Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 2: Sukuinushi – Retter ------------------------------ Aoi:   Na wunderbar, nun fängt es auch noch an zu Regnen. Ich ziehe mir die Kapuze meines Pullovers tiefer ins Gesicht und senke den Kopf, um dem beißenden Wind weniger Angriffsfläche zu geben. Neben mir Rauschen die Reifen der Autos auf der immer nasser werdenden Straße und übertönen beinahe den Signalton der Fußgängerampel, die drei Schritte vor mir liegt. Zur Absicherung taste ich mit der Linken nach der Ampel und dem daran befindlichen Kästchen, das zu vibrieren beginnt, kaum habe ich die Unterseite berührt. So gefällt mir das. Wer wartet bei diesem Mistwetter schon gerne auf das grüne Männchen?   Ein erleichtertes Seufzen entkommt mir, als ich mein Ziel endlich erreicht habe. Unter munterem Klingeln betrete ich den Laden, warme Luft schlägt mir entgegen und lässt mich unwillkürlich erschauern. Oh ja, hier zu sein ist wie nach Hause kommen, vor allem nach dem Tag, den ich hatte. Wie automatisch sinken meine Schultern herab und meine Gesichtszüge entspannen sich. Ich schiebe den Ärger über unfreundliche Gesprächspartner, nicht funktionierende Technik und ignorante Passanten beiseite und atme tief den angenehmen Geruch nach Kaffee, Büchern und Gewürzen ein, die mich an Besuche auf dem Weihnachtsmarkt erinnern. Und nun, da mir dieser Umstand aufgefallen ist, nehme ich auch die leise Weihnachtsmusik im Hintergrund wahr. Wie charmant. Normalerweise schätze ich gerade diesen Buchladen, weil mir hier für einmal nicht die Gehörgänge mit viel zu lauter Musik geputzt werden, doch da die Adventszeit bereits in den Startlöchern steht, sorgen die ruhigen Klänge zusätzlich für ein anheimelndes Ambiente.   Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und ich sage ein nicht allzu lautes Guten Abend in den Raum, erhalte jedoch keine Antwort. Auch gut, vermutlich ist Kai beschäftigt oder ist heute Rukis Abend? Ich habe schon wieder vergessen, wie die beiden arbeiten. Schande über mein Haupt. Meine Schritte führen mich tiefer in den Laden, immer dem leisen Rattern meines Stocks über die Dielen folgend. Zehn Schritte geradeaus, dann fünf nach links, bis ich das glatte Holz eines Regals unter meinen Fingerkuppen fühlen kann. In die Fantasy-Abteilung zieht es mich meist als erstes, wenn ich hierherkomme, immer auf der Suche nach einem neuen Abenteuer, in das ich mich vertiefen kann. Zu Hause habe ich mir bereits ein Hörbuch für meine abendliche Lektüre heruntergeladen und hoffe nun, dass ich das dazu passende Hardcover finde. Ich zücke mein Handy und schalte die Taschenlampe ein, bevor ich die Buchreihen vor mir besser ausleuchte. Es ist noch immer hart, nicht frustriert zu sein, während sich die Schriftzeichen auf den Buchrücken nur langsam aus dem trüben Grau meines immer weiter schrumpfenden Gesichtsfeldes schälen. Gefühlt dauert es eine Ewigkeit, in Wahrheit nur etwas weniger als eine Minute, bis sich meine Augen soweit an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben, dass ich mit meiner Suche beginnen kann. Ich lese langsam, sehr langsam und vieles errate ich, weil ich die Titel bereits kenne. Aber hey, habe ich etwas anderes vor? Eher nicht.   Irgendwo von rechts vernehme ich Rukis Stimme und muss lächeln. Egal wann ich hier bin, der kleine Mann hört sich immer gehetzt an.   „Kai. Kai?“   „Ja?“   Ah, dann ist heute einer der seltenen Tage, an denen die beiden gleichzeitig im Laden sind. Wie schön, vielleicht haben sie nachher Lust und Zeit für ein kleines Pläuschchen.   „Ist Uruha schon wieder zurück? Ich muss ihm unbedingt …“   „Pscht.“   „Hm? Was denn?“   „Ich denke, du solltest ihn im Moment besser nicht stören.“   „Was? Waru… oh.“ Ruki stockt, ,bevor ich ein leises Lachen vernehmen kann. „Oh Mann, ernsthaft?“   „Ernsthaft. Uruha hat sich nicht mehr bewegt, seit er reingekommen ist.“   „Wir sollten ihm sagen, dass Starren unhöflich ist.“   „Wag es bloß nicht. Ich bin froh, dass er mal für etwas anderes Interesse zeigt als für seine Bücher.“   „Na, wohl besser für jemand anderes, was? Er sieht heute aber wirklich gut aus. Diese Lederjacke und dann noch die leicht feuchten, blauen Haare, mmmh.“   „Ruki!“, zischt Kai, „nicht so laut.“   Ich muss mich zusammenreißen, nicht auffällig beschämt den Kopf zu senken. Reden die beiden über mich? Nein, das … oder doch? Wie groß sind die Chancen, dass noch ein Typ in Lederjacke mit blau gefärbten Haaren im Laden herumsteht? Da ist die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden mein aufmerksames Gehör unterschätzt haben, deutlich höher. Heißt das etwa …? Ein verstohlenes Lächeln kriecht auf meine Lippen und ich drehe den Kopf weg von der Stelle, aus der ich Rukis und Kais Stimmen gehört habe. Ein wildes Kribbeln macht sich in meinem Magen breit und Wärme durchflutet mich.   Es ist immer der Höhepunkt jedes Besuches hier, wenn ich es schaffe, den wortkargen Besitzer dieses Ladens dazu zu bringen, ein paar Sätze mit mir zu wechseln. Ich mag seine Stimme, die ruhige, bedachte Art, wie er spricht. Ich habe mir schon lange eingestanden, dass ich einen Narren an ihm gefressen habe und dass auch er der Grund dafür ist, weshalb ich so gern hierher komme.   Langsam drehe ich mich von dem Regal weg und beginne bedacht, in Richtung der Kasse zu gehen. Ich habe bislang nie versucht, Uruha in ein längeres Gespräch zu verwickeln, weil ich immer eine gewisse Reserviertheit mir gegenüber gespürt habe, aber wenn Ruki und Kai eben die Wahrheit gesagt haben und ich nicht komplett auf dem Holzweg bin, dann … Mein inneres Kind beginnt zu Kichern und sich die Hände in Vorfreude zu reiben. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich zum letzten Mal so aufgeregt war und dieses Gefühl als positiv empfunden habe. So sehr bin ich in meinen Gedanken versunken, dass meine Schritte automatisch schneller werden und ich nicht mehr richtig darauf Achte, was vor mir liegt. Mein Stock knallt gegen etwas, kurz bevor ich Uruhas erschrockene Stimme höre.   „Vorsicht!“   Aber es ist zu spät; ich bleibe mit der Spitze des Langstocks an etwas Schwerem hängen, mein Arm dreht sich zur Seite weg und ich spüre, wie ich nach vorne kippe. Ich habe noch Zeit, mit dem anderen Arm zu rudern, um irgendwie mein Gleichgewicht wiederzufinden und mir zu denken, wie dämlich ich aussehen muss. Es hilft jedoch alles nichts und mir bleibt nichts weiter zu tun, als in Vorahnung des kommenden Aufpralls die Augen fest zusammenzukneifen. Doch der Aufprall kommt nie. Stattdessen spüre ich einen festen Griff um meinen Oberarm und einen Ruck, der mich wieder auf beide Füße befördert.   „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, keucht Uruha neben mir und der erste Gedanke, der mir in den Kopf schießt, ist, dass ich zu gern gesehen hätte, wie er so schnell an meine Seite hatte gelangen können. War er über den Tresen der Kasse gehechtet? Mein Held. Ich muss mir ein aufgekratztes Kichern verkneifen, welches zum Teil meinen idiotischen Überlegungen und zum Teil dem Adrenalin geschuldet ist, das durch meine Adern jagt. Verdammt, das hätte übel ausgehen können. „Haben Sie sich etwas getan?“, erkundigt sich Uruha erneut bei mir und jetzt erst fällt mir auf, dass ich mich noch immer nicht bewegt habe, und verkrampft im Griff des anderen verharre.   ‚Toll gemacht, Aoi, so bekommt er gleich den besten Eindruck überhaupt von dir.‘  Ich verkneife mir ein Seufzen, richte mich auf und streiche über meine Kleidung, nachdem Uruha mich losgelassen hat. „Dank Ihrer schnellen Reaktion geht es mir gut“, entgegne ich und schicke ein schiefes Lächeln in Uruhas vage Richtung. „Nur mein Stolz hat ein paar Beulen abbekommen, aber damit wird er leben müssen.“   „Es tut mir so leid. Wir haben heute eine große Lieferung für das Weihnachtsgeschäft bekommen und sind noch nicht dazugekommen, alles wegzuräumen.“ Das Schuldbewusstsein des Ladenbesitzers ist unverkennbar in seiner Stimme zu hören, also schüttle ich schnell den Kopf und taste in seine ungefähre Richtung, bis ich seinen Unterarm streife. Leicht drücke ich zu und drehe mich nun ganz zu ihm.   „Es ist alles gut, mir ist nichts passiert … Dank Ihnen.“ Ich höre ihn etwas murmeln, was sich ganz nach: „Hätte ich meine Arbeit besser gemacht, wäre wirklich nichts passiert“, anhört und beschließe spontan, dass ich für sein schlechtes Gewissen nicht verantwortlich sein will. Mangels einer besseren Idee taste ich mich also bis zu seiner Hand vor, die ich umfasse und ein paar Mal kräftig schüttle. „Mein Name ist übrigens Aoi“, rede ich munter weiter und lächle ihn breit an. „Ich behaupte jetzt einfach mal, dir beinahe vor die Füße zu fallen, berechtigt mich dazu, deinen Vornamen zu erfahren, was meinst du?“ Es ist nicht so, dass ich seinen Namen dank Ruki und Kai nicht längst kennen würde, aber das wiederum muss er nicht wissen.   „Ehm … ich … Uruha“, stottert er auf entzückende Art und Weise, während seine kalte Hand bewegungslos in der meinen verharrt. “Mein Name ist Uruha.“ Nun zucken seine Finger und für einen kurzen Moment erwidert er den Handschlag, bevor ich ihn aus dieser für ihn unangenehmen Situation entlasse und meine Hand zurückziehe.   „Freut mich, Uruha.“   „Ja, mich auch. Also … Du wolltest zur Kasse, oder? Hast du schon gefunden, wonach du gesucht hast?“ Mit sanftem Druck an meinem Oberarm dirigiert er mich um das Hindernis, bis mein Stock gegen das Holz der Theke stößt, gegen die ich mich lehne.   „Wenn ich ehrlich bin, wollte ich gar nicht zum Bezahlen zu den Kassen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)