Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 5: Akogare – Sehnsucht ------------------------------ Uruha:   Ich versuche, nicht zu lauschen, während ich die erste Kiste öffne und hineinsehe. Das Buch zu finden, könnte sich als Sisyphosaufgabe entpuppen, wenn ich mir die Lieferung so betrachte. Wo haben sich Ruki und Kai versteckt? Seit Aoi den Laden betreten hat, habe ich die beiden nicht mehr gesehen. So sehr ich diesen Anflug von Rücksichtnahme auf meine Privatsphäre bis eben geschätzt habe, jetzt könnte ich die beiden gut gebrauchen.   „Was, wie spät ist es? Mist, es tut mir leid“, sagt Aoi in diesem Moment und ich sehe auf, allerdings ist er noch immer am Handy. Sein Gesicht ist verkniffen und er hat begonnen, nervös mit den Fingern auf das Holz der Theke zu trommeln. „Ich bin im Kiseki und hab die zeit total vergessen. Ja, schon wieder, na und? Nein, ich hab kein Taxi genommen und ja, ich bin schon groß, Reita.“ Nun rollt er mit den Augen und ich bemerke, dass ich nicht nur gelauscht habe, sondern ihn auch die ganze Zeit wie eine Erscheinung anstarre. Nur, weil er mich nicht oder nicht richtig sehen kann, heißt das nicht, dass das ein Freifahrtschein zum Begaffen ist, verdammt! „Ja, ich mach mich auf den Weg. Nein, du musst mich sicher nicht abholen.“ Er knurrt, eindeutig ein Laut der Unzufriedenheit, also warum rinnt mir dann ein Schauer über den Rücken? Ob es auffällt, wenn ich mir die Ohren zuhalte? Vermutlich, aber wie sonst soll ich mich davon abhalten, wie ein Idiot an seinen Lippen zu hängen? Wer dieser Reita wohl ist? Er scheint sich Sorgen um Aoi zu machen. „Ich …“ Er atmet tief ein und im selben Moment verflüchtigt sich seine Anspannung. Dafür legt sich auf sein Gesicht ein so von Zuneigung geprägter Ausdruck, dass ich nicht weiß, was ich fühlen soll. „Du hast ja recht, Rei, ich weiß, wie wichtig das für mich ist.“ Er fährt sich durch die mittlerweile wieder trockenen Haare. „Ich bin vorsichtig, versprochen. Ja, mach ich. Dito.“ Noch bevor sich die Frage, ob Reita Aois Freund sein könnte, in mein Herz fressen kann, legt er auf und seufzt lang gezogen. „Uruha?“   „Ja.“ Ich muss mich räuspern, meine Kehle wie ausgetrocknet. „Ich knie ein paar Schritte vor dir auf dem Boden und wühle mich durch die Lieferung. Leider hab ich das Buch noch nicht gefunden.“   „Das macht nichts. Ich muss jetzt auch los. Tut mir leid, dir umsonst Arbeit gemacht zu haben. Vielleicht kann ich es die Tage abholen?“   „Aber dein Leseabend.“   „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, oder wie heißt es so schön?“   Er versucht sich an einem Lächeln, aber ich sehe genau, wie unzufrieden er ist. Will er nicht gehen? Oder will er nur nicht zurück in seine Wohnung? Eben hörte es sich danach an, als hätte er einen Termin vergessen. Ob es ein Date mit diesem Reita war? Mh, eher nicht. Vielmehr hatte ich den Eindruck, als wäre ihm etwas entfallen, dass für ihn von Wichtigkeit gewesen wäre. Ein Besuch beim Arzt vielleicht?   ‚Mann Uruha, schlimm genug, dass du gelauscht hast, jetzt spiel dich nicht noch als Detektiv auf.‘ Trotz der innerlichen Ermahnung an mich selbst surren die Fragen wie Wespen in meinem Kopf und lassen mich schwindeln. Kann er nicht einfach bleiben? Von mir aus auch die ganze Nacht. Ich mag es, mich mit ihm zu unterhalten, fühle mich in seiner Gegenwart für einmal nicht gehemmt und so, als müsste ich mich vor ihm verstecken. Ist es unfair von mir, so zu empfinden? Vermutlich, aber ich kann nicht aus meiner Haut.   „Damit hast du natürlich recht.“ Auch ich zwinge ein Lächeln auf meine Lippen, befürchte jedoch, dass Aoi meine Enttäuschung aus meiner Stimme heraushören kann. Schnell rapple ich mich vom Boden auf und gehe zu ihm, bleibe circa eine Armeslänge vor ihm stehen. „Kann ich dich zur Tür begleiten?“   „Sehr gern.“ Er nimmt den Blindenstock in die linke Hand und streckt die Rechte in meine Richtung, bis seine Fingerspitzen kaum spürbar gegen den Stoff meines Hemdes stoßen. Automatisch positioniere ich mich so, dass er meinen Ellenbogen ertasten und sich einhängen kann, was er auch sogleich tut. „Wow“, murmelt er und schenkt mir ein feines Lächeln.   „Was denn?“   „“Hast du schon öfter jemanden geführt, der schlecht oder nichts sieht?“   „Ehm … nicht dass ich wüste?“   „Dann musst du ein Naturtalent sein.“ Sein Lächeln weitet sich zu einem Grinsen und wir setzen uns in Bewegung. „Du glaubst gar nicht, wie viele Worte oft nötig sind, bis ich mich bei einem Sehenden so festhalten kann, dass ich mich sicher genug fühle. Die meisten denken, es wäre angebracht, mich irgendwohin zu schieben oder mich an der Hand zu nehmen, als wäre ich ein kleines Kind. Versteh mich nicht falsch, ich weiß, dass das nur einer allgemeinen Unwissenheit geschuldet ist, aber umso angenehmer ist es gerade mit dir.“   Meine Ohren werden heiß und meine Wangen müssen glühen wie Rudolfs berühmte Nase, als ich registriere, was genau er gesagt hat. Es ist angenehm mit mir. Um ein Haar will mir ein hysterisch-begeisterter Laut entkommen, den ich mit aller Macht zurückdränge. ‚Uruha, beruhig dich, er hat nicht von dir als Person gesprochen, sondern von der Art und Weise, wie du auf ihn eingehst. Himmel noch mal.‘   „Dann bin ich wirklich sehr froh, es gleich richtig gemacht zu haben, obwohl ich auch zu den eher Unwissenden gehöre“, gebe ich schlussendlich zu und bleibe stehen, als wir an der Tür des Ladens angekommen sind. „Falls du noch ein paar Minuten warten willst, könnte ich dich auch bis zur U-Bahn begleiten? Ruki hat mich ohnehin schon geschimpft, weil ich noch immer im Laden bin, obwohl ich seit um vier Feierabend habe.“ Ich lache leise, als ich mich an Rukis Worte zurückerinnere, die keineswegs so zivilisiert ausgefallen waren, wie ich sie klingen lasse.   „Das ist ein unglaublich liebes Angebot von dir, danke Uruha, aber ich muss es ausschlagen.“   „Oh, warum? Also nicht, dass du verpflichtet wärest, es anzunehmen, aber was spricht dagegen? Ich bin öffentlich hier und würde sowieso mit der U-Bahn fahren.“   „Das ist es nicht. Ich … Vermutlich ist das schwer nachzuvollziehen, aber ich habe recht viel Zeit und Energie investiert, um den Weg hierher wieder zu erlernen, ich sehe das als mein Training an. Wäre doch eine Schande, das alles zu verlernen, weil ich nicht regelmäßig übe, nicht wahr?“ Wieder fährt er sich durch die Haare und nach einem kurzen Zögern, in dem ich den Eindruck gewinne, dass er intensiv lauscht, zieht er sich die Kapuze seines Pullovers über den Kopf. „Außerdem hat mein Stolz bei meiner Beinahe-Kollision mit den Kisten vorhin einen ziemlichen Dämpfer einstecken müssen. Es wird höchste Zeit, die Beulen wieder auszubügeln.“   Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder, ohne, dass mir ein Laut über die Lippen gekommen wäre. Aoi ist ein äußerst komplexer Mann, stelle ich fest und fühle, wie das wilde Kribbeln in meinem Magen zu einer wohligen Wärme wird, die sich in meinem Körper auszubreiten beginnt. Komplex und so interessant, dass ich ihn nur zu gern besser kennenlernen möchte.   „Das verstehe ich. Vermutlich kannst nicht mal du einen verbeulten Stolz rocken.“ Für eine Sekunde reagiert er nicht und ich befürchte, übers Ziel hinausgeschossen zu sein, dann beglückt er mich ein weiteres Mal mit dem wunderschönen Klang seines Lachens.   „Ich sehe schon, wir verstehen uns.“ Kurz drückt er meinen Oberarm, dann lässt er von mir ab und tastet nach der Türklinke. „Es war wirklich schön, sich mit dir zu unterhalten, Uruha. Ich würde mich freuen, wenn wir das wiederholen könnten.“   „Ich bin die ganze Woche über abends hier …“ Ich lasse den Satz unvollendet, aber das Lächeln, das an seinem rechten Mundwinkel zupft, zeigt mir, dass er mich verstanden hat.   „Schönen Abend, Uruha.“   „Dir auch und komm gut nach Hause.“   Das Glöckchen klingelt munter, als Aoi die Tür aufzieht und nach draußen in den Regen tritt. Der unangenehme Lärm der Straße schneidet wie ein Messer durch die harmonische Atmosphäre, die in den letzten Momenten zwischen uns geherrscht hat. Als wäre ich es, der hinaus in die feuchte Kälte des Abends tritt, erschauere ich und hätte Aoi am liebsten davon abgehalten, zu gehen. Aber wer bin ich schon, mich einzumischen, ich kenne ihn ja kaum. Dennoch kann ich nicht anders, als ihm noch einige Momente hinterherzusehen, bis seine Form von den Menschen und der nächtlichen Stadt verschluckt wird. Unwillkürlich entkommt mir ein Seufzen und ich lasse die Tür ins Schloss fallen. Plötzlich ist die Stille ohrenbetäubend laut. Ob er morgen wiederkommt? Oder habe ich gerade meine einzige Chance ziehen lassen? Verflucht. Wie kann ich ihn jetzt schon vermissen? Ich bin doch sonst nicht so emotional, vor allem nicht, wenn es um meine lieben Mitmenschen geht.   Eine warme Hand legt sich auf meine Schulter und ich zucke zusammen, bevor ich erkenne, dass es nur Kai ist, der sich neben mich gestellt hat. Sein Lächeln ist warm wie immer und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass ihm ein Wissen innewohnt, das mir selbst noch verborgen ist.   „Seit ich hier arbeite, habe ich dich noch nie so gelöst mit einem Kunden reden hören.“   „Das glaub ich dir sofort“, schnaube ich und drehe mich weg, bevor meinem Freund einfällt, mein Verhalten Aoi gegenüber weiter zu kommentieren. „Kannst du mir morgen früh mit der Lieferung helfen? Ich hab jetzt keinen Nerv mehr dafür.“   „Aber klar, Uruha.“   Kais Seufzen klingt in meinen Ohren nach und verfolgt mich bis ins Büro, wo ich mir Mantel und Schal überziehe. Morgen werde ich mich bei ihm für mein abweisendes Verhalten entschuldigen, aber jetzt ist mein Kopf dafür zu voll. Aoi, immer nur Aoi, an mehr kann und will ich heute nicht mehr denken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)