Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 1: Kiseki – Wunder -------------------------- Uruha:   Das metallene Glöckchen an der Ecke links oben beginnt zu schwingen und munter zu klingeln, als ich die schwere holzgerahmte Glastür nach innen aufdrücke. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee vermischt mit dem trockenen Aroma der vielen Bücher weht mir um die Nase und lässt mich tief einatmen. Ich betrete den Laden mit seinen holzvertäfelten Wänden und der hohen Decke, die dem ansonsten eher dunkel eingerichteten Raum eine gewisse Luftigkeit verleiht. Der alte, an manchen Stellen deutlich ausgetretene Dielenboden knarrt vertraut unter meinen Schritten, die mich tiefer in das Innere bringen. Es ist jedes Mal der Höhepunkt meines Morgens hier herkommen zu dürfen – hier her, in mein Refugium.   Am liebsten würde ich nun die Arme ausbreiten und mich im Kreis drehen, die zahllosen Bücher als verschwommene Schemen an mir vorbeiziehen lassen. Genau dies habe ich schon des Öfteren getan. Mich gedreht und gedreht, wie Alice im Wunderland, bis mir so schwindlig war, dass ich mich setzen musste. Und warum auch nicht? Mein Leben war ein viel zu enger, angsteinflößender und verwirrender Kaninchenbau gewesen, durch den ich mich hatte kämpfen müssen, bis ich endlich hier gelandet war. Ich bin wie Alice und habe mir diesen Buchladen vor nunmehr fünf Jahren zu meinem ganz persönlichen Wunderland gemacht. Das Kiseki ist ein Traum des geschriebenen Wortes, eine Zuflucht für all jene, die sich in der Welt dort draußen ebenso unwohl fühlen, wie ich es manchmal noch immer tue.   Meine Hände zucken an meinen Seiten – ob es überhaupt auffallen würde, wenn ich mich nur einmal ganz kurz im Kreis drehe? Nur einmal? Ein Lächeln zupft an meinen Lippen. Nein, heute sollte ich mir dieses Vergnügen besser verkneifen, sonst halten mich meine Kunden nicht mehr nur für exzentrisch, sondern für rundheraus verrückt.   Ich mag es, früh morgens der Erste zu sein, der den Laden aufschließt, genieße die ruhigen Minuten, bevor Ruki oder Kai, manchmal auch beide gleichzeitig, ihre Schicht beginnen. Aber dieser Luxus ist mir heute nicht vergönnt, dank des Stromablesers, auf den ich bis vor einer halben Stunde hatte warten müssen. Ich spüre, wie plötzlich eine unangenehme Unruhe in mir hochsteigt, meine Handflächen schwitzen lässt. Abweichungen von meiner Routine sind mir mittlerweile nur noch unangenehm, aber heute scheint einer dieser selten gewordenen Tage zu sein, an denen eine geänderte Routine das Potenzial in sich birgt, mich aus der Bahn zu werfen. Verdammt, so elend habe ich mich schon eine ganze Weile nicht mehr gefühlt – und das aus heiterem Himmel. Was soll das denn? Ich spüre, wie sich mein Atem beschleunigt, sich kalter Schweiß auf meinen Nacken legt.   „Moin Ruha“, trällert eine gut gelaunte Stimme neben mir und holt mich aus der mentalen Abwärtsspirale, in der ich mich beinahe verloren hätte. Der Duft von Kaffee verstärkt sich, als mir eine dampfende Tasse entgegengehalten wird. Ruki kennt mich zu gut. Ich lächle den kleinen Mann mit dem wilden blond gefärbten Haar erleichtert an und nehme dankend die Tasse entgegen. Unter seinem forschenden Blick trinke ich einen großen Schluck und noch einen, bevor ich tief durchatme. „Na? Ist wieder alles so, wie es sein soll?“   „Ja. Keine Ahnung, wo das gerade herkam.“ Ich schüttle den Kopf, um die Reste der Panik loszuwerden, und atme tief durch. „Dir auch einen guten Morgen.“   „Ich habe schon lange aufgehört, verstehen zu wollen, was mein Hirn so veranstaltet. Solltest du auch machen.“ Wieder grinst Ruki mich an und diesmal erwidere ich aus vollster Überzeugung.   „Danke, Ruki.“   „Immer wieder gern. Ich will ja nicht, dass du irgendwann vergisst, weshalb du mich eingestellt hast.“   Nun muss ich herzhaft auflachen, schlage mir jedoch sofort die Hand vor den Mund und schaue mich verstohlen um. Keiner der Kunden sieht in meine Richtung und ich atme erleichtert aus. Glück gehabt. Nach der Episode gerade eben kann ich eines am wenigsten gebrauchen – das Interesse anderer Menschen, welches auf mich gerichtet ist.   „Glaub mir, Ruki“, spreche ich also weiter, als wäre nichts passiert, „spätestens, wenn ich mir die Verkaufszahlen am Ende des Monats ansehe, wird mir aufs Deutlichste bewusst, warum du hier arbeitest.“ Ich lege Ruki den Arm um die Schultern und führe ihn zurück hinter den Verkaufstresen, wo der hell erleuchtete Bildschirm des Laptops darauf wartet, von mir mit neuen Bestellungen und Inventarisierungen gefüttert zu werden. Ich mag der Inhaber des Kisekis sein, aber Ruki und Kai sind die Gesichter des Ladens.   „Tja, meinem Charme kann eben niemand so leicht widerstehen und Kais Lächeln zieht den Kunden ohne Anstrengung die Geldscheine aus den Taschen.“   „Wahrere Worte wurden nie gesprochen“, entgegne ich übertrieben blasiert, bevor mir aufgeht, was genau mein Freund soeben gesagt hat. Er hat recht, als ich das Kiseki noch allein geführt habe, waren die Kunden von meiner sozial unbeholfenen Art und anderen … Dingen … abgeschreckt gewesen und hatten nur das Nötigste gekauft. Seit Ruki und Kai hier arbeiten, schlendern Jung und alt durch die Reihen an Büchern, lassen sich beraten und nicht selten zu Spontankäufen hinreißen. „Was gäbe ich nicht alles für einen Bruchteil deines Selbstvertrauens“, murmle ich unbewusst, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet, und bemerke dabei nicht, wie sich meine Hand automatisch auf meine linke Wange legt, die zum Größten teil hinter langen Strähnen meines Haars verborgen ist. Erst Rukis zerknirschter Seitenblick lässt mich mein Verhalten bemerken. Unangenehm berührt bücke ich mich nach einem Aktenordner unter der Theke und ziehe ihn hervor, um darin zu blättern. Tarnung ist alles, sagt man das nicht so? „Ist Frau Yamadas Bestellung schon geliefert worden?“   „Ja, sie liegt hinter dir im Fach, Ruha ich …“   „Gut, ich rufe sie gleich an.“ Ich klemme mir den Aktenordner unter den Arm, nehme das schnurlose Telefon von der Ladestation und drehe mich von Ruki weg. Betont ruhig schlendere ich ins Büro, um den Anruf zu tätigen. Ich weiß, dass ich ihm mit meinem abrupten Abgang vor den Kopf gestoßen habe und dem Stechen in meiner Brust zu urteilen, hat auch mein Gewissen diesen Fehltritt bemerkt. Im Augenblick will ich jedoch nicht darauf eingehen. Die Narbe auf meiner linken Wange beginnt zu jucken, als würde sie mich daran erinnern wollen, dass sie immer ein Teil meines Lebens bleiben wird. Als könnte ich jemals vergessen, dass es lediglich einer kindlichen Unvorsichtigkeit bedurft hatte, um meine Zukunft grundlegend zu verändern.   Ich habe aufgehört mitzuzählen, zu wie vielen Gelegenheiten mir meine Ärzte gesagt haben, dass ich unglaubliches Glück hatte. Hätte sich das gezackte Eisenstück damals nach meinem Sturz vom Skateboard statt in meine Wange in mein Auge gebohrt, hätte ich blind werden können. Ich hätte mir auch die Halsschlagader aufschlitzen und an Ort und Stelle verbluten können, was ähnlich wenig erstrebenswert gewesen wäre. Mein Status als Glückspilz hat meine Klassenkameraden allerdings nie davon abgehalten, mich meines entstellten Aussehens wegen zu hänseln. Kinder können unglaublich grausam sein, ohne zu ahnen, wie ihre Worte das Leben eines anderen für immer prägen.   Narbenfratze. Monster. Missgeburt.   Geisterhafte Stimmen schrillen in meinen Ohren, bis ich energisch den Kopf schüttle und Frau Yamadas Bestellschein auf den Schreibtisch lege. Nur kurz suchen meine Augen nach ihrer Rufnummer, bevor ich diese in das Telefon zu tippen beginne. Ich hasse es, wenn mich meine Vergangenheit einholt, aber wenigstens lähmt sie mich nicht mehr vollständig, wie sie es früher getan hat. Ich habe gelernt, dass ich stärker als die Schatten bin, die mich verfolgen, und verstecke mich nicht mehr länger vor ihnen. Mittlerweile gehe ich sogar unter Menschen, auch wenn mich Kai noch immer mit Engelszunge überreden muss, Ruki und ihn in einen Klub zu begleiten. In diesen Tanztempeln, auf engstem Raum mit Fremden und mit dröhnender Musik in den Ohren, fühle ich mich nicht wohl. Ich glaube, das wird sich nie ändern, egal wie oft die beiden mir versichern, dass es mir irgendwann Spaß machen wird. Kurz schließe ich die Augen, lasse das Lächeln zu, das sich auf meine Lippen legt. Meine Gefühle sind heute die reinste Achterbahnfahrt, aber das ist okay. Auch solche Tage müssen sein, nicht wahr? Wäre Kai nun hier und würde meine Gedanken lesen, würde er heftig nicken und mir eines seiner strahlenden Lächeln schenken. Ach diese beiden. Wer hätte je gedacht, dass ausgerechnet ich in zwei so unterschiedlichen Persönlichkeiten meine besten Freunde finde? Ruki, quirlig und ein wenig verrückt und Kai, der Ruhepol, dem ich nie etwas abschlagen kann.   Mein Lächeln weitet sich, als sich am anderen Ende der Leitung die knorrige Stimme der alten Yamada meldet. Ich hoffe, dass sie meinen freundlichen Gesichtsausdruck hören kann, als ich sie spontan frage, ob ich ihr ihre Bestellung nach Hause bringen soll, denn ich will nicht, dass sie sich durch mein Angebot gekränkt fühlt. Jedoch ist meine Sorge unbegründet, als sie erfreut entgegnet: „Oh das wäre wunderbar, Herr Takashima. Herzlichen Dank.“   „Das mache ich gerne. Wäre es Ihnen recht, wenn ich in ungefähr einer Stunde bei ihnen bin?“   „Aber natürlich.“   Nachdem wir ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht haben, lege ich auf und recke beide Arme über den Kopf, um mich zu strecken. Die erste gute Tat des Tages, stelle ich in Gedanken fest und bin tatsächlich ein wenig stolz auf mich. Normalerweise müssen bestellte Bücher persönlich im Laden abgeholt werden, doch im Falle von Frau Yamada, die sich noch immer von ihrem Schlaganfall erholen muss, mache ich sehr gerne eine Ausnahme.   ~*~   Oh Gott, da ist er wieder. Augenblicklich halte ich die Luft an, als er das Kiseki betritt. Das Regenwetter hat ihm sichtbar zugesetzt, ich sehe sein Schaudern, als ihn die Wärme des Ladens umfängt. Als er sich die Kapuze vom Kopf zieht, sind seine blauen Haare nicht nur verwuschelt, sondern auch stellenweise durchnässt. Seiner Attraktivität leistet das keinen Abbruch. Ich schlucke, mahne mich, nicht zu starren, aber ich kann nicht anders. Um ehrlich zu sein, warte ich jeden Tag darauf, dass er vorbeikommt, nur um in heillose Panik zu verfallen, wenn er es tut. So auch jetzt. Wo sind Ruki und Kai? Ich weiß, dass die beiden hier irgendwo stecken, aber sie scheinen vom Erdboden verschluckt. Ich bete, dass er heute nur durch die Buchreihen schlendert und dann wieder geht. So aufgewühlt, wie ich noch immer bin, kann ich nicht garantieren, keine Dummheit zu begehen.   Nicht einmal der Besuch bei Frau Yamada hat es geschafft, mein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen. Der Zuckerschock durch ihre unfassbar guten Schokoladenkekse und viel zu viel Koffein in meinem Blut tragen auch nicht dazu bei, meine nervös flatternden Nerven zu beruhigen. Ich kann mich heute nicht mit ihm befassen! Vermutlich würde ich nicht einmal ein Guten Abend herausbekommen, wie er es gerade in den Raum spricht. Himmel, diese Stimme, dieser dunkle Timbre, der meinen Ohren schmeichelt, tut Dinge mit mir, über die ich nicht nachdenken will. Ist mein Verhalten unprofessionell? Natürlich, was für eine Frage, aber ich kann nicht aus meiner Haut. Zielsicher geht er auf die Regalreihen mit den Fantasy-Romanen zu, doch ich sehe die Bewegung seiner Lippen, weiß, dass er seine Schritte zählt.   Als er vor über einem Jahr zum ersten Mal in meinen Laden kam, war mir nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen. Als er seine Besuche zu einer wöchentlichen Routine machte, bemerkte ich Verhaltensweisen, die ich damals nicht einordnen konnte. Er ließ sich immer außergewöhnlich lange Zeit, jedes Buch anzusehen, hatte stets sein Smartphone in der Hand, um die Buchrücken mit der integrierten Taschenlampe besser auszuleuchten. Er reagierte nicht, wenn Kai oder Ruki, mit denen er sich im Handumdrehen angefreundet hatte, ihm nur winkten. Er zahlte immer bar, das Geld im Voraus passend abgezählt. Es waren Kleinigkeiten und im Nachhinein muss ich zugeben, dass ich zu sehr von ihm als Person fasziniert gewesen war, um mir mehr dabei zu denken.   Auch nach all der Zeit kann ich mich noch immer nicht an ihm sattsehen. Sein schönes, markantes Gesicht verfolgt mich regelmäßig bis in den Schlaf, und in sein Lächeln verliebte ich mich augenblicklich. Oh, dieses Lächeln. Meist ist es offen und herzlich, aber manchmal versteckt es sich kaum erkennbar in seinem Mundwinkel. Dann erinnert er mich an Bilder der Mona Lisa, geheimnisvoll und amüsiert, als wüsste er etwas, das er nie mit jemandem teilen wird.   Obwohl mein Herz jedes Mal durchdrehte, wenn er ins Kiseki kam, hatte ich mich schnell daran gewöhnt, ihn mindestens einmal die Woche zu sehen. Wie schnell war mir erst bewusst geworden, als seine Besuche ausblieben. Wochenlang war er spurlos verschwunden und ich kurz davor, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um nicht nur seinen Namen herauszufinden, sondern auch, was mit ihm passiert war.   Dann, vor nun beinahe einem Jahr, kam er wieder. Er sah exakt so aus, wie vor seinem Verschwinden, sein Lächeln hatte keine Spur seiner Wirkung auf mich verloren, und doch war alles anders. Seine Schritte waren zögerlicher, die Schultern konzentriert hochgezogen, während er den Bereich vor seinen Füßen mit einem Blindenlangstock abtastete. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)