr vorüber war. Leider konnte er dem Hindernis, das unmittelbar danach auf ihn zuraste nicht ausweichen. Der kleine Privatgleiter vom Typ B erwischte das Auto an der Längsseite und lies es durch die Luft wirbeln. Mit einem lauten Krachen prallte das X5-Xilocar auf den gewölbten Asphalt auf. Einige Menschen schrien erschreckt auf und hechteten zur Seite als der Motor mit einem dumpfen Dröhnen implodierte. In allen Tönen fluchend stieg Jonathan aus dem stark lädierten Wagen aus. Er sah an sich hinab. Keine offenen Wunden, nur seine Jeans war im Eimer und sein Hemd hatte ein paar Knöpfe weniger. Doch als er die Hand an seine Stirn hob um seinen Kopf zu untersuchen, schreckte er schmerzhaft zurück. Er starrte seine Hand an und sah wie ein kleiner roter Tropfen an seinem Zeigefinger hinunter lief. In seinem ganzen Leben war er nie verletzt gewesen. Schockiert und fasziniert zugleich, fing Jonathan an zu lächeln. Doch sein Grinsen wandelte sich fast nahtlos in ein Schluchzen um, denn es war ihm schlagartig wieder klar geworden, dass er sein Auto gerade an eine Mauer gesetzt hatte und nun ohne Fortbewegungsmöglichkeit dastand. Langsam wusste er nicht mehr, ob er lachen oder weinen sollte, also tat er beides. Gleichzeitig. Er stand vor dem rauchenden Schrotthaufen, der einmal ein sündhaft teueres X5-Xilocar gewesen war und raufte sich entnervt die Haare. Kurz darauf verfiel er wieder ins Fluchen. Jemand stieß ihn hart zur Seite, sodass Jonathan den Halt verlor und zu Boden stürzte.

"Eh, du Mistkerl!", rief er der flüchtenden Person hinterher, "Was soll der Scheiß?!"

Er hatte sich halb aufgerichtet um besser sehen zu könne, als er hinter sich plötzlich etwas hörte. Blitzartig drehte er sich um und sprang Sekunden später erstaunt auf. Hinter ihm kamen fünf (oder mehr) riesige Panzerfahrzeuge angerollt und trieben die Menschen vor sich her wie Schafe.

"Kommen sie um uns zu retten?", versuchte Jonathan eine Frau mittleren Alters zu fragen. Diese blickte ihn aber nur schockiert an und verschwand genauso schnell wie sie aufgetaucht war. Langsam bekann auch der junge Mann wieder zu Sinnen zu kommen und ihm wurde bewusst, dass er fehl am Platze war. Also schloss er sich einer Gruppe Leuten an, die in Richtung Vorstadt flohen. Nun war dieses Ding, nennen wir es Raumschiff, Sache des Staates und jeder Mensch stellte ein potenzielles Hindernis für die Army dar.

Während Jonathan die Straße hinunter lief, drehte er sich immer wieder um. Die Kriegsmaschinerie war inzwischen in Stellung gebracht worden und die langen Faserrohre richteten sich gen Himmel. Binnen Stunden hatte sich die City von Molington-Town in ein Schlachtfeld verwandelt. Mit lautem Krachen und Zischen kollidierten die tiefroten Energiestrahlen mit der metallenen Oberfläche des fremden Raumschiffes und wurden zurückgeschmettert. Dicht neben den Panzern schlugen die Geschütze wieder ein, abgelenkt von dem seltsamen Material. Das Feuer wurde eingestellt und man erwartete gespannt die Reaktion der Feinde. Jonathan war inzwischen am Stadtrand angekommen und stehen geblieben um das Geschehen zu beobachten. Mit einem lauten Dröhnen (so laut, dass es Jonathan noch minutenlang in den Ohren klingelte) erwiderte die gigantische Himmelskonstruktion das Feuer. Diesmal war der Strahl, der aus dem Unterleib des Schiffes hervorschoss, glühend rot und traf wie ein riesiger Feuerball auf der Erde auf. Danach rauschte die Wand aus Feuer und Staub in alle Richtungen über die Stadt hinweg. Jonathan Stalker konnte sich nur noch mit einem gekonnten Sprung seitwärts hinter ein umgestürztes Taxi retten. Dem Taxi riss es das Dach weg, aber den jungen Mann verschonte die Todeswelle größtenteils. Verblüfft musste er dennoch bemerken, dass es sich bei dem Schatten, der gerade an ihm vorbei geflogen war, um eines der stählernen Panzerfahrzeuge gehandelt hatte. Dieses riss hinter ihm einen mächtigen Krater in den Beton. Entsetzt schrie Jonathan auf und krallte sich noch fester an die freigelegte Kugelmotorik des Taxis.

Als der Gegenangriff vorüber war, stand Stalker auf zitternden Knien. Kaum war er hinter seinem Schutz wieder aufgetaucht, riss er die Augen auf. Kein Stein lag mehr auf dem anderen. Die gewaltigen Architekturbauten hatte es schlichtweg umgehauen, die Straße sah aus als wäre sie von unzähligen Maulwürfen umgegraben worden, die Bäume in der Fußgängerzone waren entwurzelt und ausgebrannt, die Autos waren meterweit durch die Luft geflogen, von Menschen keine Spur. Das weiß-schwarze Taxi hatte dem Ganzen nur standgehalten, weil es sich zwischen einer Autogarage und einem Wohngebäude, die jetzt ebenfalls nur noch zur Hälfte existierten, verkeilt hatte.

Ich hätte jetzt tot sein können! Ich hätte jetzt tot sein können!, ging es Jonathan durch den Kopf, Verdammte Scheiße! Ich hätte fast ins Gras gebissen!

Während er auf die rauchende Hülle der zerstörten Gefechtsstation starrte, fiel ihm auf, dass ein weiterer Angriff des Raumschiffes nicht unwahrscheinlich schien. Er blickte ein weiteres Mal in Richtung Raumschiff, drehte sich dann einmal im Kreis und stürmte davon.

Um ihn herum schlossen sich andere Überlebende zu kleineren Gruppen zusammen und irgendwann war eine riesige Menschenkarawane entstanden, die von der Mitte der Stadt bis hin zum Horizont reichte.
 

Und so war er hier gelandet. Irgendwo in der Vorstadt von Molington-Town in einem provisorischen Flüchtlingslager. Das riesige Objekt hatte den Himmel verlassen nachdem es die gesamte Stadt zerstört hatte. So musste es auch in all den anderen Städten passiert sein. Dennoch hatten seltsam viele Menschen überlebt. Es schien fast so, als ob allein die massiven Bauten das Ziel der Angreifer gewesen seien.

Jonathan drehte sich um. Hinter ihm hockte ein älterer Herr auf einem abgebrannten Baumstumpf und horchte in die endlose Dunkelheit. Er hatte graues, lichtes Haar und eine Brille saß ihm schiff auf der Nase. Jonathan wusste nicht so recht wie er sich verhalten sollte, aber er brauchte jemanden mit dem er reden konnte, sonst, so glaubte er, würde er wohlmöglich durchdrehen.

"Was glauben Sie, wollten die von uns?", sprach er den alten Mann an.

Dieser fuhr erschreckt zusammen. Er blickte Jonathan Stalker durch die verdreckten Brillengläser hart in die Augen und antwortete dann: "Keine Ahnung."

Jonathan, sichtlich enttäuscht durch diese Antwort, schwieg eine Weile verunsichert und sagte dann bestimmt: "Wir werden alle sterben."

"Nein, mein Junge.", erneut drehte sich der Mann zu ihm um, "Wir sind schon tot!"

New Atlanta

II. New Atlanta
 

Es war kalt. Keiner der Großstädter war es gewöhnt unter freiem Himmel zu schlafen. Auch Jonathan nicht. Die Kälte war ihm schon viel zu tief in die Glieder gekrochen, als dass er noch hätte schlafen können. Er hatte sich hinter dem verkohlten Baumstumpf verkrochen, auf dem er vorher gesessen hatte und starrte schon seit Stunden schweigend in die Flammen des Lagerfeuers, das sie gemeinsam errichtet hatten. Obwohl doch fast kein brennbares Holz mehr zufinden gewesen war.

Es war seltsam, fand Jonathan, dass gerade er überlebt hatte, da die Todeswelle in seiner unmittelbaren Nähe ausgebrochen war. Sehr seltsam. Normalerweise hätte allein der Druck ausgereicht, ihn in der Luft zu zerreißen.

Stalker drehte sich vom Feuer weg um seinen Rücken zu wärmen. Plötzlich bemerkte er, dass er nicht der Einzige war, der nicht schlafen konnte. Der alte Mann von vorhin, starrte ihn durchdringend an. Jonathan zuckte zusammen als ihn der Kerl von oben herab durch seine glasigen Augen anblickte.

"Meine Güte, haben Sie mich erschreckt!", zischte er den Greis an.

"So ist das Leben.", sagte dieser, "Besser du gewöhnst dich dran!"

Jonathan schnaubte verächtlich. "Warum sind Sie wach?"

"Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund wie du."

"Weil Ihnen kalt ist?"

"Nein." Der Alte lächelte. "Weil ich dir Hoffnung geben will und muss."

"Was?!" Jonathan verstand die seltsame Art des Mannes nicht.

"Du weißt was ich meine. Du machst auf mich einen sehr instabilen Eindruck, mein Freund. Hast du Familie?"

"Was soll ich sein? Instabil?!"

"Beantworte meine Frage!"

"Nein, habe ich nicht!!!", fuhr Jonathan den Alten an. Das Gespräch verlief nämlich langsam in eine ungewollte Richtung.

Jonathan hatte schon seit er 15 war, versucht möglichst viel Abstand zu seiner Verwandtschaft zu gewinnen. Jedes Mal wenn er jetzt in Familienerinnerungen schwelgte, lief es ihm kalt über den Rücken. Seine Eltern allein waren schon ein Fall für sich. Seine Mutter: Immer darauf bedacht, dass ihrem einzigen Söhnchen auch ja nichts passierte. Zum Beispiel hätte er sich ja in seinem Kleiderschrank versehendlich an einem Gürtel aufhängen können oder von seinem ausklappbaren Wandbett zerquetscht werden können, etc. und Jonathan hätte sich nach den hysterischen Rettungsanfällen seiner Mutter sogar freiwillig unter das Bett gestellt und den kleinen Display an der Seite betätigt. Möglichst schnell und schmerzlos.

Jonathans Vater hingegen war Ganztagsarbeiter bei einem altmodischen Bauunternehmen und lies sich nur selten blicken, was häufig zu Zankereien zwischen ihm und seiner Frau führte. Sie fühlte sich überfordert, er fühlte sich untergebuttert und Jonathan fühlte sich einfach nur genervt. Das war vielleicht auch der Grund, warum er sich, sobald er 18 war, nach Molington-Town abgesetzt hatte.

Bei diesem Gedanken musste er laut aufseufzen. Dabei schielte er zu dem Mann hin, der immer noch neben ihm saß und bemerkte, dass dieser von einem Ohr zum anderen grinste.

"Ja, ja. Mit der Familie ist das so eine Sache.", sagte der alte Herr, "Ich kenne das."

"Ich dachte Sie wollten mir Hoffnung geben und mich nicht zum Selbstmord anstacheln." Stalker drehte sich leicht zur Seite um sich ein wenig abzulenken.

"Wie heißen Sie eigentlich?", fragte er schließlich.

"Thomas Hikes ... Kannst mich Thomas nennen."

"Aha. Thomas." Jonathan runzelte die Stirn. "Sagen Sie mal, Thomas. Was werden Sie jetzt tun? Wohin werden Sie gehen?"

Hikes schob seine Hand in die kleine Brusttasche seines Jacketts und holte einen flachen Display heraus. Ein Satellitenatlas. Er tippte den Bildschirm an und lies in somit kurz aufflackern. Dann drückte er seine Lippen an das winzige Mikro und sprach das Suchwort hinein.

"New Atlanta."

3 Sekunden Wartezeit und man hatte eine detailgetreue Ansicht der gesuchten Stadt in Echtzeit.

Ein wirklich beeindruckendes Gerät, dachte Jonathan.

Aber diese Stadt sah mittlerweile bestimmt genauso aus wie alle anderen, denn auch New Atlanta gehörte zu den fünf Megastädten Eurasias. Sie war die jüngste neben Helenenburg, Hieiko-Chaba, Porto Macira und St. Elias und lag ziemlich weit im Südosten der Kontinentalplatte.

Jonathan war noch nie dort gewesen, da er New Atlanta mit dem Auto, von Molington-Town aus, erst in zwei Tagen hätte erreichen können und die Preise einer Übernachtung in einem der sündhaften teuren Starlight-Hotels sowieso sein Budget um mindestens das dreifache überstiegen. Und aus einem weiteren Grund: Sein hart verdientes Arbeitslosengeld (auch bekannt unter dem angsteinflössenden Namen "Hartz 21") landete nämlich fast täglich in den Kassen diverser Zuhälter, die einem dann natürlich freundlich grinsend eines ihrer Freudenmädchen für 56 Eurachips pro halbe Stunde unterschoben.

Jonathan verstand es zwar den meisten Frauen den Kopf zu verdrehen, aber fand immer nach wenigen Tagen heraus, dass seine ach so große Liebe, die er aufgegabelt hatte, doch nicht seinen Wünschen entsprach.

Er war jemand, der ständig nach der Richtigen suchte, aber doch nicht umhin konnte, jedes weibliche Wesen, das nicht bei drei auf den Bäumen war, hemmungslos anzugraben.

Deswegen hatte er sich nach einiger Zeit auf eine eher unverbindlichere Sache festgelegt: Auf die käufliche Liebe.
 

Nachdenklich betrachtete er den kleinen Bildschirm, als ihm plötzlich etwas auffiel.

"Aber das ist ja unmöglich!" Jonathan riss die Augen auf.

"Ja, nicht wahr?", sagte der Alte nachdenklich, "Ich konnte es auch kaum glauben, dass auch nur eine Stadt völlig verschont geblieben ist. Ich habe vorhin ein paar Leute darüber reden gehört und sofort alles nachgeprüft."

"Ich versteh das nicht! Wie kann das sein?"

"Das weiß keiner. New Atlanta verfügt, meines Wissens nach, über keine Verteidigungssysteme."

Der Satellitenatlas gab ein leises Knistern von sich und die Grafik verschwand.

"Auch das noch!" Argwöhnisch starrte Hikes gen Himmel. "Jetzt haben sie sogar schon die Navigationssatelliten erwischt."

"Wer sind die eigentlich? Und was wollen sie?", fragte Jonathan, der schon den halben Tag auf eine solche Gelegenheit gewartet hatte.

"Du wiederholst dich, mein Junge!" Thomas richtete seinen Blick wieder auf Jonathan. "Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung von alledem."

Ein bedrückendes Schweigen tratt ein. Schließlich entschied sich Jonathan Stalker zu schlafen und rollte sich wieder hinter den Baumstumpf zusammen.

Dennoch sagte er leise, doch deutlich vernehmbar: "Ich wette kein Mensch hat damit gerechnet."

"Das bezweifle ich doch stark!", sagte der alte Mann und lies ein empörtes Glucksen vernehmen, bevor er sich selbst zu seinem Schlafplatz begab.

Jonathan jedoch wollte nicht weiter über die seltsamen Sätze des Mannes nachdenken, denn er brauchte seine Kraft.

Es sollte eine kurze Nacht werden.
 

Am nächsten Morgen rappelte Jonathan sich verschlafen auf. Mitten in der Nacht war das Feuer erloschen und ihm ging es entsprechend schlecht. Schockiert musste er auch noch feststellen, dass die meisten Menschen schon längst aufgebrochen waren. Die kleine Gruppe, die ihm noch am nächsten war, stand schon längst auf dem kleinen Hügel, der 500 m von Stalker entfernt war.

Er keuchte und suchte hastig am Boden nach seinem Rucksack, aber da war er nicht mehr. Als sich Jonathan wieder aufrichtete sah er ihn. Thomas Hikes hielt ihm den Rucksack direkt unter die Nase.

"Na komm schon! Wir sind schon spät dran!"

"Warum haben Sie mich nicht geweckt?", schnauzte Stalker und griff energisch nach seinem Gepäckstück.

Thomas hatte ein liebevolles väterliches Lächeln aufgesetzt. Dieses tröstete Jonathan urplötzlich über die ganze Sache hinweg. Ein seltsames Gefühl, dachte er.

Er fühlte sich das erste Mal seit einigen Jahren wieder geborgen.

"Ach, ist ja auch egal!" Schnell hängte er sich den Rucksack über seine Schultern.

Hikes gab ihm einen sanften Schubs nach vorne. "Wir müssen uns beeilen. Wahrscheinlich werden wir Atlanta City erst in einer Woche erreichen."

"Was?! Solange?" Jonathan starrte Hikes entsetzt an.

"Hör auf zu mäkeln! Geh schon!"

Immer noch reichlich geschockt stolperte Stalker über die Landstraße. "Und was sollen wir solange essen und trinken?!"

"Frag noch mal, wenn du Hunger hast, Kleiner!"

"Aber ich hab doch ... Ist ja schon gut!"

Der strenge Blick von Thomas brachte Jonathan zum schweigen. Irgendwie bekam er plötzlich das Gefühl, dass er besser die Klappe halten sollte.
 

Der strahlende Punkt am Himmel ging langsam unter. Es war wieder Abend geworden und ein komisches Knurren hallte die Ebene entlang.

"Scheiße, hab ich einen Hunger!" Jonathan hielt sich seinen revolutionierenden Bauch.

"Tja", sagte Thomas und stellte seinen Koffer ab, "Da du das jetzt schon zum zweiundfünfzigsten Mal gesagt hast, muss ich dir ja mal Gehör schenken."

"Schön, aber was sollen wir hier draußen zu essen finden?" Stalker stemmte die Hände in die Seiten und suchte die Ebene nach Essbarem ab.

"Überlass das ruhig mir." Thomas löste die Schnallen an seinem Koffer und öffnete ihn.

Eine Weile lang kramte er darin herum und holte schließlich eine längliche Metallstange heraus. Ein Elektroschocker.

"Was zum Teufel wollen Sie damit?!"

"Ich werde versuchen Fleisch aufzutreiben, falls ich nichts finden sollte, dann haben wir immer noch dieses komische Gras da." Hikes deutete auf die vertrockneten und halb schwarzen Pflanzenbüschel.

Jonathan vertraute dem alten Mann, aber er fragte sich auch, ob Thomas auf Grund seines Alters in dieser Mondlandschaft fündig werden würde und rupfte deshalb schon einmal einige Grashalme heraus, um sie sorgfältig auf einen Haufen zu legen.

Hikes war schon seit einigen Minuten hinter einer Mauer aus Sand, Asche und Gestein verschwunden, als Jonathan plötzlich ein seltsam entfremdetes Geräusch hörte. Es klang so ähnlich wie das Schreien eines Babys.

Er wird doch nicht, dachte Stalker panisch, griff automatisch in die vordere Tasche seines Rucksackes und schloss seine Finger fest um den Griff seines Materiemessers.

Wieder ertönte der spitze Schrei und aus einer hervorgewirbelten Sandsäule tratt Thomas hervor. Er hielt etwas Kleines, Zappelndes in der Hand. Etwas Pelziges.

"Was ist das?", fragte Jonathan mit etwas hysterischer Stimme, als ihn das vermeintliche Ding zornig aus seinen Augen anfunkelte.

"Das, mein lieber Junge," Thomas hob das strampelnde Etwas hoch. "ist unser Abendessen."

"Aber ... aber ist das nicht eine Katze?" Stalker wich langsam zurück.

"Ich bin beeindruckt! Du scheinst ja doch nicht ganz auf der Strecke geblieben zu sein."

"Das ist unmöglich! Diese Tiere können auch in der Wildnis überleben? Und ich dachte sie bräuchten bestimmte Bedingungen."

Jonathan kannte diese Spezies nur aus dem Schulunterricht. In diesem Jahrhundert war es fast unmöglich geworden sich ein Haustier zu halten. Diese verwöhnten Biester vertrugen die Tablettennahrung nicht und mussten so von teuren Fleischrestbeständen ernährt werden. Deshalb wurden sie meist nur von reicheren Familien gehalten.

"Was guckst du so?!" Thomas Hikes packte die Katze noch fester am Nackenfell, was ziemlich brutal aussah.

"Es ist nur ... Kann man das essen?"

"Ich weiß nicht, aber wenn wir das Fell abgezogen haben, müsste es gehen." Der alte Mann streckte Jonathan die Katze entgegen. "Hier, halt mal! Ich geh Feuerholz suchen."

Stalker packte das Tier zaghaft zwischen den Hinter- und Vorderläufen und hielt es, soweit es ihm seine Arme erlaubten, vom Körper weg.

So verharrte er einige Minuten, bis er ungeduldig in die Dämmerung hinaus fragte: "Dauert das noch lange? Sie könnten mir ja mal helfen!"

Nichts.

"Na klasse!", murmelte er schließlich resignierend.

Das kleine Monstrum in seinen Händen fauchte, hielt aber still.

"Na gut." Jonathan kniete sich hin und setzte die Katze auf seinen Schoß. "Du wolltest es ja nicht anders."

Seltsamerweise ergriff sie nicht die Flucht, sondern beschnupperte stattdessen ihr Gegenüber.

"Nein, nicht!" Doch Jonathans Abwehrversuche zeigten keine Wirkung. Sie trieben das verspielte Tier nur noch weiter an.

Nun stemmte es plötzlich seine Vorderpfoten gegen die Brust des jungen Mannes und lies ihn vor Schreck derartig zusammenfahren, dass er hintenüber kippte und hart auf dem kargen Steppenboden landete. Erschreckt durch dieses Ereignis machte die Katze einen Buckel und verschwand hinter dem nächsten Sandhügel.

"Was ist denn hier los?!" Thomas war zurückgekehrt.

Er trug einen großen Stapel Holzscheite.

"Ich wollte ... doch ... nur ...", stammelte Jonathan, der immer noch reichlich geschockt war.

"Ich seh schon! Du bist nicht grad der Stärkste.", sagte Hikes kopfschüttelnd, "Lässt dich sogar von einer Katze überwältigen! Dafür musst du jetzt Feuer machen!"

Widerwillig fing Stalker an, die trockenen Holzscheite aneinander zu reiben. An diesem Abend würde er wahrscheinlich nicht satt werden. Sein Blick fiel auf sein gepflücktes Büschel Gras, das sich nun durch den aufkommenden Wind langsam auf der Ebene verteilte.
 

Die nächsten drei Tage passierte nur wenig. Die Ernährung variierte zwischen dürren Pflanzenwuchs, einigen Nahrungstabletten, die die beiden in alten Hausruinen gefunden hatten, und einem seltsam anmutendem Vogel, den Jonathan erst nicht anrühren wollte. Ansonsten war die gesamte Landschaft nicht sehr ansehnlich. Wie schon immer. Im Jahre 2151, also genau zu diesem Zeitpunkt, existierten nur noch Megametropolen. Keine Dörfer. Der Grund dafür war eine Reihe von Kriegen, die erst vor einem halben Jahrhundert aufgehört hatten zu wüten. In diesen Kriegen gab es fast keine Bodenkämpfe mehr. Sie erfolgten meist auf biologischer und chemischer Basis und verseuchten somit den Großteil der bewohnbaren Gebiete. Nun hatte sich die Menschheit um mehr als die Hälfte reduziert. Der meisten Menschen dieser "Kriegsgeneration" waren durch die strategische Verseuchung gänzlich unfruchtbar geworden und die Geburtenrate sank fast auf Null. Aber nicht nur unter den Menschen hatte die Kriegsjahre Spuren hinterlassen. Die giftigen Chemikalien hatten den gleichen Einfluss auf die Tier- und Pflanzenwelt. Das war auch der Grund dafür, dass man die Ernährung derartig umstrukturieren musste. Die Seen und Flüsse waren einfach ausgetrocknet oder mit Krankheitserregern infiziert, deshalb wurden riesige unterirdische Wasserreservoirs gebaut, die einen speziellen Schutz besaßen, damit der saure Regen nicht durch die Erde hindurch in das verbliebene Trinkwasser sickerte. Auch in weiteren Punkten hatte das Syndrom Konzept, das es schon seit Beginn des 21. Jahrhunderts gab, angeschlagen. Da es keine großen Wälder mehr gab, wurde der fehlende Sauerstoff durch künstliche Fotosynthese gewonnen und als Energiegewinnung (wegen fehlender Rohstoffe) wurden erneuerbare Energiequellen genutzt, wodurch sich auch die Ozonschicht wieder erholte.

Die Menschheit würde sobald keinen neuen Krieg führen können, so hoffte man.

Jonathan war froh nicht in dieser unruhigen Zeit geboren worden zu sein, vielleicht hätte er dann auf Grund der Verseuchung irgendwelche Auswüchse gehabt, oder so was Ähnliches.

Aber jetzt im Moment konnte er sich noch nichteinmal über die Tatsache freuen ein vollkommen gesunder Mensch zu sein. Das Einzige was er tun konnte war der Sonne beim Auf- und Untergehen zuzusehen und sich körperlich über Wasser zu halten und, was sehr wichtig war, nicht durchzudrehen.

In der Mitte des vierten Tages geschah etwas, was Jonathan verblüffte und zugleich auch faszinierte. Während er den schleierhaften Luftspiegelungen am Horizont zusah, bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus einen Schatten. Ruckartig zuckte sein kopf in die entsprechende Richtung. Und tatsächlich. Hinter der kleinen Sanddüne war etwas. Thomas war ebenfalls stehen geblieben und versuchte Jonathans Blick zu folgen.

"Ach, du liebes Bisschen!", sagte er amüsiert.

Das kleine Etwas zuckte zusammen, als der Alte laut lachte. Das Nackenfell sträubte sich und die Augen verengten sich zu Schlitzen.

"Warum ist sie uns gefolgt?", fragte Stalker und starrte wie gebannt die grau-schwarz getigerte Katze an.

"Sie wird Hunger gehabt haben. Wahrscheinlich hat sie auch die Überreste des Vogels vor zwei Tagen gefressen." Thomas stellte sein Gepäck ab. "Wie auch immer. Diesmal wirst du das Feuerholz suchen und ich halte dieses kleine Biest!"

Er war gerade dabei den langen Elektroschocker hervor zu kramen, als Jonathan nach vorne stürzte und ihn am Handgelenk packte.

"Nicht!"

Thomas sah ihn verwundert an. "Warum nicht?"

"Weil ... weil ..." Er atmete tief ein. "Weil ich Vegetarier bin!"

Innerlich schlug er sich vor den Kopf. Er hatte doch erst vor ein paar Tagen gierig einen Vogel verspeist und außerdem: Was sollte Thomas daran hindern dieses Geschöpf nicht alleine zu essen.

Als könne der alte Mann Gedanken lesen, fing er erneut an zu grinsen. "Gib´s doch zu! Das kleine Tier hat es dir angetan!"

Betreten starrte Jonathan zu Boden.

"Ich verstehe ..." Seufzend klappte Hikes seinen Koffer wieder zu.
 

Den ganzen Tag lang versuchte Jonathan mit der Katze anzubandeln. Der Versuch glückte als Thomas am Abend eine Klapperschlange grillte. Unter den strengen Blicken des Grauhaarigen, warf der junge Mann dem Tier immer wieder kleine Fleischstückchen zu und freute sich jedes Mal wie ein kleines Kind wenn die Katze sich gierig den Brocken entgegen stürzte.

Nach einer Weile bekann Thomas ein Gespräch: "Wir sind jetzt schon seit ungefähr sechs Tagen unterwegs. Bald werden wir da sein."

Jonathan Stalker wendete seinen Blick von der jetzt schlafenden Fellkugel ab und blickte seinen Weggefährten aufmerksam an.

Dieser redete ungestört weiter: "Die Unterkünfte dürften rar sein und die Preise immens hoch. Wie wäre es wenn wir uns eine Wohnung teilen?"

"Ich habe kein Geld.", fiel Jonathan auf, denn er hatte in der Hektik seines Aufbruches seine Portemonnaie liegengelassen.

"Ach, irgendwie werden wir schon über die Runden kommen." Der Alte winkte ab. "Wenn nicht, können wir ja immer noch die Katze verkaufen. Die bringt bestimmt ne Menge Geld."

Schockiert blickte Stalker ihn an.

"Es ist besser du schläfst jetzt! Morgen wird ein schwerer Tag!", sagte Thomas und legte sich selbst in den warmen Sand.

"Ich frage mich, wann die Tage endlich mal wieder leichter werden.", murmelte Stalker vor sich hin und drehte sein Gesicht von der schlafenden Katze weg, um einschlafen zu können.
 

12 Stunden später standen alle drei schon längst wieder auf den Beinen und hatten schon sieben Kilometer zurückgelegt. Die Landschaft war schon seit zwei Tagen hügeliger geworden und machte das Sehen auf einer gewissen Distanz fast unmöglich. Umso mehr wurde das Hörvermögen gefördert.

"Wir sind bald da." Thomas hielt den Satellitenatlas circa eine Hand weit von seinem Gesicht entfernt und studierte die Karte.

"Wie kannst du das so genau wissen? Bei dem ganzen Sand hier." Jonathan blinzelte umher. "Außerdem könnten die ja die Satelliten manipuliert haben."

Thomas zuckte mit den Schultern und hämmerte plötzlich auf das Gerät in seiner Hand ein, da das Bild in einer Störung verschwand. "Es zieht ein Sturm auf!"

Stalker blickte nach oben.

"Nein, nicht so ein Sturm! Ein Sandsturm!" Thomas beschleunigte sein Tempo. "Komm mit, ich zeig´s dir!"

Verwirrt folgte ihm Jonathan und musste ein weiteres Mal feststellen, wie schwer es war eine Sanddüne hinauf zu laufen.

Je näher Jonathan dem Gipfel des Hügels kam, umso mehr nahm er ein seltsames Geräusch war. Eine Art Surren oder Summen, wie von elektrischem Strom. "Thomas! Was ist das? Hörst du das auch?"

Hikes war inzwischen oben angekommen, gab aber keine Antwort.

"Verdammt noch mal!", knurrte Stalker als mal wieder seine Knie nachgaben und er haltlos vornüber stürzte. "Thomas! Siehst du was? Sind wir schon da?"

"Nicht ganz, aber wir sind auf dem richtigen Weg ...", erwiderte der alte Mann, als Jonathan neben ihm auftauchte und erstaunt zusammenzuckte.

Das surrende Geräusch war schlagartig lauter geworden und kam aus allen Richtungen.

"O mein Gott ..." Dem Jungen verschlug es die Sprache und er musste sich ersteinmal aufrichten, weil er die letzten Meter kriechend zurückgelegt hatte.

Vor ihm erstreckte sich eine weite Ebene, so weit wie das Auge sehen konnte. Und das war nicht sehr weit, da eine riesige Staubwolke in der Ferne auf sie zu kam. Aber das war es nicht, was Jonathan und Thomas so beeindruckte, sondern die Tatsache, dass die gesamte Ebene von hunderten von Windkraftwerken bedeckt war, die unabhängig voneinander mit Hilfe der Windenergie Strom erzeugten. Das war kein Vergleich zu den paar "Windmühlen" von Molington-Town. Das hier war die Energiequelle für eine weitaus größere Stadt.

Fassungslos starrte Jonathan die riesigen Propeller an, die in ungefähr in einer Höhe von 200 Meter und einer geschätzten Spannweite von zwei Fußballfeldern ihre Runden drehten und vehement summend Strom lieferten.

"Beeindruckend, was?", flüsterte Jonathan.

Thomas hatte sich jedoch schon wieder von dem imposanten Anblick losgerissen und steuerte zielstrebig eine dieser Bauten an. "Komm! Es ist besser, wenn wir hier solange warten bis der Sturm vorüber ist."

Er hatte recht. Die Wand aus Staub und Sand war deutlich näher gekommen.

"Wo ist die Katze?", fragte Stalker.

"Ist doch egal!", sagte Thomas, ergänzte dann aber schnell, "Die wird sich schon in Sicherheit gebracht haben."

Der Alte war gerade dabei die kleine Metalltür zu öffnen, als Jonathan plötzlich etwas brüllte, jedoch von den Nebengeräuschen übertönt wurde.

"Was?!" Thomas hatte nicht verstanden.

Zur Aushilfe deutete der junge Mann in Richtung Staubwolke. Dort bewegten sich fünf Schatten aufgeregt hin und her. Es waren Menschen und sie kamen näher.

Thomas riss die Tür mit einem Ruck auf und gab Jonathan ein Zeichen. Doch dieser rührte sich nicht.

"Komm jetzt!", schrie Hikes, konnte aber gegen den nahenden Sturm nicht ankommen.

Die fünf Fremden waren nur noch einige Meter von Jonathan Stalker entfernt und Thomas gab endlich nach. Er öffnete die Tür noch weiter, damit jeder so schnell wie möglich hindurch konnte. Wortlos, aber sichtlich dankbar, drängten sich die zwei Frauen und drei Männer unterschiedlichen Alters an Thomas vorbei ins Innere der Windkraftstation.

Den Raum, den sie betraten, nahm größtenteils der gläserne Fahrstuhl ein, der nach oben führte. Dorthin, wo sich die ganzen Sicherungen und Schaltkreise der Anlage befanden.

Von draußen drang das Rauschen des Sturmes herein, der jetzt über der Ebene wütete, ansonsten herrschte absolute Stille. Keiner wagte etwas zu sagen. Die fünf Fremden waren erschöpft und hatten sich an eine Wand gekauert. Jonathan stand mitten im Raum und blickte von einem zum anderen. Niemand kam ihm bekannt vor. Schließlich entschloss er sich den Fahrstuhl etwas näher zu betrachten, denn schließlich hatte er schon seit fast einer Woche keine Elektronik gesehen, bis auf den simplen Satellitenatlas von Thomas. Jonathan drückte auf den silbernen Knopf, der kurz darauf die Tür des Fahrstuhles aufgleiten lies, und stieg ein. Neugierig untersuchte er die Tafel mit den Stockwerken. Sichtlich enttäuscht musste er feststellen, dass es nur drei gab, bis auf ... Er hielt inne. Sein Blick wanderte von der aufleuchtenden 1 auf die

darrunterliegende -1. Stalker zog die Augenbrauen hoch und berührte die Taste. Der Fahrstuhl schloss sich und setzte sich geräuschlos in Bewegung. Angekommen in der unterirdischen Etage, tat sich vor dem Jungen ein endlos langer Tunnel auf. Wände und Boden waren mit wasserabweisenden ockerfarbenen Linoleum ausgekleidet und es war entsprechend kühl und steril. Die durchsichtige Tür öffnete sich zur Seite hin und Jonathan trat auf den erleuchteten Gang hinaus, durch den eine Reihe von Rohren führte, in denen sich wahrscheinlich Kabel befanden. Das helle Licht stammte von den langen Neonröhren, die den gesamten Tunnel entlang angebracht waren, im hinteren Teil jedoch schon bedenklich flimmerten. Er drehte sich einmal im Kreis. Hinter ihm ging das Gewölbe genauso lang weiter und ein kühler Wind wehte hindurch. Das Geräusch, das er dabei verursachte, war irgendwie ... angsteinflößend.

Jonathan drehte sich wieder zurück und da sah er es. Dort hinten, wo sich die kaputte Neonröhre befand stand etwas. Stalker konnte es nicht genau erkennen. Es war an die

2 ½ Meter groß und füllte somit fast die gesamte Höhe des Tunnels aus. Es hatte lange Gliedmassen und sah irgendwie abgemagert aus. Der Brustkorb war klar erkennbar. Jonathan konnte die Augen des Wesens in der Dunkelheit zwar nicht sehen, aber er erkannte wie sich die restlichen Neonröhren darin spiegelten. Mit Entsetzen beobachtete er, wie sich am Kopf des Geschöpfes etwas bewegte. Jonathan hielt die Luft an. Es war eine Art riesiger Tentakel, die sich wanden und aufbäumten, bis sie mit einem einzigen schnellen Ruck zu allen Seiten ausscherten.

Nun schrie er und erwachte aus seiner Schreckstarre. Er drehte sich um und stellte mit rasendem Herz fest, dass sich die Tür des Fahrstuhles mittlerweile wieder geschlossen hatte. Doch er wagte es nicht noch einmal nach hinten zu schauen, denn er wusste es war noch da. Stattdessen drückte er wie verrückt den silbernen Knopf. Hinter sich konnte er deutlich das Klackern der Schritte auf dem Linoleum hören und das versetzte ihn in Todesangst.

"Oh, Gott! Oh, lieber Gott! Lass mich nicht sterben! Nicht jetzt! Nicht hier!"

Die Tür glitt auf. Jonathan zwängte sich hinein und fing wieder an auf den Armaturen herumzuhämmern. Nun konnte er genau beobachten, wie der Alien den Gang entlang auf ihn zustürzte. Die Tentakel streckten sich gut drei Meter weiter vor und hatten schon fast den Fahrstuhl erreicht, als sich dieser schloss und nach oben fuhr. Durch die Glaswand beobachtete Jonathan, wie der Außerirdische stehen blieb und ihm mit seinen tiefschwarzen Augen nachstarrte. Plötzlich lies er einen solchen Schrei von unbegreiflichen Ausmaßen ertönen, dass der Fahrstuhl erzitterte. Es war ein Ton, den man nicht in Worte fassen konnte. Weder Mensch, noch Tier, höher als Ultraschall und von einer Intensität, die kein Computer je hätte erzeugen können.Reflexartig presste er sich die Hände auf beide Ohren und kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, tauchte vor im das Erdgeschoss auf. Die Leute waren aufgesprungen und Thomas kam auf ihn zugeeilt.

"Was war das?!" Anscheinend hatten sie den Schrei ebenfalls gehört.

Jonathan starrte ihn mit angsterfüllten Augen an. Plötzlich hob sich der Fahrstuhl aus seiner Verankerung und durch die Ritzen an den Seiten, schlängelten sich vielgliedrige Tentakel am Boden entlang auf die kleine Menschengruppe zu. Nun gab es kein Halten mehr. Während hinter ihnen der Fahrstuhl nach oben geschleudert wurde, versuchten sich die sieben in Panik geratenden Menschen alle gleichzeitig durch die Ausgangstür zu zwängen. Jonathan schaffte es als Dritter nach draußen. Kurz nach ihm, kam Thomas heraus gestürzt. Die zwei Frauen und einer der drei Männer konnten sich ebenfalls noch rechtzeitig ins Freie retten. Die anderen beiden riss es von den Füßen. Der Alien war durch die Lücke im Boden, die der Fahrstuhl hinterlassen hatte, hinauf geklettert und verging sich nun an den zwei zurückgebliebenen. Er schleuderte sie durch die Luft und lies sie immer wieder gegen die harten Metallwände krachen, bis sie das Bewusstsein verloren. Dann brach er ihnen mit Hilfe eines weiteren Kopfauswuchses das Genick. Jonathan keuchte bei dem knackenden Geräusch laut und währe wohlmöglich in Ohnmacht gefallen, hätte Thomas ihn nicht hinter sich her gezogen.

Draußen war der Sturm im vollen Gange. Um sie herum war nichts weiter als Sand, der ihnen in den Augen brannte und sie somit blind machte. Wie Hühner stoben sie in unterschiedliche Richtungen davon. Hikes und Stalker verloren sich aus den Augen. Nun war jeder von ihnen allein.

Jonathan fiel auf die Knie. Es hatte keinen Sinn mehr wegzulaufen. Er war blind und schwach. Nun konnte er sich weder auf seine Augen, noch auf seine Ohren verlassen. Und er war allein. Mühsam öffnete er seine brennenden Lieder und versuchte blinzelnd etwas zu erkennen. Eine Weile lang sah er nichts, doch dann tauchte unmittelbar vor ihm ein Schatten auf.

"Thomas?", keuchte er.

Als die Gestalt jedoch näher kam, wurde ihm klar, wer es war, oder besser gesagt, was es war. Er wollte aufstehen und wegrennen, aber es war zu spät. Er spürte wie ihn etwas kaltes am Knöchel packte und nach oben zog.

Da, ein Geräusch! Ein lautes klares Zischen am Himmel. Auch das fremde Wesen schien es bemerkt zu haben und hielt deshalb inne. Jonathan hing kopfüber in der Luft und plumpste von einem Moment auf den anderen wieder zu Boden. Er traf hart auf der Schulter auf.

Jedoch hatte er keine Zeit über den Schmerz nachzudenken. Er musste weg. Mit letzter Kraft kroch er auf allen Vieren in irgendeine Richtung davon.

Aber dann passierte etwas, das ihn abermals dazu bewegte sich umzudrehen. Der Außerirdische machte urplötzlich ein fauchendes Geräusch, das um einiges lauter war, als das einer Katze. Hinter ihm war eine weitere verschwommene Silhouette aufgetaucht. Aber dieser Schatten war bei weitem nicht so riesig, wie der des Geschöpfes, aber er bewegte sich schnell. Eine menschliche Gestalt rannte auf den überraschten Alien zu und schwang irgendeinen langen Gegenstand in der Hand wie wild umher. Das Ungeheuer wich zurück. Die Person machte einen Satz und flog durch die Luft. Dann, und das verblüffte Jonathan, trat sie zu (einmal, zweimal, dreimal), holte mit dem länglichen Waffe aus und stach zu. Der Schrei des Aliens dröhnte die gesamte Ebene entlang. Ein unglaublich tiefer Ton, ein Todesschrei.

Jonathan Stalker konnte nicht glauben, was da geschah. Ein einzelner Mann hatte das Monster getötet, das mindestens so stark war, wie zehn ausgewachsene Männer. Nein, das konnte er nicht glauben.

Die Person schritt auf ihn zu. Nun war sie so nahe, dass Jonathan Einzelheiten erkennen konnte. Es war ein relativ großer Mann mit schulterlangem, schwarzem lockigem Haar.

Er trug seltsame Kleidung, hauptsächlich in den Farben Schwarz und Weiß und er hatte sich ein graues Tuch um die untere Gesichtshälfte gebunden zum Schutz vor dem Sandsturm. Die tödliche Waffe war eine Art langes Schwert, von dessen Schneide irgendeine plastische Flüssigkeit tropfte. Blut.

Jonathan starrte zu dem Mann hinauf und bemerkte, wie die Dunkelheit langsam von den Seiten her in sein Blickfeld kroch und ihn schließlich zu Boden riss.
 

Er lief einen langen Gang entlang. Eine Art altes Gewölbe. Von den kalten Steinwänden tropfte das Wasser. Über ihm, hoch oben in dem Gemäuer, waren rostige Gitter angebracht, durch die vereinzelte Sonnenstrahlen auf den Boden fielen. An den Seiten zogen sich Moose und Farne die Wände entlang, dort wo es noch genug Licht zum Leben gab.

Am Ende des feuchten Tunnels war ein helles Licht zu erkennen. Jonathan wollte wissen, was es war. Er beschleunigte seine Schritte und hörte wie sie an den steinernen Mauern als Echo hundertfach zurückgeworfen wurden. Plötzlich vernahm er Wortfetzen. Er wusste nicht woher sie kamen, aber er hörte sie ganz deutlich:

"sechs Tote, ein Überlebender - keine schweren Verletzungen - wir setzten ihn in der Stadt ab - komme bald zurück"

Wieder konzentrierte sich Jonathan Stalker auf das gleißende Licht vor ihm. Bald war er da, bald würde er sehen können, was sich dort befand.

Doch plötzlich schwoll das leise Geräusch, das seine Schuhe machten, an zu einem gigantischen metallenen Klopfen. Der Boden erzitterte, wie unter den rhythmischen Herzschlägen einer riesigen Maschine. Der Boden unter ihm brach auf und er stürzte haltlos in die Tiefe ...

Langsam öffnete er die Augen. Ein Traum? Anscheinend. Er rieb sich die Lider und zog gleich darauf wieder die Hand zurück, denn er hatte gemerkt, dass er sich damit den Sand, der sein ganzes Gesicht bedeckte nur noch mehr einrieb.

Wo war er überhaupt? Er blinzelte in alle Richtungen, konnte jedoch nichts Eindeutiges erkennen und er konnte sich auch nur noch schwach erinnern. Er erinnerte sich an Thomas und an den Vorfall in der Windstation, an das Wesen ...

In seinen Ohren wummerte es immer noch.

Was war überhaupt mit Thomas geschehen? Vielleicht würde er es ja erfahren, wenn er nur endlich etwas sehen könnte. Erneut versuchte er den stechenden Sand aus seinen Augen zu entfernen.

"Mach die Augen auf!"

"Was?!" Verwirrt drehte Jonathan seinen Kopf und versuchte der fremden Stimme zu folgen. "Schon gut, mach die Augen auf ..." Es war die Stimme einer Frau.

"Wer sind Sie? Was ..." Er verstummte mit einem Mal, weil man ihm Wasser ins Gesicht schüttete, das ihm nun auch in den Mund lief.

"Jetzt halt doch still!" Die Person seufzte. "Ich versuche doch nur zu helfen."

Langsam klarte seine Sicht wieder auf und er bekann die ersten Konturen seines Gegenübers zu erkennen. Es war eine junge Frau, wahrscheinlich jünger als er selbst, mit leichten asiatischen Zügen, langen schwarzen Haaren und schmalen Lippen.

"Wo bin ich hier?", fragte Jonathan, während das letzte Wasserrinnsal an seinem Kinn herunterlief.

"New Atlanta. Warum fragst du?"

"New Atlanta.", wiederholte er leise, "Und wie bin ich hierher gekommen?"

"Keine Ahnung. Muss ich denn alles wissen!?", fuhr das Mädchen ihn an.

Sie war hübsch, schlank und gleichzeitig kraftvoll. Ihre Kleidung bestand aus einem körperbetonenden Ganzkörpersuite in den Farben weiß, grau und schwarz, genau wie ihre Stiefel.

"Was starrst du mich so an?"

Und sie ist frech, dachte Jonathan automatisch weiter.

"Ich starre Sie nicht an. Ich bin froh, dass ich überhaupt etwas sehen kann!", sagte er und richtete sich leicht schwankend auf, "Aber trotzdem Danke für die schnelle Hilfe."

"Keine Ursache!" Sie strich sich die Haare zurück. "Du hattest Glück! Hier kommt fast nie jemand vorbei."

Sie befanden sich in einer schmalen Gasse. Rechts und Links von ihnen ragten zwei Hochbauten in den Himmel, an deren Seite sich keine Fenster befanden. Es war wirklich fast unmöglich, dass man hier rechtzeitig gefunden wurde. Die Höhe der Bauten war beeindruckend, auch wenn das Material aus dem sie bestanden nicht sehr hochwertig war.

"Ich war gerade unterwegs zum Moonside - Club, als ich dich hier liegen sah. Erst hab ich gedacht man hätte dich erschossen, oder so. In diesem Viertel passiert das oft."

Sie machte eine kurze Atempause und redete dann munter weiter.

"Ich hatte zum Glück etwas Wasser dabei." Sie tippte auf eine silberne Thermosflasche, die sie die ganze Zeit in der Hand gehabt hatte.

Jonathan schien sie nicht zu beachten. Er versuchte sich immer noch krampfhaft an das zu erinnern, was geschehen war.

"Es ist schon seltsam, was in diesem Teil der Stadt so alles passiert. Und ich dachte immer, dass ... Hörst du mir überhaupt zu? Also ich --"

"Da war ein Mann!", dachte Stalker ein wenig zu laut.

"Was? Wo?" Die Asiatin blickte verschreckt in alle Richtungen.

"Nein, ich meine ein Mann hat mich gerettet. Er hat mich hergebracht."

"Wovor hat man dich gerettet? Was für ein Mann?"

Jonathan sah sie an und als ob sie ihm alles von den Augen ablesen konnte, antwortete sie langsam: "Du bist auch ein Flüchtling. Ich habe es doch gewusst!" Sie drehte sich nervös im Kreis. "Bist du durch die Steppe hierher gekommen?"

Der junge Mann nickte kurz.

"Oh, mein Gott! Du hast sie gesehen, oder? Die Außermenschlichen ..."

"Ja, wenn Sie diese Kreaturen meinen." Viel mehr wollte er nicht zu diesem Thema sagen, denn die Erinnerung lies ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen.

"Und dieser Mann, den du gesehen hast. Was hat er getan?" Die Frau blickte ihm direkt in die Augen, was ihm sehr unangenehm war.

"Er ... er hat es getötet. Er hat eines dieser Dinger getötet. Einfach so."

Ehrfürchtig blickte sie nun zu ihm hinauf. "Du bist echt ein wahrer Glückspilz. Du wurdest von einem Engel gerettet."

"Ein Engel?!" Diese Bezeichnung verwunderte Jonathan doch ein wenig. "Ich weiß nicht, ob man dazu Engel sagen sollte. Natürlich, er hat mich gerettet, aber er war nun mal real und --"

"Nicht so ein Engel!" Das Mädchen verdrehte die Augen. "Komm mit! Ich erklähr`s dir unterwegs."

"Unterwegs?" Plötzlich hatte Jonathan das dringende Gefühl ersteinmal etwas Zeit zu benötigen um seine Gedanken wieder zu finden.

"Ich werde dich mit zum Moonside - Club nehmen. Da bekommst du vielleicht auch gleich eine billige Herberge."

Sie nahm den verwirrten Mann an der Hand und zog ihn in Richtung Straße.

"Die Gebäude sind wahnsinnig hoch und modern gebaut.", sagte er erstaunt.

"Das ist nur das Armenviertel." Sie setzte mit den Fingern kleine Gänsefüßchen in die Luft. "Gleich wirst du sehen, was wahre Baukunst ist! Ich heiße übrigens Èmalia Xi-Lin."

"Jonathan Stalker."

"Stalker? Heißt das nicht ... ?" Ihre Stimme versagte, als sie den bösen Blick bemerkte, der ihr zugeworfen wurde.

Jonathan wusste genau, was sein Name bedeutete und er selbst war nicht sehr erfreut über diese Tatsache, die ihn dank seiner Eltern schon sein ganzes Leben verfolgte. Doch die Vergangenheit war nun unwichtig, in dem Moment, wo man sich nicht einmal der Gegenwart sicher war.
 

Kaum hatten sie aber einen Fuß aus der engen Gasse gesetzt, verschlug es auch Jonathan die Sprache. Er war ja noch nie in einer der Hauptstädte gewesen, aber das ...

Wolkenkratzer, die doppelt so hoch waren, wie die in Molington-Town, überzogen von einer kupfern glänzenden Schicht, die die Sonne zurück warf, aneinander gereiht und zusammengedrängt. Die Dächer sahen manchmal recht bizarr aus. Oft waren es Pyramiden oder gläserne Kuppeln und Pavillons. Alles hatte eine klare, kristallene Struktur und Farbe. Auch gab es breite Highways, die sich um die archetektonischen Meistehrwerke wanden und einen nicht enden wollenden Verkehrsstrom beförderten.

Auf dem riesigen Platz vor ihnen drängte sich eine bunte Menschenmasse. Unter ihnen wandelten ebenfalls Roboter und wahrscheinlich, so vermutete Jonathan, auch Cyborgs, die sich rein äußerlich nicht von all den anderen Leuten unterschieden. Das leise Summen der kugelähnlichen Fahrzeuge und der hoch über ihnen schwebenden Gleiter erfüllte die Luft, konnte jedoch das gewaltige Raunen der vielen unterschiedlichen Menschen nicht übertönen.

"Heh, du! Wie heißt du noch mal? Stalker? Vergiss nicht zu atmen!" Èmalia stupste ihn an und erst jetzt bemerkte Jonathan, dass sein Mund speerangelweit offen stand und auf einmal fühlte er das etwas fehlte.

"Thomas!", rief er erschrocken.

"Was?" Die junge Asiatin sah ihn fragend an.

Jonathan ergriff sie plötzlich an den Schultern. "Hör zu! Diese Engel ... Retten sie alle? Alle Flüchtlinge?"

"Jeden, denn sie finden können. Warum?"

"Ich vermisse einen Freund. Wo kann ich sie finden?" Er überschlug sich fast, während er redete.

Sie lächelte und fing plötzlich laut an zu lachen. Es dauerte eine ganze Weile ehe sie sich wieder gefangen hatte.

"Du willst zu den Engeln?", fragte sie spöttisch. "Niemand ist bis jetzt zu ihnen gegangen. Das tut man einfach nicht! Manche sagen sogar sie wären nicht normal."

"Aber ich muss dorthin!" Verzweifelt gestikulierte Stalker mit beiden Händen und malte seltsame Strukturen in die Luft. "Wo kann ich sie finden?"

Beeindruckt und überrumpelt zugleich, deutete Èmalia über den gefüllten Platz hinweg in Richtung der bereits untergehenden Sonne. "Geh einfach in diese Richtung. Es ist ein großes brückenähnliches Gebäude. Du kannst es nicht verfehlen. Ich ... Ich bin sicher wir werden uns wiedersehen."

Jonathan nickte knapp, drehte sich schnell um und bekann sich einen Weg durch die Massen zu bahnen.

"Viel Glück!!!", rief das Mädchen ihm hinterher und sagte dann etwas leiser: "Ich hoffe du kommst zurück."

Er hörte sie schon längst nicht mehr, denn eine warme Woge von Gesprächen und Atemzügen hatte ihn eingehüllt und trug ihn weiter. So viele Menschen unterschiedlicher Nationalitäten an einem Ort hatte er noch nie gesehen. Er war erstaunt und eingeschüchtert. Zugleich wusste er auch nicht, wo er die Nacht verbringen sollte. Er hatte noch nichteinmal genug Geld für Essen und Trinken. Thomas hätte ihm in dieser Situation bestimmt weiterhelfen können. Doch wo war er jetzt, wenn man ihn brauchte?

Zwei unzertrennliche Worte

III. Zwei unzertrennliche Worte
 

Die Sonne tauchte die ein letztes Mal die hohen Häuser in ein mystisches Abendrot bevor sie dann hinter ihnen verschwand, um erst am nächsten Morgen wieder in voller Bracht am Himmel zu stehen. Aber selbst wenn es stockfinster gewesen wäre, hätte Jonathan den Weg mit Leichtigkeit gefunden. Das Gebäude ragte zwar nicht über die anderen Hochbauten hinaus, wirkte jedoch auf seltsame Weise hell erleuchtet. Was wohl auch daran liegen könnte das genau hinter ihm die Sonne verschwand oder dass einfach die kupferfarbene Beschichtung fehlte. Jedenfalls ging das Gebäude eher in die Länge, als in die Höhe.

Tatsächlich erinnerte es an eine Brücke. Es stand auf zwei riesigen Säulen, die den Umfang eines der Wolkenkratzer besaßen und in einem matten Silberton glänzten. In der Mitte zwischen ihnen ruhte der langgezogene Hauptteil, der trotz des vielen Glases undurchsichtig war, da er durch eine mechanische Blende ganzflächig verdeckt wurde.

Der Koloss wirkte beinahe schon so mechanisch, dass Jonathan befürchtete er würde jeden Moment loslaufen und wie Godzilla die halbe Stadt verwüsten. Vorsichtig näherte Stalker sich seinem Zielobjekt und sprang plötzlich erschreckt zurück. Ein Dröhnen drang an seine Ohren. Er spürte keine Vibrationen und doch konnte er sofort die Quelle ausmachen. Denn kaum war die Sonne untergegangen, hatten sich die riesigen Blenden aufgefächert, wie eine Jalousie und feine Lichtstrahlen fluteten durch die Ritzen hinaus in die hereinbrechende Nacht.

"Wow!" Jonathan starrte das gut vierzig Meter über ihm liegende Gebäude an und hatte gleichzeitig sein Vorhaben verworfen diesen Koloss auch noch zu betreten. Denn irgendetwas an dieser Szenerie lies ihn zweifeln.

Wenn Thomas nun wirklich tot war, dann war er es auch. Jonathan hatte nichts und niemanden hier in dieser Metropole. Und wenn er dieser Frau von vorhin und den Sachen die sie über die Stadt erwähnt hatte Glauben schenken konnte, war er sowieso erledigt.

Während ihn die intensiver werdende Dunkelheit langsam einhüllte, bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus, das sich die gläserne Eingangstür am Fuß einer der beiden Säulen geöffnet hatte und jemand hinaus auf die Straße trat.

Jetzt oder nie!

Jonathan Stalker riss sich los und ging zügigen Schrittes auf die Gestalt zu. Als er näher gekommen bemerkte er, dass es eine schwarze Frau war, die in einer gelben Klempnerjacke und einer altmodischen schwarzen Stretchhose vor der Gleittür kniete und mit einem elektronischen Gerät, das wahrscheinlich dazu gebraucht wurde elektrische Störfunktionen anzuzeigen, den Rahmen der Tür absuchte.

Neben ihr schwebte ein kugelähnliches Etwas in der Luft und bestrahlte wie eine Taschenlampe den Arbeitsplatz der Frau.

Was es hier nicht alles gibt, dachte Jonathan während er nur noch einige Schritte von der Person entfernt war, Selbst die Handwerker haben hier Roboter!

"Ähm ...", begann Stalker, als er genau hinter der Frau stand, doch auch die kleine Maschine hatte ihn bemerkt und drehte sich ruckartig in seine Richtung, wobei er nun Jonathan genau ins Gesicht strahlte. Sein robuster Metallmantel war mit einer roten und einer hautfarbenen Lackierung überzogen, die durch dünne silberne Streifen voneinander abgegrenzt wurden. Er hatte zwei Gliedmaßen, die als Arme funktionierten, im Moment jedoch im Rumpf eingebetet lagen, sodass man nur zwei Knubbel an der Unterseite der Maschine sehen konnte.

"Wer ist das den?!", sagte die der Roboter plötzlich in einem ziemlich, nun ja, menschlichen Ton. Man konnte sogar meinen, es klang leicht genervt.

Die schwarze Frau drehte sich ebenfalls um, betrachtete den jungen Mann, der immer noch schmerzhaft seine Augen zusammenkniff, eine Weile und herrschte dann ihren künstlich intelligenten Kollegen an: "Hör auf damit, Human! Oder willst du, dass er erblindet?"

Kurzerhand knipste er das Licht aus und gerade als Jonathan seine Augen erleichtert wieder öffnete, schaltete das freche Ding abermals seinen kleinen Projektorenbildschirm auf maximale Beleuchtung.

"Was zum ... Argh!" Nun riss Stalker die Hände vors Gesicht und die kleine kugelige Gestalt überschlug sich vor Lachen.

"Was soll das? Lass ihn doch in Ruhe!" Nun verlor die Frau ihre Geduld und warf ihrem Roboter einen vernichtenden Blick zu. "Es tut mir Leid. Er ..." Sie wedelte mit ihrer freien Hand herum, schnaubte kurz und lies ihren Arm wieder sinken.

"Ich verstehe schon. Einer aus der Human-Reihe, oder?"

Sie nickte. Und das mit einer Miene, der mehr als nur Zustimmung zu Grunde lag.

Jonathan besann sich nun endlich wieder auf sein eigentliches Vorhaben, doch noch ehe er selbst fragen konnte, ergriff die Frau das Wort:

"Was wollen Sie eigentlich hier?"

"Ich? Ich wollte fragen ob das" Er deutete auf das Gebäude. "der Ort ist, an dem ich die sogenannten Engel finden kann."

Der Human-Roboter gluckste immer noch vor sich hin und die Frau zeigte lächelnd auf das große Schild über der Eingangstür auf dem geschrieben stand:
 

Gemeinde der Engel
 

Unter dieser Schrift war ein Zeichen abgebildet. Eine Art Wappen in den Farben dunkelblau und weiß. Darauf waren zwei übereinander gelegte verschiedengroße Flügelpaare zu erkennen. Zwischen ihnen züngelte eine Flamme und über dieser schwebte ein dunkelblauer Heiligenschein und das Zeichen des christlichen Glaubens: Ein Kreuz.

In dem Oval, das diese Symbole umgab, waren Wörter geschrieben worden. Dort stand in ebenfalls dunkelblauer Schrift:
 

Pro mundi vita. und The Way to salvation.
 

Jonathan hatte noch nie in seinem Leben ein Wort Latein gekannt, aber der letzte der beiden Sätze lies sich dank seiner ausreichenden englischen Kenntnisse, die in dieser Zeit zu einer unabdinglichen Vorraussetzung geworden waren, leicht übersetzen.

Der Weg zur Erlösung?! Innerlich verkrampften sich bereits seine Organe. Bin ich hier bei so einer komischen Sekte gelandet?

"Danke. Ich glaube, hier bin ich richtig." Jonathan konnte sich ein beschämtes Grinsen über die Offensichtlichkeit des Schildes nicht verkneifen. "Ich werd dann mal ..."

Unsicher und immer noch ein wenig verwirrt setzte er ein Paar Schritte in das Gebäude.

Sobald er vollends in eingetreten war und die elektrische Gleittür sich hinter ihm geschlossen hatte, lies die Frau vor der Tür ihren Problemmaster21 sinken und starrte dem jungen Mann verträumt hinterher.

"Niedlich.", sagte sie und stützte dabei ihren Unterarm auf ihrem Knie auf. Das kleine Gerät in ihrer Hand schaltete sich mit einem leisen Piepen aus.

"Wenn das dein Verlobter hören könnte ..." Ihr mechanischer Kollege surrte um sie herum, wie ein abnorm großes Insekt. "Natürlich würde ich Jake so was nie erzählen. Es sei den, er bietet mir einen kostenlosen Speedmaster03 an. Bei den Dingern kann ich einfach nicht nein sagen. Mein Internetzugang ist nämlich im Eimer und da hab ich mir gedacht: Warum nicht gleich so ein hypermodernes Teil nehmen. Auf die sind zur Zeit alle scharf!"

"Vielleicht.", überlegte die Frau laut, "sollte ich dir erst einmal einen anderen Sprachchip verpassen. Es kann sein, dass du mit einer süßen kleinen Mädchen Stimme erträglicher bist, als jetzt."
 

Jonathan hatte ja schon einiges auf seiner kurzen Reise durchmachen müssen, die Ereignisse hatten sich jedes Mal selbst übertroffen und jeder Schauplatz hatte immer etwas an sich gehabt, worüber er staunen konnte. Was wohlmöglich auch letztendlich daran gelegen hatte, dass er aus so einem vergleichsweise kleinem Kaff kam wie Molington-Town. Zeitweilig hatte er gedacht, er würde träumen. Genauso wie in diesem Moment.

Als er den riesigen runden Saal betrat, war er im ersten Moment immer noch froh darüber, dass er wieder sehen konnte (im Allgemeinen ging es seinen Augen sowieso nicht sehr gut) und das er die kleine schwebende Nervensäge losgeworden war. Eigentlich stand er schon immer auf Roboter mit einem A.I.-Chip, aber dieses Modell hatte seine Neugier fürs Erste ausradiert. Jedenfalls fühlte er sich von der Atmosphäre und Ausstrahlung des Raumes erschlagen. Alles war weiß und hell erleuchtet, dennoch nicht unangenehm. Einige Menschen durchstreiften den Saal in ausschließlich weißen Sachen, die bewirkten, dass Jonathan sich in seiner Vermutung, dass er bei Verrückten gelandet war, bestätigt fühlte. In der Mitte führten

Zwei breite silberne Fahrstühle nach oben, den gesamten röhrenförmigen Schacht entlang. Schräg hinter den Fahrstühlen befand sich eine Art Auskunft. Eine kleine weiße Theke hinter der eine junge rothaarige Frau in einem kurzen weißen Kleid stand und mit dem Finger über den Bildschirm ihres Computers fuhr, um eingegangene E-Mails zu sortieren oder weiterzuleiten.

Jonathan hatte diese Person schon als Ziel ins Auge gefasst, als er plötzlich etwas kaltes spürte, dass ihm über die Knöchel langsam nach oben glitt. Er blickte an sich herunter. Was er sah, war ein schmaler hellblauer Streifen der ihn von beiden Seiten abtastete und erst jetzt bemerkte er, dass er zwischen einer Sicherheitsschranke stand, die ihn auch sofort ansprach.

"Bitte bleiben Sie stehen. Die Überprüfung der Sicherheitsstandards wird soeben durchgeführt."

Er leistete auf der Stelle Gehorsam und rührte sich nicht ein Stück. Ein leises Plink ertönte und wieder flötete die schmeichelnde Stimme aus den kleinen Lautsprechern an den Seiten der Sicherheitsschranke: "Danke. Sicherheitsstandards erfüllt."

Jonathan, überwältigt von soviel neuer Technologie, erreichte schließlich die kleine Theke und lehnte sich ein wenig über. Die Rothaarige schaute von ihrer Arbeit auf, beendete das Programm schnell, um sich voll und ganz dem Neuankömmling zu widmen.

"Was kann ich für Sie tun?"

"Ich suche jemanden. Können Sie mir sagen an wen ich mich wenden muss?"

"Ist diese Person einer unserer Gemeindemitglieder oder jemand vom Personal?" Die junge Frau öffnete ein weiteres Programm auf ihrem Rechner und erwartete eine Antwort.

"Weder noch. Er ist mit mir hergekommen. Wir kommen aus Molington-Town. Sie werden sicher nicht wissen wo das ist, aber das ist ja auch egal. Wir wurden draußen ihm Exil von diesen Wesen angefallen und -"

"Oh ..." Ihre Augen weiteten sich. Ein klares Zeichen dafür, dass sie begriffen hatte. Dennoch schien sie von einem Moment auf den anderen niedergeschlagen zu wirken. "Warten Sie einen Moment. Computer? Die Liste, bitte."

Das Gerät antwortete sofort mit einer Reihe von Daten.

"Suche das heutige Datum!", befahl die Frau und der Rechner blätterte erneut in den Akten.

"23. September 2151; 3 Außeneinsätze; insgesamt 12 Überlebende

Erster Einsatz Ostgebiet um 4:25 Uhr - 5 Überlebende, keine Toten, Einsatzleiter: Ian McFlair

Zweiter Einsatz im Westgebiet um 13:54 Uhr - 1 Überlebender, 6 Tote, Einsatzleiter: Raphael

Dritter Einsatz im Ostgebiet um 19:05 Uhr - 6 Überlebende, 2 Tote, darunter auch der Einsatzleiter: John Olland"

Der Computer beendete die Vorlesung und Jonathans Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Er wusste, dass nur einer dieser Einträge in Frage kam.

"Es ist der zweite.", sagte er mit gesenktem Kopf.

Die Frau heftete ihren Blick wieder auf ihn und sprach dann langsam: "Es tut mir leid, aber ... Sind Sie sicher, dass es der dieser Eintrag war?"

Stalker nickte. Er hatte eigentlich auch nichts anderes erwartet.

Die Rothaarige seufzte, hielt dann aber plötzlich den Atem an. Ihr war etwas eingefallen.

"Hatten Sie ein Haustier bei sich?", fragte sie hastig, "Eine Art Katze?"

Es war zwar nicht sein Haustier, aber Jonathan nickte ein weiteres Mal.

Die Frau kam hinter dem Schalter hervor und deutete dem jungen Mann mit einer Handbewegung an, ihr zu folgen. "Ein Kollege hat sie heute Mittag mitgebracht. Wenn Sie bitte mitkommen würden, kann ich sie Ihnen zurückgeben."

Auch wenn es nur ein kleiner Lichtblick in dieser aussichtslosen Lage war, fühlte sich Jonathan ein wenig erleichtert. Zwar hatte er noch keine Idee wie er es schaffen sollte für sich und noch für die Katze etwas zu essen zu finden, aber das war ihm fürs Erste egal.

Er folgte der Frau, die in ihrem Kleidchen in Richtung Aufzug stakste und dabei, trotz ihrer Hackenschuhe, an den wenigen Leuten, die in der Halle umherwuselten, geschmeidig vorbeischlängelte.

Während Jonathan ihr hinterhereilte, bekam er immer wieder düstere Blicke zugeworfen. Er fragte sich, ob das wohl an seiner schäbigen Kleidung lag. Wahrscheinlich hielt man ihn für einen Obdachlosen. Er selbst konnte das nicht beurteilen, da er schon seit einer Woche nicht mehr in den Spiegel gesehen hatte.

Stalker betrat zusammen mit der rothaarigen Frau einen der Fahrstühle. Als sich die Tür schloss zuckte er zusammen. Er hatte immer noch das Bild des Aliens vor Augen, wie es mit seinen langen Tentakeln nach ihm griff. Nach diesem Geistesblitz folgten weitere schmerzhafte Erinnerungen. Das unheilvolle Knacken der Rückräder der zwei Flüchtlinge, das Rauschen des Sandsturmes, das ihm noch in den Ohren hing und letztendlich Thomas wie er neben Jonathan am Feuer saß und erzählte. In diesen Momenten hatte er sich gefühlt, als hätte er nun endlich den Vater gefunden, den er sein ganzes Leben lang nicht gehabt hatte. Seltsamerweise fühlte er noch keinen Schmerz über das was er erlebt hatte. Er wandelte wie in einem schlechten Traum umher und versuchte verzweifelt aufzuwachen. Doch es nutzte nichts.

Leise surrend, setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung und fuhr nach oben. Mit einem Mal fühlte sich Jonathan klein und unbedeutend. Durch die gläserne Fahrstuhltür wirkte das Innere des säulenförmigen Gebäudes noch riesiger als sonst. Die Decke lag so weit von ihnen entfernt, dass Stalker froh war, dass der Fahrstuhlboden nicht auch durchsichtig war. Sein Blick, der gerade noch so unendlich entfernt gewirkt hatte, als wäre er nicht mehr in dieser Welt gewesen, leuchtete auf einmal auf. Das Innere der Säule bestand aus unzähligen kreisförmigen Stockwerken, die um den tiefen Abgrund des Schachtes gebaut worden waren und von vielen unterschiedlichen Menschen bevölkert wurden.

Hohe Geländer schützen vor dem tiefen Sturz und nur ein paar Brücken führten in die Mitte des Raumes zu den Fahrstühlen.

"Das sind die Quartiere für das Personal. Die von unseren Mitarbeitern sind weiter oben.", sagte die Frau, die bemerkt hatte, dass Jonathan fasziniert an der Glasscheibe klebte.

Ungefähr fünfzehn Stockwerke später, stoppte der Fahrstuhl in einer Etage, die absolut anders aussah als die anderen. Statt des großen Abgrundes war dort Boden, wie in der großen Eingangshalle. Nur der Fahrstuhlschacht drang durch den Grund und führte weiter nach oben, wo sich die Stockwerke wiederholten.

Jonathan und die Frau stiegen aus und schritten auf eine große weiße Metalltür zu, neben der zwei große Männer standen, die beide Waffen trugen und misstrauisch guckten, als sie den jungen Mann sahen.

"Hallo, ihr beiden!", begrüßte die Frau sie freundlich, "Ist Kahn noch im Unterricht?"

"Ja.", antwortete einer der Männer steif.

"Warum denn so ernst heute, Lucas? Das mit der Gehaltserhöhung hat wohl nicht geklappt?"

Jonathan wunderte sich über die seltsame Offenheit der Frau. Er selbst hätte nie daran gedacht in so einem Ton mit diesen bewaffneten Wachen zu sprechen.

Zu seinem erstaunen lächelte der Kerl und antwortete um einiges besser gelaunter: "War doch nur ein Spaß. Ist das dein Freund?" Er deutete auf Stalker.

"Nein." Sie wirkte beschämt und lief rosa an. "Aber er ist sauber, falls du das meinst. Brauchst du meine Karte zur Bestätigung oder lässt du mich auch so rein?"

Der Wächter winkte ab, wobei ihn sein Partner ungläubig musterte und dabei so wirkte, als wolle er ihn sofort zurecht weisen, sagte aber nichts.

Dankbar lächelnd führte die Rothaarige Jonathan an den Beiden vorbei und drückte die Tür mit einiger Mühe auf. Dahinter lag ein Tunnel, von dem mehrere Türen weg führten.

"Merken Sie sich eins!", sagte die junge Frau plötzlich, "Bleiben Sie dicht bei mir und wenn Sie mich verlieren sollten, bleiben Sie einfach wo sie sind!"

Jonathan nickte eifrig, obwohl ihm nicht klar war, wo er sich hier hätte verlaufen sollen. Seine anfänglichen Zweifel legten sich jedoch auf der Stelle, als sie durch eine zweite Tür getreten waren. Sie waren wieder in einen riesigen und hohen Raum getreten, der diesmal aber eine normale Form hatte. Wieder führten eine Menge Türen aus diesem Saal, wahrscheinlich (wie Jonathan vermutete) in ebenso große Hallen. Eine Masse von Männern und Frauen die alle eine einheitliche Kleidung trugen, füllte in mehreren Reihen angeordnet fast den gesamten Saal aus. Sie bewegten sich synchron und erstellten immer wieder neue kompliziertere und seltsamere Formen. Durch das gleichzeitige Aufkommen der Füße auf dem komplett mit Gummimatten bedeckten Boden, entstand ein dumpfes Geräusch, das an den Wänden mehrfach zurück geworfen wurde.

Jonathan konnte erkennen, das eine einzelne Person durch die Reihen streifte und die anderen beobachtete. Es war ein Mann, der eine komplett andere Tracht an hatte als die anderen. Zwar war er auch in weiß gekleidet, aber im Gegensatz zu den vielen Frauen und Männern, die Jonathan bis dahin gesehen hatte, war sein Oberteil feiner zugeschnitten, hatte einen Kragen und war kürzer. Es lag viel enger an und wurde von drei silbernen Schnallen zusammengehalten. Doch das Auffälligste war das dunkelblaue Wappen auf seiner linken Brust, das Stalker bereits am Eingang gesehen hatte. Anscheinend war dieser fremde Mann eine Autoritätsperson und genoss einen hohen Status. Jonathan sah auch, dass er weißes Haar hatte, was ihn noch seltsamer wirken lies.

Also ein älterer Herr, stellte Jonathan fest. Dieser Gedanke erinnerte ihn plötzlich wieder an Thomas. An sein Lächeln, an seine glasigen Augen hinter den großen Brillengläsern, die irgendwie immer traurig geschaut hatten.

Plötzlich wurde er von der Seite sachte angetippt.

"Ich habe noch eine Bitte an Sie." Die rothaarige Frau sah ihm direkt in die Augen. "Überlassen Sie mir das Reden!"

Er war einverstanden. Was hätte er auch sonst tun sollen. Jonathan war nie ein Mann der geschickten Rede gewesen. Dafür kannte er sich beim Slang besonders gut aus.

Die Frau verschwand kurz darauf zwischen den posierenden Leuten und kehrte wenige Zeit später mit dem seltsamen Mann zurück. Doch bevor er Jonathan erreichte, hielt er inne und drehte sich zu den trainierenden Männern und Frauen um.

"Schluss für Heute! Morgenfrüh um fünf wieder hier!"

Sie schienen verständlicherweise alle erleichtert. Wäre Jonathan an ihrer stelle gewesen, hätte in das Morgenfrüh um fünf wieder launisch nach unten gezogen, denn er war der geborene Pessimist.

Aufgeregt schwatzend verlies die Schar den Raum und der Mann stand nun genau vor Jonathan. Zu der Verblüffung Stalkers, war der Fremde keineswegs alt. Er schien nicht viel älter als er selbst zu sein. Nur sein Haar war vollständig ergraut.

Neugierig musterten die grauen Augen Jonathan Stalker. Dann lächelte er und streckte ihm seine Hand zur Begrüßung entgegen. Verwirrt erwiderte Jonathan die Geste.

"Jonathan Stalker, nehme ich an. Wir haben Ihren Ausweiß in Ihren Sachen gefunden. Sie hatten sie verloren, als Sie geflohen sind."

Immer noch verblüfft über die merkwürdige Erscheinung seines Gegenübers nickte Stalker mühsam. Ihm war aufgefallen, dass der Herr mit Gel seine Haare etwas aufgestellt hatte, wahrscheinlich um auf sein eigentliches Alter hinzuweisen. Die Frau hatte bis jetzt kein Wort mehr gesprochen. Sie machte fast den Eindruck als ob es ihr untersagt wäre.

"Sie kommen bestimmt wegen ihrem Gepäck. Ich --"

"Nein. Ich ... Entschuldigung, Sir ... Ich komme eigentlich wegen einem Freund, der während des Angriffs bei mir gewesen war."

Dem Mann hatte es den Atem verschlagen. Er schien es nicht gewohnt zu sein, unterbrochen zu werden. Trotzdem lächelte er weiter gütig, als wäre er die Ruhe selbst.

"Ein Freund? Ich habe davon gehört. Wenn Sie mir folgen würden." Er geleitete Jonathan zur anderen Seite des Raumes und als die junge Frau Anstalten machte ihnen zu folgen, wehrte er abrupt ab. "Ich glaube, Anna, Sie werden hier nicht mehr gebraucht! Sie können Schluss machen."

Sie neigte ihren Kopf leicht, wie bei einer Verbeugung und verschwand dann wieder hinter

der Tür, aus der sie gekommen war.

"Sie haben also Bekanntschaft mit unseren Freunden gemacht?" Dabei sprach der Mann das Wort Freunde so sarkastisch aus wie nur möglich.

"Ja, Sir."

"Sie brauchen mich nicht Sir zu nennen, auch nicht Meister wie es meine Schüler tun. Ich heiße Kahn-Dûke."

"Ähm ... wenn Sie meinen." Jonathan fand den Namen genauso seltsam wie seinen Besitzer, zollte jedoch einen hohen Respekt, ohne zu wissen wen er überhaupt vor sich hatte. Auch wenn dieser Kahn ein wenig kleiner war als er selbst, hatte er etwas an sich, dass Jonathan nicht beschreiben konnte. Ein weiteres Mal fiel sein Blick auf das ovale Wappen. Und er erinnerte sich.

"Warum nennt sie die Bevölkerung Engel?", platzte es auf einmal aus ihm heraus.

Der Mann neben ihm zog die Augenbraue hoch und antwortete langsam: "Weil es unser Name ist. Wir sind die Gemeinschaft der Engel. Es ist unser Synonym. Jeder unserer Mitarbeiter besitzt seine eigene Anonymität in Form eines Decknamens."

Auch wenn er es nicht sagte, war Jonathan erleichtert, dass Kahn-Dûke nicht sein wirklicher Name war. Ansonsten hätte er die Eltern für verrückt erklärt.

Eine peinliche Stille trat ein. Jonathan Stalker starrte seine Füße an und überlegte, was er nur falsch gemacht haben könnte, dass er hier gelandet war. Ihm fiel absolut nicht die kleinste Kleinigkeit ein, an der er selbst schuld gewesen war ... oder doch? Ja. Hätte er nicht aus Neugier den Fahrstuhl genommen, wären jetzt noch sechs Leute am Leben und überhaupt: Warum hatte gerade er überlebt?

Eine Tür glitt auf und gab eine lange Treppe frei. Nach der letzten Stufe folgte eine weitere Tür.

"Wo gehen wir hin?", fragte Jonathan, der sich langsam Sorgen um sich selbst machte.

"Zur medizinischen Abteilung. Unsere Wissenschaftler werden nicht gerne gestört, wissen Sie. Deshalb die vielen Türen." Kahn zog sein Handgelenk über den Display des Sicherheitssystems und der Durchgang öffnete sich mit einiger Verzögerung.

Wieder kamen sie auf einen Gang. Aber diesmal konnte man an den Seiten Glasfenster sehen, durch die man in die Büros sehen konnte. Bei den meisten, hatte man jedoch die Jalousien zugezogen.

"Seltsame Leute!", sagte Jonathan leise, merkte aber sofort, dass er gehört wurden war.

"Ja, nicht wahr? Sie haben seltsame Angewohnheiten, sind aber außerordentlich wichtig.", antwortete Kahn automatisch. "Aber das ist noch gar nichts! Warte bis wir an Büro Nummer 023 vorbeikommen!"

Und tatsächlich. Der Krach war schon zehn Nummern vorher zu hören. Es klang, als wäre dort ein heftiger Streit im Gange. Kurz bevor die beiden Männer die Tür erreichten, flog diese auf und der bis dahin noch gedämpfte Tumult, tobte in voller Lautstärke.

"ACH JA?!?! Dann sag mir doch mal wie du das anstellen willst! Das nächste Mal liest du dir gefälligst die Ergebnisse durch, DU IDIOT!!!" Wütend fauchend stürmte eine kurzhaarige Blondine an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten. Sie schüttelte missbilligend den Kopf und kniff dabei genervt die Augen zu.

"Hallo Alex ...", rief Kahn trotzdem zur Begrüßung, wurde aber nicht gehört, da die Frau mit dem weißen Chemikerkittel schon den Gang entlang rauschte.

Plötzlich tauchte ein zweites vor Wut rot angelaufenes Gesicht auf. Ein junger Mann mit ebenfalls kurzem, blonden und aufgestellten Haar tauchte in der Eingangstür zu Büro 023 auf. In seinen Augen blitzte der blanke Zorn und er machte den Eindruck, als ob er gleich explodieren würde.

"LIES ES DOCH SELBER!!!", brüllte er ihr hinterher, wobei ihm fast die Brille von der Nase gerutscht wäre. "Du kleines Mis--"

Die Stimme versagte ihm, als sein Blick auf Kahn fiel der sich lächelnd vor ihm aufgebaut hatte.

"Hallo Benjamin!"

"Guten Abend, Chief.", sagte mit einiger Verzögerung. "Es ist jedes Mal das Selbe. Immer wenn irgendwas schief geht, bin ich schuld."

Er verdrehte leicht die Augen und heftete sie kurz darauf auf Jonathan.

"Wer ...?"

"Ach, Entschuldigung!", sagte Kahn hastig, "Das ist Jonathan Stalker. (Der andere Mann zog skeptisch die Augenbrauen hoch und Jonathan schnaubte genervt) Jonathan, das ist Benjamin Rembrandt."

Nun grinste Stalker, was ihm im nächsten Moment ein wenig gehässig vorkam. Schnell lies er seine Mundwinkel wieder hinuntersinken.

"Und dieses nette Fräulein da hinten", bemerkte Rembrandt, "heißt Alexandra Smith."

Er deutete mit dem Finger auf die kurzhaarige Blonde, die gerade den Gang wieder zurückstürmte und mit einem drohenden Blick auf Benjamin an ihnen vorbeiging.

"Ich muss dann mal weitermachen, Chief." Der Mann im weißen Kittel drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand im Büro.

"Moment!" Kahn-Dûke schob seine Hand blitzschnell in den Türspalt und drückte sie wieder auf.

Erschrocken drehte sich Rembrandt um.

"Wie sieht´s mit Order 053 aus?"

"Nichts Neues. Aber wir kommen gut voran."

"Gut. Das wollte ich bloß noch einmal wissen." Kahn lies die Tür wieder zufallen und wandte sich wieder an Jonathan. "Lassen Sie uns weitergehen."

Nun übermannte ihn die Neugier und er fragte unsicher: "Wohin gehen wir überhaupt, Sir? Oh, ich meine ..."

Doch Kahn fiel ihm schon ins Wort: "In die Leichenhalle. Da werden alle Opfer zur genaueren Untersuchung aufbewahrt und später verbrannt. Es sind zu viele um sie alle dort zu behalten. Wir wollen bloß sichergehen, ob wir mit unserer Vermutung richtig liegen, verstehen Sie? Es tut mir Leid, aber ich fürchte das lässt sich nicht vermeiden."

Jonathan nickte kurz angebunden. Was sollte er auch anderes tun. Sollte er etwa erwähnen, dass ihm die Vorstellung eine Leiche zu sehen, einfach zu Wider war? Ihm war durchaus klar, dass er jetzt sehen würde, was der Sandsturm vor seinen Augen bislang verborgen hatte und genau das machte ihm Angst.

Verzweifelt versuchte er seine Gedanken zu ordnen und starrte dabei auf seine Füße. Ihm fiel auf, dass auf dem schlichten weißen Boden an jeder Abzweigung der Gänge kleine Pfeile und Buchstaben auftauchten. Eine Art Wegweiser. So etwas hatte er schon einmal in der U-Bahn gesehen. Es war an dem Tag gewesen, als er gefeuert wurde. Die Bahn hatte eine halbe Stunde Verspätung wegen eines Selbstmordversuches, irgendwo im Westviertel, gehabt. Jonathan kam auf Grund dessen bereits zum dritten Mal zu spät zu seiner Arbeit als Verkäufer bei einer Supermarktkette, die sich "Storley´s" nannte. Trotz genauer Darlegung der Ereignisse wurde er sofort und ohne Abfindung vor die Tür gesetzt. Rausgeschmissen von einem Mann, der nicht verstehen konnte, warum sich jemand freiwillig einen Schlussstrich unter die Rechnung macht und dabei noch das alltägliche Leben behindert.

Wenn Jonathan Stalker noch genauer darüber nachdachte, lag es ihm nicht mehr so fern sich ebenfalls vor einen fahrenden Zug zu stürzen. Er hatte nichts mehr. Keine Wohnung, kein Geld, kein Essen, kein Trinken und niemanden, an den er sich wenden konnte.

Hätte er doch nur genug Geld sich lebendig einfrieren zu lassen, wie es einer seiner Freunde getan hatte. Dieser wartete jetzt noch fünf Jahre darauf, dass man ihn endlich wieder auftaute. Ob fünf Jahre reichten, um die schlechte Zeit zu überbrücken?

Jonathan wurde aus der Träumerei gerissen. Plötzlich war es kalt um ihn herum geworden. Er sah wie sein Atem in kleinen Dampfwölkchen aufstieg und wieder verblasste. Erst jetzt bemerkte er, dass sie bereits in der Leichenhalle angekommen waren. Es war ein langgezogener Raum, der ziemlich weit nach hinten führte. An den Wänden waren überall große Schubladen angebracht, in denen man die Toten aufbewahrte. Kahn-Dûke hatte sich mitten ihm Raum neben einem der herumstehenden Obduktionstische postiert und blickte zu Jonathan: "Wie heißt Ihr Freund noch mal? Nennen Sie einfach seinen Namen!"

"Thomas Hikes.", rief Stalker laut, damit Kahn ihn auch verstehen konnte. Doch das war nicht mehr nötig, denn ziemlich am Ende der langen Halle wurde eine Schublade ausgefahren.

Erstaunt betrachtete Jonathan das Geschehen.

"Spracherkenner!", sagte Kahn stolz und widmete sich der kleinen Karte, die am inneren Rand der erschienenen Barre befestigt war, "Warten Sie! Nicht!"

Jonathan hatte schon nach dem dünnen Tuch gegriffen, das die Leiche verdeckte.

"Lassen sie mich ersteinmal sehen!" Kahn öffnete warf einen flüchtigen Blick unter den Stoff und verzog unangenehm das Gesicht. "Ich glaube es ist besser, wenn ich Ihnen die Gesichtsrekonstruktion zeige, weil ich glaube nicht, dass ... Was machen Sie da?!"

Doch Jonathan hatte das Lacken schon zur Seite geschlagen und starrte nun mit Entsetzten die Überreste seines Freundes an. Das Gesicht war wirklich so deformiert, dass er Mühe hatte Thomas zu erkennen. Durch die weiße Haut stachen die bläulich angelaufenen Wunden heraus und gaben zusammen mit dem angetrockneten Blut ein schauriges Bild ab. Zu Tode erschrocken über diesen Anblick, sprang Stalker ruckartig nach hinten und langte mit seiner linken Hand in ein Skalpell, das neben den anderen Obduktionsgerätschaften auf dem kleinen Beistelltischchen hinter ihm lag. Der Schnitt war tief und scharf. Der Schmerz stach bis ins Mark. Reflexartig griff Jonathan nach seinem Handgelenk um die Blutung zu stoppen, doch Kahn-Dûke war schneller. Er hatte die Leiche schnell wieder verdeckt und streckte Jonathan bereits schon ein weißes Taschentuch hin. Dieser ergriff es und presste den weichen Saum gegen den Riss in der Handinnenfläche.

"Scheiße!", zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.

"Das macht nichts! Die Geräte sind desinfiziert.", sagte Kahn mit einiger Besorgnis in seiner Stimme.

"Ach, deswegen brennt der Mist so!", erwiderte Stalker, der nun, da er das Blut abgewischt hatte, das Resultat begutachtete. Der Schnitt zog sich über die gesamte untere Hälfte der inneren Handfläche entlang und blutete ohne Unterlass.

"Aber eins kann ich Ihnen sagen! Das war er. Eindeutig." Nun sprach er ernst weiter. Auch wenn das Eckel erregende Bild des Leichnams in seinen Gedanken weite Kreise zog.

"Gut, das war eigentlich alles, was wir von Ihnen wissen wollten. Wenn Sie mich bitte wieder nach draußen begleiten würden!", sagte Kahn monoton, "Ich kann zwar nur erahnen, wie Sie sich jetzt fühlen müssen. Mir tut es auch leid, aber wir haben uns schon mit der Zeit daran gewöhnt. Drum verstehen Sie mich nicht falsch, wenn ich nicht alles nachvollziehen kann."

"Schon OK.", antwortete Stalker automatisch und stellte entsetzt fest, dass er kein Gefühl der Trauer spürte. Sein Kopf war leer und er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es schien ihm, als ob er allmählich in eine andere Welt hinüber gleiten würde und sich dort langsam auflöste.

Sie durchquerten bereits die Trainingshallen, als Kahn-Dûke Jonathan plötzlich von der Seite her ansprach: "Wenn Sie mir die Frage gestatten: Was haben Sie jetzt vor?"

Jonathan drehte seinen Kopf leicht und antwortete leicht verträumt: "Ich werde schon irgendwas finden. Vielleicht bekomme ich ja eine Unterkunft für einige Tage und dann ..."

Er zuckte mit den Schultern.

"Wenn Sie wollen, können Sie heute Nacht hier bleiben. Wir haben noch freie Appartements."

"Nein, Danke! Ich komme schon klar.", rief Jonathan schnell, denn er wusste, dass er auf gar keinen Fall noch länger bei dieser Sekte von Verrückten bleiben wollte. "Machen Sie sich da mal keine Sorgen!"

"Wenn Sie meinen ..." Kahn verlangsamte seinen Schritt und blieb vor dem Fahrstuhlschacht stehen. Er drückte auf den ovalen Silberknopf. "Gut, dann wünsche ich Ihnen noch viel Glück und eine erholsame Nacht. Und denken Sie daran. Sie sind hier immer willkommen."

Kahn lächelte geschmeichelt, als sich Jonathan mit einer leichten Verbeugung von ihm verabschiedete. Dann verschwand seine ehrfürchtige Gestalt hinter einer der vielen Türen, die in weitere unergründliche Räume führten.
 

Nach einigen Minuten stand Jonathan Stalker wieder auf dem großen Platz draußen in der eisigen Dunkelheit. Im Gebäude hinter ihm erloschen langsam die Lichter. Es fröstelte ihn und er war verdammt müde. Dieser Tag war mit Abstand der schlimmste seines Lebens. Darin bestand kein Zweifel. Langsam fing er an seine Entscheidung, das spontane Angebot des Mannes auszuschlagen, zu bereuen. Vielleicht wäre die Nacht doch noch reibungslos verlaufen, ohne dass er sich mit diesen Irren noch hätte weiter abgeben müssen. Einfach nur schlafen und dann so früh es geht wieder raus aus diesem monströsem Hochbau. Aber Jonathans Verstand hatte sich wieder einmal viel zu spät eingeschaltet und so hatte sein ausgelaugter Körper die Nachsicht.

Er schaute an seiner verletzten Hand entlang und die Schmerzen kehrten zurück, genauso wie die, damit verbundenen Bilder. Das sollten also die Menschen gewesen sein, die diesem Viechern vom anderen Stern gewachsen sind? Das waren die Engel, von denen man hier so ehrfürchtig sprach?

"Engel? Pah!" Jonathan warf seinen Kopf in den Nacken und starrte zum Himmel empor. "Nichts weiter als ein Haufen seltsamer Christen und Wissenschaftler. Und die sollen den Menschen Hoffnung geben?"

Die Nacht war sternenklar und ein eisiger Wind strich durch die Straßen und Gassen. Und gerade als Jonathans Blick auf seinem vom Mondlicht geworfenen Schatten zurückschweifte, kam ihm die Erleuchtung. Der Moonside-Club! Diese Frau ... Èmalia oder so ... hatte ihn doch einmal erwähnt, oder? Natürlich! Wie konnte er das nur vergessen?

Sofort machte er sich auf den Weg, den er nicht kannte. Aber was sollte er sonst tun? Auf der Straße zu schlafen, war hier in einer solchen Großstadt gefährlicher als wenn er mit geschlossenen Augen über die Straße laufen würde. Dort gab es eine Menge Gangs, Drogendealer, Sekten und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte die Mafia auch hier ein weitgreifendes Netz gespannt.

Bei diesem Gedanken schüttelte es ihn regelrecht und er hauchte ein Wölkchen kondensierender Atemluft aus. New Atlanta lag mitten in einer wüstenähnlichen Einöde. Wüstennächte waren bekanntlich kalt und das Einzige, was Jonathan anhatte, waren seine Jeans und sein zur Hälfte zerfetztes Hemd. Und natürlich seine Wildlederschuhe. Die teuren Stücke waren jedoch schon nicht mehr unter der dicken Staub- und Dreckschicht zu erkennen. Er sah aus wie ein verwahrloster Landstreicher. Verdreckt, hungrig und hundemüde.

Er ging weiter. Über den großen Platz und an den hohen, altmodischen Steinbauten vorbei. Dabei wanderten seine Augen über eine Vielzahl von breiten Werbebildschirmen, die um den Platz herum an den Hauswänden angebracht waren und fortwährend Produkte wie den neuen Mercedes Highway-Surfer priesen. Dagegen hätte sein kleines primitives Xilocar ausgesehen wie ein Stück Steinzeitgeschichte.

Langsam nährte er sich der Reihe von Häusern, die schon zum unmodernen Teil der Stadt gehörten. Sein Orientierungssinn verlies ihn erst, als er wieder an der Stelle stand, wo man ihn so lieblos abgesetzt hatte. Aber der Ort hatte sich komplett verändert. Die Wände wirkten noch höher und kälter als vorher, was vielleicht daran lag, dass an dieser Seite die Fenster fehlten. Es roch nach Rauch und eine merkwürdige Unruhe lag in der Luft. Am Ende der dunklen Gasse flackerte eine kleine Feuerstelle und versprühte glühende Funken. Die drei Männer, die in den rötlichen schein des Feuers getaucht waren, blickten kurz auf, als Jonathan um die Ecke gestürmt kam, in der Hoffnung, dass die junge Frau auf unergründliche Weise plötzlich wieder vor ihm stehen würde. Zwei von ihnen senkten wieder die Köpfe, doch einer blickte ihn weiter unentwegt an. Der braunhaarige Mann zog die Hände über dem Feuer zurück und steckte sie in die löchrigen Taschen seines flickenbedeckten Mantels. Jonathan war unwohl zu Mute und er kehrte den drei Gestalten den Rücken zu.

Jonathan, gepackt von der Angst überfallen zu werden, verlies zügig und ohne sich umzusehen die schmale Lücke zwischen den beiden Häusern. Er beschleunigte seine Schritte, als ihm auffiel, dass überall im gesamten Viertel kleine Feuer brannten, um die sich gierig Menschen drängten, die etwas Wärme in der eisigen Nacht suchten.

Einige Straßen später besann er sich und versuchte nun geordnet vorzugehen. Er sah sich um. Auf der anderen Straßenseite stand ein junges Pärchen, das gerade in ein Gespräch vertieft schien. Der Mann gestikulierte wild herum und deutete auf etwas, was er in seiner Hand hatte. Jonathan Stalker ging auf die beiden zu. Nach einem dreiviertel des Weges wurde ihm klar, wen er da vor sich hatte. Er erkannte es an der Art wie das Mädchen gekleidet war. Sie trug hochhackige Schuhe und ein kurzes Kleid, außerdem war sie über und über mit kleinen Perlen und Kettchen behängt, die matt im Licht eines Fensters schimmerten. Eine Prostituierte, oder zu mindestens ein Cyborg, der diesen Job erledigte, denn kaum eine Frau gab sich mehr solch niederen Dingen hin, zumal die Zuhälter auf diese Weise mehr Geld verdienen konnten.

Trotz dieser Tatsache verlangsamte Jonathan seinen Schritt nicht. So etwas war ihm nicht ganz so unangenehm, als wen er einen dieser Streicher ansprechen musste.

"Nun komm schon! Mehr habe ich nicht!" Der Mann hielt der Frau ein Bündel Eurachips unter die Nase und wedelte ungeduldig damit herum.

"Nichts da! Wenn ich sage sechzig, dann meine ich auch sechzig! Haben Sie das soweit verstanden, werter Herr?", erwiderte der Cyborg empört.

"Ach hör schon auf! Du kannst doch nicht so viel kosten. An jeder anderen Straßenecke bekommt man eine mindestens um 20 Chips billiger!"

"Na dann gehen Sie doch und suchen sich eine andere!"

Mit einer letzten harten Beleidigung zog der Mann von dannen und Jonathan trat an seine Stelle.

Das Cyborg-Mädchen riss entzögt die Augen auf und bandelte sofort an: "Guten Abend, Süßer! Was willst du denn? Ich hätte da ein paar --"

Doch Jonathan unterbrach sie unsanft: "Entschuldigen Sie, aber eigentlich möchte ich nur wissen, wo der Moonside-Club ist."

"Aber, dafür bleibt doch noch genug Zeit. Die Nacht ist lang, mein Kleiner. Nur nicht so schüchtern!" Sie beugte sich absichtlich weit nach vorne, sodass Jonathan einen tiefen Einblick in ihren Ausschnitt erhaschte.

Leicht verunsichert stotterte er: "Nein ich ... Ich b-brauche nur diese eine Information. Leider kann Ihnen kein Geld dafür anbieten. Ich bitte Sie, es ist sehr wichtig."

Sie zögerte und antwortete dann ein wenig beleidigt: "Da drüben gleich um die Ecke. Ich kann Ihnen nicht empfehlen dort hinzugehen, aber bitte. Wenn Sie sich in solch eine Gesellschaft hinein begeben wollen. Es ist ja Ihre Sache."

"Das ist es in der Tat!", sagte Jonathan freundlich, "Ich wünsche Ihnen trotzdem noch viel Erfolg und gutes Geld."

"Danke, aber nun machen Sie, dass Sie verschwinden. Sie halten mir ja bloß die Kundschaft fern!", sagte sie mit einem etwas entspannteren Ton und lies Jonathan vorbeigehen.

Aus dem Augenwinkel glaubte Stalker zu sehen, dass sich das Mädchen nervös durch die Haare fuhr und verunsicherte Blicke zu allen Seiten warf.

Diese Stadt wurde ihm immer unheimlicher. Alles schien wie ein einziger Albtraum, der zäh an ihm vorbeifloss. Ein Albtraum, aus dem er unbedingt aufwachen musste ...
 

Der Moonside-Club war ein kaputtes graues Gebäude mit gerade Mal vier Stockwerken. Von den verdreckten Wänden bröckelte der Putz in großen Stücken ab und über der großen Stahltür flackerte in verschlungenen grünen Neonbuchstaben der Name Moonside-Club. Alles das wirkte wenig einladend, wenn Jonathan ehrlich war, sogar abstoßend.

Doch durch die verschmierten Fensterscheiben, schimmerte warmes Licht und gerade das war es, was Jonathan Stalker ein Stückchen Hoffnung gab. Er kratzte den letzten Rest seines verbliebenen Mutes zusammen und klopfte hart an Tür. Einige zeit lang regte sich nichts, doch dann von einem Moment auf den anderen, wurde die Tür aufgerissen und ein riesiger glatzköpfiger Kerl stand vor ihm. Jonathan schrumpfte innerlich so zusammen, dass er erst gar kein Wort heraus brachte.

"Was willst du?!", schnauzte ihn der Gorilla an.

"Eine Unterkunft ...", sagte Jonathan so leise, dass man kein einziges Wort verstand.

"Was?!"

"Ich will einfach nur eine Unterkunft!", rief er nun schon etwas lauter.

Der Riese sog scharf die Luft durch seine Nasenflügel ein, tratt aber letztendlich doch zur Seite.

Jonathan hatte erst einen Schritt in den Club gesetzt, als ihn schon das wohlige Gefühl der Wärme umfing. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und als er sie wieder öffnete, erreichte der Albtraum einen weiteren Höhepunkt, der Jonathan derart schockte, dass er das Atmen vergaß. Hinter dem breiten Tresen des Eingangsraumes stand das hässlichste Weib, was Jonathan in seinem bisherigen Leben gesehen hatte und blickte in mit ihren unterlaufenen Augen an. Ihr fahles Gesicht war faltig und der Versuch diese Tatsache mit Schminke abzudecken, war gänzlich misslungen. Die rosigen Wangen, der dunkelrote Lippenstift und die abgrundtief schwarze Wimperntusche machten das Ganze nur noch schlimmer. Die Bleiche ihres Gesichtes kam durch die langen schwarzen Haare erst recht zum Ausdruck. Von den Sachen, die sie trug, sahen mindestens die Hälfte so aus, als beständen sie aus einer Art Lack-Leder-Gemisch, bloß noch einen Tick schlimmer. Im Großen und Ganzen sah dieses Etwas (Jonathan weigerte sich, es Frau zu nennen) aus wie eine knallbunte Presswurst, der man schon das Meiste ihres Inhaltes abgenommen hatte.

Stalker war so negativ überrascht, dass er nicht einmal bemerkte, dass sie ihn schon die ganze Zeit über mit ihren wässrigen großen Glupschaugen angeglotzt hatte, als ob er hier aussehe wie ein Verschnitt von Frankenstein`s Monster, und nicht sie.

Sein Zustand verschlimmerte sich noch mehr, als die Alte mit einer noch ätzenderen Stimme anfing zu sprechen.

"Mister? Mister, was wollen Sie hier? Hören sie mir überhaupt zu?", krächzte sie und stemmte dabei ihre knochigen Arme in die Hüften.

Jonathan wurde hart von hinten angerempelt. Der Türsteher blickte ihn mit bösem Blick in die Augen.

"Ich ... ich ...", stotterte er.

"Ich?"

Jonathan bemühte sich mit festerem Ton weiter zu sprechen, obwohl er sich gerade am Rande des Wahnsinns befand: "Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl eine Unterkunft für mich hätten."

"Na bitte!", schnarrte sie und fing sogleich damit an in dem Regal hinter ihr nach einem Zimmerschlüssel zu kramen.

"Aber, da gäbe es ein Problem.", rief Jonathan schell, dem eingefallen war, dass er ja kein Geld hatte, um ein Zimmer zu mieten. "Ich habe kein--"

"Geld?"

Stalker drehte sich erschrocken um. Die ganze Zeit hatte er es gehofft und nun stand sie vor ihm: Die asiatische Schönheit mit dem langen seidig schwarzem Haar und ihrem hautengen Dress.

Jonathan glaubte zum ersten Mal an diesem Tag einen wahren Engel zu sehen. Auf einmal war alles in bester Ordnung und sogar das verwunderte Gesicht der Alten hinter dem Tresen verschwand für einen Augenblick aus seinen Gedanken.

Was war nur mit ihm los? Vorhin hatte er doch noch nicht so über sie gedacht und nun als sie vor ihm stand, schien alles so ... klar. Nun würde er ihr Gesicht nie mehr vergessen und ihren Namen ... Èmalia.

"Brauchst du Hilfe?", fragte sie mit einer solchen süßen Freundlichkeit in der Stimme, dass Jonathan aufs Neue total aufgewühlt wurde, aber nun musste er sich zusammenreißen. Er musste ihr zeigen, was er für starke Nerven hatte.

"Nein, ich komm schon klar!", sagte er und richtete sich kaum merklich auf, "Kein Problem."

"Ach, hör schon auf! Ich weiß, dass du kein Geld hast.", sagte sie protestierend und legte ein Bündel Eurachips auf den Tresen.

Die faltige Frau starrte wie eine Ölgötze das Mädchen an und sagte dann langsam und unerträglich knarzend: "Aber Èmalia! Er ist ein fremder Mann!"

"Nein! Er ist ein Freund, Vicky! Gib ihm bitte ein Zimmer."

Jonathan Stalker stand wie angewurzelt ihm Raum. Er war ihr Freund! Sie hatte Freund gesagt! Er konnte nicht fassen, was mit ihm passierte. Eigentlich müsste er nach diesem Tag nur noch auf dem Zahnfleisch kriechen, aber auf einmal füllte er sich als könnte er Bäume ausreißen. Er atmete tief durch als Èmalia ihm zum Abschied die Hand gab und die schrullige Frau ihn widerwillig hoch zu den Apartments geleitete.

Doch diese Stimmung hielt nicht lange an. Kaum hatte ihn die Alte auf seinem Zimmer alleine gelassen, holte ihn schlagartig alles wieder ein. Er wurde nahezu von den Bildern überrollt. Immer und immer wieder tauchten die vielen Toten vor seinen geistigen Auge auf. Da waren Thomas, die zwei Männer und die tausend und abertausenden von Menschen, die bei den Angriffen und der Flucht ums Leben gekommen waren. Erst jetzt fing er an zu begreifen, dass das alles kein Spiel war, sondern die Realität. All das war wirklich passiert. Der Schlag traf ihn dermaßen hart, das er dachte seine Seele würde ihm bei lebendigen Leibe ausgerissen. Der Druck stieg und Jonathan fand keinen Weg mehr aus seiner Verzweiflung.

Still saß er da und die ersten heißen Tränen flossen über seine Wangen zum Kinn hinab und tropften leise auf sein zerfetztes Hemd.

Er wusste nicht mehr weiter. Er war am Ende. Mit den ersten Tränen brach seine Hoffnung wie ein Kartenhaus über ihm zusammen und begrub ihn unter sich.

Stalker lies sich schluchzend auf das Bett fallen, dass man provisorisch für ihn hergerichtet hatte und weinte. Er war ein Mann, der sich seinen Tränen nicht schämte, da er allen Grund dazu hatte sie zu vergießen. Er war allein und das Glück hatte ihn schon vor langer Zeit verlassen. Er brauchte einen Menschen an den er sich halten konnte. Er brauchte Thomas, aber er war tot. Dieser Gedanke war wie ein weiterer Stich in Jonathans Herz. Wer konnte ihn jetzt noch halten? Wer konnte ihn jetzt noch trösten?

Da durchfuhr es ihn wie ein Stromschlag: Èmalia! Sie würde ihn verstehen. Und wie auf ein geheimes Zeichen hin, klopfte es an der Tür und Èmalia trat ein.

"Oh, Gott! Jonathan, was ist passiert?" Sie stürzte zu ihm und schmiss das Tablett mit Essen, das sie mitgebracht hatte, achtlos in die Ecke.

Jonathan wollte nicht antworten. Er hatte Angst davor, seine Stimme klänge durch das Weinen, wie die des alten Weibes unten in der Eingangshalle. Also schwieg er und versuchte verzweifelt seine Tränen zu verbergen. Er wischte mit seinem Hemdärmel schnell über sein Gesicht, doch das Mädchen hatte schon alles gesehen.

"Du weinst ja! Moment ... die müssen doch ... irgendwo hier sein ..." Schnell suchte sie in den Schubladen des kleinen schäbigen Nachttisches nach einer Schachtel Taschentücher. "Aha!"

Jonathan wollte danach greifen, aber sie hielt seine Hand fest. Vorsichtig trocknete sie ihm das Gesicht. Ihm war das alles sehr peinlich. Beschämt drehte er den Kopf immer wieder zur Seite. Er konnte ihr einfach nicht mehr in die Augen sehen.

"Wie ich sehe kannst du immer noch nicht stillhalten." Sie lächelte und strich Jonathan die letzten braunen Haarsträhnen aus den Augen.

"Warum tust du das?", fragte er. Seine Stimme war rau und unfreundlich durch das Schluchzen und er räusperte sich zügig.

"Was tue ich denn?", fragte sie neugierig, "Ich helfe dir doch, oder?"

Keine Antwort. Jonathan schaute nur betreten in eine Ecke des Zimmers. Sein Kopf war leer, genauso wie seine Energienotreserve.

"Eigentlich wollte ich dir nur etwas Essen bringen, aber ich meine ... wenn du das da essen willst!"

Er blickte müde auf das zusammengewürfelte Tablett, das aus Dingen bestand, die er weder kosten, noch berühren wollte, da er Angst hatte, es würde ihm vor lauter Lebendigkeit ins Gesicht springen.

"Dabei möchte ich aber bemerken, dass ich das nicht gekocht habe!"

Sie lächelte, als Jonathan mit großer Anstrengung hochzog. Nein, ihm war nicht zum Lachen zumute, aber er dachte sich, es wäre freundlicher Èmalia gegenüber. Also tat er es einfach.

"Ich schlage dir vor du ruhst dich aus und ich bringe dir etwas Besseres zu essen."

Sie stand auf und kehrte den fremdartigen Pansch am Boden zusammen, als plötzlich eine getigerte Katze unter dem Bett hervorkroch.

"Oh, hallo! Wer bist du denn?" Sie lies das Tablett wieder sinken und strich dem pelzigen Tier über den Rücken. "Ein junger Kater. Wie heißt er denn?"

"Ein Kater? Ich habe nicht gewusst, dass sie - ich meine er ...", haspelte Stalker, ergänzte aber schnell: "Er heißt Thomas."

"Thomas?", Émalia schien verwundert, "Das ist doch ein zu menschlicher Name, oder?"

"Ja." Jonathan senkte den Kopf.

"Aber es ist ja dein Kater. Ich geh jetzt mal. Bin gleich wieder da!"

Sie griff nach dem Essen und wollte gerade aus dem Zimmer verschwinden, als ...

"Nein! Bitte, bleiben Sie hier! Ich - Ich will nicht allein sein. Bitte, ich halt das nicht aus!!!" Verzweifelt und mit neuaufsteigenden Tränen in den Augen blickte er sie an.

"Ich kann nicht! Ich muss mich beeilen. Sie werden gleich --"

Sie wurde unterbrochen. Jemand rief ihren Namen. Schlagartig drehte sie sich um.

"Ich muss los, aber du kannst immer zu mir kommen. Nimm die Treppe neben dem Service, wenn du mich suchst. Sie führt in den Keller. Ich muss wirklich los! Bitte ruh dich aus! Es wird dir gut tun ..."

Sie eilte samt Tablett hinaus auf den Gang.

Jonathan Stalker starrte durch die offene Tür auf den kahlen Gang hinaus. Er merkte wie sich die eisige Kälte wieder um ihn schloss. Für das kurze Gefühl, dass jemand bei ihm war ... dass er nicht alleine war, dafür war er dankbar gewesen. Für den einen Augenblick, der ihm im normalen Leben nicht so viel bedeutet hätte, wie er es jetzt tat. Und zum ersten Mal spürte er weder Sorge noch Trauer, weder Hass noch Liebe. Alle diese Gefühle verblassten neben dem mächtigsten Instinkt, den er als Mensch noch besaß: Der Angst.

Sie drang tief in ihn und breitete sich aus wie ein schwarzes Feuer. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sein Herz raste, seine Augen flimmerten und sein gesamter Körper erzitterte. Er hatte Angst davor sich zu bewegen. Er hatte Angst davor aufzustehen und die Tür zu schließen. Er hatte Angst davor einzuschlafen und er hatte Angst davor sich in der Angst zu verlieren.

Plötzlich sprang etwas auf seine Knie und Stalker hätte wohlmöglich geschrien, hätte er nicht in diesem Moment gewusst, dass es Thomas war. Der Kater schmiegte sich sanft an Jonathans zitternde Hände. Die Wärme des Tieres übertrug sich auf den jungen Mann und dieser fand endlich die Kraft die Zimmertür zu schließen, die Vorhänge zuzuziehen und sich, in der Erwartung ein wenig Schlaf zu finden, ins Bett zu legen. Und wieder war es Thomas, der seinem neuen Namen gerecht wurde und dem Jungen ein wenig Hoffnung gab, indem er sich auf ihm zusammenrollte und schnurrte ...

Wieder wanderte er durch den riesigen Tunnel. Er sah das Licht und beschleunigte. Er musste wissen was dort war! Diesmal musste er schneller sein! Er rannte los, nein, er flog schon fast. Und da war es wieder! Dieses metallische Klopfen, dieser rhythmische Herzschlag. Je näher Jonathan dem Licht kam, umso lauter wurde das Geräusch. Der Boden vibrierte, aber er brach nicht ein. So konnte Stalker den Ausgang erreichen. Er trat hinaus und öffnete die Augen so weit es nur möglich war. Doch alles, was er sah, war gleißendes Licht, in einer solchen Intensität, das er befürchtete zu erblinden. Das Klopfen war verschwunden, doch da war etwas anderes. Er spitzte die Ohren. Es hörte sich an wie ein Gesang, wie eine fremde Sprache. Die Töne waren rein und klar, aber ähnelten dennoch Nichts, was Jonathan je in seinem Leben gehört hatte. Dazu mischten sich einige andere Laute. Es klang wie eine weitere Sprache. Eine andere. Jonathan lauschte angestrengt den vielen verschiedenen Tönen, die langsam eine Einheit bildeten und dann mit einem Schlag verstummten. Stille.

Plötzlich fühlte sich Jonathan, als ob eine Last ihn erdrücken würde. Die Stille war drohend und er wusste, dass etwas passieren würde, dass etwas passieren musste ...
 

Mit einem Mal saß er aufrecht im Bett. Thomas war fauchend von ihm gesprungen und blickte ihn nun finster von der hinteren Bettkante an. Jonathan blickte sich schweißgebadet um. Denn obwohl er wusste, dass es nur ein Traum gewesen war, geriet er erneut in Panik. Er schlug die Decke zurück, stand auf und schlüpfte in seine Schuhe. Seine Sachen trug er immer noch am Leib. Er war zu müde gewesen um sie auszuziehen. Er musste zu Èmalia, er musste ihr von seinen Träumen erzählen. Sofort! Im Vorbeihasten, warf er einen flüchtigen Blick auf die Laseranzeige an der Wand.

23 Uhr

Er hatte knapp drei Stunden geschlafen, dennoch schien er plötzlich hellwach. Er ging zügig auf den Gang hinaus. Alles schien wie ausgestorben, nur unten von der Eingangshalle hörte er das gedämpfte Klirren von Gläsern. Er stieg die Treppen hinab ins Erdgeschoss. Sofort fiel ihm die schmale Treppe auf, die er bei seiner Ankunft noch nicht bemerkt hatte. Neben ihr hinter dem Servicetresen fuhrwerkte die alte Vicky mit einem Handtuch herum, das die Gläser, die sie putzte, nur noch dreckiger zu machen schien. Sie bemerkte ihn nicht als er sich in Richtung Keller davonstahl.

Er überlegte wie viele Treppen ein Mensch an einem Tag laufen konnte und ihm viel auf, dass seine Beine durch die heimische Rolltreppe ziemlich verwöhnt worden waren. Vielleicht lag es auch daran, dass er gerade erst aus dem Bett gestiegen war.

Die Treppe, die am Anfang gerade verlaufen war, wand sich nun im Kreis hinunter. An den kargen Betonwänden waren Neonröhren eingelassen und diese ließen das ganze noch kälter wirken. Jonathan tastete sich entlang und stieß nun auf einen kurzen Gang. An den Seiten standen eine Menge Leute. Gespensterhafte Gestalten, Bettler, Freudenmädchen, Raucher mit Goldketten, Punks, Grufties und seltsame Männer in schwarzen Anzügen. Stalker beobachtete geschockt einen Mann der einer vermummten Gestalt ein Päckchen mit weißem Pulver in die Hand drückte.

Dealer, Zuhälter, Prostituierte und wahrscheinlich auch noch die Mafia. Was war das hier? Der Moonside-Club war allen Anschein nach nicht nur eine Herberge, sondern auch der Eingang zum Untergrund von New Atlanta. Er schob sich schnell an den schleierhaften Gestalten vorbei und näherte sich der großen, verbeulten Metalltür am Ende des Flures. Plötzlich kam es ihm so vor, als ob dort drinnen gerade eine Art Konzert am Laufen war. Er hörte wie Menschen grölten und schrien. Er hörte Applaus und wüste Beschimpfungen. Dies ließ ihn an seiner Entscheidung zweifeln, denn er hatte das Gefühl, dass sich hinter dieser Tür eine Menschenmasse befand, die er lieber nicht kennenlernen wollte. Dennoch trieb ihn, wie jedes menschliche Wesen, die Neugier. Der Drang zu erfahren, was sich vor seinen Augen verbarg, war schon immer größer als seine Vorsicht gewesen. Er drückte die Klinke hinunter und schob sich durch den schmalen Spalt, der entstanden war. In diesem Moment hatte er das Gefühl von den Geräuschen, die in seine Ohren drangen, regelrecht erschlagen zu werden. Außerdem konnten seine Augen nichts weiter erkennen, als ein großes buntes Knäuel aus Menschen. Es roch nach Alkohol und Zigarettenrauch. Die Luft war schwer und nebelig. Jonathan verfiel schlagartig in eine Art Traumzustand und verlor langsam den Glauben daran, dass dies alles real war. Leicht wankend drängte er sich durch die brüllende, wogende Menschenmenge, bis er erleichtert seine Finger um eine Metallbrüstung schloss. Er stand vor einem großen rechteckigen Loch durch das man in das darruntergelegene Geschoss sehen konnte. Dort unten auf einem abgegrenzten, mit Sand bedecktem Abschnitt standen zwei Gestalten. Die eine, ein Mann, war Riesenhaft und muskulös. Seine prallen Muskeln glänzten im matten Licht der Neolichter und unter der dunklen Haut zeichneten sich seine Adern ab. Er trug seinen Oberkörper unbedeckt, damit man seine volle Kraft bewundern konnte. Sein Schädel war kahlgeschoren und auf seinem Rücken zog sich ein langes Schlangentattoo entlang. Jonathan konnte sein Gesicht aus dieser Perspektive nicht erkennen.

Neben dem Mann bewegte sich eine kleinere Gestalt. Sie trug einen weißen Ganzkörpersuite und hatte langes schwarzes Haar. Stalker zuckte zusammen. Es war Émalia!

Aber wie ... ?

Erst hoffte er seine Augen würden ihm einen Streich spielen und um sich zu vergewissern musste Jonathan ein Stockwerk tiefer und sich durch eine weitere Reihe von Leuten zwängen um dann an einem hohen Holzlattenzaun anzukommen, an dem sich einige Männer hochgezogen hatten und begeistert die Fäuste schwangen.

"Mach sie fertig, Meph!", grölten sie, "Lass dich nicht unterkriegen!"

Auch Jonathan stemmte sich an der Absperrung in die Höhe. Neben ihm wurden gerade Wetten abgeschlossen.

Also war der Moonside-Club ein Fightclub. Die Vorstellung solch ein Spektakel einmal mitzuerleben, war für den jungen Stalker schon immer reizend gewesen, aber die Vorstellung, dass eine Frau ... dass Émalia eine solche Kämpferin war, wollte ihm einfach nicht in den Kopf gehen. Vielleicht träumte er noch. Immerhin hatte er schon eine Reihe von seltsamen Träumen gehabt, die er nicht deuten konnte.

Und als er das Geschehen weiterhin beobachtete fiel ihm auch keine andere Möglichkeit ein. Bei der Frau handelte es sich tatsächlich um Émalia, die sich voll und ganz zu konzentrieren schien, denn sie beachtete die vor Begeisterung tobende Menge um sie herum nicht im Geringsten. Der große Kerl, der ihr gegenüber stand, hatte ein siegessicheres Lächeln aufgesetzt und schien die Sache, als willkommene Gelegenheit zu nutzen, um Publik zu machen. Er riss mit einem Mal die Arme in die Höhe und schrie: "Mephisto! Mephisto! Mephisto!" Und die Menge folgte seinem Beispiel.

Jonathan, immer noch der festen Überzeugung zu träumen, schüttelte den Kopf und fragte sich innerlich, wie man sich selbst den Teufel nennen konnte. Er verdrehte leicht die Augen und bemerkte, dass neben ihm plötzlich ein Mann aufgetaucht war.

"Siehst du, wie es hier zugeht, Jonathan?", fragte er ruhig, während er den Blick permanent auf die Szenerie vor ihm fixiert hielt.

"Woher kennen Sie meinen Namen?"

"Ich hab ihn zufällig mitbekommen, als du heute eingecheckt hast."

"Aha und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?" Jonathan stützte seine Ellenbogen auf die Brüstung und warf einen flüchtigen Blick auf Mephisto, der nun seine Muskeln spielen ließ.

"Du darfst nicht fragen! Hier unten hat keiner einen Namen, nicht öffentlich ...Willst du wetten?" Der Mann hielt ihm eine Wettkarte hin.

"Nein, danke. Ich habe nichts, was ich verwetten könnte."

"Ich könnte dir Kredit geben. Ich meine, was hast du schon--"

"Nein, danke!!!", sagte Stalker noch einmal mit besonderem Nachdruck, denn er hatte wirklich keine Lust sich mit dem Fremden noch weiter zu unterhalten.

Ihn interessierte mehr der Kampf, der im Begriff war zu beginnen. Mephisto hatte seine Show beendet und wand sich nun endlich seiner Gegnerin zu.

"Ist das nicht ein klein wenig unfair?", fragte er sich selbst, aber absichtlich so laut das ihn sein Nachtbar hören konnte.

"Ach, das sieht immer so aus. Aber du wirst gleich sehen, warum 98% aller Wetten auf die Kleine da gehen." Der Mann sortierte noch ein paar Wettscheine und lehnte sich noch ein wenig weiter über die zweieinhalb Meter hohe Absperrung.

Émalia stand aufgerichtet auf der rechten Seite des sandbedeckten Feldes und rührte sich nicht vom Fleck.

Mephisto grinste siegessicher und ging in eine leichte Beuge. Die Menge tobte und wartete gespannt den Beginn des Kampfes ab. Jonathan konnte es sich nicht erklären, aber plötzlich hatte er ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend, als er die junge Asiatin so stehen sah. Vielleicht war es ja eine Art Beschützerinstinkt.

Jonathan Stalker verfiel in eine solch kämpferische Laune, dass er am liebsten in den Ring gesprungen wäre, würde Mephisto nicht die Statur eines ausgewachsenen Grizzlys haben. So hielt es Stalker doch zwangsläufig hinter der Brüstung.

Die beiden Rivalen begannen sich langsam zu umkreisen. Nach einer Weile verlor Mephisto die Geduld und stürmte auf Émalia zu. Diese verschwand urplötzlich aus seinem Sichtfeld und nur das Publikum bemerkte, dass sie bereits einen Salto über Mephisto vollführt hatte und nun hinter ihm stand. Und während er noch verwundert nach ihr suchte, holte sie bereits aus und traf ihn mit ihrer rechten Handkante hart im Nacken. Der Kerl war wohl eher vor Schreck erstarrt, als vor Schmerz. Er fing sich jedoch schnell und schlug wie wild mit seiner Faust um sich. Aber alles was er damit erreichte, war das die Leute um sie herum anfingen zu lachen und ihm laute Buhrufe zu schrien, denn Émalia war schon längst wieder zurückgewichen. Nun stand sie gut vier Meter von ihm entfernt nahe der Absperrung. Kaum hatte Mephisto sie ausgemacht, sprang sie los, landete auf beiden Händen, stieß sich wieder ab, landete auf ihren Füßen und setzte ein weiteres Mal zu einem Handstandsalto an. Beim letzten stieß sie mit einer gewaltigen Wucht nach vorn und schmetterte Mephisto ihre Stiefel ins Gesicht.

Betäubt von der Wucht kippte er nach hinten und schlitterte ein gutes Stück über den Boden, wobei er Unmengen von Sand aufwirbelte und schließlich reglos liegen blieb. Doch statt den tosenden Applaus, der keinesfalls überrascht wirkenden Menge, entgegen zu nehmen, riech die junge Frau dem gefallenen Koloss ihre Hand.

Irgendwie wusste Jonathan was passieren würde. Dennoch schien er überrascht als Mephisto nicht nach Émalias Hand griff, sondern sie mit seinem Bein von den Füßen riss. Solche Dickköpfigkeit hatte selbst die gelenkige Asiatin nicht vermutet. Zwei Treffer in Folge konnte der muskelbepackte Riese landen, bevor sie wieder zu Kräften kam. Sichtlich geschunden wich sie dem dritten Schlag aus, streckte ihr Bein aus und rammte ihre Hacke in sein Genick. Während Mephisto erneut im Dreck versank, schwang sich Émalia Xi-Lin geschmeidig über die Brüstung und verschwand zwischen der grölenden Menge.

"Ich glaube die Wette hätte ich sowieso verloren.", sagte Jonathan und stellte abrupt fest, dass keiner mehr da war mit dem er sich hätte unterhalten können.

Der Mann war verschwunden.
 

Später als Stalker die Treppen zur Lobby hinauf stieg, traf er überraschenderweise auf Émalia, die sich mit einem Handtuch die nassen Haare abtrocknete.

"Oh, du warst beim Kampf?" Sie lächelte ihn an. "Hätte nicht gedacht, dass du so schnell wieder auf dem Damm bist."

"Ich konnte nicht schlafen. Ich muss unbedingt mit dir reden! Weißt du: Ich habe in letzter Zeit immer diese Träume und da hab ich ge-"

"Lass uns besser auf dein Zimmer gehen! Hier unten wird´s gleich ziemlich voll!"

Oben angekommen, warf Émalia sich aufs Bett und starrte die Decke an. Thomas sprang mit einem neugierigen Mauzen auf sie zu.

"Gut. Was willst du mir nun sagen?" Die junge Frau setzte sich aufrecht hin und strich leicht über das Fell des Katers, der sie nun intensiv beschnupperte.

Und Jonathan erzählte ihr Alles, was seit dem Zeitpunkt an dem sie sich das erste Mal getrennt hatten, passiert war.

"Das ist sehr seltsam. Wirklich.", sagte sie schließlich und sah zu wie Thomas einer Weintraube hinterher jagte, die noch auf dem Teppichboden gelegen hatte. "Im Gegensatz zu den anderen Dingen finde ich deinen Traum am normalsten."

"Was soll ich jetzt nur machen? Ich habe nichts, noch nicht einmal genug Schlaf."

"Bleib doch einfach hier!"

"Was!? Wie soll ich mir das leisten?"

"Arbeite doch einfach hier. Der Lohn ist die Sache wert."

"Du meinst dort unten!?" Jonathan deutete mit dem Finger auf den Boden.

Émalia nickte.

"Ich könnte dir alles beibringen. Der nächste Kampf ist in fünf Tagen und ich habe noch keinen Gegner gefunden."

"Nein, das ist nicht dein Ernst! Ich werde das nicht tun! Und erst recht nicht gegen dich!"

"Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn du die Sache gut durchziehst, musst du dir wenigstens keine Sorgen mehr ums Geld machen." Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und klang dabei so sehr ermutigend, dass Jonathan anfing über die Sache nachzudenken.

"Ich werde dich nicht allzu hart rannehmen, glaub mir.", sagte sie sanft, "Fünf Tage sind mehr als Genug für diesen Kampf. Was hast du schon zu verlieren?"

Sie hatte Recht. Seine Einzige Sorge sollte jetzt sein Überleben sein. Würde er nicht im Ring sterben, so würde er auf der Straße sterben. Außerdem konnte er solange bei Émalia bleiben.

So willigte er ein. Freudestrahlend umarmte sie ihn und kurz darauf war er glücklich eingeschlafen.
 

Kein seltsamer Traum, auch die nächsten fünf Tage nicht. Ständig kam er ausgelaugt vom Training und schlief meist minutenschnell ein. Während des Trainings war er von sich selbst erstaunt. Er entwickelte solche Kräfte, dass selbst Émalia zurückstecken musste. Sie fragte ihn ob er schon vorher Kampfsport betrieben hatte. Er hatte nicht. Jonathan fand es selbst sehr merkwürdig, aber das Verblüffenste war, als er am dritten Tag eine zehn Zentimeter dicke Betonplatte zertreten sollte und nicht nur die Platte zertrümmerte, sondern auch die hölzerne Arenaabsperrung, die sich unglücklicherweise unmittelbar hinter der Betonplatte befunden hatte.

Dabei zog er sich eine gewaltige Schramme und ein paar Splitter ein.

"Aua! Verdammt!" Jonathan verzog das Gesicht, während Émalia ihm die Wunde desinfizierte.

"Hör auf zu jammern! Am Anfang jedes neuen Lebens steht der Schmerz."

"Woher hast du das denn schonwieder?"

"Erfahrung! Hab ich mir selber ausgedacht. Fest steht" Sie strich den Pflasterfilm über die Aufschürfung. "Leben und Schmerz sind zwei unzertrennliche Worte! Das wirst du noch lernen."

"Gut. Kann ich jetzt gehen?"

"Erst wenn du die Brüstung wieder repariert hast, du Tollpatsch!"

Der Observer

Am Morgen des großen Tages sprach Jonathan Stalker nur sehr wenig und auch nur dann wenn sich Émalia besorgt erkundigte, ob er sich auch wirklich bereit füllte. Dies war für ihn schon längst keine Frage mehr, denn in den letzten Tagen hatte er bemerkt, dass das Mädchen, so komisch es auch klang, keine Gegnerin mehr für ihn war. Zwar war er ihr in Geschicklichkeit und Schnelligkeit immer noch unterlegen, aber wenn er einmal traf, hatte die junge Asiatin keine große Chance mehr zu gewinnen.

Auch Émalia hatte bemerkt, dass in dem schüchtern wirkendem Jonathan viel mehr steckte, als man auf den ersten Blick zu sehen vermochte. So entschloss sie sich, nicht wie geplant, zurück zu halten, sondern in die Offensive zu gehen.

Abends war es dann endlich soweit. Émalia Xi-Lin suchte Jonathan in seinem Zimmer auf. Als sie eintrat fand sie jedoch statt ihrem Kampfpartner nur Thomas vor, der genüsslich schnurrend in seinem gefüllten Fressnapf herumwühlte.

Verträumt betrachtete sie ihn eine Weile und freute sich still über die positiven Veränderungen, die mit dem Fremden einhergekommen waren - - dem Jungen, der aus der Wüste gekommen war ... ein Gesandter Gottes, der das Böse überlebt hatte ... gerettet von Engeln ... Sie lachte. Das kam davon, wenn man religiös erzogen wurde und dann noch in einer Stadt lebte, die unter dem Einfluss einer christlichen Gruppe stand.

Sie schreckte hoch. Jemand legte ihr plötzlich eine Hand auf die Schulter und eine vertraute Stimme flüsterte: "Und? Was meinst du: Können wir gehen?"

Sie drehte sich um und errötete schlagartig. Vor ihr stand Jonathan nur mit einer langen grauen Stoffhose bekleidet, sowie mit Bandagen an Händen und Füssen.

Xi-Lins Augen funkelten. Sie hatte noch nicht bemerkt, dass Jonathan solch ein Six-Pack besaß. Er bemerkte die erstaunten Blicke des Mädchens und versuchte sich schnell aus der Sache heraus zureden. "Was denn? Ich dachte es wäre angemessen. Ich meine, wir gehen zu einem Streetfight und da sollte man doch möglichst etwas auf sich hermachen, oder?"

In Wahrheit hatte er sich nur so angezogen um Émalia zu beeindrucken, was ihm schließlich auch gelungen war.

"Ich glaube ..." Sie schluckte und kicherte still in sich hinein. "Ich glaube wir müssen jetzt gehen."

Jonathan folgte ihr auf dem Fuß und während Émalias Gedanken sich mit ganz anderen Dingen beschäftigten, konzentrierte er sich auf den bevorstehenden Kampf, denn dieser würde entscheiden wie sein neues Leben verlaufen würde.
 

Die Menge tobte und geriet regelrecht in Ekstase, als Émalia als erste den Ring betrat und begann sich zu lockern. Im Hintergrund hatte gerade noch Technomusik gespielt, die jetzt aber von einer lauten Stimme unterbrochen wurde. Oben auf einer Erhöhung hoch über den Leuten und dem rechteckigen Kampfplatz stand ein schnittiger Kommentator die Arme Erfurcht gebietend in die Seiten gestemmt und starrte grinsend in die bunte Menge unter ihm.

"Leute, Leute! Was ist das heute wieder für ein Tag. Da steht mal wieder die

Streetfighter - Gottheit im Ring und hat schon wieder einen Idioten gefunden, der gegen sie antreten will."

Ein Gelächter fuhr durch die Menge, das den Kommentator innerlich nur noch bestärkte.

"Ja, so ist das mit der Jugend heute! Aber dazu sind wir ja schließlich hier, oder? Jetzt da die letzten Wetten abgeschlossen sind, möchte ich den Helden des heutigen Abends vorstellen.."

Das Publikum lachte erneut auf.

"Er hatte einen weiten Weg bis hierher. Er hat dem Tod ins Auge geblickt und er ist heute hier! Begrüßen Sie mit einem kräftigen Applaus: Jonaaaaaaathan!!!"

Der Mann tratt zur Seite und die großen Fluter an der Decke wurden angeschaltet.

Unten auf dem Rechteck stand nun auch Jonathan Stalker. Er fühlte sich zunehmend unwohl und bemerkte mit Sorge, dass das Quadrat, das ihn umgab durch die Zuschauermenge noch enger wirkte. Er war innerlich sehr froh, nur gegen Émalia kämpfen zu müssen. Dennoch nahm ihm die Schwüle und das laute Rufen der Menge den Atem. Es war verdammt warm dort drin und es roch stark nach Alkohol. Jonathan warf einen Blick in die Runde. Dabei entdeckte er den seltsamen Mann wieder. Er winkte ihm mit einer handvoll Wettzettel entgegen.

"Viel Glück!"

Stalker nickte. Wahrscheinlich hatte keiner auf ihn gewettet, denn er sah nicht gerade aus, als würde er die mehrfache Siegerin im Streetfight besiegen können. Trotzdem war er selbst ziemlich zuversichtlich. Zumindest hatte er nicht viel zu befürchten. Dachte er.

"So Leute! Haltet eure Drinks fest, wir starten jetzt in die erste Runde und denkt dran: Alles ist erlaubt, außer das Aufstellen eigener Regeln! Wie wird immer so schön gesagt? LASST DIE SPIELE BEGINNEN!!!"

Noch bevor sich der Dunstnebel von seinen Augen gehoben hatte, wurde Jonathan schon von Émalias Ellenbogen getroffen. Zwar nicht hart, aber es reichte um ihn ins Taumeln zu bringen.

"AUTSCH! Xi-Lin geht ja ziemlich ran!", dröhnte es aus den Lautsprechern.

Jonathan kniff die Augen zusammen und verdaute den vermeidlichen Schlag in die Magengrube. Unmittelbar vor ihm holte die kleine Asiatin erneut aus. Er duckte sich weg und rollte sich über die Schulter nach vorne hin ab. Ruckartig richtete er sich auf und tratt in Émalias Richtung. Sie tauchte weg und schlug in der Luft ein Rad, so dass sie nur knapp sein Kinn verfehlte. Er ergriff die Chance und schnappte nach ihrem Fuß. Er bekam ihn zu fassen und Émalia schlug hart mit dem Rücken auf dem Boden auf. Jonathan hielt sie weiter fest und gerade das war sein Fehler. Sie hob ihr anderes Bein. Erst dachte er sie wolle ihm ins Gesicht treten, wie sie es bei Mephisto getan hatte, aber diesmal war es eine Täuschung. Sie deutete einen Tritt an, machte aber kurz vor Stalkers Gesicht halt, um ihr Bein dann um seinen Oberarm zu schlingen. Sie drückte zu. Jonathan kippte nach vorne über und dachte im ersten Moment sein Arm sei gebrochen.

"Schade! Aber nicht schlecht!", der Kommentator neigte seinen Kopf interessiert über seine Tribüne, "Ich denke, das könnte noch interessant werden!"

Jonathan lag am Boden und hielt sich seinen vor Schmerz pochenden Arm und dachte, das er vor Schmerz ohnmächtig werden würde. Und als ob das noch nicht genug wäre tratt ihm Xi-Lin auch noch zwischen die Schultern. Sie kämpfte nicht mit halber Kraft, wie er vermutet hatte. Sie wollte, dass er zeigte, was er wirklich konnte.

"KOMM STEH AUF, JUNGE! Das kann doch nicht alles gewesen sein."

Jonathan stemmte sich auf alle Viere und bekam sofort einen weiteren Schlag in die Magengrube. Er hatte das Gefühl er müsse sich übergeben, außerdem spürte er seine Schultern nicht mehr. Dennoch richtete sich vollends auf. Vor ihm am anderen Ende der Arena stand Émalia, das Gesicht ohne jede Spur von Gefühlen, starr und konzentriert.

"Gut.", flüsterte Jonathan, "Gut, wenn du meinst."

Er wusste nicht, warum er sich stärker fühlte, aber irgendetwas war da. Etwas, das ihn leitete, das ihm das Gefühl von reiner Energie gab.

Er nahm all seine Gedanken zusammen, fixierte sich auf seine Gegnerin und lief los. Zuerst war er sich sicher sie würde ausweichen. Sie tat es nicht. Auch nicht, als er kurz vor ihr absprang und sie im Sprung an ihren Schultern packte. Sie starrte immer noch geradeaus. Es war seltsam. Nun stand er hinter ihr und sie drehte sich um. In ihrem Gesicht spiegelte sich etwas wieder, was er von ihr nicht gewohnt war: So etwas wie Unsicherheit. Ungeachtet dieser Tatsache riss er sie überraschend von den Füßen. Sie blieb schweratmend liegen. Doch keiner applaudierte. Es herrschte geisterhafte Stille. Alle starrten ihn an, nur der Kommentator würgte einige zitternde Worte hervor: "Oh, mein Gott ... Was war das?"

Jonathan Stalker störte diese Stille nicht. Er hatte gezeigt, was er konnte. Sein Blick war immer noch ausdruckslos. Er hatte gewonnen. Was kümmerte es ihn, wie er das geschafft hatte? Auch die folgenden erhitzten, teilweise auch panischen Gespräche interessierten ihn kein Bisschen. Er war immer noch wie in einer Art Trance, erst als seine Schmerzen langsam wieder zurückkehrten, kehrte auch sein Verstand zurück. Er brach zusammen und blieb genau neben seiner Kampfpartnerin liegen, die sich noch kein Stück bewegt hatte.
 

Stunden später wachte er in einem strahlend hellen Zimmer auf. Neben ihm stand Émalia Xi-Lin und schaute ihn lächelnd an.

"Träume ich?", fragte er mit brechender Stimme.

"Nein, aber wir leben beide noch. Bis auf einen gestauchten Knöchel und zahlreiche Brellungen. Und ich habe gedacht du willst noch Feuer speien. Fliegen kannst du ja schon."

"Hä? Was?" Jonathan drehte sich leicht zur Seite und bereute es sofort. Seine Schulter tat immer noch verdammt weh, "Ahhh ... Ich versteh nicht ganz."

"Du hast es nicht bemerkt?", fragte Émalia ungläubig.

"Was soll ich be ... Ach das!"

"Wie ist das passiert? Wie hast du das gemacht?" Das Mädchen zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

"Ich hab keine Ahnung. Ich weiß nur noch das mir in diesem Moment so ziemlich alles egal war und das ich mich plötzlich stärker gefühlt hab. Mir ist noch nie aufgefallen, dass ich so was kann."

"Also es ist ja nichts, was ein gut trainierter Kampfsportler nicht hinkriegen würde, aber hab ich das damals richtig verstanden: Du treibst doch gar keinen Kampfsport, oder?"

"Genau. Deswegen ist das ja auch so seltsam. Ich versteh trotzdem nicht, warum die Leute so überrascht reagiert haben. Ich meine, die kennen doch meinen Lebenslauf nicht. Für die bin ich ein Niemand." Mühsam richtete sich Jonathan im Krankenbett auf.

"Das kann ich dir sagen!", schnaubte Émalia auf einmal verächtlich, "Ich glaube du hast mich angelogen, oder?"

"W-Was?"

"Dann erklär mir doch mal die Sache mit deiner Kampftechnik!"

"Was soll damit sein? Ich habe doch eigentlich gar keine, ich versteh nicht ..."

"Das was du gestern Abend im Club veranstaltet hast, war eine spezielle Technik. Sie nennt sich die "Technik der Unsterblichen". Manche sagen man kann sie nicht erlernen und dennoch gibt es Leute die sie beherrschen."

"Und was ist daran denn so seltsam, bis auf die Tatsache, dass ich noch nie mit dieser Kampftechnik in Berührung gekommen bin?"

"Sie ist die Art Kampfsporttechnik, die die "Engel" einsetzen. Nur sie wissen, wie man sie lehrt oder wie man sie erlernen kann."

Jonathan klappte die Kinnlade herunter. Er konnte nichts mehr sagen.

"Ist das nicht seltsam? Wenn du noch nie hier gewesen bist, wie kannst du dann auch nur die kleinste Ahnung davon haben, wie man diese Technik ausführt? Ich meine, dass ist doch völlig irre."

Stalker schwieg weiter. Was wollte sie ihm damit unterstellen?

"Ich weiß nicht wie ich mir helfen soll! Warum hast du mir nicht gesagt, dass du einer von ihnen bist? Oder bist du hier um uns auszuspionieren? Wir tun hier nichts illegales, dass kannst du denen sagen. Sie sollen sich lieber um die Außermenschlichen kümmern."

Jonathan erwachte wie aus einer Narkose. Er ein "Engel"? Das war mehr als bescheuert, das war unmöglich!

"Das ist ein Witz, oder?", fragte Jonathan lächelnd und strich dabei nervös über das schneeweiße Bettlacken.

"Ich weiß nicht. Sag du´s mir doch!"

"Ich bin ein ganz normaler Mensch und kein Mitglied in dieser religiösen Sekte von Spinnern. Außerdem habe ich schon mehrmals erwähnt, DAS ICH NOCH NIE HIERGEWESEN BIN!!!"

Émalia lies sich nicht beeindrucken und sprach unbeirrt weiter: "Spinner, also? Das behauptest du von den Leuten, denen du dein armseliges kleines Leben verdanktst? Außerdem sind sie nicht so religiös wie du glaubst. Den Namen haben sie bloß ihrem Gründer zu verdanken."

Jonathan starrte sie an. Seinetwegen konnte sie ihm ja das Blaue vom Himmel erzählen, aber das änderte doch nichts an der Tatsache, dass sie ihm anscheinend zutraute zu dieser Gruppe dazuzugehören. Und egal, was sie und die Anderen im Club gesehen hatten, es konnte einfach nicht mit den Fähigkeiten dieser "Engel" verglichen werden. Er hatte selbst gesehen wozu diese Leute fähig waren und würde er das Selbe können, hätte er garantiert keine Hilfe gebraucht.

"Du kannst sagen, was du willst, aber irgendetwas stimmt mit dir nicht." Émalia stand auf und trat zwei Schritte vom Bett weg. "Ich kann dir keine Antworten auf deine Fragen geben, aber vielleicht können das Andere ... Ach ja!" Sie kramte aus ihrer kleinen Gürteltasche, die sie an der Hüfte trug einen Papierumschlag heraus. "Deine Belohnung. Es ist viel mehr als jeder andere bekommt, zumal fast alle auf mich gewettet haben. Ich muss dir auch sagen, dass du nicht mehr in den Club kommen darfst. Hausverbot. Aber für das Geld kannst du dir locker eine andere Unterkunft leisten."

Mit diesen Worten verlies sie das Zimmer. Als sie die Tür öffnete bemerkte Jonathan, dass dahinter zwei Männer standen. Den einen kannte er noch vom Club. Es war der Türsteher, aber den anderen hatte er noch nie gesehen. Er hatte eine untersetzte Gestalt, einen dünnen Stoppelbart und eine Sonnenbrille auf der Nase. Es schien so, als hätten sie die ganze Zeit draußen gewartet. Aber warum?

Jonathan nahm den weißen Briefumschlag in die Hand und löste den Kleber am Verschluss. Im Inneren fühlte er die kleinen runden Chips und noch etwas anderes. Er zog daran und es kam ein kleiner gelber Zettel zum Vorschein. Jonathan runzelte die Stirn und drehte das Stück Papier herum. Dort stand in feiner weiblicher Handschrift:
 

Lieber Jonathan,
 

Entschuldige bitte meine forsche Art, aber ich musste dir was vorspielen. Claude und Arty achten darauf, dass ich dich loswerde. Arty ist der Besitzer des Moonside-Clubs und mag es überhaupt nicht, wenn seine Kundschaft durch irgendetwas beunruhigt wird. Er meint das ist nicht gut für´s Geschäft. Ich finde es sehr schade, dass du schon weg bist. Ich habe dir Thomas mitgebracht. Er ist in der kleinen Kiste unter deinem Bett. Ich glaube dir, aber dennoch solltest du versuchen herauszufinden, was mit dir ist. Ich bin mir sicher, dass wir uns noch mal wiedersehen. Viel Glück.
 

Émalia
 

Ps.: Du kannst mich unter dieser Nummer erreichen: D54-46471-023
 

Jonathan grinste. Das war genau ihre Art und egal was sie tat, sie war gut darin. Er war sich sicher, sie hätte mehr verdient, als diesen Club. Er legte den Umschlag beiseite und griff mit seiner rechten Hand unters Bett. Kurz darauf zog er einen quadratischen Pappkarton hervor. Und kaum hatte er den Deckel mit zwei Fingern zurückgeschlagen sprang Thomas wie von einer Tarantel gestochen heraus und blieb kurz darauf verwirrt stehen.

"Na du. Ich weiß ... ich glaube auch, dass wir langsam sesshaft werden sollten."

Jonathan streckte die Hand in Richtung des Katers aus und lies ihn daran schnuppern. Das Tier fasste schnell wieder Vertrauen und machte es sich einige Zeit später schon auf der Bettdecke gemütlich.

Schön, man hatte ihn also abserviert. Das war noch lange kein Grund sich Sorgen zu machen, immerhin hatte er jetzt für eine Weile ausgesorgt und so wie er jetzt aussah, konnte er sich darauf verlassen, dass ihn das örtliche Krankhaus noch eine Weile versorgen würde. Doch das sollte sich bereits am späten Nachmittag als fataler Irrtum herausstellen. Genau um viertel nach Vier kam der Chefarzt, umringt von dem zuständigen Stationsarzt, zwei Schwester und einem Auszubildenden, wie man unschwer an den Klemmbrett unter seinem Arm erkennen konnte. Als sich die Gruppe mit ernsten Mienen um Jonathans Bett postierte, fühlte sich dieser mit der Situation schlicht weg überfordert. So schwer hatte es ihn nun auch nicht erwischt, dass die hier so einen Aufstand machen mussten.

"Mr. Stalker.", fragte der streng aussehende Chefarzt, wobei seine hängende Wangenmuskulatur bedenklich mitschwenkte. "Versuchen Sie doch bitte einmal aufzustehen!"

Jonathan setzte einen Fuß über den Bettrand, lies das andere Bein jedoch auf der Kante ruhen. Was hatte das zu bedeuten? Er war gerade erst eingeliefert worden.

"Stehen Sie einfach auf.", drängte ihn der Arzt weiter und die zwei Krankenschwestern eilten ihm eifrig zur Hilfe.

"Nun? Wie fühlen Sie sich?"

"Na ja ...", Jonathan zögerte, "Ein bisschen wackelig vielleicht, aber ansonsten, O.K."

"Gut." Der Arzt machte eine der Schwestern auf sich aufmerksam und deutete dann hinüber zu dem Schrank, in dem die Sachen der Patienten lagen. Sofort machte sich das Mädchen daran, die Schubladen auszuräumen und den Inhalt in eine Tasche zu stopfen.

Jonathan sah gerade noch sein Paar gestreifter Socken verschwinden, als er hitzig fragte: "Was zum Teufel soll das werden?!"

"Es tut mir wirklich leid, aber wir müssen Sie aus dieser Anstalt vorläufig und gezwungen entlassen. Sie haben keine Erlaubnis--"

"Aber-"

"Sie haben keine Erlaubnis sich..."

"Hä? Ich versteh Sie nicht ganz ...", stotterte Jonathan, aber der Chefarzt ignorierte ihn.

"... hier länger aufzuhalten. Tut mir leid. Wenn Sie jetzt bitte Ihre Sachen nehmen würden und dieses Krankenhaus verlassen würden!"

Sofort brach eine lautstarke Diskussion aus. Jonathan, der unbedingt wissen wollte was hier zu Gange war, verstrickte sich immer mehr in die Argumente des ihm nun unsympathischen Chefarztes, der lautstark vom arschkriechenden Stationsarzt unterstützt wurde. Die beiden Mädchen stopften hinter ihren Rücken hastig die letzte Jeans in den dunkelblauen Sportbeutel. Kaum waren sie damit fertig griff sich der bereits vor Wut rot angelaufene Chefarzt die Tasche und schleuderte sie Jonathan in die Arme.

"MACHEN SIE DASS SIE HIER RAUSKOMMEN!!!" , schnauzte er den jungen Mann an.

Jonathan biss sich auf die Unterlippe, um sich ein weiteres bösartiges Kommentar zu verkneifen, und stürmte wutentbrannt aus dem Krankenzimmer, hinaus auf den Gang. Thomas sprintete ihm panisch hinterher.

Die Aktion des Chefarztes überraschte ihn nicht allzu sehr. Er konnte sich genau denken warum man ihn hier nicht haben wollte. Mit einem Schlag schien er nirgendwo mehr willkommen zu sein, und das wo er doch selbst nicht wusste, was mit ihm passiert war. Zudem reichte es ihm endgültig jeden Tag in anderen Betten aufzuwachen. Als er zum ersten Mal die Windfelder gesehen hatte, hatte er gehofft hier endlich ein wenig Ruhe zu finden. Doch Fehlanzeige. Sein Freund Thomas lag im Leichenschauhaus dieser religiösen Hinterwäldler, Émalia hatte sich gegen ihn entscheiden müssen und zu allem Übel wollte ihn jetzt nicht mal mehr das Krankenhaus aufnehmen. Er hatte noch nicht mal Zeit gehabt zu registrieren, was überhaupt geschehen war und was das alles für die Menschheit zu bedeuten hatte.

Dennoch machte sich Jonathan Stalker erst mal keine Gedanken darüber, wie man die Welt vor weiteren Übergriffen schützen konnte, als er die Rolltreppen hinunter humpelte. Selbst ein verstauchter Knöchel konnte ihn jetzt nicht mehr aufhalten dieses Gebäude zu verlassen. Diese Stadt war ätzend, die Leute waren ätzend, sein ganzes Leben war ätzend! Und als ob das noch nicht gereicht hätte, fing es auch noch schlagartig an zu regen. Mitten in dieser Einöde! Aber das wunderte hier kaum jemanden, denn nach den zahlreichen Wunden die man der Natur, besonders in den letzten 80 Jahren, zugefügt hatte, waren solche Abnormalitäten beinahe schon wieder normal.

In dem Viertel, in dem das Krankenhaus stand, herrschte reger Verkehr. Noch ein bisschen benebelt von dem Schmerzmittel, das man ihm verabreicht hatte, eilte Jonathan die Fußgängerzone entlang. Neben ihm rasten die hellbeleuchteten Autos vorbei. Es hatte bereits angefangen zu dämmern. Das hastig neben ihm herumwuselnde Fellknäuel war bereits bis auf die Haut durchnässt und starrte ihn mit großen gelben Augen an.

"Keine Sorge. Wir finden schon was.", sagte Stalker eher zu sich selbst.

Er bog in eine Seitenstraße ein, um endlich diese verflixten Autolichter loszuwerden, die ihn halb blind machten. Am Ende der schmalen Gasse entdeckte er letztendlich einen kleinen Unterstand. Weil er pitschnass und zudem auch noch verdammt müde war, nahm Jonathan auf seiner blauen Sporttasche Platz und schloss die Augen. Noch bezweifelte er, dass er einschlafen würde, doch bald döste er zur Seite hin weg...
 

Nach einiger Zeit schreckte er aus dem Schlaf empor. Ihm war so, als ob er ein leises Knirschen gehört hatte, irgendwo schräg über ihm. Aber dort war nichts. Trotzdem machte ihm die Vorstellung Angst, dass dort wirklich jemand gewesen war. Vielleicht lag es daran, dass er schlichtweg übermüdet war und vor seinen Augen seine Träume mit der Realität vermischten, denn er geriet in Panik. Während sein Herz vor Angst raste, konnte er keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Erst jetzt fiel ihm auf, wie dunkel es hier war. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, dennoch glänzte der nasse Asphalt widerlich feucht und von hoch oben tropfte, das von den Dächern abfließende Wasser auf den Bürgersteig. Überall wo Jonathan hinblickte war Stille, Dunkelheit und Wasser. Er drehte sich um. Er musste zur Straße und das möglichst schnell! Aber wo musste er lang? Er hatte keine Zeit, um seine verzweigten Gedanken zu entwirren, deshalb lief er blindlings los. Je mehr Wege er nahm, umso mehr verirrte er sich im Großstadtdschungel. Er fand die Straße nicht und er würde sie so auch nicht finden, das wurde ihm schnell bewusst. Die ganze Zeit fühlte er sich verfolgt und nach einer Weile wurde diese Empfindung so stark, dass er endgültig die Kontrolle verlor und die leeren Straßen entlang sprintete, als ginge es um sein Leben. Doch das Gefühl lies ihn nicht los und er glaubte sogar Schritte zu hören. Also warf er einen flüchtigen Blick über seine Schulter. Dort war tatsächlich jemand. Eine dunkle Gestalt hatte sich an Jonathans Fersen geheftet und drohte ihn bald einzuholen. Stalkers Instinkt sagte ihm, dass er die Person abhängen musste. So bog er in die nächstbeste Gasse ein, kletterte dort über eine kleine Mauer und bog die Nächste links ab. Als er sich ein weiteres Mal umsah, war die Gestalt verschwunden. Gerade als Jonathan Stalker begann sich innerlich zu ordnen, stürzte sich jemand aus einer anderen Einbiegung auf ihn und schleuderte ihn mit gewaltiger Wucht seitlich gegen die Hauswand. Jonathan, total überrascht von dem unerwarteten Angriff, verlor den Halt, rutschte entlang der Mauer zu Boden und landete mit dem Gesicht in einer braunen Wasserlache. Die Person hielt ihm seine Hände über dem Rücken zusammen und stemmte sein Knie in Jonathans Rippen. Stalker spürte wie man seine Handgelenke fest zusammenschnürte, um ihn dann mit einem Ruck auf den Rücken zu drehen. Zwischen seinen nassen Haarsträhnen hindurch, konnte er einen Kerl erkennen, der ihm trotz einiger ungewöhnlichen Dinge bekannt war. Auch wenn er jetzt absolut anders aussah, war er es dennoch: Der Wettentyp aus dem Club. Er trug jetzt komplett schwarz und hob sich kaum vom Nachthimmel ab, der zwischen den Dächern hindurch schimmerte, des Weiteren hatte er an beiden Handgelenken überdimensionale Aluminiumarmreife, die von Knöpfen und kleinen rot blinkenden Lämpchen übersäht waren, und so den Eindruck kleiner Armaturenbrette vermittelten.

Der Mann kniete sich hin und beugte sich über Jonathan, sodass Stalker sein Gesicht genauer erkennen konnte. Er war es, kein Zweifel! Eine rasche Bewegung lenkte Jonathans Blick über die Schulter seines Gegenübers. Drei kleine Schatten bewegten sich über seinem Kopf. Jeder etwa tellergroß. Es waren drei dunkelblaue Androiden. Seitlich sahen sie aus wie Schneckenhäuser, doch vorne am Kopf hatte man ihnen eine Kamera montiert, die vehement Daten aufzeichnete, wie man unschwer an dem kleinen roten Licht neben den Objektiv erkennen konnte.

Ein harter Schlag auf den Hinterkopf veranlasste, dass Jonathan sich wieder seinem Hauptproblem widmete: Nämlich dem Kerl, der ihm gerade die Kopfnuss verpasst hatte. Irritiert fixierte ihn Jonathan.

"Ich hasse es zu rennen! ICH HASSE ES!" Der Schwarzgekleidete war offensichtlich stinksauer. "Bist du den nicht mehr normal im Hirn, du Idiot?! Ich hab mindestens fünfmal gesagt du sollst anhalten. Aber was macht der Herr?"

Er machte eine Pause, um Jonathan hochzuziehen.

"Also, Kumpel! Ich sag das nur einmal: Du wirst mir jetzt widerstandslos folgen."

Jonathan, dessen Kräfte wieder zurückkehrten, zischte bösartig durch seine Zähne hindurch: "Vergiss es!"

Der Mann seufzte: "Das dachte ich mir schon."

Er trat hart zu und während Jonathan Stalker versuchte den Schmerz seinen sowieso schon verstauchten Knöchels zu überwinden, spürte er einen leichten Druck im Nackenhalsbereich und sank in einen leichten Halbschlaf über. Aus dem Blickwinkel heraus, blickte er hinauf zu der bereits verschwimmenden Person.

"Ich hoffe du bist glücklich ... Jonathan Stalker..."
 

Die Betäubung ließ nach. Als Erstes stellte sich Stalkers Gehörsinn wieder her. Von seiner Rechten konnte er ein leises Wispern vernehmen, das sich nach und nach verstärkte, bis man es eindeutig als Dialog zwischen zwei Personen; eine weiblich, die andere männlich; identifizieren konnte.

"Was wollt Ihr eigentlich von mir? Er lebt doch noch.", sagte der Mann und in seiner Stimme befand sich dabei wohl mehr Anschuldigung, als Verwirrung, "Der Chef wollte mich schon zum Lenker machen, bloß weil ich dem Kleinen etwas auf die Sprünge geholfen hab."

"Aha. Auf die Sprünge helfen nennst du das? Konntest du ihm nicht woanders hintreten?" Die weibliche Stimme bewegte sich unruhig im Raum umher. Jonathan konnte das Klackern von Absätzen hören.

"Nein, leider nicht. Falls der Kongress mit seinen Vermutungen richtig liegt, wäre das zu riskant gewesen. Stell dir doch mal vor, er hätte sich gewehrt. Im Gegensatz zu einigen anderen Leuten genieße ich nur die Grundausbildung."

"O.k., aber warum auch noch der Jet?"

"Nun hör mal! Ich würde dich gerne mal sehen, während du versuchst in aus der Lingasterstreet bis hier her zu schleppen."

Die Frau seufzte. Ihr war klar geworden, dass sie in dieser Diskussion unterlegen war. "Gib mir mal das Plazin, falls er beim Aufwachen Schmerzen haben sollte. Du stehst genau davor."

Jonathan öffnete die Augen.

"He, er wacht auf! Licht dimmen! Jens bring das Wasser!"

Was nun folgte, war für jeden der drei Teilnehmer eine eher unangenehme Überraschung. Jonathan, der nun begonnen hatte seine Umgebung immer klarer wahrzunehmen, musste mit reichlichem Unbehagen feststellen, dass es sich bei den zwei anwesenden Personen zum einen um den Mann, der ihn bis ans andere Ende der Stadt verfolgt hatte, handelte und zum anderen um eine schnittige Blondine, die ihm wiederum verdammt bekannt vorkam. Ohne darüber nachzudenken, was für einen Schock er ihnen bereitete, sprang Stalker auf und versuchte prompt die Flucht zu ergreifen. Zu seinem Missfallen hinderte ihn sein verstauchter Knöchel daran.

"Um Himmelswillen!", kreischte die Blondine erschrocken und ihr Partner griff Jonathan fest unter die Arme um ihn wieder auf die Liege zu heben.

"Junge, Junge!", sagte er, "Reg dich ab! Ich weiß, ich bin nicht sehr nett zu dir gewesen, aber das ist kein Grund auszuflippen."

Jonathan glotzte die Beiden an, als würden sie sich in Monster verwandeln. Zumindest taten sie das vor seinem inneren Auge, das schon immer einen ungesunden Hang zur Ironie gehabt hatte.

"Sagt mir bitte, dass ich nicht auf dem Gemeindegrundstück der Engel bin."

"Doch genau da bist du!", knurrte ihn der besagte Jens von der Seite her an, "Und du wirst erst mal hier bleiben, zumindest bis du dich integriert hast. Dein Gehirn tanzt ja Salsa!"

Jonathan schmiss sich resignierend in seinem Lager zurück: "Gut. Ihr habt gewonnen. Ich bleibe!"
 

Es war die erste ruhige Nacht, die er seit den zwei Wochen, die er schon von zu Hause weg gewesen war, verbrachte. Wie durch ein Wunder hatten die gespenstischen Alpträume von ihm gelassen und er erwachte am nächsten Morgen ausgeruht und putzmunter in einem sonnendurchleuchtetem Zimmer. Zu seiner Rechten auf einem kleinen Beistelltischchen stand ein Tablett gefüllt mit Obst, Brötchen, Marmelade und Orangensaft. Misstrauisch hob er die Backwaren an.

"Wehe du meckerst rum! Ich hab sie vor drei Wochen erst frisch gebacken." Jens stand grinsend im Türrahmen und fixierte Jonathan.

Er hatte allen Ernst in seiner Stimme verloren und schien äußerst gut gelaunt zu sein. Jonathan konnte trotz einer kleinen inneren Sperre nicht umher ihn sympathisch zu finden. Er lächelte sachte.

Jens zog sich einen Stuhl heran, setzte sich falsch herum und platzierte Arme und Kinn auf der Stuhllehne, sodass er Jonathan direkt ansehen konnte.

Während dieser aß, fing der Sitzende an zu plaudern: "Du hast heut einen schweren Tag vor dir. Zumindest wirst du dir viele Namen merken müssen. Hier sind alle ganz heiß auf dich ..."

Er machte eine kurze Pause.

"Ich soll dir eigentlich nur sagen, dass du 10 Uhr dem Kongress vorgestellt wirst. Da ist äußerste Pünktlichkeit geboten, mein Freund."

Jonathan hielt mitten im Kauen inne. Um 10 Uhr? Er konnte unmöglich so früh aufgestanden sein! Er schielte dennoch leicht nach rechts wo an der Wand ein Display die momentane Ohrzeit, Datum und Raumtemperatur anzeigte.

8:57 Uhr

Das war Weltrekord.

"Bist wohl nicht so ein Frühaufsteher?" Jens starrte ebenfalls auf die Uhr.

Stalker schüttelte den Kopf und widmete sich wieder schweigend seinem Marmeladenbrötchen.

"Gesprächig bist du anscheinend auch nicht."

Jonathan sah ihn über seinen Tellerrand hinweg an. "Ich könnte dir soviel erzählen, da wären wir um 18 Uhr noch nicht fertig und ich lasse euren Kongress nur ungern warten." Murmelnd fügte er noch hin zu: "Was auch immer das sein mag."

„Der Kongress ist so eine Art Rat.“, sagte Jens mit scharfer Stimme, „Er zählt zwölf Mitglieder. Die meisten davon waren vorher in der Politik zuständig und sind es größtenteils immer noch. Sie stellen unsere Verbindung zur Außenwelt dar, treffen Entscheidungen, organisieren alle Abläufe und sind sogar noch präsenter als die Stadtregierung, zumal einige Mitglieder dort tätig sind.“

„Das heißt ihr habt hier einen kleinen Staat, oder wie soll ich das jetzt verstehen?“

„So in der Art. Der Kongress ist das Herz New Atlantas. Kahn ist Vorsitzender und hat sogar mehr Einfluss als der amtierende Bürgermeister, der sich übrigens häufig mit ihm trifft, um sich beraten zu lassen. So können wir viele Vorteile für uns rausschlagen.“

Jonathan bekam eine schier unheimliche Lust seinem neuem Begleiter Löcher in den Bauch zu fragen und lies sich nur allzu gern von diesem tierischen Drang überwältigen.

„Stimmt es eigentlich, dass hier gar keiner so richtig religiös ist? Denn eigentlich deutet doch allein schon das Symbol am Eingang auf eine starke christliche Richtung hin.“

Jens sah ihn von der Seite her an: „Da bist du nicht der Einzige. Du hättest mal sehen müssen, auf welche Art und Weise ich das herausgefunden habe. Ich habe, als man mir gerade mitgeteilt hatte, dass ich nicht geeignet sei, um ein „Engel“ zu werden, doch tatsächlich gedacht, dass es daran lag, dass ich nicht gläubig bin. Also bin ich schnurstracks zu Kahn gelaufen und hab ihm erst einmal einen ellenlangen und lautstarken Vortrag darüber gehalten, wie bescheuert ich es finde, dass Heiden in der Prüfung allgemein vernachlässigt werden. Die ganze Zeit hat er mir nur ruhig in die Augen geschaut und erst als ich mich endlich beruhigt hatte, hat er angefangen mir zu erklären, dass ich mich am äußeren Erscheinungsbild der Gemeinde zu sehr orientiere und diese Einrichtung eher politischer und nicht christlicher Natur sei.“

Er hielt kurz inne und musterte Jonathan präzise, während seine Augenlieder nervös zuckten.

„Alter, du dachtest doch nicht etwa, dass wir hier alle Christen sind?“

„Falls es dich beruhigt: Bei dir hab ich´s nie gedacht.“

Jens lachte amüsiert. „Das war so klar … Aber na ja. Wir haben hier eigentlich überhaupt keine Regeln, die irgendwelche Einschränkungen hinsichtlich der Religion beinhalten. Natürlich gibt es hier auch einige Problemzonen, wie zum Beispiel die Kapelle im obersten Geschoss. Für die Christen unter uns ist das ja ziemlich cool, wenn wir mal die Kluft zwischen Protestantisch und Katholisch verdrängen, aber für die anderen Glaubensrichtungen -- Zum Glück gibt es in der City mehrere Synagogen und Moscheen, aber … Ich habe das Gefühl wir schweifen zu sehr ab!“

Stalker stopfte sich den letzten Bissen hinein und schon brannte ihm die nächste Frage auf dem Herzen: „Wenn du nicht als Engel hier arbeitest“ Er schluckte runter. „als was dann?“

„Observer.“

„Hm?“ Jonathan blickte auf.

„Ich bin ein Observer mit Grundausbildung!“

„Ach so. Ist das nicht jemand der in die Sterne schaut.“

„Nein. Das ist ein Observator!“, besserte Jens aus, „Ein Observer hat die Aufgabe bestimmte Zielpersonen zu beobachten oder zu verfolgen. Als Solcher genießt man höchstens eine Grundkampfausbildung und wird eher wenig gebraucht. Du bist seit drei Monaten mein erster Fall gewesen!“

„Und was waren das für komische Teile, die in der Luft rumgehangen haben?“

„Mein Equigment. Kleine Watcher-Roboter. Sie senden ununterbrochen Bilder an mich, damit ich die Zielperson besser im Auge behalten kann.“

„Wie soll das denn funktionieren?“, hackte Jonathan nach, während er vorsichtig an seinem Orangensaft nippte.

Jens deutete auf sein Auge. „Kompatible Kontaktlinsen. Sie projizieren die Bilder direkt auf deine Netzhaut und bilden sie automatisch scharf ab. “Normalerweise hab ich dann nichts weiter zu tun, als mich hinzusetzen und zu beobachten. Aber in deinem Falle hatte ich den kuriosen Auftrag dich einzufangen.“

Jonathan senkte den Kopf. Ihm war noch so einiges Unklar und er wusste, dass er allein mit Fragen nicht weiterkommen würde. Er musste Taten folgen lassen! Dieser Kongress musste einen bestimmten Grund für sein Handeln haben, aber welchen? Bis jetzt musste Jonathan davon auszugehen, dass man ihn wegen seines abnormen Auffallens hierher geholt hatte, aber er brauchte Gewissheit.

„Dieser Kongress.“, murmelte er, „Was wird er mir sagen wollen?“

„Keine Ahnung … Aber du brauchst dich nich verrückt machen. Ich schätze ma, dass sie dich erst einmal aufklären und ich dann einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, damit sie wissen, ob du wirklich der bist, für den sie dich halten.“

„Wer soll ich denn sein?“

Jens hielt inne. Einen kurzen Augenblick wirkte er unruhig, bis er antwortete: „Na, ein Engel!“

Stalker warf sich im Bett zurück. Das hatte er die ganze Zeit über befürchtet!

„Was ist denn los mit dir? Also ich würde mich an deiner Stelle freuen. Wenn jemand es schafft als Engel anerkannt zu werden, bedeutet das, dass er ab sofort einen höheren Rang einnimmt. Man ist dann so was wie ein Nationalheld. Du lernst Dinge, die du dir jetzt noch gar nicht vorstellen kannst, Junge!“

„Aber du wirst auch nie wieder ein normales Leben führen können! Lieg ich da richtig?“ Jonathan sah ihn an.

Jens stand auf. „Was ist heut schon noch normal?“

Stalker blickte erneut hoch zur Uhr. Sie zeigte 23°C Raumtemperatur; 15.Oktober 2151;

9.23 Uhr.

Er drehte sich zu Jens um, der gerade an dem kleinen Sonnensystem auf dem Beistelltischen herumspielte und dabei die Erde in einer halsbrecherischen Geschwindigkeit um sich selbst rotieren lies.

„Wo sind meine Sachen?“

Jens richtete sich wieder auf und die Kreisbewegung des kleinen Planeten normalisierte sich allmählich wieder. „Dein Rucksack ist da drüben im Schrank; und deine Sachen -- zumindest das, was übrig war -- haben wir entsorgen lassen.

Jonathan schreckte auf. Panisch sprang er auf. „Entsorgen lassen?! Hab ihr vorher die Taschen gelehrt?“

„N-natürlich!“, stotterte Jens.

„War da so ein weißer Briefumschlag drin?“

„Meinst du den hier?“ Jens zog etwas aus seiner Hemdtasche und hielt es Jonathan hin.

Dieser schnappte danach. „Gott sei Dank!“ Er hielt plötzlich inne. „Du hast ihn doch nicht gelesen, oder?“

„Nein, Mann! Das interessiert mich kein bisschen!“ Jens drehte sich einmal auf seiner Ferse im Kreis und steckte seine Hände in die Hosentaschen. „Du solltest dich lieber beeilen.“

„Und was soll ich bitteschön anziehen?“

Jens grinste von einem Ohr zum anderen. „Darauf hab ich die ganze Zeit gewartet.“

Er ging zu dem Wandschrank und öffnete ihn per Knopfdruck. Die Türen glitten sanft zur Seite und Jens streckte seine Hand aus. „Ich hoffe du magst Weiß!“

Er holte einen Kleiderbügel heraus, auf dem sich eine weiße Hose und ein weißes Hemd befanden. „Deine Schuhe stehen draußen vor der Tür. Natürlich auch weiß!“ Er schnalzte keck und kniff die Augen für einen kurzen Moment zusammen.

Schon als Jonathan sich die Hose misstrauisch vorm Spiegel anhielt, wurde ihm klar, dass sie viel zu lang war. Auch das Hemd schlackerte an den Seiten und sah weder in der Hose, noch außen wirklich gut aus. Er seufzte.

„Heul nich! Komm endlich!“ Jens hatte bereits die milchige Glastür geöffnet und stand draußen.

Jonathan schüttelte den Kopf. Wo war er da nur reingeraten? Er konnte sich nicht oft genug fragen …

Meister aus Stein

Als Jonathan Stalker aus dem Zimmer heraustrat, fand er sich selbst auf einem ringförmigen Plateau wieder, dessen Verlängerungen in der Mitte zusammenliefen. Genau dort, wo zwei gläserne Fahrstühle auf ihren Bahnen nach oben und unten rauschten.

„Ich hab gehört, du bist schon mal hier gewesen?“

Jonathan fuhr herum. Er hätte es gerne geleugnet, aber dann nickte er.

„Gut.“, sagte Jens und huschte zu den Fahrstühlen in der Mitte des Turmbaus, „Dann muss ich dir ja nichts mehr erklären. Es sei denn du weißt nicht, wie man einen Lift benutzt.“

Grinsend betrat er einen haltenden Glaskasten. Jonathan folgte ihm.

Ihr Weg führte sie nach oben, immer näher an die runde Glaskuppel, durch die man einen Panoramablick auf den strahlend blauen Himmel über New Atlanta hatte.

Doch bereits drei Etagen darunter endete die Fahrt und die Türen glitten sanft auseinander.

Jens eilte voraus und öffnete eine Tür, die hinter sich einen langen Flur barg, an dessen Ende sich eine weitere riesige Tür befand.

Erst als Jonathan in den Flur trat, bemerkte er den kleinen Schreibtisch neben dem zweiten Eingang, an dem eine langbeinige Brünette saß und gelangweilt auf dem Tastaturendisplay herumstocherte. Als Jens zu ihr trat, blickte sie auf und lächelte erfreut. Er beugte sich zu ihr herunter und begann einen kurzen Wortwechsel. So wie die junge Frau grinste, kam sie Jonathan vor, wie ein kleines verliebtes Schulmädchen, das geradezu ihrem ersten Date eingeladen wurde.

Jens beendete das Gespräch, strich ihr zum Schluss noch einmal rasch durch die Harre und kehrte dann zu seinem eigentlichen Hauptanliegen zurück.

„So, mein Guter.“, sagte er, als er wieder neben Jonathan stand, „Du wirst jetzt da rein gehen und schauen, was Sache ist. Ich komm dich dann später abholen. Ich muss nämlich noch ein paar wichtige Sachen erledigen.“ Er schielte leicht über die Schulter zur Brünetten hinüber.

Dann klopfte er Jonathan ermutigend auf die Schulter und sagte munter: „Du schaffst das schon, Mann! Und denk dran: Wenn du nervös wirst, guck dir einfach Kahn an. Der hat eine Ausstrahlung wie Jesus!“

Lachend zog sich Jens zurück und lies den verwirrten jungen Mann einfach stehen.
 

Stalker kam sich vor, als würde, wenn er diese Tür öffnete, die Welt unter ihm zusammenstürzen und er als einziger Überlebender im unendlichen Nichts verschwinden.

Reiß dich zusammen, dachte er, so schlimm kann es nicht werden.

Doch konnte es! Und er musste sich anstrengen, nicht seine Eskapaden bei Vorstellungsgesprächen in der Vergangenheit (an die er sich komischerweise gerade erinnert fühlte) zu resümieren, die zweifelsfrei mehrere Preise in diversen Pannenshows der Welt abgeräumt hätten.

Noch einmal durchatmen, noch einmal versuchen den eigenen ungestümen Herzschlag zu beruhigen. Der Versuch scheiterte. Mit immer noch stark zitternden Händen drückte er die Klinke nach unten.

Der Raum, den Jonathan betrat, war eine Mischung aus sterilem Arztzimmer und dem modernem Konferenzraum eines Megakonzerns. Das reine Weiß hatte auch hier die Vormacht. Kein Schmuck an den Wänden, lediglich weiße Lamellenvorhänge um das Licht, dass durch die großen Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes fiel, aufzufangen. An dem langen Tisch aus milchigem Glas saßen 12 Personen. Eine von ihnen, ein ziemlich fettleibiger Mann mit stark ausgeprägten kahlen Stellen auf seinem runden Schädel hatte sich gerade über den Tisch gelehnt und war mitten in der Bewegung erstarrt. Jonathan konnte den Ausdruck wilden Zorns in seinen Augen erkennen, den er allein auf die Person projizierte, die ihm gegenüber saß. Ein kleiner hagerer Mann, die Arme verschränkt und trotzig dreinblickend. Die 10 anderen, wie Stalker bemerkte ohne Ausnahme männlich, waren bis vor kurzem ebenfalls in angeregte Konversationen vertieft gewesen. In dem ganzen Durcheinander, dass sich in dieser Szene ausbreitete, fielen besonders zwei Personen auf, die dicht nebeneinander gedrängt in der rechten Hälfte des Raumes standen und keinerlei Anteilnahme zu zeigen schienen. Der eine, stellte Jonathan fest, war Kahn-Dûke. Der weißhaarige lehnte leicht an der glatten Wand und verfolgte mit interessiertem Blick das Geschehen. Der hochgewachsene Mann neben ihm, fand sich jedoch in keiner von Jonathans wirren Erinnerungen wieder. Er hatte einen dunklen Teint, lange, schwarze Haare, die sanfte Wellen schlugen, dunkle Augen und ein markantes Gesicht, das von einigen dichten Bartstoppeln untermalt wurde. Seine gesamte raubtierharte Gestalt schien unter ständiger Anspannung zu stehen. Der Araber zeigte keinerlei Gefühlsregung, sondern wirkte neben dem lebhaften Kahn eher wie eine Statue. Jonathan konnte nur an der sich stetig heben und senkenden Brust und den funkelnden Augen, dass er auch wirklich am Leben war.

Als er nun den Fuß in das große Zimmer gesetzt hatte und alle Gespräche augenblicklich verstummt waren, traf die plötzliche Aufmerksamkeit ihn wie ein Schlag. Selbst der Araber drehte den Kopf leicht in seine Richtung.

Doch gerade als Jonathan unter der Last der Blicke zusammenzubrechen drohte, ergriff Kahn das Wort:

„Meine Herren“, begann er ohne auch nur darauf zu achten, dass bis gerade eben noch eine hitzige Diskussion am Laufen gewesen war, „Jonathan Stalker. Er ist hier wegen des BS*1, den wir an ihm durchgeführt haben. Dort liegen die Unterlagen mit den Ergebnissen, die ich Ihnen zu Anfang unserer Sitzung ausgeteilt habe.“

Ungeachtet einiger leiser Beschwerden, von Konferenzteilnehmern, die er grob zur Seite drängen musste, beugte der Weißhaarige über den Tisch und nahm einen der erwähnten Hefter in die Hand.

„Wie vorhin bereits schon erwähnt, ist der Test positiv verlaufen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass er für eine Einstellung qualifiziert wäre. Stellt sich nur noch die Frage, ob wir ihn nun zur Ausbildung zulassen oder nicht. Und wie Mr. Adams bereits schon lautstark zur Sprache gebracht hat“ Er bedachte den dicken Mann, der seine Massen bereits wieder in seinen Stuhl zurückgewalzt hatte, mit einem vielsagenden Blick. „ist das keine Sache, die wir mit Leichtigkeit entscheiden können. Selbst wenn wir ihn nur für die Grundausbildung zulassen oder zum TS*2 schicken, müssen wir gemeinsam entscheiden. Und was ich bis jetzt hier gesehen habe, ist nicht die Art von Verständnis und Interesse, die ich von Ihnen erwartet habe!“

In der Betonung des letzten Satzes spielte deutlich ein kleines Fünkchen Enttäuschung vielleicht sogar Wut mit, dennoch gelang es Kahn seine Tonlage nicht ins Anklagende oder gar zornige absinken zu lassen. Er nutzte allein nur den Stapel Papiere in seiner Hand, um seine Worte zu untermalen, indem er ihn über die Köpfe der Anderen auf den Tisch schleuderte, sodass gut die Hälfte der Blätter leise heraussegelte und sich auf den Schössen der Männer verteilte.

Eine Weile lang schwieg der Pulk und sah des Öfteren zu Jonathan herüber, der selbst keinen Punkt fand worauf er sich konzentrieren konnte. Also starrte er seine eigenen Füße an.

Auf einmal ertönte ein amüsiertes Grunzen und der fettleibige Adams lehnte sich demonstrativ auf seinem Platz zurück, wobei die Lehne des hellgrauen Drehstuhls beängstigend quietschte.

„Ich halte es für unnötig überhaupt eine Sitzung einzuberufen, nur um eine Anstellung für den Bengel zu finden. Gut, er hat die Fähigkeiten. Mehr brauchen wir doch nicht zu wissen. Der Beweiß ist erbracht und wir können doch jede helfende Hand gebrauchen, oder etwa nicht?“

Einige der Ratsmitglieder nickten zustimmend.

„Sie sind also der Meinung“ Kahn wanderte um den Tisch herum und stützte sich mit beiden Armen auf die Lehne eines leeren Sitzplatzes, der mit größter Wahrscheinlichkeit sein eigener war. „wir sollten ihm die Ausbildung gewähren?“

Adams nickte überzeugt.

„Sehen das alle hier so?“ Er lies seinen Blick in die Runde schweifen.

Einstimmiges nicken, bis auf –

„Mr. Lanches, was--“, begann Kahn, doch der kleine hagere Mann unterbrach ihn mit einer festen Stimme, die man einem solchen Alten nicht mehr zugetraut hätte.

„Ich bin der Ansicht, dass Mr. Stalker sich zuerst in einer dreiwöchigen Probezeit bewähren sollte, bevor wir ihn in die ganze Sache einweihen. Immerhin können wir hier nicht jeden aufnehmen, den wir auf der Straße auflesen und der zufällig im BS positiv abschneidet.“

„Aber sie wissen doch von dem Vorfall in diesem illegalen Club. Er ist ganz sicher--“, äußerte sich Adams erneut mit einem Ausdruck tiefster Anspannung im Gesicht.

„Es ist doch völlig irrelevant, was dort abgelaufen ist. Wir waren weder dabei, noch haben wir irgendwelche Aufzeichnungen, die uns die Ereignisse, die sich a n g e b l i c h dort zugetragen

haben, vor Augen zu führen.“

„Aber einen Haufen Zeugen, von denen ganz nebenbei einer ein Mitarbeiter von uns ist.“

„Bitte! Meine Herren!“, schritt Kahn beschwichtigend ein, „Wenn sie heute noch diesen Raum verlassen wollen, schlage ich vor sie einigen sich auf einen der Vorschläge und zwar…“ Er blickte auf seine Armbanduhr. „ …. bevor die Mittagspause beginnt.“

Schlagartig kam ein Kompromiss zustande, der darin bestand, dass man Jonathan, der sich im hintersten Stübchen seines Hirns fragte, warum er eigentlich herbeordert wurden war, für eine dreiwöchige Probezeit festlegte.

Erleichtert verlies einer nach dem anderen den Raum. Manche sprachen gut gemeinte Worte gegenüber Stalker aus, andere bedachten ihn mit einem freundlichen Blick oder tätschelten ihn ermutigend auf die Schulter. Alles in allem erschien ihm die ganze Sache so ziemlich undurchsichtig.

Nachdem auch Adams mit ernstem Blick an ihm vorbeigerauscht war, trat Kahn-Dûke zu ihm. Neben ihm stand sein stiller Begleiter und funkelte Jonathan von oben her an.

„Bevor du dich in den Essenssaal begibst, will ich dir deinen Ausbilder Meister Saleem vorstellen.“

Auf einmal machte es K l i c k in Jonathans Gehirn. Plötzlich wusste er auch ohne, dass Kahn etwas zu der gemeinten Person erwähnte, um wenn es sich handelte.

Jibril Saleem.

Er erinnerte sich noch an den Tag, als er hier das erste Mal aufgekreuzt war und unten am Computer den Namen desjenigen mitbekommen hatte, der den Einsatz zu seiner Rettung geleitet hatte. Jibril Saleem war der Gruppenführer gewesen. Ihm hatte Jonathan sein Leben zu verdanken. Jetzt klarten seine Gedanken vollends auf. Das schwarze gelockte Haar, die dunklen Augen, die ihn durch das schützende Tuch fixiert hatten, kurz bevor er in Ohnmacht fiel. Die Stimme in seinem Traum … „…sechs Tote, ein Überlebender – keine schweren Verletzungen – wir setzten ihn in der Stadt ab – komme bald zurück…“

Konnte das möglich sein?

Nach gut einem Monat, dachte Jonathan, der für ihn wie eine halbe Ewigkeit gewesen war, stand er nun seinem Retter gegenüber.

Fassungslos sah er dem hochgewachsenen Araber in die Augen. Er zweifelte nicht mehr. Er war es tatsächlich. Er, der ihn vor einem grausamen Tot bewahrt hatte, aber 6 andere Menschen hatte sterben lassen.

Warum, dachte Jonathan erneut, Warum nur mich?

Auf einmal war alles wieder da: Die Zweifel, die Fragen, die Trauer und die unerklärliche Wut auf diesen einen Menschen, der doch selbst nur seine Pflicht getan hatte und im Grunde nichts dafür konnte, dass das Schicksal solch böse Scherze mit den Menschen trieb.

Jonathan würgte jegliche Gedanken an die Äußerung einer saftigen Anklage gegen den Araber augenblicklich ab und belies es bei einem knappen Nicken.

Immer noch blickte er in die scheinbar unendlich tiefe Schwärze dieser Augen und versuchte mit Blicken das zu vermitteln, was er mit Worten nicht sagen durfte, konnte oder wollte.
 

„Du siehst nicht gut aus, Junge!“

„W-Was?“ Stalker erwachte aus seinen Gedanken und schüttelte den letzten Rest Unaufmerksamkeit von sich ab.

Kahn strich an ihm vorbei und Jonathan hatte für einen winzigen Moment das Gefühl in einem Rosengarten zu stehen. Was für ein Aftershave benutzte dieser Kerl?

„Ich meine nur, du solltest erst einmal etwas essen.“ Der Weißhaarige sah ihn eindringlich, ja sogar ein wenig väterlich an.

Stalker, dem selbst noch ein wenig blümerant zu Mute war, machte sich keine Mühe zu antworten. Ihm war eher daran gelegen dem Araber Löcher in den Bauch zu fragen, als seinen eigenen zu füllen. Doch gerade dieser fasste Jonathans Zögern nicht sehr positiv auf. Mit einem kräftigen und nach dem Druck zu urteilen, absichtlich groben Stoß beförderte er ihn hinter dem Engelmeister nach draußen, warf ihm einen äußerst tödlichen Blick zu und wandte sich danach zur Tür um, um sie zu verschließen.

Jonathan Stalker verspürte große Erleichterung, als er Jens entdeckte, der den beiden vorbeilaufenden Autoritätspersonen eine Begrüßung entgegenhauchte, die bei Kahn um einiges freundlicher und ungezwungener klang, als bei Jibril, der ihm (wohl aus diesem Grunde) mit der Schulter so stark anrempelte, dass der jüngere Mann für einen kurzen Moment drohte das Gleichgewicht zu verlieren.

„Verdammtes Arschloch!“, fluchte Jens, als er noch völlig überrumpelt von der Attacke zu Jonathan gestolpert kam, „Is wohl heut wieder einer seiner Tage.“

Stalker wirkte leicht abwesend, wie er den beiden anderen noch mit einem Stirnrunzeln hinterher starrte. Das Verhalten dieses Menschen schien ihm keineswegs angebracht. Vielleicht war es das, was ihn derart erschreckte. Diese Kälte …

„Nun ja. Solange du ihn nicht als Mentor hast, musst du dir keine großen Sorgen machen. Er ist zum Glück fast nie im unteren Bereich.“, Bergmann seufzte, „Und das ist auch gut so!“

Jonathan hielt für einen winzigen Moment die Luft an und kniff Augen und Lippen fest zusammen.

„Jens?“, fragte er unsicher zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, „Bedeutet Mentor das Gleiche wie Meister?“

Durch seine halb geöffneten Augen konnte Jonathan nun erkennen, wie sich bei seinem Begleiter ein regelrechtes Feuerwerk der Gesichtsakrobatik abspielte. Jens Bergmann war zu einer Salzsäule erstarrt und betrachtete ihn durch weit aufgerissene Augen und hochgezogenen Augenbrauen, seinen Mund speerangelweitgeöffnet.

Mühsam und ein wenig beunruhigt versuchte Jonathan ein kleines Lächeln, aber in Wirklichkeit verspürte er einen Anflug leichter, aber tiefschwarzer Panik. Klarer als in Jens´ Gesicht konnte die Antwort gar nicht sein.

„Ist er denn wirklich i m m e r so schlimm? Ich meine - oder ist das nur so eine blöde Masche von dir, jedem Angst zu machen?“

Diesmal war Kopfschütteln die Antwort. Jens hatte es geschafft sich wieder zu bewegen. Er schien dennoch kein Wort über seine Lippen zu bekommen. Stalker schluckte. Er wollte gar nicht weiterfragen. Am Ende käme sonst noch heraus, dass Jibril Saleem in Wahrheit nicht nur ein verdammter Sklaventreiber war, sondern auch noch ein leidenschaftlicher Kannibale. Sein Nackenhaar sträubte sich bei dieser irren Vorstellung.
 

Auf dem ganzen Weg bis zum im untersten Stock des Turmes liegenden Speisesaal musste Jonathan Stalker die bemitleidenden Worte und aufopferungsvollen Gebete über sich ergehen lassen, die Bergmann, der sich wieder akklimatisiert hatte, in aller Eile formulierte. Doch irgendwie verfehlten sie ihre eigentliche Aufgabe, nämlich die, ihn zu ermutigen, völlig.

„IST JA GUT!“, verzweifelt riss Stalker die Hände in die Luft, als sie vor der riesigen Tür zum Saal standen, „Ich hab kapiert, dass mich der Satan nun als Schüler hat! NA UND?! Was soll ich deiner Meinung nach tun? Mich aus dem Fenster stürzen?“

Jens zögerte nicht um zu nicken und Jonathan stöhnte auf.

„Und warum“, er deutete auf den gläsernen Fahrstuhl der einige Meter hinter Jens wieder nach oben fuhr, „sind wir dann bis hier unten hin gefahren? Hier unten kann ich ganz schlecht Suezit begehen!“

„Weil heute Obsttag ist!“, Jens grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Jonathans Herz machte einen Hüpfer. „Obst? Ich meine richtig frisches Obst? Kein eingeschweißtes, mutiertes Kapitalobst?“

Jens nickte wie ein Verrückter. „Glaubste nich, wah? Na dann immer reinspaziert!“

Er schob die Tür zum auf.

Der Essenssaal war um einiges größer, als sich Jonathan gedacht hatte und bis in die hinterste Ecke mit Tischen voller essender Leute gefüllt. Die bunten Farbkleckser taten in dem wieder einmal weißgestrichen Raum richtig gut. Mit einem übertrieben wollüstigen Lächeln betrachtete Stalker die lange Reihe von Tischen, die über und über mit kalten und warmen Speisen gedeckt waren. Zum größten Teil war es die normale, größtenteils aus künstlichen Aromen und Farbstoffen bestehende Massennahrung, doch im Zentrum eines wahren Menschenauflaufs standen Körbe und Platten voller Bananen, Orangen, Äpfel und Weintrauben.

Früchte. Jonathan sog genüsslich die Luft in seine Nase und konnte tatsächlich unter all den fremden Gerüchen, den feinen Hauch von Kiwis erschnuppern, die in einer großen Silberschüssel am Ende des Banketts prangten und nur darauf warteten, dass er sie sich unter den Nagel riss.

„Na?“, Jens drängte sich an ihm vorbei auf einen freien Sitzplatz und stellte einen vollen Teller knallend auf die Tischplatte. Entweder musste er verdammt schnell gewesen sein oder Jonathan hatte schon etwas länger vor sich hingestarrt und dabei die Zeit vergessen, „Hab ich dir zu viel versprochen?“

Stalker erwiderte nichts, sondern stürzte sich energisch in das Getümmel vor ihm. Zwischen Massen zugreifender und mit Geschirr hantierender Hände, konnte auch er schließlich seinen eigenen Teller ergattern und ihn bis um Rand mit den verschiedensten Köstlichkeiten füllen. Als letztes lies er mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zwei Kiwis neben Steak und Kartoffelpüree plumpsen und setzte sich mit einem wohltuenden Seufzer neben Jens.

Das Mittagessen war, sofern Jonathan dies beurteilen konnte, das wichtigste Ritual im Tagesablauf eines Gemeindemitglieds. Neben der Nahrungsaufnahme, wurden auch Neuigkeiten ausgetauscht, Freizeit geplant, Witze erzählt und berühmte Politiker durch den Kakao gezogen.

Auch er und Jens hatten sich nach gut 20 Minuten in ein aktuelles Thema vertieft.

„Und das Beste ist ja, dass er sich nach Hawaii verflüchtigt hat. Stell dir das mal vor! Der amerikanische Präsident sitzt jetzt auf ner´ verdammten Insel und scheißt sich die Hosen voll!“, Jens schob sich einen Löffel Zucker in den Mund.

Jonathan blickte irritiert zu ihm hinüber: „Wie--? Woher weißt du das? Das gesamte Kommunikationssystem ist doch lahmgelegt, oder?“

„Ach Quatsch! Unser Institut hat ein gesichertes Netz und das schon bereits vor dem Vorfall. Wir haben immer noch Kontakt zu einigen anderen Städten wie New York, Washington oder Moskau.“ Bergmann nippte an seinem Kaffee. „Letzte Woche haben wir die Verbindung zu Athen verloren. Aber hey! Bitte sag keinem, dass du´s von mir weißt! Normalerweise wissen darüber nur die wirklich hohen Tiere aus der Chefetage bescheid und ein paar Leute vom Technical Service. Und das hat auch seine Gründe …“

„Und woher weißt du´s?“

„Ich wusste, dass du diese Frage stellst! Ein Freund von mir arbeitet im TS. Ich wollte ihn dir sowieso noch vorstellen.“, babbelte Jens zwischen zwei Brötchenhälften hindurch.

Mit einem leicht wehleidigen Ausdruck, der sich kaum merklich in seinem Gesicht abzeichnete, begann Jonathan unbeholfen mit einer Gabel in seiner Kiwi herumzustochern.

„Was zum Teufel machst du da?“ Jens griff entsetzt nach dem misshandelten Stück Obst und fuchtelte danach dramatisch vor Stalkers Nase herum. „Das ist eine Kiwi und kein Tier, das du erst töten musst! Mann, du tust ja fast so als hättest du noch nie eine Frucht gegessen!“

Jens wusste gar nicht wie recht er damit hatte.
 

„We are living in a yellow submarine! … UND JETZT ALLE!!!”

Jonathan spitzte die Ohren. Hatte er richtig gehört oder hatte er sich mit seiner ersten Kiwi eine Lebensmittelvergiftung geholt?

Er und Jens hatten ihr Mittag beendet und waren nun auf dem Weg zur Technical Service Abteilung im Erdgeschoss, die sich, laut den Angaben von Jens am Ende des hellblau gestrichenen Flures befand, den sie gerade entlang schritten.

Stalker lauschte noch einmal. Er fühlte sich geradezu schmerzhaft an seine Schulzeit und den damit verbundenen Musikunterricht erinnert. Beatles, Rolling Stones, ABBA, Elvis Presley, einige wenige die ihm auf Anhieb noch einfielen und ihn gleichzeitig auch wieder in die verhassten Klassenräume zurücktrieb.

Rein textmässig hatte er beim Gesangsunterricht nie Probleme gehabt, doch mangelte es ihm an Rhythmusgefühl und Notenkenntnis, sowie der Fähigkeit zum Tonhalten.

Herr Drake, ein kleiner, beleibter Lehrer, der zum Leidwesen aller Schüler auch noch glaubte er könne singen, hatte anfänglich noch große Stücke auf Jonathan gesetzt, die sich aber im Laufe der Schulzeit in eine Art permanenter Abneigung wandelten und sogar so weit ausarteten, dass er jedes Mal, wenn Jonathan mit dem Vorsingen an der Reihe war, schmerzhaft zusammenzuckte, da er wohl befürchtete der Junge würde die Töne so sehr verunstalten, dass er sich der Musik gegenüber selbst schuldig machen würde. Man muss verstehen, dass Herr Drake keinerlei Toleranz oder gar Verständnis für Fehler oder Schwächen anderer Menschen zu haben pflegte, sondern einzig und allein die Musik abgöttisch anbetete. Immerhin kam der junge Jonathan im Endjahr auf 4, die sich nahezu perfekt in den Rest seines Zeugnisses einfügte.

Stalker schluckte einen Kloß hinunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte und folgte Jens weiter den Gang entlang.

Als die beiden den Warteraum des TS betraten, war der Gesang noch lauter geworden.

Die ältere Sekretärin, die Jonathan ohne einen ersichtlichen Grund irgendwie an die Kiwi erinnerte, die er zuvor verspeist hatte, sah Jens an und schüttelte missbilligend den Kopf über die überschwänglichen Hymnen aus dem Nebenraum.

„Skipper hat wieder seinen Rekord gebrochen, oder?“ Jens grinste breit.

„Zum elften Mal in dieser Woche schon. Langsam ziehe ich einen Postenwechsel in Betracht.“ Die Sekretärin stand auf, um die große Tür, die zum Raum nebenan führte, zu öffnen.

„Clairice, du weißt genauso gut wie ich, dass du nichts andres finden wirst.“

„Allerdings.“ Sie schob die Tür auf. „Und das deprimiert mich ja so …“

Die Fülle des Raumes war unglaublich. Ungefähr 50 Menschen und mindestens doppelt so viele Computer konnte man auf Anhieb ausmachen. Schwere Metalltische waren in Reihen angeordnet und die Wände waren mit allerlei Plasmavorrichtungen gespickt. Bildschirme, nebeneinander gestellt, bildeten eine Art Mauer und unzählige, bunte Kabel hingen in wirren Streben von der Decke. Zudem entdeckte Jonathan viele unbekannte Gerätschaften, denen er keine Funktion zuordnen konnte.

Der Chor war verstummt, als er und Jens den Raum betraten. Die Stille war auf einmal viel bedrückender als das laute Gegröle. Die Masse starrte die beiden Besucher an, manche begaben sich hastig wieder zurück an ihren Arbeitsplatz, andere (meist weibliche Individuen) winkten Jens freundlich zu.

„Freut mich zu sehen, dass du mal wieder genug Zeit gefunden hast deiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, Skipper. Wo du doch eigentlich soviel zu tun hast, seitdem wir Athen verloren haben.“

„Hey, klingt ja fast wie ein Vorwurf, mein Freund. Mach du erstmal meinen Job und dann werden wir sehen, wie lange du Bildschirme anstarren kannst, bis du irrewirst!“

Die Stimme klang jung und sehr entfremdend in dieser Umgebung. Sie gehörte einem Mann, eher noch einem Jungen, der ihnen gegenüber in einem Drehstuhl saß. Seine leicht gewellten Haare waren feuerrot und sein blasses Gesicht war mit Sommersprossen übersäht. Er lächelte.

Jens lächelte ebenfalls. „Ich könnte das nie so gut wie du. Außerdem wäre es wahrscheinlich nicht sehr angenehm, wenn alle Außenteams plötzlich meine Stimme im Ohr hätten.“

„Zumindest hätten sie dann mehr zu Lachen.“

Bergmann tat so, als hätte er die letzte Anspielung seines jungen Freundes nicht gehört. „Ich habe den Neuen mitgebracht. Jonathan Stalker. Das ist Joshua McKenzie, besser bekannt als „Skipper“.“

Skipper hob die Hand zur Begrüßung und kaute dabei weiter auf einem Zahnstocher herum.

„Er ist der Captain. Er ist mit jedem verbunden, der hier arbeitet, hält Kontakte mit den anderen Städten aufrecht und er ist ein wahres Genie wenn es um Technik geht und darum wie man sie möglichst erfolgreich anwendet. Wenn mal eine Außenmission ansteht, ist er Derjenige, der dich führt und mit dir in Kontakt bleibt. Die gesamte Abteilung hier steht unter seiner Aufsicht.“

Jonathan nickte verstehend, obwohl er dem jungen Mann vor ihm niemals eine solch führende Position zugeordnet hätte. Skipper drehte während Jens ihn vorstellte unablässig Runden in seinem Bürostuhl und kam erst zum Stehen als Bergmann geendet hatte.

„Soso. Jonathan … Stalker? Hat deine Ausbildung schon begonnen?“

„Nein, ich bin erst seit gestern hier und--“

Im hinteren Teil des Raumes fiel etwas Großes scheppernd zu Boden. Einer der Mitarbeiter, die vor den Überwachungsmonitoren saßen, hatte beim Versuch sein Headset aus einem Wust von Kabeln zu befreien, ein Tablett voller Kaffeetassen vom Tisch gestoßen und machte sich nun peinlich berührt daran, den Großteil der verschütteten braunen Flüssigkeit vom Boden und den darauf verteilten Dokumenten zu wischen.

Seufzend drehte sich Joshua wieder den beiden anderen zu.

„Ich habe Kahn schon mehrmals gesagt, dass dieser Raum niemals für 47 Leute reicht. Zudem ist die Hitze die durch die Computer ausgestrahlt wird selbst im Winter kaum zu ertragen, aber die Chefetage hat ja nichts Besseres zu tun, als sich um diesen verdammten wichtigen Organisationskram zu kümmern! Ich frage mich wirklich, was man denn überhaupt noch zu organisieren hat. Immerhin leiten wir doch die ganzen Einsätze und die drehen Däumchen.“

Er schüttelte seine rote Mähne.

„Wie auch immer. Jonathan, ich habe etwas für dich!“ Er begann in einer der zahlreichen Schubladen seines Schreibtisches rumzuwühlen, bis er fündig wurde. „Das hier wird ab jetzt bei allen kommenden Einsätzen dein ständiger Begleite sein. Ein kleines Mikrokommunikationsgerät für dein Ohr. Damit bist du mit uns verbunden. Also wenn du Probleme hast, sag´s einfach nur und wir holen dich da raus.“

Skipper zwinkerte ihm zu und gab ihm den kleinen mattschwarzen Apparat.

„Na dann werd ich jetzt auch mal Pause machen.“ Er streckte sich auf seinem Stuhl und fügte noch hinzu, während er auf sein rechtes Ohr tippte: „Wir hören uns, Jo.“
 

Ein wenig später hatten Jens und Jonathan den stickigen Raum bereits verlassen und wanderten wieder die Gänge des Gebäudes entlang.



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  Ea
2006-12-03T17:25:09+00:00 03.12.2006 18:25
die geschichte ist echt super^^ gefällt mir total^^ schreib mal weiter
besonders gefällt mir dieser jibril saleem, der erinnert mich an wen *denk*^^
Von: abgemeldet
2006-09-11T16:52:37+00:00 11.09.2006 18:52
huh, erste
das kapitel ist noch nicht abgeschlossen? *glubsch*
nunja, ich finds jetzt schon gut (du weißt wieso, oder? xD)
ich mag deine at zu schreiben, beeil dich mit dem rest...bitte
brauchst du de noch?
*auf jibril zeig*
Von: abgemeldet
2006-07-30T13:11:58+00:00 30.07.2006 15:11
Hallo, ich hab mir heute noch mal deine Geschichte durchgelesen und musste feststellen das die bei mexxi schon weiter geschrieben ist als der teil den ich besitze! Frechheit!^^
Na ja ich habe sie von Anfang an bis zum Schluss gelesen der bis jetzt veröffentlich ist.
Ich bin immer noch begeistert und der Meinung das es die beste Geschichte von dir ist die du je geschrieben hast deswegen finde ich solltest du sie mal zu einen oder mehreren Wettbewerben schicken wenn sie fertig ist. Bis nachher und wehe du vergisst mir wieder bescheidet zu sagen das du weiter geschrieben hast!
*knuff*
*knuddel*
*schmatz*
Mach weiter so! ^^b
Von: abgemeldet
2006-07-14T14:03:38+00:00 14.07.2006 16:03
wow, ich bin die erste!!!
also ich finds cool...total lustig eigentlich, vor allem die kleinen zwischenkommentare
der kampf war voll cool^^
Von: abgemeldet
2005-09-16T18:15:58+00:00 16.09.2005 20:15
Die Geschicht ist Klasse, wer das nicht liest ist selbst schuld!


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