Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 9: Shitashimi – Vertrautheit ------------------------------------ Uruha:   Ich fühle mich eigenartig, wie in einem Traum, obwohl mir klar ist, dass ich hellwach bin. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass ich es gewagt habe, tatsächlich unangekündigt bei Aoi vorbeizuschauen und noch viel weniger, dass ich nun mit ihm und seinem … nun ja, was auch immer Reita für ihn ist, an einem Tisch sitze. Krampfhaft versuche ich, das ungute Gefühl in der Magengegend, das beim Gedanken an den Blonden links von mir erneut in mir hochsteigen will, beiseitezuschieben. Aoi macht es mir einfach, denn genau in diesem Moment schenkt er mir ein strahlendes Lächeln, das meine komplette Aufmerksamkeit auf ihn zieht.   „Schmeckt es dir?“   Ja, gute Frage, schmeckt es mir denn? Um dies zu beantworten, sollte ich die Pizza probieren, die bereits seit einer geraumen Zeit unangetastet auf meinem Teller liegt. Reita hält sich die Hand vor den Mund und ich werde das Gefühl nicht los, dass er ein breites Grinsen dahinter verbirgt. Macht er sich über mich lustig? Ich beiße heftiger, als der dünne Hefeteig es rechtfertigt, in das Stück Pizza und kaue ausgiebig. Der Geschmack ist anders, als ich es gewöhnt bin, aber wirklich lecker.   „Mmmh, echt gut“, gebe ich begeistert zu und beiße gleich noch einmal ab. „Ich hab noch nie selbst gemachte Pizza gegessen.“   „Nicht?“ Plötzlich sehe ich mich zwei ungläubigen Gesichtern gegenüber, wobei mir Reitas prüfender Blick schnell unangenehm wird. Automatisch senke ich den Kopf, sodass mir die Haare ins Gesicht fallen. Ich hasse es, gemustert zu werden. Die dicke Schicht Make-up, die ich heute aufgetragen habe, sollte zwar das Schlimmste verbergen, aber ich fühle mich dennoch unwohl.   „Die gibt es bei uns mindestens einmal im Monat, zumindest wenn ich Aoi dazubekomme, sie zu machen.“   „Wenn du dich nicht immer so anstellen und nicht nur alle Heiligzeiten kochen würdest, könnte es viel öfter Pizza geben“, mault Aoi, kann jedoch nicht verhindern, dass sich ein Schmunzeln auf seine Lippen legt.   „Nee, sie schmeckt nur, wenn du sie machst.“ Reita lacht, als Aoi nach ihm schlägt und weicht der Attacke geschickt aus. Ich würde das einen unfairen Vorteil nennen, aber wer bin ich, die Dynamik der beiden zu beurteilen?   Während Aoi und Reita sich weiter necken, dezimiere ich mein Pizzastück und sinniere über Reita nach. Er ist ein eigenartiger Charakter oder bin ich im Umgang mit meinen Mitmenschen derart aus der Übung? Möglich, allerdings glaube ich kaum, dass „Hi, Gorgeous“ die passende Begrüßung ist, wenn man jemandem zum ersten Mal die Tür öffnet. Ich war vorhin so überrumpelt, dass ich nicht wusste, was ich darauf sagen, geschweige denn, wie ich reagieren sollte. Ich muss den Anschein einer Eisskulptur erweckt haben, aber Reita hat sich davon nicht beirren lassen. Ich bin noch immer erstaunt davon, wie ein Mensch spontan so viele Worte aneinanderreihen kann, wie er es getan hat. Gefühlt hat er mir jede Frage dieser Welt gestellt, bis ich es geschafft habe, ihm den Grund meines Besuchs zu erklären. Kaum hatte ich den ersten Schock verdaut, hat er mir den nächsten in Form von Aoi präsentiert. Also nicht, das Aoi in der Küche seines Hauses stehen zu sehen ein Schock gewesen wäre, schließlich war ich nur hierhergekommen, um ihn zu sehen, aber … nun ja. Innerlich seufze ich hingerissen – absolut gemütlich angezogen und ungestylt, als wäre er frisch aus der Dusche gekommen, gefällt er mir ziemlich gut.   Reita lacht über irgendetwas, das Aoi gerade gesagt hat, und lenkt meine Grübeleien wieder gezielt auf sich. Ich kann den Geist des leichten Schlages auf meiner Schulter noch immer spüren, bevor er mir ein „Now it’s your turn“, ins Ohr geflüstert und mich im Türrahmen der Küche stehend alleingelassen hat. Einfach so, ohne Vorwarnung! Und außerdem, was soll dieses ständige Englisch? Ist das ein Tick von ihm? Nicht, dass ich ihn nicht verstanden hätte, spätestens das Grinsen auf seinen Lippen wäre Hinweis genug gewesen, aber es ist irritierend. Reita als Ganzes ist irritierend, vor allem, weil ich absolut nicht einschätzen kann, in welchem Verhältnis er zu Aoi steht. Die beiden scheinen zusammenzuwohnen, schon eine lange Zeit, wenn ich ihren vertrauten Umgang miteinander richtig deute. Sind sie ein Paar? Nur sehr gute Freunde? Ich fühle, wie sich die Ungewissheit tief in mein Nervenkostüm frisst und meinen Unsicherheiten neuen Nährboden bietet.   „Sag mal, Uruha“, reißt die lebendige Irritation namens Reita mich nun komplett aus meinen Gedanken und prompt sehe ich mich im Blick dunkler Augen gefangen, aus denen mir der Schalk entgegenblitzt. „Was treibst du so, wenn du nicht gerade in deinem Buchladen bist?“   Eine nicht ungewöhnliche Frage und eine, mit der ich hätte rechnen müssen. Der rationelle Teil meines Gehirns nickt befürwortend, während der Rest meines Verstandes in den Fluchtmodus schaltet. Warum stellt er mir diese Frage? Hat er Hintergedanken? Will er mich vor Aoi bloßstellen? Ich spüre ein feines Zittern durch meinen Körper fahren und wünsche mir Ruki an meine Seite. Der kleine Mann ist immer so herrlich schlagfertig und verschafft mir in diesen, für mich unangenehmen Situationen, spielend leicht die paar Minuten, die ich brauche, um mich wieder zu beruhigen. Ruki ist jedoch nicht hier und ich spüre, wie die Panik mir die Luft abzudrücken beginnt.   „Ich schraube leidenschaftlich gern an meinem Motorrad herum“, redet Reita betont nonchalant weiter und senkt den Blick auf seinen Teller, wo ein neues Stück der Pizza auf seinen Verzehr wartet. „Eine Kawasaki Ninja 650.“ Ich spitze die Ohren und selbst durch den Schleier meiner Überforderung hindurch kann ich mein erwachtes Interesse nicht leugnen. Reita fährt Motorrad? Warum wundert mich das nicht?   „Natürlich sagt mir das was.“ Ich lache, auch wenn es nichts gibt, was in diesem Augenblick komisch ist, aber es hilft mir, die lähmende Panik nach und nach abzuschütteln. Ob Reita gespürt hat, dass mit mir etwas nicht stimmt? Hat er mir deswegen etwas über sich erzählt, statt auf eine Antwort meinerseits zu pochen, oder redet er nur gern und viel? Himmel, ich brauche ein neues Wort, um ihn zu beschreiben, irritierend wird ihm nicht gerecht. „Um ehrlich zu sein, wollte ich immer eine Ninja besitzen, aber es hat sich nie ergeben.“   „Ist nicht wahr.“ Reita lacht und diesmal habe ich das Gefühl, dass er aus vollem Herzen erfreut ist. „Zufälle gibt es. Du bist sicher schon gefahren, oder? Hast du einen Führerschein fürs Bike?“   „Ja, mein Bruder hatte früher eine alte Enduro, ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr das Modell, und meinen Führerschein hab ich mit zwanzig auf einer BMW R1200C gemacht.“ Ich fühle, wie die Anspannung immer weiter von mir abfällt, als Reita wohlwollend nickt und von seiner Begeisterung für Zweiräder zu erzählen beginnt, die ihn schon seit frühster Kindheit begleitet. So sehr bin ich ins Gespräch mit ihm vertieft, dass mir erst auffällt, wie still Aoi die letzten Minuten über war, als er sich zu Wort meldet.   „Oh nein“, murmelt er und hält sich in theatralischer Geste die Hand vor die Stirn. „Und wieder hast du jemanden gefunden, der Stunden mit dir über Bikes philosophieren kann. Reicht dir Tora nicht?“ Aoi sieht erst in Reitas Richtung, der ihm jedoch nur geräuschvoll die Zunge herausstreckt, bevor ich mich im Blick seiner Augen gefangen sehe. Hilfe, was soll ich jetzt tun? Ich bin ein Motorradenthusiast und wenn man mich lässt, rede ich viel und gern über die netten Maschinen, aber wenn das so gar nicht Aois Thema ist …   „Hör auf, unseren Gast zu manipulieren, Aoi, das gehört sich nicht“, tadelt Reita in einem derart präzisen Gouvernanten-Tonfall, dass mir ungeplant ein prustendes Lachen entkommt. „Der liebe Aoi hier weiß nämlich mehr über Motorräder, als du und ich zusammen, das garantiere ich dir.“   „Mein Wissen nützt mir ja ganz besonders viel.“ Für einen Sekundenbruchteil huscht ein Schatten über Aois Gesicht und nimmt die gute Laune mit sich, die bis eben noch vorgeherrscht hat. Auch Reita bemerkt den Stimmungsumschwung und rempelt ihn kurz an.   „Unnützes Wissen ist nie verkehrt. Wie glaubst du, bin ich zu dem Partymagneten geworden, der neben dir sitzt? Unnützes Wissen, mein Guter.“   „Wer’s glaubt.“ Aoi verschränkt die Arme vor der Brust, wirkt jedoch wieder etwas fröhlicher. Erstaunlich, welchen Einfluss Reitas flapsige Art auf ihn hat.   „Ich geh mal eine rauchen“, verkündet der selbstdeklarierte Partymagnet im selben Moment, in dem er quietschend seinen Stuhl nach hinten schiebt und aufsteht.   „Ernsthaft? Den guten Geschmack der Pizza mit Nikotin versauen?“   „Meine Verdauung braucht das.“   „Verdauung, dass ich nicht lache. Ich koche nie wieder für dich.“   „Love you too“, trällert Reita im Hinausgehen und plötzlich bin ich mit Aoi allein. Auf seinen Lippen liegt ein kaum erkennbares Lächeln und ich werde das Gefühl nicht los, dass Reita genau dies mit seinem abrupten Abgang erzielen wollte.   „Tut mir leid“, murmelt er plötzlich und reißt mich aus meinen Überlegungen, die erneut um Reita und sein Verhältnis zu Aoi kreisen.   „Wofür entschuldigst du dich denn?“ Ich bin etwas irritiert, es ist doch gar nichts vorgefallen?   „Ich hätte eure Fachsimpelei über Motorräder nicht unterbrechen sollen. Es ist nur … Ich bin früher selbst gefahren, kannst du dir das vorstellen? Es fehlt mir.“ Aoi unterdrückt ein Seufzen, ich erkenne das angestrengte Beben seiner Schultern, und fährt sich durchs Haar.   „Du bist selbstgefahren?“ Entkommt es mir wenig taktvoll, aber noch bevor ich nach einer Entschuldigung für meine Neugierde suchen kann, nickt er.   „Nicht auf der Straße, das wäre für alle Beteiligten viel zu gefährlich gewesen.“ Er lacht. „Es gibt diverse Rennstrecken oder private Testgelände von Fahrzeugherstellern, die man für den richtigen Preis mieten kann. Auf freiem Gelände und mit einem Sehenden im Ohr, der weiß, welche Anweisungen er geben muss, klappt das erstaunlich gut. Ich bin zum ersten Mal gefahren, als ich achtzehn geworden bin, war ein Geburtstagsgeschenk, und hab Blut geleckt. Im letzten Jahr hat sich jedoch wieder so viel geändert …“ Er hebt die Hand und macht eine vage Geste in Richtung seiner Augen, „… dass ich es seither nicht mehr versucht habe.“   „Hast du Angst davor?“ Wieder kommen nur plumpe Worte aus meinem Mund, aber Aoi scheint sie mir nicht übel zu nehmen.   „Ja. Ich habe mich noch nicht an meine neue Realität gewöhnt, denke ich.“   „Ein Jahr ist genau genommen auch keine lange Zeit, um eine so einschneidende Veränderung zu verarbeiten.“   „Es sollte kein großes Ding mehr sein, so oft, wie ich das schon durchexerziert habe. Ist ja nicht so, als wäre das zum ersten Mal passiert, aber es wird von Mal zu Mal schwerer.“ Diesmal höre ich sein Seufzen und ohne über mein Handeln nachzudenken, lehne ich mich über den Tisch, um seine Hand in die meine zu nehmen.   „Du bist sehr streng mit dir“, flüstere ich und erschauere, als er seine Hand dreht und beginnt, mit dem Daumen über meinen Handrücken zu streicheln.   „Bin ich das?“   „Ja.“ Nur ein Hauchen entkommt meiner plötzlich trocken gewordenen Kehle und ich starre ihn aus weit geöffneten Augen wie eine Erscheinung an. Das Lächeln ist auf seine Lippen zurückgekehrt, neckend und rätselhaft zugleich, als würden sich dahinter alle Geheimnisse des Universums verbergen. Ich könnte versinken in seinen dunkelbraunen Augen, die auch jetzt nur minimal unfokussiert auf mich wirken. Was sieht er? Sieht er mich?   „Wollen wir rüber ins Wohnzimmer gehen? Dort ist es gemütlicher.“   „Gerne.“ Ich bin erstaunt, wie kräftig meine Stimme klingt, hätte ich eher damit gerechnet, wieder nur ein Fiepen herauszubekommen. Aois warme Hand verschwindet, als er aufsteht und nach seinem Teller greift.   „Hilfst du mir mit dem Abräumen?“   „Natürlich.“ Ich stehe ebenfalls auf, nehme meinen und Reitas Teller in die Hand. Aoi hat bereits die Spülmaschine geöffnet und wir räumen alles ein, bis nur noch unsere beiden Weingläser auf dem Tisch zurückbleiben. „Ich würde uns nachschenken, ist das in Ordnung?“, frage ich und halte die Weinflasche hoch, als könnte Aoi sie sehen. Himmel, ich bin so dumm. Zerknirscht senke ich die Flasche wieder und gieße uns ein, nachdem er meine Frage bejaht hat.   „Nimm beide Gläser gleich mit, bitte.“   „Mach ich.“   „Dann folge mir unauffällig“, sagt Aoi mit einem Lächeln in der Stimme und geht voran aus der Küche.   Die alt wirkenden Holzdielen im Flur knarren leise unter meinen Schritten – ein Laut, den ich augenblicklich als anheimelnd empfinde. Es klingt wie in meinem Buchladen, schafft eine Vertrautheit, mit der ich heute nicht gerechnet habe. Die Beleuchtung ist ausgeschaltet, nur das Licht aus der Küche und der Schein der Straßenlaternen, der durch ein kleines Fenster hereinfällt, spenden ein wenig Licht, während wir an zwei geschlossenen Türen vorbeigehen. Aois Schritte sind sicher, selbst in diesem Zwielicht, und zeugen davon, dass er dieses Haus wie seine Westentasche kennt. Ob er schon immer hier lebt? Ich wage es nicht, die eingetretene Stille zu durchbrechen und ihn zu fragen, also sehe ich mich stattdessen neugierig um.   Die Treppe, die ich früher am Abend in Reitas Begleitung hinaufgestiegen bin, führt Aoi und mich nun weiter nach oben. Auch hier ist die Beleuchtung auf ein Minimum reduziert, nur eine kleine Lampe auf einer antik anmutenden Kommode aus dunklem Holz beleuchtet das Obergeschoss. Ich folge ihm weiterhin schweigend, lasse meine Blicke über zahllose gerahmte Fotos gleiten, die die Wände zieren. Ich erkenne Reita und Aoi, mal jünger, mal älter, mal allein fotografiert, mal zusammen, aber auch andere Personen, die meine Fantasie anregen. Ist die ältere Dame dort Aois Großmutter? Und das Paar in dem blauen Bilderrahmen? Sie könnten seine Eltern sein. Die beiden Jungs, die Arm in Arm auf einem der Fotos in die Kamera lachen und Aoi so ähnlich sehen, sind das seine Brüder? Cousins? Himmel, es gibt so vieles, das ich noch nicht von ihm weiß und ein immer lauter werdender Teil in mir hofft, die Chance zu bekommen, ihn besser kennenzulernen.   „Uruha? Kommst du?“   Erst jetzt bemerke ich, dass ich stehen geblieben bin, und beeile mich, hinter Aoi das Wohnzimmer zu betreten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)