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Rosen und Lavendel

von

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Warum mein Herz schmerzt

Die Ziegel knarrten als Noé einen weiteren Schritt ganz bis zum Rand des Daches unternahm. Kleine Steinchen, von Vögeln hier herauf getragen, knirschten leise unter seinen Schuhen, ehe sie schließlich herunterrieselten und fast geräuschlos auf der Straße aufprallten. Aber der großgewachsene Vampir schenkte ihnen keinerlei Beachtung, während sein Blick durch die Gassen der Stadt unter ihm schweifte, um zwei ganz bestimmte Personen zu beobachten.

Seine sonst tief violetten Augen schimmerten nun purpurn, fast rötlich, da sein Blick unlösbar an ihnen haftete.

Noé stand so weit am Rand des Daches, dass allein seine Fähigkeit zur Manipulation der Gravitation ihn nicht fallen ließ. Nicht, dass er darauf geachtet hätte. Sein Körper schützte ihn instinktiv. Viel zu konzentriert war er darauf Vanitas und Jeanne nicht aus den Augen zu lassen.

Wochen nach ihrer ersten Begegnung mit Misha war endlich wieder so etwas wie Normalität eingekehrt – soweit es Normalität auf ihrer ständigen Suche nach Fluchträgern geben konnte – und Vanitas hatte sich soweit gefangen, dass er es geschafft hatte mit Jeanne zu sprechen.

Es waren keine großen Liebeserklärungen gefallen, keine leidenschaftlichen Küsse oder auch nur die Benennung welcher Art ihre Beziehung zueinander war, aber doch… eine schüchterne Annäherung; ein Lächeln seitens Jeanne, welches die Zweifel des menschlichen Vampirarztes zu zerschlagen schien. Soweit, dass die beiden nun ein Rendezvous in den abendlichen Straßen von Paris hatten und Noé freute sich für seinen Mitbewohner. Oder…?

Wieso tat dann sein Herz so weh? Es war dieses gleiche Gefühl, das der junge Archiviste bereits einmal verspürt hatte, als er Vanitas und Jeanne zusammen sah. Was war es nur? Fühlte er sich ausgeschlossen? War es Neid? Oder war er einfach nur frustriert darüber, dass es für Jeanne so viel leichter war Vanitas’ Vertrauen zu gewinnen? Er selbst hatte sich buchstäblich auf den Kopf stellen müssen, damit dieser sture Mensch es überhaupt duldete mit ihm im selben Zimmer zu schlafen, geschweigenden sich bei ihm anzulehnen, wenn er Hilfe brauchte.

Auch wenn Vanitas seine Gründe haben mochte… Alles an ihrer Beziehung war irgendwie mühsam und diese Frau schaffte es einfach, dass Vanitas es ohne Wenn und Aber akzeptierte ihr Mal zu tragen.

Ja, das musste es wohl sein. Jeanne war ihm zuvorgekommen. Darin das Blut zu kosten, welches einen verführerischen Duft durch die blasse Haut des jungen Mannes verströmte, und darin ihn zu markieren. Aus irgendeinem Grund gefiel Noé der Gedanke nicht hinter Jeanne zurückzustehen. Wieso war das bloß so? Und wäre alles anders gekommen, wenn er kein Archiviste wäre?

 

 

„Ich hätte nicht gedacht, dass du so gut tanzen kannst, Mon lapin.“, warf Vanitas Jeanne mit einem verschmitzten Grinsen über seine Schulter zu, während sie die Straßen entlang liefen.

Auch wenn sein Herz ihm immer noch bis zum Hals schlug sobald er in ihre Augen sah, hatte er es mittlerweile geschafft zumindest nach außen hin ein normales Verhalten an den Tag zu legen.

Zwar verlangte es ihm alles ab nicht wie ein kleiner Schuljunge vor dem Referat bis zu den Ohren rot anzulaufen, aber so langsam fand er zu seinem alten Selbst zurück oder zumindest dem Selbst, das er ihr am liebsten zeigte.

Nicht zuletzt deswegen, weil Jeanne offenbar instinktiv gewisse Grenzen nicht überschritt. Sie stellte keine Fragen und doch… war irgendetwas anders als bei ihrem ersten Rendezvous.

Das hier war ernster, als alles andere bisher und es war ein Balanceakt für Vanitas nicht davonzulaufen, doch gleichzeitig fühlte er sich auch sicherer als zuvor. Er fühlte sich generell wohler in seiner Haut seit Noé und er sich ausgesprochen hatten.

Mit einem hinreißenden Schmollen auf den Lippen dreht Jeanne den Kopf weg.

„Du weißt vieles noch nicht über mich.“

Sie wollte wenigstens so tun, als ob seine Neckereien ihr noch immer etwas ausmachten. Immerhin hatte sie sich geschworen noch nicht zu zeigen wie tief ihre Gefühle für ihn wirklich gingen und irgendwie wollte sie das Gespräch in die Länge ziehen, um damit den Zeitpunkt des Abschieds zu verzögern, der immer greifbarer wurde, je näher sie der Grenze nach Altus kamen.

„Als ich klein war, haben meine Eltern und Meister Ruthven mir viele Dinge beigebracht und auch als Meister Lucas Chevalier darf ich mich nicht blamieren…“, erzählte sie während sie dabei zusah, wie die Ladenbesitzer der Straße langsam ihre Geschäfte schlossen.

So spät war es also schon.

„Wie kommt es eigentlich, dass du heute herkommen durftest? Du weichst doch normalerweise nicht von Lucas Seite.“, forschte Vanitas nach. In seiner Stimme schwang eine gewisse Neugier mit.

Jeannes Blick schweifte nachdenklich zu Boden.

„Wegen der bevorstehenden Ernennungszeremonie hat Meister Luca viele Aufgaben zu erledigen, die mich als ehemalige Bourreau nicht involvieren und je älter er wird desto mehr diene ich nur noch als bloßer Geleitschutz für Unternehmungen.“ Ihre Stimme wurde zu einem leisen Murmeln, welches mehr an sie selbst gerichtet war: „Ich frage mich, ob er mich irgendwann nicht mehr brauchen wird…“

 

Vanitas zog es vor zu schweigen. Er wusste wie viel Jeanne und der kleine Herzog einander bedeuteten, aber an der Wahrheit war nicht zu rütteln. Allein Lucas Anwesenheit sorgte dafür, dass der Senat sich Jeannes nicht einfach durch eine Hinrichtung entledigte und somit würde sie nie mehr als die Rolle einer Untergebenen spielen können, egal wie sehr es Luca auch missfiel. 

„Wir sind da, Mon lapin.“

Jeanne sah auf, als Vanitas plötzlich vor einem Gebäude stehen blieben. Sie waren also schon am Ziel. Tief seufzend ließ sie die Schultern sinken. Sie würden sich nun wieder für mindestens eine Woche oder länger nicht sehen. Manchmal beneidete sie Noé darum hier in der menschlichen Welt leben zu können, noch dazu im selben Zimmer wie Vanitas. Hätte sie selbst diese Möglichkeit, würden ihre Treffen ganz sicher nicht so zurückhaltend verlaufen.

Sacht, wie zu sich selbst sprechend, schüttelte Jeanne den Kopf. Sie musste an Mademoiselle Dominique denken. Ihre einzige Freundin würde sich nie die Blöße geben wie ein kleines Kind wegen eines Abschiedes so das Gesicht zu verziehen. Sie musste sich zusammennehmen.

Vanitas direkt in die Augen blickend hob Jeanne den Kopf und lächelte ihn an, während er sanft ihre Hand nahm und die Oberseite ihres Handschuhs küsste.

„Gute Nacht, Jeanne.“

Ihr Name floss wie Honig von seinen Lippen, während er ihr ein weiteres spitzbübisches Grinsen schenkte. Dieser Idiot. Sie wusste inzwischen sehr wohl, dass er auch ganz anders konnte, hatte seine mürrische Seite und noch vieles anderes gesehen.

„Gute Nacht, Vanitas.“

Mit einem Ruck umfasste die Vampirin die Hand, welche ihre hielt und zog Vanitas nah genug zu sich herunter um ihm einen Kuss auf die Wange zu verpassen, ehe sie sich von ihm löste und eiligen Schrittes in einem unscheinbaren Café verschwand, dessen Hinterräume sie zurück nach Altus bringen würde.

 

Sprachlos sah der schwarzhaarige junge Mann seiner Liebsten hinterher. Was… war das gerade?

Nur an der in ihm aufsteigenden Hitze, konnte Vanitas erahnen wie rot er geworden sein musste.

 

‚Nein! Nein! Nein! Nein! Nein!‘

 

Nervös schlug er sich auf beide Wangen, um wieder zu Verstand zu kommen. Er konnte nicht zulassen, dass Jeanne schon wieder die Oberhand über ihn gewann!

Wie sollte das nur weiter gehen? Es wäre besser gewesen sich von nun an von ihr fernzuhalten, ehe sie ihn noch schwächer machte, aber aus irgendeinem Grund zog es ihn immer wieder in ihre Nähe. Ob Roland recht gehabt hatte? Liebte Jeanne ihn auch? Das war eigentlich unmöglich. Aber was, wenn doch? Was, wenn da noch mehr war, als ihre gemeinsame Abmachung?

Bedeutete das, dass Jeannes Herz ebenfalls so wild schlug, wenn sie sich trafen? Konnte sie nachts auch nicht schlafen? Zählte sie auch die Tage bis sie sich wiedersahen, obwohl sie sich auch auf ihre Pflichten konzentrieren musste? War ihr gemeinsames Arrangement für sie mittlerweile ebenfalls nur eine Ausrede, um miteinander ausgehen zu können?

 

Es musste für die Leute um ihn herum unglaublich lächerlich aussehen, wie er dort wie angewurzelt stand und innerlich mit sich selbst kämpfte. Es war Zeit zurück ins Hotel zu kehren, sonst würde Noé nur wieder das Zimmer halb in Brand setzen beim Versuch Murr eine neue Schleife umzubinden. Wie auch immer das möglich war…

 

 

Noch während er die Stufen zum Hotelzimmer hinaufging, fühlte Vanitas sich seltsam leicht. Ja, diese ungewöhnliche Beziehung zu Jeanne verunsicherte ihn irgendwie, aber auf seltsame Art und Weise macht sie ihn auch glücklich.

Er hatte das absurde Bedürfnis Noé davon zu erzählen, ihm wie ein aufgeregtes kleines Mädchen jedes Detail seines Rendezvous zu schildern und den jungen Archivisten zu fragen was diese oder jene Reaktion von Jeanne wohl bedeuten mochte.

Denn er fühlte sich wohl bei Noé und irgendwie sicher. Nach allem was sie gemeinsam durchgemacht hatten, kam er tatsächlich auf die abstruse Idee von seinen Gefühlen zu erzählen und er wusste der Vampir wäre vielleicht der einzige Mann auf der Welt (neben einem gewissen verrückt gewordenen Chasseur), der nicht über ihn lachen würde.

Vanitas konnte sich lebhaft vorstellen wie Dante im Gegensatz dazu seine helle Freude daran hätte sich über die Unsicherheit des Menschen zu amüsieren und Vanitas hätte es ihm nicht einmal verübeln können. Verdammter Mistkerl.

 

 

Überraschender Weise fand Vanitas das Zimmer leer vor. Nur das offene Fenster und ein gleichgültiger Blick von Murr, der auf Noés Bett saß, ließen erahnen, dass sein Begleiter nicht all zu weit weg auf dem Dach platz genommen hatte. Ein Ort den Noé nur selten allein betrat. Normalerweise war dies Vanitas‘ Refugium, in das er Noé ab und zu einlud.

Mit einigen geübten Handgriffen schwang der junge Vampirarzt sich durch das Fenster auf den Dachsims, wo er Noé schließlich erblickte, mit ausgestreckten Beinen auf der obersten Kannte des Daches sitzend.

„Hey, Noé…!“, begann Vanitas, ehe sein Blick auf eine geöffnete Flasche neben Noé sank. „Du trinkst Wein? Noch dazu allein? Das sieht dir aber nicht ähnlich…“

Vanitas offener Gesichtsausdruck veränderte sich zu einem vorsichtigen. Wann immer sich etwas in Noés sonst so unbekümmerten Verhalten änderte, machte es ihn immer noch ein wenig nervös. Der Vampir wirkte irgendwie nachdenklich und niedergeschlagen.

Noé sah zu Vanitas, als dieser sich langsam auf ihn zubewegte, um sich neben ihn zu setzen.

„Mademoiselle Amelia hat sie mir gegeben und gemeint, dass wir ihn unbedingt probieren sollten. Es ist ein Geschenk von unserer letzten ‚Patientin‘.“, erklärte Noé, als Vanitas die Flasche in die Hand nahm und sie eingängig musterte.

„Und da hast du dir gedacht, du machst ihn einfach ohne mich auf.“, sagte Vanitas abschätzig. „Können Vampire überhaupt betrunken werden?“

Noé betrachtete sein Gegenüber mit einem gelassenen Blick. „Es braucht schon ein wenig mehr, als bei einem Menschen, aber grundsätzlich ja. Ich dachte es würde dich nicht stören, da du Alkohol normalerweise eher meidest.“

Der Angesprochene knirschte leise mit den Zähnen. Dieser Blödmann kannte ihn schon viel zu gut. Kurz spielte er mit dem Gedanken einen kräftigen Schluck zu nehmen, einfach nur um Noé lügen zu strafen, aber er wusste, dass er den observierenden Augen des Älteren ohnehin nicht entkommen konnte. Das war es nicht wert, dafür einen Brechanfall oder eine Ohnmacht zu riskieren.

Vanitas hatte Alkohol nie gut vertragen. Bereits ein größeres Glas Wein ließ ihn doppelt sehen.

 

Eine Weile saßen sie schweigend da, bis der Jüngere die Stille mit einer zischenden Stimme unterbrach.

„Was ist los? Suchst du Streit?!“

Vanitas Blick richtete sich kalt nach vorne, während er das sagte.

Noé zuckte zusammen. Was hatte er den jetzt schon wieder falsch gemacht?

„N-nein! Wieso fragst du das?“, meinte er geradezu empört.

Vanitas Blick verfinsterte sich noch mehr.

„Du hast irgendwas. Spuck‘s aus! Dann kannst du dir auch diese bohrenden Blicke sparen!“

Noé war nicht der einzige, der den anderen ganz genau beobachtete. Auch Vanitas nahm jede kleinste Veränderung wahr. Nach außen hin mochte es wirken, als sei er selbst auf Streit aus, als wollte er seinen Frust an Noé auslassen, und an manchen Tagen stimmte das auch, aber jetzt… war Vanitas einfach sensibel… Die Veränderung in Noés Stimmung machte ihn nervös. Etwas stimmte nicht und er musste wissen was, um sich im Notfall zurückziehen zu können.

 

Langsam begriff Noé, dass Vanitas eigentlich einmal wieder in eine Verteidigungs- statt in eine Angriffshaltung gegangen war und es nervte ihn. Hatte dieser Mensch denn wirklich keinerlei Vertrauen zu ihm? Woran lag das? War es, weil er ein Vampir war? Das war Jeanne auch, noch dazu ein starker. War es, weil er ein Archiviste war? Er hatte ihm bereits versprochen nie sein Blut zu trinken und er hatte sich auch sehr gut unter Kontrolle. Oder lag es vielleicht daran, dass er ein Mann war? Menschen hatten zuweilen seltsame Vorurteile, was Geschlechter betraf.

Sein Blick sank auf Vanitas‘ Hemdkragen unter dessen Stoff sich Jeannes Mal verbarg.

„Ich habe nur nachgedacht. Über dich und Jeanne…“, mit diesen Worten sah Noé seinem Gegenüber wieder in die Augen. „Vanitas, weißt du mittlerweile was Liebe ist? Hast du recht behalten mit dem was du über sie gesagt hast?“

Völlig perplex sah Vanitas auf ihn zurück.

Was?

Darum ging es hier? War Noé in irgendeiner Weise neidisch darauf, dass Vanitas nun öfter mit Jeanne aus war und er selbst keine Frau abbekam?

 

Wobei eine gewisse Mademoiselle de Sade sicher nichts dagegen gehabt hätte das zu ändern…

 

Leise schnaufte Vanitas bei diesem Gedanken in sich hinein. Aus irgendeinem Grund gefiel ihm die Vorstellung nicht Noé mit Dominique auf einem echten Rendezvous zu sehen.

Aber es war ein wenig kindisch seinen Freund nicht teilen zu wollen, während er sich selbst mit einer Frau traf, oder? Darum ging es hier, nicht wahr? Noé war zu einem guten Freund geworden. Jemand, der auch mit ihm über seine Gedanken reden wollte. Es gab keinen Grund ihm böse Absichten zu unterstellen wo keine waren…

 

„Keine Ahnung…“, murmelte Vanitas nun wieder etwas gelassener vor sich hin, während er weiter nachdenklich die Weinflasche in seiner Hand drehte. „Ich versuche das noch raus zu finden. Jeanne und ich…“

Eine kurze Pause trat ein. Da war es wieder dieses Gefühl sich Noé anvertrauen zu wollen. Diese seltsame Stimmung behagte ihm nicht. Er mochte es lieber, wenn Noé fröhlich oder begeistert war, auch wenn seine Naivität und Gedankenlosigkeit Vanitas manchmal wahnsinnig machten.

Langsam strich der schwarzhaarige Mensch mit dem Daumen über das Etikett der Flasche, ehe er schließlich doch einen großen Schluck der roten Flüssigkeit zu sich nahm.

Fast augenblicklich spürte er wie das bittersüßliche Getränk ihm die Hitze von der Brust bis in die Ohren steigen ließ, ehe er fortfuhr:

„Jeanne und ich sind uns irgendwie ähnlich, auch wenn sie in manchen Aspekten mehr ist wie du… Ich möchte in ihrer Nähe sein. Das ist alles…“

 

Noés Augen weiteten sich, als er den jungen Mann neben sich fixierte.

„In welchen Aspekten sind wir gleich?!“

Seine Stimme überschlug sich fast vor Eile, aber als Noé sah wie Vanitas ihn wieder völlig perplex ansah fügte er ruhiger hinzu:

„Also… Ich meine… unterscheiden wir uns nicht eigentlich sehr?“

Am liebsten hätte Noé gefragt ‚Was hat sie, was ich nicht habe? Wieso darf sie dich so einfach markieren?‘, aber das wäre ihm dann doch zu kindisch vorgekommen.

Vanitas schien einen Moment zu überlegen.

„Ihr ähnelt euch in eurem Sinn für Gerechtigkeit… Auch ein wenig in eurer Naivität, aber… Davon hast du eindeutig mehr. Jeanne hat schon viel mehr gesehen und weiß wie grausam das Leben sein kann…“

Vanitas musste lächeln.

„Ihr seid beide leicht zu begeistern und habt beide eine Schwäche für Süßspeisen. Aber Jeanne ist auch leichter zu ärgern als du und kann nicht so gut kontern.“

Der schwärmende Gesichtsausdruck, der sich auf Vanitas‘ vom Wein gerötete Wangen legte, ließ Noé übel werden.

 

„Wieso… Wieso macht es dir nichts aus, dass sie dich markiert hat? Du hasst doch alles, was dich weiter von deiner Menschlichkeit entfernt…“ Noés Stimme schwankte, als er diese Frage stellte und Vanitas Gesichtsausdruck verfinsterte sich wieder, während er die Weinflasche fester packte.

„Du suchst doch Streit, nicht wahr?“

In einem Anflug von Wut sprang Noé auf.

„Das tue ich nicht! Wenn überhaupt bist du derjenige, der Streit sucht!“

Vanitas nahm einen weiteren Schluck Wein, ehe er die Flasche donnernd auf die Dachziegel stellte und ebenfalls aufstand. Er packte Noé am Kragen.

„Was willst du eigentlich von mir, Archiviste?! Ich beobachte das jetzt schon ein paar Wochen! Jedes Mal, wenn ich von einem Treffen mit Jeanne zurückkehre führst du dich auf wie eine beleidigte Leberwurst! Bist du vielleicht eifersüchtig, weil ich eine Freundin habe und du nicht?!“

Die distanzierte Nennung bei seinem Nachnamen machte Noé erst recht sauer. Ja, er war irgendwie eifersüchtig, so viel musste er sich eingestehen, aber nicht auf Vanitas. Viel mehr auf Jeanne! Trotz allem was Vanitas und er zusammen erlebt hatten, trotz der vielen Zeit, die sie miteinander verbrachten, bekam sie was er sich wünschte. Sie war ihm einfach zuvorgekommen. Er hatte nicht übel Lust ihr ebenfalls etwas wegzunehmen!

Noé packte Vanitas nun auch am Kragen und sah ihm mit einem aufgebrachten Blick in die Augen.

 

„Ich bin nicht eifersüchtig!!“

 

Noch bevor Vanitas etwas erwidern konnte spürte er plötzlich einen warmen Druck auf den Lippen. Seine Augen wurden immer größer, während es einen Moment dauerte bis er registrierte was geschah.

Noé… küsste ihn?

Ein Kuss für einen Kuss

Er konnte sich nicht bewegen. Für einen Moment nahm die unerwartete Berührung Vanitas jeglichen Wind aus den Segeln und er wusste nicht wie ihm geschah.

Als die erste Überraschung verging, spürte er, dass Noé sich noch nicht wieder von ihm löste. Nein, er bewegte eher noch seine Lippen gegen die des Menschen, durch dessen Körper nun ein Schauer jagte. Obwohl Vanitas seine Augen vor Schock weit aufgerissen hatte, konnte er sich auf nichts fokussieren.

Da war plötzlich dieses weiche Gefühl auf seinen Lippen und Noés Duft, der ihm zwar vertraut war, den er aber noch nie zuvor so intensiv wahrgenommen hatte. Ein Geruch, der Sicherheit und Wärme vermittelte.

Vanitas wollte sich in dieser Wärme verlieren. Seine Augenlider sanken auf Halbmast und wie von allein bewegten seine Lippen sich gegen die des Archivisten. Die zaghaften Berührungen brachten sein Herz zum Flattern, bis…

Ihm bewusst wurde was eigentlich gerade passierte. Grob schlug er mit den flachen Handflächen gegen Noés Brust und stieß in ihn von sich. Der Vampir taumelte leicht zurück, aber Vanitas war körperlich nicht stark genug ihn wirklich aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Der Mensch hingegen war emotional komplett aus dem Gleichgewicht gebracht. Sein Gesicht und seine Ohren waren von der Scham und dem Wein feuerrot geworden und mit Entsetzen im Gesicht wischte er sich mit dem Ärmel seines Handschuhs über die Lippen.

Noch ehe Vanitas richtig darüber nachdenken konnte verließen harsche Worte seinen Mund:

„WAS SOLLTE DAS, DU ARSCHLOCH?!“

Und dann machte er auf dem Absatz kehrt. Ohne Noés Reaktion abzuwarten rannte Vanitas davon und verschwand für Stunden in den Straßen von Paris.

 

 

Obwohl Vanitas verwirrt und wütend gewesen war, kehrte er irgendwann am Morgen zum Hotel zurück. Zu seiner Überraschung verhielt Noé sich wie immer. Trotzdem irgendwie niedergeschlagen und traurig, aber er behandelte Vanitas ganz normal.

Jetzt, Tage später, musste der junge Vampirarzt ständig über diese Situation auf dem Dach nachdenken. Wieso war Noé ihm danach so deprimiert erschienen? Sie stritten sich doch ständig. Da war nichts dabei. Außerdem war Noé an Vanitas‘ heftiger Reaktion ja auch selbst schuld. Was sollte dieser Kuss?! War es ihm so wichtig gewesen den Jüngeren zum Schweigen zu bringen, dass er zu solchen Mitteln griff?

Zerknirscht griff Vanitas fester in die Seiten des Buches, auf das er sich seit einiger Zeit vergeblich versuchte zu konzentrieren. Seine Beine baumelten nervös von der Fensterbank, auf der er saß.

Was hatte sich dieser Mistkerl dabei gedacht? Bisher hatte Vanitas sich nicht einmal erlaubt Jeanne einen weiteren Kuss zu schenken. Einen ehrlichen, der nicht auf einer Hinterlist oder lebensrettenden Maßnahmen basierte. Aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit hatte er sich damit noch zurückgehalten; zu schüchtern, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Sein erster „richtiger“ Kuss hätte ihr gelten sollen.

War es das überhaupt gewesen ein „richtiger Kuss“? Nein, Noé hatte ihn ärgern und absichtlich zur Weißglut bringen wollen. Das war alles. Und seine eigene unerklärliche Reaktion… Die Hitze, das Herzklopfen… Daran war allein der Wein schuld gewesen. Vanitas liebte Jeanne. Er hatte keine Gefühle für irgendwen sonst. Schon gar nicht für einen Mann!

Verstohlen blickte er über den Rand seines Buches hinüber zu Noé, der an seinem Schreibtisch saß und wohl einmal wieder Briefe verfasste. Auch, wenn sie sich danach nicht weiter gestritten hatten und weitestgehend normal miteinander umgegangen waren, verhielt sich der junge Vampir ihm gegenüber doch irgendwie distanziert. Und Vanitas hasste es! Er wollte seinen besten Freund zurück!

Einen Moment gerieten seine Gedanken ins Stocken. Waren sie das denn nun? Freunde? Konnte er überhaupt Freunde haben?

Ihm fiel Roland ein. Dieser hatte ihm versichert, dass Jeanne seine Gefühle gewiss erwidern würde und allein das fiel Vanitas schwer zu glauben. Aber… Wenn es tatsächlich eine Person gab, der es gelang ihn zu mögen… Wäre es dann zu vermessen darauf zu hoffen, dass es noch eine - nur eine - weitere gab?

Langsam klappte er das Buch zu, legte es zur Seite und rutschte von der Fensterbank herunter. Was sollte er tun? Versöhnungen waren nicht seine Stärke…

„Uhm… Schreibst… du wieder an Dominique?“, begann Vanitas etwas holprig nachdem er an Noé herangetreten war.

„Ja.“

Noé nickte und sah fragend zu ihm auf. Es kam nicht oft vor, dass Vanitas sich dafür interessierte was er schrieb. Da musste noch mehr sein.

„Ich…“

Vanitas konnte dem Älteren nicht in die Augen schauen. Sein Blick schweifte im Zimmer umher.

„Ich bin nicht mehr sauer… Also, wegen dem neulich auf dem Dach…“

Es dauerte einen Moment, bis der Satz komplett zu Noé durchsickerte. Eigentlich hatte Vanitas diesen Streit begonnen, aber Noé war sich im Klaren darüber, welche Überwindung es den schwarzhaarigen jungen Mann allein kostete dieses Thema überhaupt anzuschneiden und das reichte ihm.

Lächelnd stand er von seinem Stuhl auf.

„Ich bin auch nicht mehr sauer.“

Angestrengt presste Vanitas die Lippen aufeinander, um sich eine bissige Bemerkung zu Noés Antwort zu verkneifen. Es half nichts jetzt wieder Streit anzufangen.

„Wollen wir zu Mittag essen gehen, bevor ich gehe?“, fragte er stattdessen.

Noés Lächeln wurde breiter und seine Augen begannen zu glänzen. Mit Essen bekam man ihn immer. Genau wie Jeanne…

„Gut, ich schreibe den Brief noch schnell zu Ende und…“ begann Noé, doch etwas schien seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Wie in Zeitlupe konnte Vanitas nur beobachten wie Noés kräftige Hand sich plötzlich dem Kopf des Jüngeren näherte und sachte durch sein Haar strich.

Wie vom Donner gerührt zuckte Vanitas zusammen. Sofort begann sein Herz bei der ungewohnten Berührung wieder schneller zu schlagen und seine Wangen nahmen eine warme Farbe an. Offenbar war er noch immer nicht über die Sache vor ein paar Tagen hinweg. Aber bevor er die Frage nach dem Grund für diese Aktion stellen konnte, schien Noé sie in seinen Augen zu lesen.

Mit einem entschuldigenden aber sanften Grinsen erwiderte er:

„Du hattest da was im Haar.“

Das Herzklopfen wollte nicht abreißen. Verdammt, was sollte das? War er so durcheinander, nur weil Noé einmal die Oberhand gewonnen hatte? Vanitas hielt es nicht mehr aus. Er musste Noé einfach fragen:

„Wieso… Hast du mich… Geküsst? Hattest du vor mich zu ärgern? Du… Du weißt, dass das zwischen Männern nicht normal ist, oder? Es war absolut nicht nötig, dass…“

„Nein.“, unterbrach der Vampir ihn. Mit einem offenen und geradezu unschuldigen Gesichtsausdruck sah er Vanitas nun direkt in die Augen.

„Ich habe dich geküsst, weil ich es wollte.“

Die Ehrlichkeit in seiner Stimme schien Vanitas innerlich wie ein Wirbelsturm hinwegzufegen. Die Hitze auf den Wangen des Menschen nahm noch zu.

Dieser Mistkerl! Wie konnte Noé so etwas nur so unverblümt sagen, als sei es das normalste auf der Welt?! Knirschend biss er die Zähne aufeinander.

„Vergiss es einfach!“, fuhr er Noé nun doch wieder an. „Und vergiss das mit dem Essen! Ich muss sowieso noch etwas erledigen, bevor ich Jeanne treffe!“

Mit diesen Worten ließ er Noé ein weiteres Mal in dieser Woche einfach stehen und verließ das Hotel.

 

 

Ermattet lehnte Vanitas sich an die Litfaßsäule, an der er Jeanne schon bei ihrem ersten Rendezvous getroffen hatte. Wieso hatte er nur so etwas gesagt? Nach allem was er über die Jahre gelernt hatte, wusste er sehr genau, dass Vampire keinen Unterschied darin machten, wenn es um das Geschlecht ihres Partners ging. Da sie weit weniger durch die Kirche geprägt waren als Menschen, war es für sie völlig egal ob jemand einen Mann oder eine Frau liebte und er selbst machte sich, wenn er ehrlich war, darüber auch keine Gedanken. Erneut stieg Hitze in ihm auf. Liebe? Das war nun wirklich nicht das was ihn und Noé miteinander verband! Das war absurd! Allein, dass er sich diesem Gedanken hingab erfüllte ihn mit Scham und Schuldgefühlen. Immerhin hatte er Jeanne. Jeanne, deren Anwesenheit er immer häufiger herbeisehnte und die er nie betrügen würde. Er war vielleicht missraten, aber er war nicht so schlecht!

 

„Wartest du schon lange?“

 

Aus seinen Gedanken gerissen, sah Vanitas auf, als er Jeannes Stimme vernahm und zum zweiten Mal an diesem Tag nahm sein Gesicht eine rosige Farbe an.

„Jeanne!“

Jeanne stand vor ihm in einem roséfarbenen Damast-Kleid, ihre Arme waren bedeckt von einem leichten Schultertuch, in der Hand trug sie einen mit Spitze verzierten Sonnenschirm von dessen Rändern kleine Sterne aus Stoff hingen und ihr Haar war halbseitig nach hinten geflochten. Sie sah bezaubernd aus.

Erst als ihr Gesichtsausdruck immer verlegener wurde, bemerkte Vanitas wie sehr er sie angestarrt haben musste.

„Du… Du siehst sehr schön aus!“

Brachte er heute eigentlich gar keinen geraden Satz zustande?

Jeannes Mimik erhellte sich zu einem Strahlen.

„Findest du?! Ich habe meine Garderobe diesmal ganz ohne Hilfe von Mademoiselle Dominique selbst ausgewählt!“

Mit diesen Worten drehte sie sich einmal im Kreis, als wollte sie ihm noch einmal jedes Detail ihres Aufzugs zeigen.

Ihre Begeisterung wärmte Vanitas‘ Herz. Für einen Moment waren alle Gedanken an Noé und seinen innerlichen Konflikt wie weggeblasen. Er ging einen Schritt auf sie zu und nahm ihre Hand.

„Gehen wir ein Stück?“

 

 

Schon als sie nach einer Weile an der Seine ankamen, hatte Jeanne bereits wieder einen Crêpe in der Hand. Es war ihr fast schon unangenehm wie sehr sie sich von den Ständen mit Essen ablenken ließ und Vanitas ging auch noch immer sofort darauf ein.

„Du musst mich wirklich nicht jedes Mal einladen, Vanitas. Ich weiß, dass ich viel zu viel esse…“ murmelte sie verlegen, während sie sie die letzten Bissen ihrer Mahlzeit aufaß.

Vanitas schenkte ihr aber nur ein breites Grinsen.

„Mach dir keine Gedanken, Jeanne. Ich will nur, dass du Spaß hast.“, sagte er während er ihr ein wenig Schlagsahne vom Mundwinkel wischte. Eine Handlung, die Jeanne sofort die Schamesröte ins Gesicht steigen ließ.

Nachdenklich beobachtete sie ihn für einen Moment.

Wann immer sie ein Treffen wie dieses hatten, wirkte Vanitas wieder relativ selbstsicher.

In der Öffentlichkeit gab er sich gerne als den perfekten Gentlemen, aber Jeanne wusste mittlerweile, dass er auf diese Weise versuchte die Kontrolle zu behalten, weil es sie nun einmal schnell verlegen machte, wenn er so war. Sobald sie allerdings diese Kontrolle in Frage stellte, konnte sie beobachten wie er nervös wurde und bis zu den Ohren rot anlief.

Und das war furchtbar süß. Sie wollte mehr davon sehen.

Während sie mit einer Hand ihren Sonnenschirm fester umschloss, griff sie mit der anderen, nun freien, Hand nach seiner und konnte erkennen wie er sie überrascht musterte.

„Vanitas… Willst du vielleicht…“, sie konnte selber kaum glauben was sie gleich sagen würde. „Willst du mich küssen?“

Wenn sie ehrlich war, dann wäre sie ihm bereits das ein oder andere Mal gerne einfach um den Hals gefallen, aber wenn er nicht an Frauen interessiert war die ihn liebten, würde sie ihn damit vielleicht verschrecken. Vanitas war wirklich ein komplizierter Mann, aber irgendwie mochte sie auch das an ihm.

Wie zu erwarten hatte sie ihn mit dieser Frage aus dem Konzept gebracht. Seine Wangen begannen zu glühen und betonten sogar noch mehr das stechende Blau seiner nun weit aufgerissenen Augen.

„Jeanne! Wir… wir sind hier in der Öffentlichkeit! Du… du solltest nicht…!“

 

„Wir können uns hinter dem Sonnenschirm verstecken.“, hauchte Jeanne ihm zu, während Vanitas plötzlich das Gefühl bekam von einem Raubtier angesehen zu werden. Was war los? Gerade war sie doch noch so verlegen gewesen!

Ein erbärmlicher kleiner Laut entfloh ihm, als Jeanne ihn plötzlich näher zu sich heranzog und seinen Lippen näher kam.

Zum zweiten Mal an diesem Tag schlug ihm das Herz bis zum Hals. Konnte man an so etwas eigentlich sterben? Und warum waren alle Vampire in seiner Umgebung plötzlich so versessen darauf ihn zu küssen??

Jeanne hielt mitten in der Bewegung inne, sah ihn aber aus halb geschlossenen Augen noch immer erwartungsvoll an. Immerhin schien sie ihm die Chance zu geben sich zu entscheiden.

Mit zitterndem Atem kam er ihr nun ebenfalls ein Stück entgegen. Genau wie zuvor bei Noé konnte er einen vertrauten Duft wahrnehmen, aber diesmal war er anders. Blumig und süß, dennoch genauso warm. Verdammt, wieso verglich er die beiden jetzt miteinander?!

Als ihre Lippen sich zaghaft berührten zog Jeanne den Schirm dichter an sie beide heran und Vanitas gestattete sich die Augen zu schließen.

Jeannes Lippen waren weich und warm, aber kleiner als seine eigenen, die Haut noch zarter als die von Noé. Jeanne war mutiger als dieser und strich bereits mit der Zungenspitze über die Lippen ihres Liebsten. Zögerlich vertiefte Vanitas den Kuss indem er eine Hand um ihre Taille schlang und die Vampirin näher zu sich zog. Es war so angenehm ihre weichen Kurven an sich zu spüren. Genauso angenehm wie Noés starke Brust, die –

 

Ruckartig zog er den Kopf zur Seite, löste somit den Kuss und ließ eine völlig verwirrte Jeanne vor sich stehen.

Was…? Was ging da nur in seinem Kopf vor? Wieso dachte er jetzt wieder an Noé? Mit Entsetzen in den Augen wanderte sein Blick nun wieder zu Jeanne, die ihn besorgt ansah.

„Alles in Ordnung? Habe ich etwas falsch gemacht?“, wollte sie wissen.

Ohne einen Ton herauszubringen öffnete und schloss er den Mund in verzweifelter Weise immer wieder. Was machte er sich hier eigentlich vor? Ihm hatte der Kuss mit Noé nicht missfallen, er hatte ihn sogar kurz erwidert, Wein hin oder her. Er hatte einen wohligen Schauer gespürt als Noé sein Haar berührt hatte. Er… Er hatte Jeanne betrogen…

Die Schuld füllte seinen Magen wie heißer Blei.

Sollte er ihr davon erzählen, um es loszuwerden? Aber dann würde sie ihn auf jeden Fall fallen lassen, oder? Dann würde sie endlich erkennen wie verdorben er eigentlich war.

Nein, er musste das ganz schnell vergessen und sich selbst und sie irgendwie ablenken, seine Gedanken ausschalten.

Er schluckte kurz, ehe er sein Gesicht zu einem frechen Grinsen verzog, den Kopf zur Seite neigte, während ein Teil seines Haares sein rechtes Auge verdeckte. Mit dem Zeigefinger zog er den Kragen seines Hemdes beiseite, um Jeannes Besitzmarkierung zu offenbaren.

„Mon lapin, möchtest du vielleicht ein bisschen Blut?“

Unwillkürlich färbten sich Jeannes Augen rot. Man konnte nie genau sagen wann ihr Blutdurst auftreten würde. Es war völlig unberechenbar. Aber wenn er sich ihr so anbot und den Duft seines Blutes vor ihre Nase hielt, wie hätte sie wiederstehen können?

„Du bist unfair…“, zischte sie leise und man konnte sehen wie unangenehm ihr das plötzliche Verlangen war.

Bemüht, ihre Augen wieder zu kontrollieren, nahm sie erneut seine Hand und sah sich um.

„Nicht hier.“

Kurze Zeit später fanden sie sich in einer Gasse wieder und der junge Arzt ließ sich bereitwillig von seiner hübschen Begleitung gegen die Wand drücken. Die schleifenförmige Krawatte hatte er bereits auf dem Weg gelöst, wie ein ungeduldiger Liebhaber.

„Mach schnell!“, keuchte er.

Als Jeanne ihn schließlich an den Schultern fasste und dieses Mal so sanft wie möglich ihre Zähne in die linke Seite seines Halses bohrte, konnte Vanitas innerhalb von Sekunden die Wirkung ihres Giftes spüren. Wie ein kleiner elektrischer Schlag durchfuhr ein Schauer seine Wirbelsäule und löste ein wohliges Kribbeln in seinem Unterleib aus. Leise stöhnend legte er den Kopf in den Nacken und versuchte sich ganz auf das Gefühl zu konzentrieren. Bloß nicht mehr denken…

 

 

Am Abend kehrte Vanitas allein ins Hotel zurück. Durch den Blutverlust war er noch immer leicht benebelt, aber fühlte sich leicht wie lange nicht mehr und trotzdem waren da diese boshaften kleinen Gedanken in seinem Hinterkopf.

Dass Noé schon sehen würde wem Vanitas gehörte.

Ihm war vollkommen bewusst, dass der Vampir die Wunde sofort riechen würde. Vielleicht wäre er sogar eifersüchtig, weil er nicht von dem Menschen trinken durfte. Einer von Vanitas‘ Mundwinkeln zuckte leicht nach oben. Wieso gefiel ihm dieser Gedanke irgendwie? War er etwa schon wieder auf Streit aus?

 

Die Tür knarrte leise als er das gemeinsame Zimmer betrat. Noé hängte gerade seinen Mantel auf. Offenbar war er selbst gerade von seiner Nachmittagsschicht im Café zurückgekehrt.

„Hallo.“

Ohne, dass Vanitas noch mehr sagen musste, schossen Noés Augen zur Tür.

„Vanitas! Bist du verletzt?!“

Der besorgte Tonfall in der Stimme des Vampirs schmeichelte dem jungen Menschen, aber er kam nicht umhin noch etwas zu sticheln.

„Nein, keine Sorge mein Rendezvous mit Jeanne war nur ein wenig leidenschaftlicher als sonst.“, säuselte er mit einem süffisanten Grinsen.

Es verfehlte seine Wirkung nicht. Noé sah ihn beinahe verletzt an. Geschah ihm recht! Das hatte er nun davon, dass er sich so in Vanitas‘ Kopf eingenistet hatte!

Noé schürzte die Lippen, um sich wieder zu fangen und wandte sich ab. Er kannte diesen Gesichtsausdruck. Vanitas versuchte ihn zu provozieren.

„Es freut mich, dass du Spaß hattest.“

Er klang verärgerter, als er wollte. Warum wurmte es ihn nur so sehr, dass Jüngere ihm seine Beziehung mit Jeanne so unter die Nase rieb? Das hatte er doch schon von Anfang an getan. Aber jetzt war es anders. Er konnte sehen, dass der Vampirdoktor echte Gefühle für die Hexe des Höllenfeuers entwickelt hatte und aus irgendeinem Grund verunsicherte es ihn. Was wenn er und Vanitas deswegen bald getrennte Wege gehen würden? Jeanne war nicht nur eine atemberaubende Frau, sondern auch eine starke Kämpferin und selbst er hatte bemerkt, dass sie immer weniger Zeit bei dem heranwachsenden Luca in Altus verbrachte und immer öfter hier in Paris war. Was wenn Vanitas ihn bald nicht mehr als seinen Schild brauchte? Am liebsten hätte Noé geschrien. Mit einem zerknirschten Blick wandte er sich ab.

„Tust du das, ja?“, erwiderte der Angehörige des Blauen Mondes.

Vanitas verschränkte die Arme. Die schlechte Stimmung im Raum war sofort wieder da. Sie knisterte förmlich in der Luft. Vanitas wollte sich streiten. Aber warum nur? Vielleicht weil er wollte, dass Noé endlich sagte was er dachte? Dass er seine Gefühle rausließ und endlich ehrlich zu ihm war. Vanitas hasste falsche Nettigkeiten und betretenes Schweigen Es musste doch noch einen besseren Grund für den plötzlichen Kuss auf dem Dach geben als ‚Weil ich es wollte.‘.

„Bist du etwa eifersüchtig, weil du nichts von meinem Blut haben kannst? Das ist ja süß. Vielleicht sollte ich dich doch ein wenig von meiner Kleidung lecken lassen, wenn du lieb ‚bitte‘ sagst.“

Vanitas Stimme triefte vor Ironie. Was er genau damit erreichen wollte, wusste er nicht, aber er rechnete bereits damit gleich eine verpasst zu bekommen. Dann würde Noé vielleicht wenigstens etwas von seinen Gefühlen zeigen. Dann hätte er vielleicht wenigsten ein bisschen seinen guten Freund zurück.

Wütend knirschte Noé mit den Zähnen. Diese immer gleiche Masche von Vanitas machte ihn wahnsinnig. Am liebsten hätte er ihm wirklich eine Ohrfeige gegeben, aber damit würde er ihn nur in seinen Provokationen bestätigen. Nein, er kannte ihn besser und würde nicht darauf reagieren wie alle anderen.

„WIESO HÄLST DU NICHT EINMAL DIE KLAPPE?!“, fuhr Noé den Menschen vor sich an. „Keine Sorge, wenn ich Blut brauche, bekomme ich das sehr leicht woanders!“

Dann drehte er sich um und begann seine Tasche zusammenzupacken. Er hatte nicht wirklich vor zu gehen, aber die wütenden und gleichzeitig geschäftigen Bewegungen halfen ihm sich ein wenig abzureagieren.

Stille trat ein. Vanitas sah zu Boden und sein Haar verdeckte jeglichen Blick auf seine Mimik. Hatte er Noé jetzt endgültig vergrault? So musste es sein. Aber vielleicht war es besser so? Dann war er vielleicht wenigstens nicht mehr so verwirrt? Er verstand das Verhalten des Archivisten einfach nicht mehr. Er wollte doch nur ihre alte Beziehung zueinander zurück. Einmal stritten sie sich, einmal küssten sie sich. Vanitas liebte Jeanne, aber der Gedanke, dass Noé jetzt gehen könnte…

„Hey, Noé…“

Die plötzlich brüchig und leiser gewordene Stimme Vanitas‘ lies Noé in seinen Bewegungen innehalten und aufhorchen.

„Kannst du mich eigentlich immer noch nicht leiden?“

Verwirrt hob Noé den Kopf und sah zu Vanitas herüber, dessen Blick noch immer auf den Boden geheftet war. Es dauerte einen Moment, bis es klick machte. Noé hatte Vanitas bei ihrer ersten Begegnung gesagt er könne ihn nicht leiden und als er herausfand, dass Vanitas alles ablehnte was darauf hindeutete, dass er liebenswert war, hatte er es auf ironische Weise noch einmal wiederholt; aber das schien Vanitas nicht verstanden zu haben. Er stellte diese Frage, weil er die Antwort wirklich nicht kannte, oder? Hatte er etwa ebenfalls Sorge ihn zu verlieren?

Noé seufzte einmal tief. Auch wenn Vanitas ihn ständig zur Weißglut brachte, konnte er nie wirklich lange auf ihn böse sein. Es war zu offensichtlich wie unsicher der junge schwarzhaarige Mann eigentlich war.

Langsam ging Noé ein Stück auf seinen Mitbewohner zu.

„Das habe ich doch nur gesagt, weil du mich so genervt hast.“

Vanitas sah auf und traf auf ein sanftes Lächeln Noés. Genauso sanft wie seine Stimme eben gewesen war. Und es lies Vanitas schaudern. Was sollte er nur tun? Dieser Kuss hatte irgendetwas in ihm ausgelöst. Er empfand doch nicht etwa etwas für den weißhaarigen Vampir? Das ging nicht!

„Was ist los, Vanitas?“, fragte Noé erneut mit dieser Sanftheit in der Stimme, die Vanitas schaudern lies. „Warum willst du dich unbedingt mit mir streiten?“

Wieder fühlte sich Vanitas als hätte ihm jemand heißen Blei in den Magen gegossen. Ihm wurde schlecht. Da war einerseits plötzlich dieses Verlangen Noé zu umarmen und sich einfach nur zu versöhnen; sich an ihn zu schmiegen wie ein verliebtes kleines Mädchen, aber andererseits blitzte immer wieder Jeannes Gesicht vor seinem inneren Auge auf, die er am liebsten hatte nicht nach Altus zurückkehren lassen.

„Es ist nichts…“, murmelte er. „Tut mir leid. Ich muss wohl nur nochmal an die frische Luft.“

Noés Gesichtsausdruck wurde besorgt. Vanitas entschuldigte sich normalerweise nie für irgendetwas.

„Soll ich dich begleiten?“

Vanitas schüttelte vehement den Kopf.

„Nein, ich bin gleich wieder da.“

 

Mit diesen Worten verließ Vanitas das Hotel wieder. Mittlerweile war es stockdunkel und kaum jemand war noch auf der Straße zu sehen. Genau das brauchte er jetzt. Abstand. Alleinsein. Und frische Luft. Er musste jetzt den Kopf freibekommen.

Schweren Schrittes spazierte der Angehörige des blauen Mondes durch die kleinen Seitengassen in der Nähe des Hotels. 

Wie war das alles möglich? Konnte man zur gleichen Zeit in zwei Personen verliebt sein? Nein, oder? Aber was, wenn doch? Musste er dann eine Entscheidung treffen? Aber er wusste ja nicht einmal was genau in Noé vorging und auch er selbst hatte Geheimnisse vor ihm. Dass Jeanne unter diesem unbegreiflichen Blutdurst litt war etwas, dass er nicht einmal Noé anvertrauen konnte und Jeanne gegenüber verschwieg er den Kuss mit Noé.

 

Wenn er die Karten offen legen würde… Würde er dann schlussendlich beide verlieren?

 

Vanitas war so durcheinander, dass er kaum noch auf den Weg achtete. Wo war er eigentlich? Gerade als er sich orientieren wollte, spürte er einen harten Schlag am Hinterkopf. Unter heftigen Schmerzen sank er zu Boden, die Sicht verschwimmend. Verdammt! Er war zu unvorsichtig gewesen.

Völlig benommen konnte er nur noch leises Stimmengewirr vernehmen und wie jemand an seinen Fußknöcheln zog, ehe alles schwarz wurde.

Sich um andere zu sorgen

Es kam hin und wieder vor, dass Vanitas nachts nicht ins Hotel zurückkehrte. Manchmal aus einem Streit heraus, manchmal einfach so, ohne dass er Noé eine Begründung dafür gab. Aber nun war schon der zweite Morgen angebrochen an dem der Vampirdoktor nicht zurückgekehrt war und Noé begann sich ehrlich zu sorgen. Es würde zu Vanitas passen einfach zu verschwinden, aber… Ihre Unterhaltung zwei Nächte zuvor. Er machte auf Noé nicht den Eindruck, als ob er ihn wirklich nicht mehr sehen wollte. Ob Vanitas zu Jeanne gegangen war?

Das wäre nur natürlich, oder? Die beiden waren sowas wie ein festes Paar. Aber… Das würde bedeuten, dass Jeanne immer noch in Paris war. Menschen hatten keinen Zutritt im Schloss von Altus Paris und… Dann hätte Vanitas doch etwas gesagt, oder? Allein um es ihm unter die Nase zu reiben…

Noés Fäuste ballten sich auf dem hölzernen Tresen unter ihnen und eine kalte Glut schien in seiner Brust zu brennen. War das… Eifersucht? Nein, das würde ja bedeuten, dass er in Vanitas… Er machte sich einfach nur Sorgen um seinen Partner, das war alles.

 

„Brauchen Sie einen Stadtplan, Monsieur Noé?“

 

Die sanfte Stimme von Mademoiselle Amelia riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte sie gefragt, ob Vanitas sich bei ihr gemeldet hatte.  Sachte schüttelte er den Kopf.

„Danke, ich schaffe das schon ohne.“

Wieso dachten nur alle, dass er sich ohne eine Karte in Paris nicht zurechtfinden würde? Vanitas war doch derjenige, der ständig verloren ging. Und so vielleicht auch dieses Mal. Er musste ihn unbedingt suchen gehen.

Das leise Bimmeln der Türglocke richtete Noés Aufmerksamkeit auf den Eingangsbereich. Er traute seinen Augen nicht, als er sah, wer jetzt dort vor ihm stand.

„Jeanne!“

 

 

Wenig später saßen sie sich am Rand der Betten auf dem Hotelzimmer gegenüber. Noé hatte Jeanne bereits gesagt, dass Vanitas seit zwei Nächten verschwunden war. Das macht sie noch nervöser, als sie es ohnehin schon war. Verkrampft gruben sich ihre Finger in den Rock ihrer Uniform.

„Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein…“, murmelte Jeanne, den Blick nach unten gesenkt. „Monsieur Luca hat es mir nur erlaubt, weil ich mir ebenfalls große Sorgen mache. Vanitas wirkte irgendwie durcheinander bei unserem letzten Treffen und ganz abwesend...“

Ihr Blick schoss nach oben.

„Weißt du vielleicht, was mit ihm los war, Noé?!“

„Nein.“

Noés Antwort war knapp, aber seine Augen wichen Jeanne aus. Da war doch irgendetwas. Er wusste mehr als er vor ihr zugeben wollte!

Wenn sie sich gestritten hatten und Vanitas deswegen… Sie schüttelte leicht den Kopf. Nein, sie musste aufhören Noé für irgendetwas die Schuld zu geben, von dem sie nicht einmal wusste, ob er damit zu tun hatte.

Aber wenn jemand etwas wissen konnte, dann er. Wieso war sie nur so eifersüchtig darauf, dass die beiden zusammen wohnen konnten? Die beiden jungen Männer waren nun einmal Arbeitspartner, weiter nichts.

Es brachte nichts hier zu sitzen und herumzugrübeln. Ruckartig stand sie auf.

„Ich gehe ihn suchen!“

Noé sah sie mit Überraschung in den Augen an und noch etwas anderem, was sie nicht interpretieren konnte, aber er folgte ihrem Beispiel sofort.

„Ich komme mit dir.“

Aber wo sollten sie anfangen? Paris war riesig und falls Vanitas absichtlich gegangen sein sollte, verstand er es besser als jeder andere nicht gefunden zu werden. Sie mussten also –

 

„HEY, NOÉ! DER QUACK…!“

 

Ungläubig richteten sich die Augenpaare der beiden Vampire zum Fenster in dessen Rahmen Dante saß und sie mit einem gehetzten und zugleich schockierten Gesichtsausdruck musterte. Er hatte wohl nicht erwartet die Hexe des Höllenfeuers hier anzutreffen. Heftig schüttelte der Dhampir den Kopf. Das war jetzt nicht von Relevanz!

„Ich hab‘ schlechte Neuigkeiten! Der Quacksalber wurde entführt und ich fürchte, ich weiß auch von wem!“

Noch ehe er weitersprechen konnte, wurde er bereits von Noé am Kragen gepackt und ins Zimmer gezogen.

„Dann sag es uns!“

Noés Stimme war lauter, als er wollte, die Sorge direkt in sein Gesicht geschrieben, aber Dante wusste wie stark der sonst so sanfte Vampir sein konnte und versuchte sich eher vorsichtig von ihm zu lösen. Abwehrend hob er die Hände.

„Beruhig‘ dich, Alter. Wenn ihr ihm helfen wollt, müssen wir vorsichtig sein.“

Tief durchatmend machte Dante einen Schritt zurück und richtete nervös seinen Kragen.

„Das sind Schwarzmarkthändler, üble Typen. Kriminelle Vampire, die aus Altus verbannt wurden, aber auch Dhampire, die nicht unter dem Schutz von Marquise Machina stehen. Die sind zu allem bereit. Ich vermute, dass sie an das Buch ran wollten, aber ich verstehe nicht wieso sie Quacki mitgenommen haben.“

Ein Gedanke schoss durch den Kopf beider Vampire, aber Noé sprach ihn aus:

„Weil niemand sonst das Buch öffnen kann!“

Nun mischte sich auch Jeanne ein: „Noé, das bedeutet wir können ihn noch da raus holen. Lasst mich meine Waffe holen!“

„Dafür haben wir vielleicht keine Zeit!“, wandte Dante ein. „Du kannst doch auch mit einem Schwert kämpfen! Besorg dir eins beim alten Orlok!“

„Dante, sag auch Domi Bescheid!“, sagte Noé ungewohnt befehlerisch. Dante sah aus, als ob er Widerspruch einlegen wollte, aber Noé lies das gar nicht erst zu: „Sie wird kommen! Neulich haben sie sich aus irgendeinem Grund angefreundet. Wir brauchen jede Unterstützung, die wir kriegen können!“

 

 

 

Seine Zähne schliffen aneinander, als Vanitas einen erneuten Schlag mit der Faust ins Gesicht kassierte. Dennoch konnte er sich ein überhebliches Grinsen nicht verkneifen, als er eine widerlich schmeckende Ansammlung von Blut ausspuckte.

Das war gar nichts. Solche mickrigen Schmerzen war er gewohnt. Da änderte es auch nichts, dass seine Arme sich schon taub und seine Beine geradezu zerprellt anfühlten. Er hatte schon schlimmeres durchgemacht.

„Sag endlich die Wahrheit! Wie benutzt man dieses Buch?!“, schrie ein Junge, kaum vierzehn Jahre alt, mit silbergrauem Haar und genauso grauen Augen. Hinter ihm stand jemand und hielt ihn zurück. Offenbar der ältere Bruder, ebenfalls mit grauen Augen, aber mit schwarzem Haar. Ihre abgetragene und eindeutig zu kurze Kleidung erinnerte an flüchtige Waisenkinder. Waren das Dhampire?

„Ich habe euch doch gesagt: Niemand kann dieses Buch öffnen, außer mir!“, stöhnte Vanitas beinahe genervt, während er den Kopf an das Rohr lehnte, an das er gefesselt war. „Euer Boss hat das bereits begriffen und lässt sich deswegen auch nicht mehr hier blicken.“

Sein Blick schweifte durch den riesigen Raum, in dem er schon über einen Tag gefangen war. War das ein altes Fabrikgebäude?

„Vermutlich hat er euch auch gesagt, dass ihr mich umlegen sollt, wenn ihr nichts aus mir herausbekommt. Also… Warum lasst ihr mich noch immer am Leben? Ihr wollt doch irgendwas von mir.“ Er neigte den Kopf zur Seite. Sein Grinsen überheblicher denn je. „Oder habt ihr abgebrochenen Zwerge nicht den Mumm mich zu töten?“

„Halt deine Schnauzte!“

Der jüngere Bruder wollte Vanitas erneut schlagen, aber der ältere hielt ihn diesmal fest.

„Das bringt nichts, Gustav!“

„Aber, Viktor…!“

Viktor, welcher wohl der ältere war, schüttelte ernst den Kopf, ehe er sich dem Erben des Blauen Mondes zuwandte.

„Ist es wahr, dass du mit dem Buch Fluchträger heilen kannst?“

Vanitas‘ Grinsen wurde breiter.

„Achso… Darum geht es euch also. Wer ist es? … Ich meine, ich könnte euch helfen, wenn ich wollte, aber dafür müsstet ihr mich frei lassen und das wird nicht gut für euch ausgehen, habe ich nicht Recht? Weiß euer Boss, dass ihr ihn versucht zu hintergehen?“

„Du, Kleiner…!“, knurrte Gustav, aber auch diesmal wurde er von seinem Bruder zurückgehalten, der Vanitas nur musterte und sagte:

„Lass das unsere Sorge sein. Kannst du es oder nicht?“

„Oui.“, erwiderte Vanitas

 

 

Schnellen Schrittes jagten Jeanne und Noé über die Dächer von Paris. Ohne Carpe Diem war es für Jeanne nicht ganz leicht mit Noé mitzuhalten. Er beherrschte die Gravitation wirklich spielend. Sie kam nicht umhin, hin und wieder zu ihm herüber zu schauen. Es war nur natürlich, dass Noé sich ebenfalls um Vanitas sorgte, aber die angespannte Stille zwischen ihnen war erdrückend, also versuchte sie diese zumindest für den Moment zu brechen:

„Ich hoffe er bringt sich nicht noch weiter in Schwierigkeiten, indem er die Entführer provoziert.“

Noé, der die ganze Zeit nur verbissen auf den Weg gestarrt hatte, wurde für einen Moment aus seinen Gedanken gerissen. Er machte sich die ganze Zeit Vorwürfe Vanitas vertrieben und somit in Gefahr gebracht zu haben. Aber Jeanne hatte recht. Dabei blieb es vielleicht nicht einmal.

„Das hoffe ich auch. Er ist sich selbst gegenüber immer vollkommen rücksichtslos, wenn er etwas erreichen will.“

Jeanne nickte.

„Dabei vergisst er vollkommen, dass er viel verletzbarer ist als Vampire, obwohl das Buch des Vanitas ihn so mächtig macht.“

Noé seufzte.

„Und wenn man ihn darauf hinweist wird er pampig.“

Das kam Jeanne bekannt vor.

„Er tut immer so, als wäre es über allem erhaben und als würde ihn alles amüsieren, aber wenn man seine Motive in Frage stellt, verwandelt er sich in einen übellaunigen Griesgram.“

„Er will immer alles alleine durchziehen.“

„Und er geht immer davon aus zu wissen, was andere fühlen!“

„Er tut beinahe so als wäre er nicht liebenswert, oder so etwas!“

Obwohl sie noch immer über die Dächer preschten, sahen sich die beiden hellhaarigen Vampire für einen kurzen Moment ungläubig an. Konnte es sein, dass es jemanden gab, der verstand wie sie über Vanitas dachten? Dass sie ihn beide nicht, wie alle anderen, als einen üblen Kerl abstempelte, ihn sogar mochten, aber trotzdem unglaublich genervt von seinen Marotten waren? Hatten sie vielleicht mehr gemeinsam, als sie dachten?

Kurz trat Schweigen ein, da sie das Gebäude erreichten, das Dante beschrieben hatte. Sie gönnten sich eine kurze Verschnaufpause, während sie prüfend das Dach abgingen, um nach einer Möglichkeit zum Eindringen zu suchen.

Als Jeanne schließlich eine Luke aus Glas erspähte ging sie langsam darauf zu, während sie weiter sprach:

„Ich wünschte er würde uns mehr vertrauen.“

„Wem sagst du das?“, murmelte Noé, als er ihr folgte und sich hinhockte, um hoffentlich etwas durch das Glas zu sehen. Jeanne tat es ihm gleich. Sie seufzte erneut.

„Dabei kann er auch ganz anders sein. So lieb und selbstlos. Und wenn man ihn küsst, wird er so rot, dass es einfach niedlich ist.“

Noé riss aufgeregt den Kopf hoch und pflichtete ihr lautstark bei: „Nicht wahr?? Das ist super niedlich!“

 

Jeanne starrte ihn an.

 

Es dauerte einen Moment bis Noé klar wurde, was er gerade gesagt hatte.

„Was… was meinst du damit?“, keuchte Jeanne geradezu. Aber Noé schaffte es nicht eine Antwort herauszupressen. Da war nur leises Gemurmel und Gestammel.

„Noé… Bist du etwa… Bist du etwa in Vanitas verliebt…?“

 

Ehe sie weitersprechen konnten, lenkten laute Stimmen aus dem Gebäude unter ihnen beide davon ab.

 

 

Sie hatten ihm seine Waffen abgenommen. Natürlich. Zwar schmerzen seine Beine langsam etwas weniger, doch die Taubheit in seinen Armen und das ziehende Gefühl in den Schultern, machten ihn bald wahnsinnig. Vorsichtig versuchte Vanitas sich zumindest ein wenig aus den Seilen herauszuwinden, die seine Handgelenke auf seinen Rücken banden.

„Ich kann das Buch nicht verwenden, wenn meine Hände gefesselt sind, wisst ihr?“, maulte er, während er beobachtete wie Viktor sein Buch und die Kette eisern in der Hand hielt und Gustav ihn mit seinem eigenen Dolch drängte weiterzugehen.

„Sei still, du Hochstapler! Wir sind noch nicht da.“, sagte der ältere Bruder, der deutlich der gelassenere von beiden zu sein schien.

„Im Übrigen ist mir nicht bekannt, dass Dhampire zu Fluchträgern werden könnten.“

Natürlich würde Vanitas nicht still sein. Jede noch so kleine Information, die sie bereit waren ihm zu geben, würde ihm vielleicht helfen hier raus zu kommen. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass Noé ihn hier fand. Man hatte ja Glück, wenn dieser Traumtänzer allein ins Hotel zurückfand. Ober wohl sauer auf ihn war?

„Du redest zu viel!“, presste Gustav aus knirschenden Zähnen hervor.

„Können sie auch nicht.“, meinte Viktor trocken. „Ob du es glaubst oder nicht, du Möchtegern-Arzt, aber das hier ist ein weit besserer Ort als die Welt da draußen. Hier gehört jeder zu unserer Familie. Egal ob Vampir, Dhampir oder Mensch.“

Vanitas lachte nur bitter auf, ehe sie ihn schließlich in eine Sackgasse führten. Hier in einem dunklen Winkel des Gebäudes, zwischen alten Holzkisten und Laken, saß zusammengekauert in einer alten Decke ein kleines Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, zitternd vor Angst und schwer atmend, während ihre Augen blutrot leuchteten.

„Da habt ihr euch ja etwas Schönes eingebrockt. Versteckt ihr sie etwa hier?“, fragte Vanitas mit deutlich kälterer Mimik als zuvor. „Wenn ihr sie wirklich retten wollt, dann solltet ihr mich augenblicklich losmachen. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Das ist ein mächtiger Unheilsname.“

 

„VIKTOR! GUSTAV! Was treibt ihr da?! Wieso ist der Bengel nicht längst tot? Und wieso habt ihr das Buch?!“

Vanitas brauchte sich kaum umzudrehen, um zu sehen von wem sie da erwischt wurden. Das war eindeutig der Chef der Bande. Ein Vampir, optisch im Alter eines Vierzig-Jährigen, mit dichtem rotem Bart und Narben im Gesicht. Zeit die Bande von innen auseinander zu nehmen.

„Du passt nicht besonders gut auf deine diebischen Schäfchen auf, wenn sich unter ihnen so leicht eine Fluchträgerin verstecken kann. Du solltest mich besser los machen, wenn du sie retten willst.“

Der breitschultrige Mann ging mit einem zornigen Blick auf Vanitas zu und stieß ihn gegen die Wand, dass es in seinem Kopf nur so schepperte. Der Schmerz ging ihm durch Mark und Bein. Keuchend sank der Vanitas in die Knie und konnte spüren wie Blut auf sein Gesicht rann.

„Dann schlag ich ihr eben den Kopf ab. Ob eine mehr oder weniger von den Gören draufgeht ist mir völlig egal.“

Der Mann entriss Gustav den Dolch.

„Aber jetzt bist du erst einmal dran, Bastard des Blauen Mondes!“

Die Dinge, die ich nicht verdiene

Sein Kopf schien von dem harten Stoß gegen die Steinmauer immer noch zu vibrieren, in seinen Ohren klingelte es förmlich und seine Sicht verschwamm. Verdammt. Er hatte diesen Mistkerl falsch eingeschätzt und tatsächlich gedacht ihm würde etwas an seiner Bande aus Geächteten liegen.

Nun, das passierte selbst dem erfahrensten Doktor einmal, aber das hier sah übel für ihn aus. Vanitas spürte wie das Blut von seinem Schopf auf seinen Hals rann, wo es langsam auskühlte und das in der Nähe einer Fluchträgerin! Ganz toll. Wieso legte er sich nicht gleich auf eine Schlachtbank?

So wackelig wie es mit gefesselten Armen nun einmal ging, versuchte er sich wieder auf die Beine zu rappeln. Seine Sicht wurde langsam wieder klarer, doch der andere Mann kam immer näher mit dem Messer.

Schwerfällig konnte sich Vanitas endlich aufrichten, lehnte sich schwankend an die Mauer, an die er soeben noch geschleudert wurde und konnte aus den Augenwinkeln gerade noch erkennen, wie die beiden Jungen das kleine Mädchen nahmen und aus dem Raum flüchteten. Offenbar wollten sie sich das hier ersparen. Diese Idioten! So würde er das Mädchen nicht retten können. Wenn er überhaupt im Stande war sich selbst zu retten…

Als das Messer des Angreifers schließlich auf ihn zu schnellte, konnte er sich gerade noch zur Seite fallen lassen, um nicht tödlich getroffen zu werden, und dennoch streifte die Waffe seine Taille. Vanitas war zu stur, um wegen so einer kleinen Verletzung zu schreien, aber er kam nicht umhin scharf die Luft einzuziehen und die Zähne zusammenzubeißen.

Diese miesen kleinen Bengel hatten seine Arme aber auch wirklich gut festgebunden. Seine Beine zitterten. Er konnte kaum stehen.

Würde er hier auf so erbärmliche Weise sterben? Ganz sicher nicht, ohne dem Typen noch einmal einen Hieb der anderen Art zu verpassen!

„Du stiftest kleine Kinder zum stehlen an.“, keuchte er mit gezwungenem Grinsen. „Was für ein Verlierer.“

Vanitas konnte beobachten, wie das Gesicht des Mannes vor Wut rot wurde und er ein weiteres Mal mit dem Messer ausholte.

 

Und dann ging der Mann unten lautem Aufstöhnen zu Boden.

 

Noé war wie aus dem Nichts gekommen und von oben auf ihn herabgesprungen.

„Vanitas!“, keuchte er außer Atem, während er sich zu dem Jüngeren umdrehte, den Mann am Boden völlig ignorierend.

Vanitas hatte das Gefühl, dass ein riesiger Felsbrocken von seinem Herzen herunterfiel. Die Erleichterung seinen Partner zu sehen nahm alle Anspannung aus seinen Gliedern und sorgte dafür, dass er endgültig zusammenbrach und seine Beine nachgaben.

„Noé…“, keuchte er mit verräterisch glasigen Augen.

Der angesprochene Vampir verlor keine Zeit. Binnen Sekunden war er bei Vanitas, um die Fesseln zu lösen. Da war so viel Blut.

„Vanias, geht es dir g…“, doch er konnte nicht weitersprechen. Noés Augen weiteten sich vor Überraschung, als sich plötzlich zwei Arme um ihn schlangen, und der jüngere Mann sich geradezu schutzsuchend an ihn schmiegte. Es war ihm, als könnte er den flatternd schnellen Herzschlag des Menschen spüren.

Vanitas wusste nicht wieso er das hier tat. Es war geradezu albern. Erniedrigend. Aber er war noch nie zuvor so erleichtert gewesen Noé zu sehen wie jetzt.

„Wo bist du gewesen, Idiot?!“, murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, während er die Augen zuknifft und sie an Noés Brust verbarg. Da war wieder dieser beruhigende Duft. Empfand er etwa wirklich etwas für Noé?

Fast hätte er nicht wahrgenommen, dass der Bandenboss sich hinter Noé unter Ächzen und Fluchen wieder aufrappelte. Verdammt, den hätte er beinahe vergessen! Mit zittrigen Armen drückte Vanitas Noé von sich, um sich auf einen weiteren Angriff gefasst zu machen. Instinktiv griffen seine schmerzenden Hände zu seinem Gürtel, doch die Dolche waren nicht da.

„Noé, pass auf!“

Noch ehe Noé sich ganz umgedreht hatte, wurde der Mann ein weiteres Mal, diesmal zur Seite, getreten.

Jeanne war auf der Bildfläche erschienen und hatte ihn, ähnlich wie damals das Biest von Gévaudan, einfach mit einem Tritt in den Kehlkopf außer Gefecht gesetzt. Zum zweiten Mal an diesem Tag war Vanitas völlig perplex über die plötzliche Rettung.

Was machte Jeanne hier?

Ein weiteres Mal flutete ihn eine riesige Erleichterung, bis sie einem flauen Gefühl im Magen platz machte. Hatte Jeanne das gerade gesehen? Wie er sich erbärmlich an Noé geklammert hatte? Was würde sie denken?

 

Jeanne kam auf Noé und Vanitas zugelaufen und kniete sich zu ihnen. Besorgt sah sie den menschlichen Arzt an.

„Vanitas! Wie geht es dir?“

Beide Vampire sahen Vanitas so seltsam an. Voller Sorge und Zuneigung. Zwei Dinge, die er nicht verdient hatte. Ihm wurde schlecht. Aber er hatte keine Zeit sich hier in seinem schlechten Gewissen zu suhlen.

„Die Kinder! Sie haben mein Buch!“

 

 

Kiesel stoben auf, als Gustav und Viktor haarscharf in eine weitere Gasse des Fabrikgeländes einbogen, während der Ältere von beiden das kleine Mädchen in seinen Armen fest an seine Brust drückte. Außer Atem machten sie in der Nähe einer Verbrennungsanlage halt, wo Viktor das Mädchen runter lies, welches noch immer hektisch nach Luft rang.

„Was hast du, Clara? Beruhige dich! Wir sind jetzt in Sicherheit!“, versuchte Gustav sie zu beruhigen.

Viktor, der immer noch auch das Buch des Vanitas in Händen hielt warf es wutentbrannt zu Boden.

„Dieses Ding ist nutzlos! Gérard wird diesen Möchtegernarzt sowieso längst getötet haben!“

Claras Augen waren inzwischen so rot, dass sie zu leuchten schienen und ihre Pupillen verschwanden. Sie wand sich in Gustavs Händen und begann unmenschliche, geradezu tierische Laute von sich zu geben. Als Dhampir würde Gustav sie nicht mehr lange im Zaum halten können und die Angst war dem Jungen ins Gesicht geschrieben.

„Clara, hör auf!“, rief er verzweifelt.

Viktor wollte seinem Bruder helfen, lief auf ihn zu, doch ehe er das Mädchen erreichen konnte würde er von ihm angegriffen. Claras Fangzähne, unnatürlich lang, bohrten sich in seine Schulter. Kaum nahm er war, wie sein kleiner Bruder angsterfüllt seinen Namen rief, als er von Clara auf den Rücken gestoßen wurde.

 

Durch die Verletzungen fiel es Vanitas schwer zu rennen, aber konnte sich jetzt nicht von Jeanne oder Noé tragen lassen. Er brauchte Abstand von ihnen und die Kinder mussten ganz in der Nähe sein.

Als sie letztere schließlich fanden, musste es schnell gehen.

„Noé! Halt die Kleine fest! Jeanne, bring die Jungs in Sicherheit.“

Noé und Vanitas waren ein eingespieltes Team. Jeanne, die erfahren in echten Kämpfen war, ebenfalls Befehle zu erteilen fühlte sich seltsam an, aber Vanitas wusste was hier zu tun war. Die beiden angesprochenen Vampire zögerten keine Sekunde und so schaffte Vanitas es in wenigen Sekunden an sein Buch zu gelangen. Sein Blick haftete für einen Augenblick an Noé, der sich alle Mühe gab das (glücklicherweise schwächere) Mädchen nicht zu verletzen. Dann las Vanitas die Formeln mit denen er das Kind schließlich heilen konnte.

 

 

Viktor zuckte schmerzlich zusammen, als Jeanne die Wunde desinfizierte. Ein paar Erste-Hilfe-Utensilien trug sie als Bourreau und Chevalier immer bei sich.

„Was ist mit Gérard passiert?“, wollte Viktor wissen, während er Clara dabei beobachtete wie sie sich an Gustav schmiegte.

„Wir haben ihn mit den Seilen gefesselt, die ihr zuvor bei mir angewendet habt.“

Vanitas Stimme klang müde. Er wollte nur noch hier weg.

„Wahrscheinlich werden Graf Orloks Leute ihn schon bald finden und mitnehmen. Bis dahin solltet ihr besser hier verschwunden sein, wenn ihr nicht auch noch festgenommen werden wollt.“

Der Angesprochene nickte. Vorerst würde es seine Aufgabe sein auf Clara und Gustav aufzupassen, bis sie zum Rest der Gruppe Kontakt aufnehmen konnten und sie sollten sich bedeckt halten. Dieser Mann namens Vanitas hatte ihnen zwar trotz der Entführung geholfen, aber das hieß nicht, dass man ihm trauen konnte, geschweigenden seiner vampirischen Begleitung, von denen eine ganz klar eine Uniform aus Altus trug.

 

 

Als die Kinder gegangen waren, machten sich Noé, Jeanne und Vanitas daran das Fabrikgelände zu verlassen. Langsam jedoch… Es ging Vanitas eindeutig nicht gut. Ganz sicher hatte er zwei Tage lang kein Auge zugetan, seine Glieder mussten unglaublich schmerzen und dazu die Verletzungen. Jeanne und Noé beobachteten ihn besorgt dabei wie er schweigend ein Stück vor ihnen her ging. Irgendwie war da diese Stimmung in der Luft, die beiden sagte, dass er nicht reden wollte.

Und da war noch etwas anderes. Noé konnte spüren wie sie beobachtet wurden. Waren hier auf dem Gelände etwa doch noch mehr dieser Kinder? Sie mussten gesehen haben welche Macht Vanitas‘ Buch hatte.

 

„Noé!“

In einiger Entfernung konnte er Domi und Dante erkennen, die auf sie zu gerannt kamen. Ein Anblick, der Vanitas nur ein verwundertes hochzucken einer Augenbraue entlockte.

„Dominique! Dante! Was macht ihr denn hier?“

Leicht abgehetzt kamen die beiden Angesprochenen vor der kleinen Gruppe zum Stehen.

„Was meinst du mit ‚Was macht ihr hier?‘?! Wir sind hier, weil du dich hast entführen lassen, du Quacksalber!“, motzte Dante aufgebracht.

„Ich habe mich nicht entführen lassen! Ich wurde entführt, du Glatzkopf!“, motzte Vanitas zurück.

„Ich hab‘ keine Glatze!“

„Das reicht jetzt!“, mischte Dominique sich ein. „Wir sind hier, weil wir uns Sorgen um dich gemacht haben, Mensch!“

Dass sie ihn erneut so nannte, zeigte wie angesäuert sie war. Ein Schnaufen entkam ihr, bevor sie ihre gewohnt elegante Körperhaltung annahm und sie deutlich neutraler fragte:

„Geht es dir gut?“

„Geht schon…“, murmelte Vanitas, den Blick verstohlen durch die Runde gleitend. Sie alle waren hergerannt gekommen, um ihm zu helfen. Es war so ungewohnt, dass andere sich um ihn sorgten. Noch dazu so viele. Wussten sie nicht, dass er das nicht verdient hatte? Und wieder wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er auf kurz oder lang mindestens einen von ihnen verletzen würde.

„Lasst uns nach Hause gehen…“

Er wollte sich jetzt nicht damit auseinandersetzen. Ihm tat immer noch alles weh. Schlurfenden Schrittes ging Vanitas an Dante Und Dominique vorbei und hasste es, dass er nicht einmal ein ‚Danke‘ herausbrachte. Er war echt das Letzte.

 

Dominique wandte sich stirnrunzelnd zu Noé. Offenbar hatten er und Jeanne es geschafft Vanitas allein zu befreien, aber irgendwie war die Stimmung anders als sonst.

„Geht es dir gut, Mon Chéri?“, fragte sie Noé und umarmte ihn kurz. Dieser schmiegte sich einen Moment vertrauensvoll an Dominique. „Ja, danke, Domi.“

Einen Moment lang blieb Vanitas stehen und warf ihnen einen argwöhnischen Blick zu. Warum wurmte es ihn nur so, wenn Dominique und Noé sich so nah waren? Sie war nun einmal seine beste Freundin. Daran konnte er nichts ändern. Wieso wollte er das überhaupt?

Vanitas wurde abgelenkt, als er seinerseits selbst einen stechenden Blick spürte. Jeanne hatte offenbar bemerkt wie er die beiden anderen Vampire angesehen hatte. Beschämt wandte er sich schnell wieder ab. Die Luft war zum zerreißen gespannt. Das bemerkten auch Dominique und Dante, die sich jedoch keinen Reim darauf machen konnten.

Genervt kratzt sich letzterer sich am Kopf.

„Also, wenn hier nichts mehr zu tun ist, geh‘ ich nach Hause!“, schnaufte er, steckte die Hände in die Tasche und schlenderte an Vanitas vorbei. „Du schuldest mir im Übrigen was, Quacky!“

Der Angesprochene sagte nichts, antwortete Dante nur mit einem Nicken und einem eindeutigen Blick, ehe der Dhampir sich schlussendlich aus dem Staub machte.

 

Dominique begleitete die Gruppe bis hin zum Hotel.

„Gehen wir, Jeanne?“, fragte sie ihre Freundin sanft lächelnd. Sie war den ganzen Weg über besorgniserregend still gewesen.

„Ich würde Vanitas gerne noch mit hochbringen… Wenn es in Ordnung ist.“, antwortete Jeanne und nicht während sie es aussprach, fragte sie sich wieso sie eigentlich so unsicher klang. Vanitas war ihr Liebster… Wieso sollte sie ihn nicht begleiten dürfen? Wieso fühlte sie sich gerade so unerwünscht? Und wieso fühlte sie sich als müsste sie ihn kontrollieren? Ihr Blick viel auf Noé. Eifersucht war jetzt unangebracht, wo es Vanitas so schlecht ging, aber…

Vanitas ging die Anspannung durch Mark und Bein. Jeanne wegzuschicken würde alles schlimmer machen, auch wenn er gerade nichts lieber getan hätte als vor ihr…. Und auch vor Noé zu flüchten.

„In Ordnung…“, murmelte er leise, sah sie jedoch nicht an, schritt stattdessen auf die Tür des Hotels zu.

Erneut begann Dominique sich zu sorgen.

„Gut, ich warte hier auf dich.“, sicherte sie Jeanne zu.

 

 

Noch immer ging Vanitas vor Jeanne und Noé, jeder Schritt so schwer wie Blei. Er musste sich einfach nur etwas hinlegen dann würde alles gut werden. Dieser verdammte Vampir… Vanitas fragte sich ernsthaft was mit ihm los war. Er war doch sonst nicht so leicht außer Gefecht zu setzen. Es war nicht das erste Mal, dass er gegen eine Wand geschleudert wurde oder ein Messer abbekommen hatte. Wieso war ihm nur so schwindelig? Hatte er etwa eine Gehirnerschütterung?

Kurz nachdem er das Zimmer betreten hatte ging er schließlich in die Knie. Ihm war so schlecht.

„Vanitas!“, riefen beide Vampire fast gleichzeitig.

Seine Sicht verschwamm einen Moment, als beide sich vor ihn knieten und seien Schulter berührten.

„Vanitas, sollen wir einen Arzt rufen?“, Noés Stimme überschlug sich fast. So geschwächte kannte er Vanitas nicht, selbst wenn er Schmerzen hatte.

Nur ganz langsam schüttelte Vanitas den Kopf. Seine Sicht wurde wieder klarer. „Es geht. Ich brauche nur einen kurzen Moment…“, keuchte er leise. Seine Augen wanderten nach oben, versuchten Noé oder Jeanne zu fokussieren, bis es Vanitas plötzlich eiskalt den Rücken herunterlief.

 

Jeanne hatte angestrengt zu keuchen begonnen, den Blick zu Boden gesenkt, ihre Augen von Haarsträhnen verdeckt, die Wangen blass. Sie bekam keine Luft… Er kannte diese Symptome. Ihr Blutdurst war wieder da. Kein Wunder! Bei all dem Blut was er die ganze Zeit verströmte, war es nur eine Frage der Zeit bis die Wirkung ihrer Medikamente nachlassen würde. Selbst Noé hatte sich auf dem Heimweg sichtlich den Appetit verkniffen!

In diesem Moment spürte Vanitas wie sein Puls nach oben ging und sein Blick schwankte panisch zu Noé. Jeanne hatte noch nie vollends die Kontrolle verloren, aber er hatte ihr fest versprochen ihr Geheimnis zu wahren.

Noé blickte verwirrt zwischen Vanitas und Jeanne hin und her. Was war hier los? Wieso ging es Jeanne plötzlich ebenfalls schlecht? Er konnte sehen wie ihre Hände zitterten, wie sie sich hilflos an die Kehle faste und schwer atmete.

„Was ist los?“, fragte er leise.

 

Vorsichtig setzte Vanitas sich auf, legte nun seinerseits seine Hände an Jeannes Arme. „Jeanne… Trink von mir!“

Entsetzt sah sie zu ihm auf. Schüttelte heftig den Kopf, bekam aber kein Wort heraus. Erneut sah Vanitas zu Noé. Das hier war das Geheimnis, dass er versprochen hatte zu schützen. Er hatte keine Wahl es als es diesmal zu brechen, wenn er Jeanne helfen wollte und gleichzeitig fühlte er sich schlecht überhaupt ein Geheimnis vor Noé zu haben. Wieder sah er zu Jeanne, blickte ihr fest in die Augen.

„Tu es, Jeanne. Es ist in Ordnung. Noé wird nichts sagen!“

Da war er sich sicher. Er vertraute Noé.

Wieder schüttelte Jeanne energisch den Kopf, Tränen standen ihr in den Augen.

„Es geht nicht!“, keuchte sie. „Du bist zu stark verletzt! Wenn ich das tue dann... dann…“

Noé beobachtete die Szene stumm. Da war wieder dieses mulmige Gefühl. Er fühlte sich ausgeschlossen, wusste nicht was los war. Wieso wurde ihm nur nie etwas erklärt? Unsicher sah er zwischen den beiden anderen hin und her und fasste einen Entschluss.

Unbemerkt öffnete Noé die Manschette seines linken Hemdärmels und zog ihn herunter, ehe er sich endlich Gehör verschaffte.

„Jeanne! Trink von mir!“, sagte der Archiviste.



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