Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 6: Sainan – Unglück --------------------------- Aoi:   Ein langes und, würde man Reita fragen, theatralisches Ächzen kommt mir über die Lippen, während ich meine Liegeposition auf dem Sofa minimal verändere. Die monotone Stimme des Sprechers meines aktuellen Hörbuchs schwadroniert weiter über Investmentfonds und Staatsanleihen – wieso nur habe ich mich für ein Hörbuch über Finanzanlagen entschieden? Ich habe das Gefühl, mein Hirn läuft mir jeden Moment aus den Ohren. Natürlich nur, würde ich den Elan besitzen, mir die Ohrhörer aus besagten Lauschern zu ziehen. Angenehmer Nebeneffekt dieser Tätigkeit wäre, dass ich mich wieder selbst denken hören oder mich wenigstens mit etwas Amüsanterem ablenken könnte. Beides ist jedoch keine Option. Im Moment kann ich mir nichts vorstellen, dass mich auf irgend eine Weise aufheitern würde, und meine Gedanken sind das Letzte, dem ich freien Lauf lassen will. Nicht, nachdem ich heute Nacht von Uruha geträumt habe und ohnehin gefühlt jede Minute jedes Tages an ihn denken muss. Da! Ich tue es schon wieder!   Krampfhaft kneife ich die Augen zusammen – nicht, dass es viel an der Wahrnehmung meiner Umgebung ändern würde. Ich liege im dunklen Wohnzimmer und meine Sehkraft reicht gerade so weit, dass ich hier und da das Leuchten einer Diode der Elektrogeräte erahnen kann, die mich umgeben. Schließe ich die Augen, flackern geisterhafte Lichtpunkte und abstrakte Formen hinter meinen Lidern– ein Nachhall meiner sterbenden Sehzellen, wie mir ein Augenarzt einmal erklärt hat. Nichts Neues also auch an dieser Front.   Himmel, wie sehr ich die Tage hasse, an denen mich derart depressive Gedanken in ihrem Griff haben. Wieder seufze ich, diesmal wandelt sich der Laut jedoch in ein erschrockenes Einatmen, als Finger, die definitiv nicht meine sind, mir die Kopfhörer aus den Ohren ziehen.   „Mensch Aoi, willst du den ganzen Abend wie ein gammliger Käse auf der Couch herumliegen?“   „Deine Vergleiche waren auch schon mal spannender. Wie kommst du darauf, mich mit einem Käse gleichzusetzen?“   „Keine Ahnung, ist mir so eingefallen und hey, ich hab mein Ziel erreicht. Du hast gerade mehr gesprochen, als den ganzen Tag über.“   „Reita, was willst du, nerv mich nicht“, maule ich und fuchtle mit der Rechten in der Luft herum, im zwecklosen Versuch, die Ohrhörer wieder in meinen Besitz zu bringen. „Gib schon her und lass mich in Ruhe.“   „Ich treffe mich gleich mit Tora, willst du mitkommen?“   „Nein, will ich nicht. Ich bin nicht gern das fünfte Rad am Wagen.“ Reita seufzt und mir bleibt nicht verborgen, dass ihm mein abweisendes Verhalten auf die Nieren schlägt. Er war schon immer der Sensiblere von uns beiden, auch wenn er das nie zugeben würde. Ich richte mich auf, Zeige und Mittelfinger gegen meine Nasenwurzel gepresst, um die aufziehenden Kopfschmerzen ein wenig länger in Schach zu halten. „Tut mir leid, Rei, ich weiß, dass ich unerträglich bin.“   „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung“, murrt er und ich spüre, wie das Polster des Sofas neben mir nachgibt. Eine warme Hand legt sich auf meinen Rücken, fährt langsam, beruhigend auf und ab. „Warum nimmst du dir nicht ein Taxi und fährst zu ihm? Das Kiseki hat noch zwei Stunden geöffnet. Vielleicht arbeitet er noch und wenn nicht, kannst du dir wenigstens dieses Buch holen, das dich so interessiert.“   „Ich will nicht mit dem Taxi fahren“, entgegne ich bockig und verschränke die Arme vor der Brust, als hätte Reita ohne diese Geste nicht bemerkt, dass ich mich aufführe wie ein Kleinkind. „Solange ich diese dumme Schiene tragen muss, werde ich nirgendwohin gehen.“ Um meine Worte zu verdeutlichen, hebe ich den linken Fuß, an dem sich eine aufblasbare Stützschiene befindet. „Wer zu dumm zum Laufen ist, muss auch nicht nach draußen gehen.“   „Sei nicht so streng mit dir, Blue.“ Reitas Worte sind sanft, genau wie seine Finger, die begonnen haben, meinen Nacken zu massieren. „Das hätte jedem passieren können.“   „Ach ja? Ich bin mir sicher, du hättest das Schlagloch gesehen, in das ich so professionell meinen Fuß gesteckt habe.“   „Ja, vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Come on.“   „Das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass das nicht passiert wäre, wenn ich auf dich gehört hätte.“ Ich lasse den Kopf hängen und ziehe die Nase hoch, die gefährlich zu kribbeln begonnen hat. Es ist ein Zeichen, wie lange und gut Reita mich kennt, denn er sagt nichts darauf und drückt mir nur einen langen Kuss auf die Schläfe. „Ich hätte mich von dir abholen lassen sollen oder wenigstens ein Taxi nehmen. Aber ich war so glücklich, Uruha endlich dazu gebracht zu haben, mehr als nur Höflichkeiten mit mir zu wechseln, dass ich dieses Gefühl noch länger nur für mich behalten wollte, verstehst du das?“ Ich spüre sein Nicken, denn sein Kopf lehnt gegen den meinen, sein Atem ein ruhiger Hauch an meinem Hals, der mich wie nichts anderes zu beruhigen weiß. Als ich weiterrede, muss ich mich zusammenreißen, um nicht weinerlich zu klingen.  „Ich wollte doch nur allein nach Hause kommen, ohne Hilfe. Aber nein, das war mal wieder zu viel verlangt, und jetzt schäme ich mich zu sehr, um zu ihm zu fahren.“   „Dein Uruha würde niemals schlecht über dich denken, weil du einen Unfall hattest. Versuch gar nicht erst, dir etwas in diese Richtung einzureden.“   „Ich weiß, aber ich schaffe es nicht, über meinen Schatten zu springen. Ich bin so wütend auf mich, dass mir das passiert ist … Außerdem ist er nicht mein Uruha.“ Jetzt klinge ich weinerlich und kann rein gar nichts dagegen tun.   „Noch nicht, wenn du mich fragst.“   Ich höre das Grinsen aus seiner Stimme. Reitas Zuversicht, sein unerschütterlicher Glaube in mich sind es, die die abweisende Mauer aus Wut und Selbsthass niederreißen, die ich in den letzten Tagen um mich errichtet habe. Meine Augenwinkel brennen verräterisch und endlich kann ich es zulassen, schwach zu sein. Ich lehne mich zur Seite, bis sich Reitas Arme um mich schlingen und mich fest gegen seinen warmen Körper ziehen.   „Verdammt, Rei, es nervt mich so. Alles ist noch anstrengender geworden. Kann das nicht endlich aufhören? Ich hab keinen Bock mehr auf die Scheiße!“   „Ich weiß.“ Jeden anderen hätte ich angekeift, dass er gar nicht wissen könne, wie es mir geht, aber nicht ihn. Wenn jemand meine Situation versteht und sich in mich hineinfühlen kann, dann ist es Reita. Ich spüre, wie ich mich in seiner Umarmung zu entspannen beginne, sich die Feuchtigkeit in meinen Augen zurückzieht, ohne Tränen Platz gemacht zu haben.   „Es tut mir wirklich leid“, murmle ich jämmerlich und vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge. „Ich weiß, dass immer du es bist, der meine schlechte Laune abbekommt.“   „Schon gut, ich bin schon groß, ich kann mich wehren“, scherzt er und entlockt mir damit tatsächlich ein kurzes Auflachen. „Also, wie sieht es aus, bekomme ich den gammligen Käse vom Sofa und in etwas Anständiges zum Anziehen?“   „Sei mir nicht böse, aber es bahnen sich Kopfschmerzen an, ich will heute wirklich nicht mehr weggehen.“   „Sicher?“   „Ja.“   „Aber nur, wenn du mir versprichst, dir was Gutes zu tun. Nimm ein Bad, bestell dir ‘ne Pizza oder hör dir wenigstens etwas Spannenderes an, als diesen Finanzquatsch. Wenn du so drauf bist, werde ich das Gefühl nicht los, dass du dich für deine Behinderung bestrafen willst.“   „Mmmh. Ich weiß gerade nicht, was ich darauf sagen soll. Reitas Worte schneiden tief, vermutlich, weil sie der Wahrheit unangenehm nahekommen. Es sind Gedanken an Unzulänglichkeit, Angst vor Hilflosigkeit und der Sorge, irgendwann nicht mehr gebraucht zu werden, eine Last für alle zu sein, die mir etwas bedeuten, die mich an Tagen wie diesen regelrecht lähmen. „Ich werde mir ein Bad einlassen, das ist eine gute Idee“, verspreche ich und hebe den Kopf, um in Reitas Richtung sehen zu können. Es spricht für ihn, dass er das Licht nicht angeknipst hat, sich dadurch mehr oder weniger auf meine Wahrnehmung der Welt einlässt. Ich streiche seine Brust hinauf, bis ich seine Wange finde. Erst dann lehne ich mich vor und drücke ihm einen dankbaren Kuss auf den Mundwinkel. „Und du sagst Tora ganz liebe Grüße von mir, okay? Beim nächsten Mal komme ich wieder mit, versprochen.“   „Mach ich.“ Reita steht auf, streckt sich, aber bevor er den Raum verlässt, beugt er sich noch einmal zu mir nach unten. Kurz berühren seine Lippen meine Stirn und wie automatisch schließe ich die Augen.   „Danke, Rei“, wispere ich und höre, wie er mit leisen Schritten den Raum durchquert.   „Nicht dafür, Love.“   Mit ruhigen Schritten verlässt er das Wohnzimmer und nimmt die Stufen ins Erdgeschoss. Als wäre ich eine Marionette, deren Fäden gekappt wurden, lasse ich mich zurück aufs Sofa sinken und starre an die Zimmerdecke, ohne mehr als die Phantomlichter zu sehen. Ich weiß nicht, was ich ohne Reita tun würde und dieser Gedanke ist es, der mir den Elan gibt, mein Versprechen an ihn in die Tat umzusetzen. Humpelnd lege ich den Weg ins Bad zurück, drehe den Hahn auf und lasse mir ein Bad ein. Mein Freund hat recht, das warme Wasser wird meinen verspannten Muskeln guttun und wenn ich Glück habe, wird es auch meine Psyche wieder versöhnlicher stimmen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)