Diagnose: Schreibblockade von Geminy-van-Blubel (Dreimonatige Challenge) ================================================================================ Kapitel 137: 5.5.2024: Knopfdruck --------------------------------- Genau vierunddreißig Minuten lang schaffte Hellen es, einfach nur da zu sitzen, dem bunten Treiben in der Schwimmhalle zuzuschauen und sich selber einzureden, dass sie gerade Teil dieser ausgelassenen Menge war, die scheinbar einfach nur den freien Tag genießen wollte. Die Sonne wärmte durchs Fenster ihre Schultern, das Jauchzen der Kinder erinnerte sie an ihre eigene Kindheit und der Haselnusskaffee schmeckte tatsächlich so gut, dass sie Gitti nicht nur bei Gelegenheit für den Tipp danken wollte, sondern sich bereits ein Rezept herausgesucht hatte, um das Getränk künftig öfter in ihren Alltag integrieren zu können. Es hätte so schön sein können, wenn nicht – wie auf Knopfdruck – das schlechte Gewissen wieder losgelegt hätte: Nicht einmal vorrangig, weil sie hinter Richards Rücken zu Ben gegangen war, obwohl sie von der angespannten Situation zwischen den beiden wusste, sondern vor allem, weil sie gerade ihre Zeit so vergeudete. Wie gut sie den freien Tag fürs Lernen hätte nutzen können oder wenigstens eine Sporteinheit, um ihren Körper auch weiterhin gesund und kräftig genug zu halten, damit er sie noch lange zuverlässig durchs Leben trug. Sie hätte sich über anstehende Festivitäten und Veranstaltungen informieren können, anstatt darauf zu warten, dass Richard es wieder in einem Nebensatz fallen ließ oder ihre Schwiegermutter in spe sie aus heiterem Himmel zu einer Shoppingtour überredete, damit sie auch ja wieder passend gekleidet war. Genauso hätte sie bereits die Eigeninitiative ergreifen und selber nach passenden Kleidern suchen können. Aber stattdessen hüllte sie sich in Nichtstun und bis gerade eben hatte ihr das auch noch gefallen. Und schlimmer noch: Als sie Gitti nun ins Café treten sah, um sich selbst mit einem Haselnusskaffee zu versorgen, hoffte sie sogar auf ein Gespräch, mit dem sie die restliche Wartezeit füllen konnte. Leider reichte es aber nur für einen kurzen Austausch im Vorbeigehen, weil die Kassiererin an ihren Platz zurück musste. Aber zumindest hatte ihr zufriedenes Lächeln nach Hellens Dank auch Hellen ein gutes Gefühl gegeben. Nun saß sie allerdings wieder untätig da, dachte an ihre Eltern, die fast vor Stolz überquollen, weil ihre Tochter es so weit gebracht hatte und an Richard, dessen Tag so durchgetaktet war, dass kein Platz für Faulenzerei blieb und der sich sicherlich geschämt hätte, Hellen jetzt hier so zu sehen. Sie schüttelte leicht den Kopf und zog ihr Smartphone heraus, um sich in die Lektüre von Seminarunterlagen zu vertiefen, die ihr erst so schwer vorkam, dass sie jeden Satz dreimal lesen musste um ihn zu verinnerlichen und dann, als der Knoten geplatzt war, sie so vereinnahmte, dass sie die Zeit völlig aus den Augen verlor. Erst, als der Kaffee anfing sie zu drücken und zurück in die Freiheit entlassen werden wollte, riss sie sich wieder vom Smartphone los. „Oh, jetzt aber schnell“, murmelte sie und sprang auf. Irgendwo auf dem Weg zum Café hatte sie vorhin die Toiletten gesehen. Sie eilte in den Flur und blieb dann wie angewurzelt stehen, als sie einige Meter entfernt Ben sah, der mit Jenny in einer abgelegenen Ecke stand, beide bereits in ihre Alltagskleidung gehüllt und eng umschlungen. Was sie sprachen, konnte Hellen nicht hören, aber ihre Vertrautheit und die Gesten waren nur allzu deutlich. Kurz lachten sie, dann flüsterte Jenny ihm etwas ins Ohr und er kniff in gespieltem Abscheu die Augen zusammen, als sie ihm einen festen Kuss auf die Wange drückte, nur, um dann wieder in gemeinsames Lachen zu verfallen. Hellen kam sich wie das fünfte Rad am Wagen vor, aber sie merkte auch, dass ein Unglück geschähe, wenn sie jetzt noch länger wartete. Also versuchte sie sich unbemerkt an ihnen vorbei auf die Toilette zu stehlen, was ihr allerdings nicht gelang. „Hast dus dir anders überlegt?“, hörte sie Bens Stimme hinter sich, kaum, dass sie an ihnen vorbei war und wurde wieder von Jennys abschätzigem Blick begrüßt, als sie sich zu ihnen umdrehte. „Nein, ich muss nur mal kurz…“, sie deutete hinüber zu den Toiletten und lief weiter, als Ben verstehend nickte. „Alles klar, wir warten hier solange“, rief er ihr noch nach und die automatisch schließende Eingangstür zu den Toilettenanlagen traf Hellen fast in den Rücken, als sie bei dem Ausspruch abermals abrupt stehen blieb. Wir?, dachte sie. Wollte Jenny etwa bei dem Gespräch dabei sein? Große Erleichterung verspürte Hellen, als sie wenige Minuten später wieder auf den Flur trat. Nicht nur körperlich, sondern auch, weil Ben nun allein dort stand und wartete. „Da bin ich wieder“, gesellte sie sich zu ihm und schaute sich trotzdem fragend um. „Sie ist gegangen“, konnte er ihre Gedanken scheinbar lesen und setzte sich in Bewegung. „Ich wollte euch nicht stören“, murmelte Hellen und war trotzdem froh, mit Ben allein reden zu können. In eiligen Schritten ging sie ihm nach; es kostete sie etwas Anstrengung, mit seinen langen Beinen mitzuhalten. „Hast du nicht“, meinte er nur beiläufig und wünschte Gitti einen schönen Feierabend, als sie an der Kasse vorbei zum Ausgang liefen. Hellen schloss sich dem Gruß an und dankte der Kassiererin innerlich für die schönen Momente, die sie ihr an diesem Tag beschert hatte. „Also, was gibt es?“, blieb Ben schließlich unter einem Baum, wie sie zu dutzenden den Parkplatz säumten, stehen und drehte sich wieder zu Hellen um. Er war gut einen Kopf größer als sie und nicht nur deswegen fühlte sie sich gerade klein neben ihm. „Weiß Jenny, wer ich bin?“, fragte sie statt einer Antwort zu geben und Ben zog die Augenbrauen kraus. „Keine Sorge, fast jeder in der Stadt dürfte wissen, wer du bist“, murrte er und Hellen hob beschwichtigend die Hände. „Nein, so mein ich das nicht! Ich… ich will nicht, dass sie einen falschen Eindruck von unserem Treffen bekommt“, meinte sie und schaute sich um, ob jemand sie beide beobachtete. Bens Mundwinkel zuckte. „Na ja, anfangs hat sie immer darauf bestanden, dass ich nur in ihrer Gegenwart mit anderen Frauen rede, aber inzwischen darf ich das auch alleine. Sie wirft jetzt auch keine Teller mehr nach mir, wenn ich mal zwei Minuten zu spät nach hause komme“, schob Ben die Hände in die Jackentaschen und schnaubte belustigt aus, als er Hellens schockierten Blick sah. „Das war n Witz. Sie weiß, dass sie mir vertrauen kann und umgekehrt. So läuft das doch in einer Partnerschaft, oder nicht?“, musterte er Hellen, die zögerlich nickte und merkte, dass sie sich bei Richard noch nie Gedanken darüber gemacht hatte. Wäre er eifersüchtig oder hatte sie Grund zur Eifersucht? „Ihr habt doch eine feste und vertrauensvolle Partnerschaft, oder nicht?“, hakte er nach, sicherlich noch Hellens Aufzug bei ihrem Besuch vor einigen Tagen im Hinterkopf und wieder nickte sie. „Ja, du hast das nur vorhin so trocken gesagt, dass ich für einen Moment irritiert war“, sagte sie und fragte sich, ob das gerade etwa ein Schmunzeln war, das sich auf Bens Lippen bildete. „Hör ich nicht zum ersten Mal“, zuckte er leicht die Schultern und Hellen erinnerte sich, dass er schon in ihrer Schulzeit manchmal durch seinen trockenen Humor und die gespielte Ernsthaftigkeit aufgefallen war – manchmal auch zum Ärger der Lehrer. Es lockerte den Moment ein wenig auf, aber dadurch fiel es Hellen noch schwerer, zum eigentlichen Grund ihres Gesprächs zu kommen. Sie atmete tief durch und sagte schließlich: „Du hast einen falschen Eindruck von mir bekommen! Und deine Großeltern auch“. Das Schmunzeln verschwand und die Ernsthaftigkeit wirkte alles andere als gespielt. Bens Körper straffte sich, er reckte leicht das Kinn und schaute wortwörtlich nun auf Hellen herab – gleichsam mit der Aufforderung im Blick, weiterzusprechen. „Richard spricht nicht mit mir über seine Geschäfte. Ich wusste nicht mal, dass er deinen Großeltern das Haus abkaufen will und ich lass mich auch nicht von ihm einspannen, um irgendwen für ihn um den Finger zu wickeln!“, verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Natürlich hab ich mitbekommen, dass seine Familie inzwischen viele Immobilien hat, aber ich dachte immer, dass sie den Leuten einfach einen guten Preis bieten, damit sie verkaufen“. Ben lachte trocken und nickte. „Oh ja, das tut er sogar, aber leider akzeptiert er es nicht, wenn jemand den Verkauf ablehnt“, zischte er und presste die Kiefer aufeinander. „Das wusste ich nicht“, schaute Hellen ihm aufrichtig in die Augen, auch wenn es ihr nicht leicht fiel. Dann schweifte ihr Blick ab, als sie fast in Gedanken versunken erzählte, dass Richard unter großem Druck stand, seinem Vater zu beweisen, dass er ein ebenso guter Geschäftsmann wie er selber war. Ben aber schüttelte nur den Kopf und schnaubte aus. „Soll ich jetzt Mitleid mit ihm haben?!“, knurrte er. „Nein“, meinte Hellen und strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Ich wollte nur sagen, dass er kein schlechter Kerl ist. Ich finds nicht gut, dass er sich so verhält, aber er hat auch gute Seiten. Er… er kann auch sehr fürsorglich sein! Mir hat er viel ermöglicht“, murmelte sie und zuckte zusammen, als Ben mit einem „Wie schön für dich“ antwortete. „Ich mein doch nur…“ „Warum erzählst du mir das überhaupt?“, unterbrach Ben sie, was Hellen fast schon gelegen kam. Sie fragte sich mit jedem Wort aus ihrem Mund mehr, wann sie Richard eigentlich das letzte Mal liebevoll und zugänglich erlebt hatte. Aber das konnte sie Ben gegenüber nicht zugeben. „Ich…“, versuchte sie jetzt eine Antwort auf seine Frage zu finden, was auch nicht unbedingt leicht war. „Deine Großeltern waren sehr nett zu mir und ich will nicht, dass sie durch Richards Fehlverhalten einen falschen Eindruck von mir bekommen. Ich… ich hab mich bei ihnen sehr wohl und geborgen gefühlt und es tut mir sehr leid, dass ich ihnen weh getan hab. Aber ich wusste es wirklich nicht. Bitte glaub mir das“. Ben musterte Hellen einen Moment lang, ehe er zu einer Antwort ansetzte. „Hast du mal mit ihm darüber gesprochen?“, war seine Reaktion eine Frage, die Hellen wieder ein Stück weit den Boden unter den Füßen wegzog. Sie nickte leicht und senkte den Blick, weil sie zwar das Gespräch gesucht, aber keine Antworten bekommen hatte – sondern nur die Anweisung, sich aus diesen Dingen herauszuhalten. Plötzlich hob Ben die Hand und stützte sie an Hellens Kopf vorbei am Stamm der Eiche ab. Erschrocken schaute sie zu ihm hoch und bekam es noch mehr mit der Angst zu tun, als er den Mund wieder öffnete. „Kann es sein, dass er ziemlich wütend würde, wenn er jetzt von unserem kleinen Treffen erführe?“, fixierte er sie mit den Augen, während er selbst nicht erkennen ließ, was gerade in ihm vorging. „Was hast du vor?“, flüsterte Hellen und drückte sich an den Baumstamm. Sie spürte, wie Panik in ihr aufkam und sich ihre Gedanken überschlugen. Ben aber seufzte aus. „Willst du ihm etwa davon erzählen?“, starrte Hellen ihn an. "Wäre das denn so schlimm?", glich seine Stimme fast einem Raunen und er legte den Kopf schief, während er sie weiter betrachtete. Sie sah aus wie ein geblendetes Reh und zuckte zusammen, als er die Hand genauso abrupt wieder sinken ließ und stattdessen laut wurde. „Herrgott, Hellen, schau dich doch mal an!“, brauste er auf und schüttelte den Kopf. „Du warst früher mal so ein fröhliches und selbstsicheres Mädchen! Was hat der Kerl bloß aus dir gemacht?“ Verständnislos, fast mitleidig schaute er Hellen an. Doch sie schwieg. Sie brauchte einen Moment, um die Situation zu verdauen, ihre Gedanken zu sortieren und sich zu beruhigen. „Wolltest du mich grad nur provozieren?“, fragte sie schließlich mit heiserer Stimme und schneller als er gucken konnte, fand ihre Hand den Weg zu seiner Wange, als Ben bestätigte: „Ja, ich wollte Wahrheit hören. Oder zumindest sehen.“ „Du regst dich über seine Methoden auf und bist selbst nichts besser!“, platzte es aus ihr heraus, während Ben sich erst verdattert die Wange rieb und dann den Blick zu Boden senkte. Hellen schüttelte fassungslos den Kopf. Sie stürmte an Ben vorbei und über den Parkplatz, um auf schnellstem Wege nach hause zu gehen. „Warte!“, hörte sie Ben und rief ihm über die Schulter zu, dass er sie in Ruhe lassen solle. Er hatte sie aber schnell eingeholt und fasste ihre Schulter. „Bitte warte“, wiederholte er, als sie sich losriss. „Du sollst mich in Ruhe lassen!“ Bis gerade eben war Ben für sie trotz seiner ablehnenden Haltung immer ein netter Kerl gewesen; erst als Mitschüler, dann als liebender Enkel, der nur seine Familie beschützen wollte. Aber jetzt sah sie einen Mann vor sich, von dem sie nicht wusste, wozu er fähig wäre und sie hatte keine Ahnung, ob sie vor ihm Angst haben oder wegen dieses Katz-Maus-Spielchens auf ihn wütend sein sollte. Sie wusste nur, dass sie von ihm weg wollte und eilte weiter über den Parkplatz. „Hellen, es tut mir leid!“, ließ Ben sich aber sogar dann nicht abschütteln, als sie versuchte ihn zu ignorieren und schweigend ihren Weg fortsetzte. Schließlich stellte er sich ihr in den Weg und hob beschwichtigend die Hände, sodass sie zum Smartphone griff und ihm drohte die Polizei zu rufen. „Ich bin zu weit gegangen, es tut mir wirklich leid!“, trat er einen Schritt zurück, um den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. Er wirkte nicht mehr kalt oder abweisend, sondern reumütig, aber vielleicht war das auch nur gespielt? „Lass mich durch!“, befahl Hellen und beobachtete ihn ganz genau, während er nach einem kurzen Nicken beiseite trat. Er ließ die Hände langsam sinken und seufzte aus. Dieses Mal machte er keinen weiteren Versuch sie zu stoppen, als Hellen wieder los lief. Sie brachte erst einige Meter zwischen ihn und sich, ehe sie über die Schulter blickte und sah, dass er noch immer dort stand. Er schaute ihr nach, wirkte fast wie ein getretener Hund und seine Mundwinkel zuckten, als wolle er etwas sagen, doch er schwieg. Stattdessen drehte er sich langsam in die entgegengesetzte Richtung und rieb sich dabei übers Gesicht. „Was sollte das?!“, brachte Hellen ihn zum Stehen und auch dazu, sich wieder umzudrehen. Sie hielt das Handy noch immer fest umklammert, während sie ihn unsicher musterte. Er zuckte leicht die Schultern, schüttelte dann den Kopf. Irgendetwas murmelte er, das sie auf die Entfernung kaum verstand. „Was?“, rief sie ihm zu und er seufzte aus. „Ich… ich weiß nicht, was mich da geritten hat“, gestikulierte er unbeholfen mit den Händen und ließ sie dann wieder schwer sinken, ehe er in Hellens Richtung nickte. „Da hinten ist ein Bäcker, die haben auch Sitzgelegenheiten. Sollen wir… das mit dem Gespräch noch mal versuchen?“ Hellen presste die Lippen zusammen und trat unentschlossen von einem Fuß auf den anderen. „Na schön, aber geh vor“, stimmte sie nach einer kurzen Bedenkzeit zu und behielt Ben weiterhin im Blick, während er mit ausreichendem Abstand an ihr vorbei und dann voraus ging. „Danke“, rief er ihr über die Schulter zu und schien sich unschlüssig, ob er die kommenden Meter über schweigen oder trotzdem mit ihr reden sollte. Schließlich entschied er sich für Stille und sprach sie erst wieder an, als er die Tür zum Laden erreichte und sie Hellen aufhielt. Bereits draußen saßen einige Leute an Tischen bei Kaffee und Kuchen und durch die ausladenden Fensterfronten des Geschäfts konnte man weitere Sitzmöglichkeiten und Menschen sehen. Mit einem Nicken schob Hellen sich an Ben vorbei und blieb kurz stehen, um sich im Laden umzusehen. „Da hinten in der Nische?“, deutete er auf ein etwas abgelegeneres Eckchen und Hellen stimmte zu. „Was möchtest du haben? Ich lad dich ein, das ist das Mindeste“, murmelte er und nickte, als Hellen ablehnte. „Im Moment nichts, danke. Ich geh schon mal vor“, sagte sie und setzte sich mit einem mulmigen Gefühl an den Tisch; so, dass sie im Rücken die Wand hatte und von ihrem Platz aus den Raum gut im Blick behalten konnte. Während Ben sich eine heiße Schokolade und einen Donut holte, ließ Hellen den Blick schweifen, um festzustellen, ob sie bekannte Gesichter entdecken konnte. Nein, niemanden der anderen Gäste hatte sie schon mal bewusst gesehen. „Möchtest du wirklich nichts?“, trat Ben kurz darauf an den Tisch und stellte sein Tablett ab. Erst, als Hellen abermals ablehnte, nahm er Platz. „Ich hab nicht vor dir was ins Essen zu mischen“, sagte er scherzhaft und erschrak, als Hellens Gesichtsausdruck ihm zeigte, dass sie durchaus diese Befürchtung in sich trug. Sie saß beinahe zusammengekauert auf ihrem Stuhl, die Schultern hochgezogen, die Arme vor der Brust verschränkte und dabei gleichzeitig auf den Tisch gestützt. Das Handy lag griffbereit vor ihr, eine Hand berührte es sogar. Ben seufzte aus und rieb sich abermals das Gesicht. „Was hab ich dir getan?“, fragte Hellen schließlich, als einige Sekunden vergangen waren, in denen beide nur schweigend dagesessen hatten. Ben schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. „Gar nichts. Und deswegen war es auch nicht okay, dass ich mich grad so benommen hab“, meinte er und rieb sich den Nacken. „Dann erklär mir mal, was das sollte“, forderte Hellen, woraufhin er nickte. Es war ihm sichtlich peinlich. „Ich dachte für nen kurzen Moment, dass ich Richard auch mal eins auswischen will. Ihm unter die Nase reiben, dass er eben nicht über alles Kontrolle hat. Nicht mal darüber, dass seine Freundin sich heimlich mit mir trifft“, murmelte und seufzte wieder. Ein weiterer Moment der Stille trat ein, in dem es Ben zunehmend schwerer fiel, Hellen ins Gesicht zu schauen. Er brach den Blickkontakt schließlich ab und räusperte sich. „Das war nicht alles, oder?“, fragte Hellen und er nickte. „Wenn ich ganz ehrlich bin… für einen winzigen Augenblick hab ich mich auch gefragt, wie… wie es wohl wäre, wenn zur Abwechslung er mal merken würde, wie sich Hilflosigkeit anfühlt. Weil er nach hause kommt und sieht, dass jemand, der ihm viel bedeutet, verstört ist und er das nicht verhindern oder ändern konnte. Diese Machtlosigkeit, wenn man die Tränen sieht und nichts dagegen tun oder sagen kann“, sprach er mit heiserer Stimme und riss sofort beschwichtigend die Hände hoch. „Aber ich hatte nie vor, dir irgendwas zu tun, ehrlich! Ich… ich hatte nur überlegt, dir ein bisschen Angst zu machen. Mehr nicht, wirklich!“ „Mehr nicht?“, wiederholte Hellen mit einem Zischen und Ben ließ die Hände sinken. „Ist das nicht auch schon schlimm genug?!“ Er nickte und rieb sich erneut das Gesicht. „Ich schäme mich dafür“, murmelte er. „Das solltest du auch!“ Wieder nickte er und wieder kehrte die Stille für einen Augenblick zurück. „So bin ich normalerweise nicht“, meinte Ben schließlich und stützte sich leicht auf den Tisch, während er gedankenverloren mit dem Löffel die Sahne im Kakao verteilte. „Früher war Richard mir egal, aber inzwischen ist der Kerl ein rotes Tuch für mich geworden. Ich hab Angst um meine Großeltern. Sie sind nicht mehr die Jüngsten und dieses Theater mit ihm dauert jetzt schon Monate an. Opa regt sich ständig auf, Oma hab ich schon mal heimlich weinen sehen… und ich kann nichts dagegen tun. Meine Eltern meinten sogar, sie sollten doch einfach verkaufen. Das Sümmchen, das er bietet, ist doch groß genug, um sich davon sogar in einer chiceren Gegend etwas kaufen zu können. Aber meine Großeltern hängen nun mal an dem Haus! Opa hat den Laden dort damals selbst aufgebaut. Es war schon schlimm genug für ihn, dass mein Vater nicht in seine Fußstapfen treten wollte, aber das Haus und damit auch den Laden jetzt komplett verlieren?“. Wieder schüttelte Ben den Kopf und Hellen konnte die Verzweiflung hinter seiner sonst so abweisenden Fassade spüren. „Aber das ist keine Entschuldigung für mein Verhalten. Du hast meinen Frust abbekommen und das war nicht okay“, hob er den Blick und schaute sie an. Hellen nickte. Langsam entspannte sie sich etwas, nahm die Hand vom Smartphone weg und rieb sich leicht über den Oberarm. „Du sagtest vorhin, du wolltest die Wahrheit wissen. Wie meintest du das?“, fragte sie und aus der Verzweiflung in Bens Gesicht wurde Ernst. „Ich wollte irgendwie erkennen, ob du ehrlich bist. Mag ja sein, dass du wirklich nichts von seinem Verhalten gegenüber unwilligen Verkäufern weißt, aber ich versteh nicht, warum du so unbedingt mit mir reden wolltest. Wir haben doch eigentlich gar nichts miteinander zu tun; dir kanns egal sein, was ich über dich oder deinen Freund denke. Ich hab mich gefragt, ob das doch nur Theater war, um dich bei mir einzuschleimen.“ Er zuckte leicht die Schulter, eher er weitersprach: „Und plötzlich dachte ich dann, was, wenn du Hilfe brauchst? Wenn er dich schlecht behandelt und du nicht allein vom ihm weg kommst?" Hellen weitete die Augen und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Wie bitte?“, blinzelte sie einige Male ungläubig und wieder zuckte Ben die Schultern. „Ehrlich gesagt hab ich nie begriffen, was du an dem Kerl findest. Außer vielleicht sein Geld, aber du hast mir eigentlich nicht den Eindruck gemacht, als wärst du eine von denen, die sich davon beeindrucken lassen. Und als ich vorhin vom Vertrauen in Beziehungen sprach und du so unsicher warst… da dachte ich…“ „Dass ich dich als Ritter in schillernder Rüstung brauche, der mich aus den Fängen des Drachen befreit?“, unterbrach Hellen ihn und sackte bei seinem Nicken leicht in sich zusammen. „Ich hab einfach nur gemerkt, dass ich mir über das Thema Eifersucht noch nie Gedanken gemacht habe, das ist alles“, meinte sie und ergänzte: „Angst hatte ich nicht wegen Richard, sondern weil du mir plötzlich so auf die Pelle gerückt bist!“ Sie verschränkte wieder die Arme vor der Brust und blickte aus dem Fenster. "So was hab ich von dir nicht erwartet. Und jetzt entschuldige dich nicht wieder zehnmal, das hast du jetzt schon oft genug gemacht". Ben nickte. Was sollte er sagen, wenn er sich nicht einmal entschuldigen durfte? Er schaute auf seinen Kakao und schob Hellen dann seinen Donut rüber. Sie ignorierte ihn. „Ich hatte mich ehrlich für dich gefreut“, meinte sie dann plötzlich und konnte im Augenwinkel Bens irritierten Blick erkennen. „Dass du damals durch die Verletzung nicht mehr in den Profibereich gehen konntest, tat mir sehr leid und vorhin hab ich beobachtet, wie viel Spaß du an deiner Arbeit hast. Du hast dich nicht unterkriegen lassen und das fand ich toll“, sagte sie und ein leichtes Lächeln umspielte Bens Lippen. „Ja, das war damals ein ziemlicher Schlag, aber inzwischen bin ich sogar ganz froh, dass es so gekommen ist. In der Weltgeschichte herum zu reisen war nie mein Ding und im Profisport hat man auch ne vergleichsweise kurze Halbwertszeit. Ganz zu schweigen von dem Druck und Stress – ich glaube, auf Dauer hätte mir das den Spaß am Schwimmen genommen“, nippte er an seinem Kakao und schleckte den Schaumbart von der Oberlippe. „Bist du denn zufrieden mit deinem Studium? Tiermedizin, richtig?“, schien er aufrichtiges Interesse zu haben und nahm mit einem Schmunzeln Hellens Überraschung darüber wahr, dass er sich das gemerkt hatte. „Es ist anstrengend, aber es macht mir auch viel Spaß. Momentan ist es noch recht viel Theorie, aber die bisherigen praktischen Sachen haben mir schon sehr gefallen. Ich freu mich drauf, wenn ich endlich richtig mit den Tieren arbeiten kann“, meinte sie und dachte an ihren Traum von einer eigenen kleinen Praxis. „Wirst du dann die Leibtierärztin für Richards Pferde? Rennsport, richtig?“, versuchte Ben sich den höhnischen Ton zu verkneifen, was ihm allerdings nicht so recht gelang. Hellen schmälerte kurz die Augen, beantwortete die Fragen dann aber ohne jegliche Spitzen oder Ironie: „Dressurreiten. Und jein… er hätte gern, dass ich das mache, aber ich möchte eigentlich lieber mit Kleintieren arbeiten. Vielleicht eine kleine Praxis und ehrenamtlich im Tierheim helfen?“, murmelte sie und erkannte nun ihrerseits ehrliche Überraschung in Bens Blick. „Machst du da schon was in die Richtung?“, fragte er, aber sie schüttelte den Kopf. Aktuell fehlte ihr noch die Zeit dafür. „Aber irgendwann ist das Studium ja auch mal vorbei“, grinste sie schief und Ben war nicht zum ersten Mal froh darüber, nicht den universitären Weg eingeschlagen zu haben. „Bist du hier an der Uni oder wo anders?“, wollte er wissen und war wenig verwundert, dass Hellen es an die renommierte Studieneinrichtung ihrer Stadt geschafft hatte. „Ich hatte großes Glück“, meinte sie, aber er wiegte zweifelnd den Kopf. „Du warst immer sehr fleißig“, gab er zu bedenken und sie konnte ihm ansehen, was er noch dachte: Dass ihre Verbindung zu Richard sicherlich nicht von Nachteil gewesen war. „Na los, sprichs schon aus. Du willst doch schon die ganze Zeit wissen, wie es zwischen Richard und mir läuft, oder?“, forderte sie Ben also auf und wurde wieder von ihm gemustert. „Na schön“, lehnte er sich zurück und verschränkte seinerseits die Arme vor der Brust. „Was findet eine Frau wie du an einem Ekelpaket wie dem? Abgesehen von seinem Ruf und Geld?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)