Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 7: Yuuki – Mut ---------------------- Uruha: „Willst du mir nicht sagen, was dich beschäftigt?“ Kais Stimme in meinem Rücken reißt mich aus der spannenden Betrachtung des Bestellprogramms, in dem unser Auftrag für nächste Woche nur noch darauf wartet, dass ich ihn absende. Keine Ahnung, wie lange ich schon in meinen Gedanken gefangen war, ohne auch nur eine Spur Produktivität an den Tag zu legen. Himmel, so kann das nicht mehr weitergehen. „Was meinst du?“, frage ich scheinheilig, obwohl ich ahne, worauf Kai hinaus will. „Würden wir uns nicht schon so lange kennen, wäre ich jetzt ernsthaft gekränkt.“ Ich drehe mich zu meinem Mitarbeiter und Freund herum und schaffe es, einen ehrlich zerknirschten Ausdruck auf mein Gesicht zu zaubern. „Ich …“ Wie automatisch sucht mein Gehirn nach einer Ausrede für mein Verhalten, aber Kais väterlich strenger Blick lässt mich den Gedanken so schnell verwerfen, wie er aufgekommen ist. „Ich mache mir Sorgen um Aoi“, gebe ich geschlagen zu und verkneife mir ein Seufzen. „Sag nichts, ich weiß selbst, wie idiotisch sich das anhört, schließlich kennen wir uns kaum, aber … Er wollte schon vor Tagen sein Buch abholen und ich dachte, das wäre nicht nur so dahergeredet. Ich hatte mich ehrlich darauf gefreut, ihn wiederzusehen und jetzt …“ Ich atme lange aus und lasse für einen Moment den Kopf hängen. „Ich höre mich an, wie ein theatralischer Teenager, oder?“ „Nur ein bisschen.“ Kais Grinsen ist strahlend wie immer, als er mir einen Zettel unter die Nase hält. „Was ist das?“ Ich ziehe das weiße Stück Papier aus seinen Fingern und betrachte die Zeichen, die darauf geschrieben stehen. Eine Telefonnummer und eine Adresse im Nordosten der Stadt. „Ich wollte dir den schon heute Morgen geben, aber dann war so viel los, dass ich es vergessen habe.“ „Eh ja, das sagt mir jetzt auch nicht mehr.“ „Stimmt, okay, hör zu.“ Kai wirkt plötzlich aufgekratzt, als wäre er kurz davor, mir das Geheimnis des ewigen Lebens oder etwas ähnlich Spektakuläres anzuvertrauen. „Gestern, als du schon weg warst, hatten Ruki und ich das Vergnügen mit einem sehr interessanten Kunden. Er kennt Aoi und wollte sein Buch abholen. Etwa meine Größe, blond, gut gebaut und hört auf den Namen Reita.“ „Reita“, murmle ich und schlucke um den Kloß herum, der sich in meiner Kehle breitgemacht hat. Das muss der gleiche Reita gewesen sein, mit dem Aoi telefoniert hat, kurz bevor er so überstürzt gegangen ist. „Er kennt Aoi also?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. „Genau das sagte ich doch, hörst du mir nicht zu?“ „Doch, doch, ich hör dir zu. Hat er gesagt, warum Aoi nicht selbst gekommen ist? Ist ihm etwa was passiert?“ Mit einem Mal ist mein Blutdruck in die Höhe geschnellt und ich male mir die schlimmsten Schreckensszenarien aus. „Das hat er leider nicht gesagt und ich hab nicht schnell genug reagiert, um ihn danach fragen zu können. Ich durfte mir bereits mehrmals von Ruki anhören, wie ungeschickt das von mir war.“ Kai murrt irgendetwas in seinen nicht vorhandenen Bart, das sich stark nach: „Als hätte er es besser gemacht“, anhört und schenkt mir dann eines seiner breiten Lächeln, als wäre nichts gewesen. „Wie dem auch sei, das dort …“, Kai tippt auf die Nummernfolge auf dem Zettel, „ist Reitas Rufnummer aber das hier …“, wieder ein Tippen, „ist Aois Anschrift. Ruki war so geistesgegenwärtig zu behaupten, dass wir das Buch gerade nicht vorrätig hätten und entweder anrufen oder es Aoi gleich liefern könnten, sobald es da ist. Was sagst du nun?“ Ja, was habe ich dazu zu sagen? Keine Ahnung. Ich blinzle Kai nur verdattert an und versuche herauszufinden, was genau er mir gerade eröffnet hat. „Ehm …“ Nein, meine Hirnleistung ist heute nicht die Beste. „Warte mal“, plappere ich kopfschüttelnd weiter und hebe die Hände, als könnte ich das Gesagte so leichter von mir wegschieben. „Dieser Reita war gestern hier und wollte Aois Buch abholen, hab ich das richtig verstanden?“ „Ganz genau.“ „Und statt es ihm zu geben, habt ihr ihn angelogen und behauptet, wir hätten es nicht vorrätig, obwohl es hinter euch im Abholfach gelegen haben muss?“ „Mh, wenn du das so sagst, hört sich das nicht sehr zufrieden an.“ „Zufrieden? Wieso soll ich zufrieden sein, wenn ihr unsere Kunden anlügt?“ „Na weil wir so für dich Aois Adresse herausfinden konnten.“ „Und was soll ich deiner Meinung nach damit anstellen?“ „Uruha, ernsthaft, stell dich nicht dümmer, als du bist.“ „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Abwehrend verschränke ich die Arme vor der Brust und versuche, mein wild schlagendes Herz wieder unter Kontrolle zu bringen. „Natürlich nicht. Du starrst ja auch nicht seit Tagen Löcher in die Luft und zuckst bei jedem Klingeln des Türglöckchens zusammen, weil du hoffst, dass Aoi hereinspaziert.“ „Ich …“, beginne ich, aber mir will keine plausible Erwiderung einfallen. Kais Blick, der nichts seiner liebevollen Strenge verloren hat, kratzt mit Nachdruck an meinen Barrieren, bis ich schließlich aufgebe. „Okay ist ja gut, ich gebe es zu. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich wie ein Idiot durch die halbe Stadt fahren werde, um Aoi das Buch vorbeizubringen, nur weil, weil …“ „Wenn du mich fragst, hat sich Reita nicht so angehört, als würde Aoi nicht kommen wollen. Für mich hat er eher den Eindruck gemacht, als würde er sich um ihn sorgen. Er war enttäuscht, als er das Buch nicht sofort kaufen konnte, und meinte etwas davon, dass er Aoi damit hatte aufmuntern wollen.“ „Aufmuntern?“ Das wiederum wirft ein gänzlich anderes Licht auf die Sache,. Weshalb wollte Reita Aoi aufmuntern und welchen Grund gab es für seine Besorgnis? Meine Zähne graben sich in meine Unterlippe und ich fahre mir in einer nervösen Geste durchs Haar. Ob Aoi krank ist? Ist das der Grund, weswegen er nicht vorbeigekommen ist? Lag es am Ende gar nicht an mir? Ein Fünkchen Hoffnung schwelt in meiner Brust – habe ich meinen Zweifeln womöglich zu früh Glauben geschenkt? „Ich kann nicht zu ihm gehen.“ „Aber warum nicht.“ „Wir liefern unsere Wahre nicht und außerdem … Es wäre unhöflich und unprofessionell, unangekündigt bei ihm vorbeizuschauen. Was, wenn er mich fragt, woher ich seine Adresse kenne?“ „Du lieferst auch Frau Yamadas Bestellungen und das sogar regelmäßig.“ „Weil sie sich noch schonen muss.“ „Außerdem kommst du nicht unangekündigt vorbei. Reita meinte, falls wir ihn anrufen, kann er das Buch erst Ende der Woche holen, aber Aoi würde sich freuen, es schon früher zu bekommen. Darum hat er uns doch seine Adresse dagelassen. Also wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl war, weiß ich auch nicht.“ „Du spinnst“, murre ich und drehe mich zurück zum Bildschirm, im festen Vorhaben, Kais und Rukis dummen Plan zu verwerfen und mich wieder um Wichtigeres zu kümmern. Die Bestellung zum Beispiel, die noch immer nicht ausgelöst ist. Ich klicke auf die blau hinterlegte Schaltfläche und lausche dem leisen Zischen, das mir verrät, dass die Daten soeben übertragen wurden. „Sei für einmal in deinem Leben nicht so stur, Uruha. Das ist die Gelegenheit, Aoi wiederzusehen und ihn besser kennenzulernen.“ Kais warme Hand legt sich auf meine Schulter und drückt zu. „Du magst dir selbst was vormachen können, aber sowohl Ruki als auch ich haben dieses gewisse Etwas zwischen euch gesehen. Du bist aufgeblüht, während du mit Aoi gesprochen hast und er … Vielleicht ist es dir nicht aufgefallen, aber sein ganzes Gesicht hat gestrahlt, als er dich endlich zum Reden gebracht hat. Er ist dir verfallen, glaub mir.“ „Hör auf so einen Unsinn zu reden“, zische ich und stehe ruckartig vom Bürostuhl auf. „Woher willst du wissen, dass dieser Reita nicht sein Freund ist, mh? Was gibt dir die Sicherheit, dass ich mich nicht lächerlich mache, wenn ich einfach so zu ihm fahre? Warum sollte er mich überhaupt sehen wollen?“ „Die Antwort auf diese Fragen wirst du nie erfahren, wenn du nicht endlich etwas riskierst.“ Mit diesen Worten und einem letzten, aufmunternden Lächeln verlässt Kai das Büro und lässt mich mit meinen wirbelnden Gedanken allein. „Argh.“ Aufgewühlt lasse ich mich zurück auf den Stuhl fallen und vergrabe beide Hände in meinen Haaren. Der Zettel zerknittert zwischen meinen Fingern, aber los lasse ich ihn nicht. ~*~ „Ich muss verrückt geworden sein. Das ist alles Kais und Rukis Schuld“, murmle ich in den weichen Stoff meines Schals und ziehe mir die kunstfellbesetzte Kapuze meines Mantels tiefer ins Gesicht, um dem beißenden Wind weniger Angriffsfläche zu geben. Der Dauerregen der letzten Tage hat nachgelassen, dafür bedeckt nun eine feine Eisschicht die Gehwege, die mich schon mehrmals beinahe auf den Hosenboden befördert hat. Langsam rutsche ich weiter und habe nur einen flüchtigen Blick für die mondäne Wohngegend übrig, in die es mich verschlagen hat. Wer hätte gedacht, dass Aoi in einem derart schicken Viertel lebt? Die Wohnungen hier müssen unbezahlbar sein, zumindest für jemanden wie mich. Das ungute Gefühl in mir erklimmt neue Höhen, als ich in die Straße einbiege, die auf dem mittlerweile vollkommen zerknitterten Stückchen Papier steht. Keine fünf Minuten später bleibe ich vor einem Gebäude stehen, das ich rein vom Aussehen her als kleine Villa bezeichnen würde. Das Haus ist nicht größer als das meiner Eltern auf dem Land, aber anders als die traditionelle Rustikalität, die mir seit frühster Kindheit vertraut ist, schlägt mir hier ein europäisch anmutendes Flair entgegen. Bin ich wirklich richtig? Himmel, ich will gar nicht wissen, wie oft mein winziges Einzimmerappartement allein in das Erdgeschoss dieses Hauses passen würde. Zögerlich nähere ich mich dem Zaun und dem Tor darin, das einen hübsch angelegten Garten vom Rest der Straße trennt. Es gibt ohne Widerstand und ohne ein Quietschen nach, als ich es nach innen aufdrücke und mit knirschenden Schritten den Kiesweg betrete. Nein, ich kann hier definitiv nicht richtig sein. Ich rechne damit, jeden Moment von Sicherheitspersonal aufgehalten zu werden oder das verräterische Kläffen eines Wachhundes zu hören, aber alles bleibt ruhig. Selbst als ich die drei Stufen zur Eingangstür hinaufsteige und unter dem säulengetragenen Vordach stehen bleibe, rührt sich nichts. Shiroyama Y. ist oben auf ein Schild aus Messing graviert, Suzuki A. steht darunter, daneben befindet sich je ein Klingelknopf. Keiner der Namen verrät mir, ob es Aoi sein wird, der mich hinter der Tür erwartet. Ich bin kurz davor, mich umzudrehen und unverrichteter Dinge zu verschwinden, als mir Kais Worte wieder in den Sinn kommen. ‚Die Antwort auf diese Fragen wirst du nie erfahren, wenn du nicht endlich etwas riskierst.‘ „Ach, scheiß drauf!“ Bevor ich mich selbst und alle Entscheidungen, die mich bis zu diesem Punkt in meinem Leben geführt haben, infrage stellen kann, presse ich den Zeigefinger ohne hinzusehen auf einen der Klingelknöpfe und warte mit angehaltenem Atem auf eine Reaktion aus dem Inneren des Hauses. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)