Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 3: Shoujiki - Ehrlichkeit --------------------------------- Uruha:   Mein Herz rast noch immer. Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, hätte ich ihn auch nur ein paar Sekunden später erreicht. Ich hätte es mir nie verziehen, hätte er sich wegen meiner Unfähigkeit, mich heute zu irgendetwas aufraffen zu können, ernsthaft verletzt.   „Ehm, Uruha?“, sagt er leise, zögernd, als wäre er sich nicht sicher, ob ich vor ihm stehe. Natürlich ist er das nicht. Ich bin so ein Idiot.   „Ich bin hier“, beeile ich mich zu sagen, und halte mich gerade so noch davon ab, mir vor den Kopf zu schlagen. Erst zerre ich ihn wie ein Berserker von den Kartons nicht ausgepackter Bücher weg und dann lasse ich ihn ohne weitere Worte vor der Kasse stehen, weil ich mich so schäme. Kein Wunder, dass er die Orientierung verloren hat. „Wir stehen vor den Kassen. Also besser gesagt, du stehst vor und ich hinter den Kassen.“ Mein Lachen klingt selbst in meinen Ohren gepresst und peinlich berührt – es käme einem Weltwunder gleich, wenn er es nicht bemerkte.   Aber Aoi ist und bleibt der wunderbare Mann, dem ich schon seit Monaten schöne Augen mache, wenn man Rukis Worten glauben will, und lächelt mich liebenswert an.   „Danke für die Aufklärung, Uruha.“   Und da ist er wieder; mein Name aus seinem Mund. Ob es auffällt, wenn ich an Ort und Stelle schmelze? Bei meinem Glück schon. Ich verkneife mir ein Seufzen und erwidere das Lächeln, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er meinen Gesichtsausdruck überhaupt erkennen kann. Was er wohl noch sieht? Diese Frage brennt unter meinen Fingernägeln, aber selbst ein Trampel wie ich weiß, dass sie zu stellen schlichtweg unhöflich wäre.   „Wenn du mir verrätst, nach welchem Buch du gesucht hast, bringe ich es dir.“ Meine Worte sind unbeholfen, allem voran, weil ich über die so vertraute Anrede stolpere. Ich kann es noch gar nicht fassen, dass er mir seinen Namen gesagt hat! Natürlich kannte ich ihn schon, aber ihn gesagt zu bekommen, ist etwas ganz Besonderes, zumindest für mich. Aoi. Es muss ein Spitzname sein, vielleicht seiner Haarfarbe wegen? Unwillkürlich steigt in mir die Frage auf, wer ihm diesen gegeben hat. Himmel, ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser Mann immer mehr zum Enigma wird, je mehr ich von ihm erfahre.   „Ja~“, kommt lang gezogen von ihm, bevor er sichtbar die Schultern strafft und das Lächeln wieder auf seine schönen Lippen zaubert, das für einen Sekundenbruchteil verschwunden war. Habe ich etwas Falsches gesagt? Doch bevor ich jedes meiner Worte der letzten Minuten analysieren kann, um meinen Fauxpas ausfindig zu machen, redet Aoi weiter. „Da hast du mich jetzt eiskalt erwischt.“   Ja, habe ich? Meine Stirn legt sich in Falten, während ich angestrengt darüber nachdenke, was er nun wieder meint.   „Genaugenommen habe ich nicht wirklich nach einem Buch gesucht. Also ja, schon, aber vielmehr habe ich gehofft, dass so etwas wie gerade passieren könnte.“   „Ehm … so etwas, wie dass du mit der Nase auf dem Boden gelandet wärst, wäre ich nicht schnell genug gewesen, um genau das zu verhindern?“   Ich bin so überrumpelt, dass ich einfach reagiere und drauflos rede, ohne über meine Worte nachzudenken. Als mir bewusst  wird, was ich gesagt habe, würde ich am liebsten im Boden versinken. Bevor ich versuchen kann, Schadensbekämpfung zu betreiben, höre ich das schönste Geräusch, das je an meine Ohren gedrungen ist. Aoi lacht. Kein Lächeln, kein kurzes Schnauben oder amüsiertes Glucksen – nein, ein herzhaftes Lachen, das seinen ganzen Körper zum Beben bringt und kleine Tränchen in seine Augenwinkel zaubert.   „Was für eine Vorstellung“, prustet er und wieder bin ich verunsichert. Ist es okay, über sein unverschuldetes Missgeschick zu lachen? Nein, eindeutig nicht, aber er wirkt ehrlich amüsiert über die ganze Situation, obwohl er jedes Recht hätte, wütend auf mich zu sein. Schließlich bin ich mit schuld daran, dass die Kisten noch immer nicht ausgeräumt sind und im Weg herumstehen.   „Ich hätte zu gern gesehen, wie du wie ein Superheld über den Tresen gesprungen bist, um mich davor zu bewahren, den Boden zu küssen.“   „Das … war bei Weitem weniger spektakulär, als du es klingen lässt“, murmle ich und kann mir ein kleines Schmunzeln doch nicht verkneifen. „Aber wonach genau hast du gesucht, wenn nicht nach einem Buch?“ Die Frage nagt noch immer an mir und ich stelle sie, bevor ich überlegen kann.   „Ich hatte gehofft, endlich mit dir ins Gespräch zu kommen und voilà, es hat geklappt.“ Aoi grinst mich an und wirkt plötzlich wie ein Schuljunge, der etwas ausgefressen hat.   „Du wolltest … aber warum?“ Ich blinzle fassungslos und ein noch leises Surren lässt meine Ohren klingeln. Er wollte mit mir ins Gespräch kommen, mit mir? Mein Atem beschleunigt sich und mein Herzschlag, der sich erst vor wenigen Minuten beruhigt hat, setzt zum nächsten Marathon an.   „Ich mag deine Stimme“, nuschelt er, als wäre ihm dieses Geständnis ungeplant über die Lippen gekommen. Meine Ohren werden heiß und die Fähigkeit, Worte aneinanderzureihen und Sätze zu bilden, ist gerade ausgeflogen.   „Du findest … ich meine …“   „Ehm ja.“ Er fährt sich durchs Haar, eine Geste, die Hitze durch meinen Körper jagt. „Vergiss, was ich gesagt habe. Für Sehende klingt das wie eine plumpe Anmache, ich weiß, aber so war das nicht gemeint, ehrlich. Ich wollte nur … Also, was ich eigentlich sagen wollte …“   „Danke für das Kompliment“, flüstere ich, weil ich befürchte, meine Stimme versagt, sobald ich versuche, lauter zu sprechen. „Ehrlich, das hat noch niemand zu mir gesagt.“   „Das glaub ich sofort.“ Aois Lächeln ist schief, leicht beschämt, aber auch irgendwie erleichtert. Dachte er wirklich, ich würde auf so eine schöne Aussage hin negativ reagieren? „Du bist nicht gern direkt mit deinen Kunden beschäftigt, oder?“   „Was? Nein, wie kommst du darauf?“   „Ich hatte nur den Eindruck gewonnen, dass du lieber im Hintergrund bleibst oder warum sonst haben wir vorher noch nie ein Wort miteinander gewechselt?“   Mein Mund steht leicht offen, als Aois suchende Augen plötzlich innehalten und direkt in die meinen sehen. Ertappt will ich die Lider senken, aber die Intensität, mit der er mich betrachtet, lässt mich wie eingefroren verharren. Sieht er mich? Was sieht er? Ich habe das Gefühl, als würde sein Blick all meine Barrieren durchdringen und bis auf den Grund meiner Seele reichen.   „Bitte entschuldige, wenn ich dir den Eindruck vermittelt habe, dass ich nicht mit dir sprechen will, aber du hast recht. Der Umgang mit anderen fällt mir schwer und ich bin immer froh, wenn Ruki oder Kai die Kundengespräche für mich übernehmen.“   Oh Gott, warum erzähle ich ihm das alles? Meine Hand vergräbt sich in meinen Haaren und beinahe hätte ich dem Drang nachgegeben, kräftig an meinen Strähnen zu ziehen. Aois nächste Worte retten mich jedoch vor einer weiteren Peinlichkeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)