Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 10: Omoide - Erinnerungen ---------------------------------- Aoi:   „Das ist ja … wow.“   Ich drehe mich um und kann nicht verhindern, dass sich ein zufriedenes Grinsen auf meinen Lippen ausbreitet. Oh ja, ich hatte gehofft, Uruha würde genau so reagieren. Zu verübeln ist ihm sein Staunen nicht und es macht mich unglaublich glücklich, dass mein Lieblingsraum im ganzen Haus diese Wirkung auf ihn hat. Seine bedächtigen Schritte werden durch eine Vielzahl nicht zusammenpassender Teppiche gedämpft, die mit ihrem orientalisch anmutenden Muster schon seit frühster Kindheit eine gewisse mystische Faszination auf mich ausüben. Sie sind auch das Einzige, was ich von der ursprünglichen Einrichtung übernommen habe. Meine Persönlichkeit und mein Geschmack zeigen sich in jeder Kleinigkeit in diesem Raum.   Besonders stolz bin ich auf das Meer aus Pflanzen, das den Platz vor den bodentiefen Fenstern für sich einnimmt und das Zimmer an sonnigen Tagen in angenehm grünliches Licht taucht. Mein eigener, kleiner Urwald. Dazwischen, etwas versteckt hinter den Blättern meines Benjamins, steht die Chaiselongue, die ein Geschenk von Reita zum Dreißigsten war. Gerade wird das Wohnzimmer nur von der Stehlampe neben besagtem Möbel und vom Feuer erhellt, das in einem Schwedenofen in der linken Zimmerecke munter vor sich hin prasselt. Ich werde mich nachher bedanken müssen, dass Reita die Weitsicht besessen und eingeheizt hat. Die Temperatur ist angenehm, etwas wärmer als in der Küche und dem Flur, und fühlt sich viel heimeliger an, als würde die Fußbodenheizung laufen.   Ich setze mich und lausche. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Uruha noch nicht viel seiner Umgebung wahrgenommen hat, denn der vage Schemen, der sein Körper im vorherrschenden Zwielicht für mich ist, hat sich seit seinem Eintreten kaum bewegt. Ehrfürchtig steht er vor meiner kleinen Bibliothek, die die linke Zimmerwand für sich einnimmt. Bücher in allen Größen und Farben stehen dort und widersetzen sich standhaft meinen Versuchen, eine erkennbare Ordnung in das Sammelsurium zu bringen. Die meisten Bände sind zwar nach Themen, Serien oder Autoren sortiert, aber diverse Sonderauflagen machen es unmöglich, eine ästhetische Einheit zu schaffen. Ich mag es, dass nicht alle Bücher zusammenpassen, nur Reita hat schon das ein oder andere Mal versucht, mich mit dem vorherrschenden Chaos aufzuziehen. So sehr kann es ihn jedoch nicht stören, zumindest wenn ich von der Regelmäßigkeit ausgehe, mit der plötzlich hier und da ein Buch in meinem angeblichen Chaos fehlt. Ich bin mir sehr sicher, ich würde besagte Bände in Reitas Räumen finden, wäre ich geneigt, ernsthaft nach ihnen zu suchen.   „Gefallen sie dir?“ Geduld war noch nie meine Stärke und meine Neugierde zu unterdrücken auch nicht. Uruha macht ein Geräusch, ein kurzes, harsches Einatmen, als hätte ihn meine Frage erschreckt. Das habe ich nicht gewollt, aber noch bevor ich mich entschuldigen kann, dreht er sich mir zu und kommt näher.   „Es ist … sie sind … einfach wow.“ Er lacht etwas peinlich berührt auf und ich höre das leise Klirren der Weingläser, als er sie auf den niedrigen Tisch vor der Sitzecke stellt. „Ich wusste ja schon, dass du ein Faible für Bücher hast, aber das hier stellt das, was sich bei mir über die Jahre angesammelt hat, weit in den Schatten. Ich muss allerdings auch gestehen, dass meine Kollektion deutlich eindrucksvoller wäre, hätte ich eine größere Wohnung und wäre ich nicht der Besitzer des Kiseki.“   „Das glaube ich dir aufs Wort.“ Ich überschlage die Beine und lächle Uruha an, der links von mir auf dem Sessel Platz nimmt. Kurz kehrt Stille zwischen uns ein und ich vermute, dass er sich weiter umsieht. Hat er die Vitrine neben dem Fernseher und der Musikanlage bemerkt? Mitbringsel aus zahllosen Urlauben tummeln sich darin und die Erinnerung an eine Zeit, als ich meine Umgebung noch besser gesehen habe.   Ich unterdrücke ein Seufzen und lasse die Stille über mich waschen. Sie ist nicht unangenehm und trotzdem steigt mit einem Mal die Angst in mir hoch, Uruha zu vergraulen, weil mir gerade absolut kein Gesprächsthema einfallen will. In Momenten wie diesen verfluche ich meine Behinderung. Ich hasse es, nicht sehen zu können, was er gerade tut. Ist er beschäftigt? Ist er ebenso nervös wie ich? Fühlt er sich wohl oder unwohl?   „Fühlst du dich wohl?“ Kaum habe ich genau den Gedanken zu Ende gedacht, bricht er aus mir hervor wie eine Sturmflut, die sich über aufgeweichte Deiche ergießt. „Ich meine …“ Ich atme tief durch und versuche es noch einmal. „Ist es okay für dich, hier zu sein?“   „Ehm, ja?“ Er klingt verunsichert – kein Wunder, bei meinem Stammeln würde es mir an seiner Stelle nicht anders gehen. Ich will etwas sagen, irgendetwas, um diese eigenartige Situation, in die ich uns gebracht habe, wieder zu verlassen, aber da spricht er weiter.  „Ich meine, ich sitze hier in guter Gesellschaft, mit einem Gläschen Wein, umgeben von Büchern und einem prasselnden Feuer. Ich glaube, eine angenehmere Umgebung könnte sich ein Bücherwurm wie ich nicht wünschen.“ Ich lache und er stimmt mit ein, vertreibt damit einen Teil meiner Unsicherheiten. „Aoi?“   „Ja.“   „Darf ich dich etwas fragen?“   „Natürlich.“   „Es verunsichert dich, meinen Gesichtsausdruck nicht zu erkennen, oder? Deswegen auch gerade die Frage?“ Ich nicke, der Kloß in meinem Hals zu groß, als dass ich ihm verbal hätte antworten können. Wie kann er so genau wissen, was in mir vorgeht? „Ich kann die Deckenbeleuchtung einschalten, wenn das angenehmer für dich ist? Mich würde es nicht stören.“   „N… nein, aber danke für das Angebot.“ Ich lächle, vielleicht etwas wacklig, denn ich bilde mir ein, eine hauchfeine Berührung an meinem Handrücken gespürt zu haben. So schnell diese gekommen ist, ist sie wieder verschwunden, bevor ich hätte reagieren können. Schade.   „Ich bewundere gerade die vielen Souvenirs in der Vitrine“, erklärt er und ich höre, wie er aufsteht. „Erzählst du mir ein wenig davon? Wo ist zum Beispiel dieser gehäkelte Fes her? Ägypten?“   „Ja, Reita und ich waren 2013 dort. Zwei Wochen lang. Ein unglaublich schöner und interessanter Urlaub …“ Je mehr ich ihm erzähle, je länger ich in den Erinnerungen vergangener Reisen schwelge, desto gelöster werde ich. Irgendwann stehe ich auf, gehe zu ihm und bleibe nah an seiner Seite stehen. Ich weiß haargenau, wo in der Vitrine sich jedes Stück befindet, obwohl ich die meisten Gegenstände nur noch erkennen kann, wenn es sehr hell im Raum ist.   „Du fährst meist mit Reita in den Urlaub, was?“   „Ja, mit ihm ist es immer ein Erlebnis und zum Glück haben wir relativ ähnliche Geschmäcker, was die Länder und Kulturen angeht, die uns interessieren. Gesucht und gefunden, passt in dem Zusammenhang ziemlich gut zu uns.“ Uruha murmelt etwas, was ich nicht verstehe, wiegelt jedoch ab, als ich frage, was er gemeint hat. Generell scheint sich seine anhaltend gute Laune etwas eingetrübt zu haben. „Müde?“, erkundige ich mich mangels anderer Ideen, was diesen Umschwung herbeigeführt haben könnte.   „Ein wenig“, bestätigt er und ich rechne damit, dass der Abend hier und jetzt zu Ende geht. Doch wieder überrascht er mich, als er mit einem Mal verschwindet und ich das leise Klirren der Weingläser höre. „Lass uns anstoßen.“   Zugegeben bin ich etwas überrumpelt von seiner Aufforderung, komme dieser aber nach. Seine ruhige, präzise Aussage, dass er mein Glas direkt vor meiner rechten Hand hält, wirft in mir erneut die Frage auf, ob ich nicht der erste sehbehinderte Mensch bin, mit dem er Umgang hat. Ich lächle. Vielleicht hat er sich dieses Wissen aber auch angelesen? Zuzutrauen wäre es meinem Bücherwurm. Meine Ohren werden heiß und ich senke den Kopf. Mein Bücherwurm – klingt das nur in meinen Gedanken extrem schön?   „Wir könnten anfangen, Iwakami-sans neues Buch zu lesen, wenn du magst?“ Um ehrlich zu sein, frage ich das nur, um von meinen roten Ohren abzulenken, finde die Idee aber auch gar nicht so übel. Ich will Uruha noch nicht gehen lassen und gleichzeitig bin ich so gespannt auf die Fortsetzung des Romans.   „Klar, warum nicht. Willst du das Hörbuch einschalten oder soll ich lesen?“ Oh mein Gott, hat er das wirklich vorgeschlagen? Allein die Vorstellung, meine derzeitige Lieblingsgeschichte nicht mehr nur von einem guten, aber unpersönlichen Sprecher vorgelesen zu bekommen, sondern seine Stimme dabei im Ohr zu haben, lässt meinen Magen wilde Purzelbäume schlagen. Hilfe, ich muss mich beruhigen, bevor ich wie ein verrückter Wackeldackel nicke und nicht mehr als tausendmal ja hintereinander sagen kann. „Aoi? Tut mir leid, wenn das keine gute Idee war.“   „Ach Quatsch.“ Ich winke ab und zaubere ein breites Grinsen auf meine Lippen. „Das ist sogar eine richtig gute Idee, aber nur, wenn ich mich dir nicht irgendwie aufdränge oder so. Wenn du sowieso schon müde bist? Ich meine, so früh am Abend ist es auch nicht mehr, ich wäre dir echt nicht böse, wenn …“   Nun spüre ich seinen Finger ganz deutlich. Keine flüchtige Berührung meines Handrückens, nein, ein solider Finger direkt auf meinen Lippen. Mein Herz stolpert, setzt aus, nur um im nächsten Moment in doppeltem Tempo das Blut durch meine Adern zu pumpen. Himmel, ich könnte diesen Finger küssen, jetzt, es wäre so einfach.    „Ich bin so dermaßen gespannt auf die Fortsetzung und ärgere mich seit Tagen, dass ich nicht zum Lesen komme. Eine bessere Gelegenheit, endlich damit anzufangen, fällt zumindest mir nicht ein.“ Der Finger verschwindet und ich muss mir ein Seufzen verkneifen. „Also, wenn du keine weiteren Einwände hast … Wo ist das Buch?“   „In der Küche auf dem Regal über der Spüle.“   „Bin gleich zurück; tu nichts, was ich nicht auch tun würde“, trällert Uruha, plötzlich fröhlicher und gelöster, als ich ihn den ganzen Abend erlebt habe. Ich muss irgendetwas richtig gemacht haben, wenn ich auch nicht sagen kann, was genau. Ein breites Grinsen stiehlt sich auf meine Lippen und unwillkürlich jage ich dem Geschmack seines Fingers hinterher, den ich mir vermutlich nur einbilde.   „Ich werde mich hüten“, wispere ich in den leeren Raum und lasse das überdrehte Kichern frei, das so hartnäckig in meiner Kehle kratzt.   „Mann, dich hat es echt erwischt.“   „Reita!“ Ich keuche und presse mir die Hand auf die Brust. Ich bin mir sicher, mein Herz ist gerade aus meinem Brustkorb gesprungen und pocht nun irgendwo in einer der Zimmerecken herum. „Wie kannst du mich so erschrecken?“   „Sorry, Blue“, murmelt er mit einem Anflug, aber nur einem Anflug, ehrlichen Bedauerns in der Stimme und ich höre seine leisen Schritte auf mich zukommen. Ein starker Arm legt sich um meine Mitte, zieht mich an ihn. „Ich wollte nur Gute Nacht sagen.“ Er brummt für einen Moment, als müsste er überlegen, wie oder ob er seine nächsten Worte laut aussprechen will. „Du hast nicht übertrieben.“   „Womit?“   „Damit, dass er unglaublich interessant ist.“ Ich Lächle und streichle über seinen Unterarm, lehne mich für einige Atemzüge fester gegen ihn.   „Wie schön, dass du das genauso siehst. Willst du nicht bleiben?“  Er lacht, drückt mir einen Kuss auf den Schopf und lässt mich los.   „Nee, lass mal, das schaffst du ganz gut ohne mich. Aber ich hab euch Tee mitgebracht.“   „Das ist lieb von dir.“ Mit einem dumpfen Laut stellt Reita das Tablett ab. Ich höre, wie er die Kanne auf dem Tisch platziert, Tassen und Löffel folgen, woraus ich schließe, dass er sogar an meinen geliebten Honig gedacht hat. Manchmal ist er ein Engel. „Danke dir.“   „Das war doch nichts“, murmelt er und kommt wieder auf mich zu.   „Aber, dass du im Kiseki warst, das war etwas“, erwidere ich auf gleiche Weise, strecke eine Hand aus und lächle, als seine Finger die meinen umschließen. „Darum, danke.“   „Sehr gerne.“ Er drückt zu, bevor er mich wieder loslässt und sich von mir entfernt.   „Schlaf schön, Rei.“   „Du auch.“ Ich höre ihn Lachen, ein angenehm tiefer Laut, bevor er ein „Nighty-night, Handsome“ murmelt und mir damit zu verstehen gibt, dass Uruha von seinem Ausflug in die Küche zurückgekehrt ist. Uruha stammelt ein überrumpeltes „Gute Nacht“, was Reita nur noch vergnügter glucksen lässt und mir wiederum ein Schmunzeln in den Mundwinkel zaubert. Ja, diese Wirkung hatte Reita schon immer auf seine lieben Mitmenschen.   „Wollte er nicht bleiben?“   „Nein. Er hat sich sicher mit Tora zum Zocken verabredet, der ist beschäftigt.“   „Solange ich ihn nicht vergrault habe, ist alles gut.“   „Keine Sorge, so schnell lässt er sich nicht vergraulen.“ Ich grinse und danke Reita in Gedanken erneut, dass er es mir nicht übel nimmt, dass ich Zeit allein mit Uruha verbringen will, obwohl wir geplant hatten, gemeinsam einen Film anzusehen. So gern Reita mich aufzieht und sich den kleinen Seitenhieb eben nicht hat verkneifen können, so groß ist auch seine Unterstützung – immer. „Stört es dich, wenn ich es mir auf dem Sofa gemütlich mache? Willst du auch eine Decke?“   „Nein und ja.“ Ich höre das breite Lächeln aus Uruhas Stimme und beeile mich, zwei Wolldecken zu organisieren. Eine reiche ich ihm, unter die andere kuschle ich mich und warte darauf, dass er zu lesen beginnt. Ein wenig peinlich ist mir meine Vorfreude schon, denn muss ich nicht wie ein kleines Kind auf ihn wirken? Aber Uruha kommentiert mein Tun nicht und macht es sich stattdessen auf dem Sessel gemütlich. Ich taste nach der Kanne Tee, die Reita mitgebracht hat und gieße uns beiden je eine Tasse ein, während Uruha das Buch aufschlägt.   „Uh, Iwakami hat diesmal eine Widmung geschrieben, soll ich die auch vorlesen?“   „Unbedingt.“ Ich nicke heftig, gespannt darauf, was der Autor zu sagen hat.   „Für Y. Ohne dich hätten meine Leser noch viel länger auf die versprochene Fortsetzung warten müssen. Danke, dass du mir immer mit Rat und Tat zur Seite stehst und die richtigen Worte findest, um mich zu motivieren. Du bist meine Muse und wirst sie für immer bleiben. Awww, ist das niedlich.“ Uruha summt schwärmerisch und ich kann nicht anders, als leise in mich hinein zu lachen. „Was denn?“   „Nichts, nichts. Ich frage mich, wer diese oder dieser Y. ist. Klingt ja ganz danach, als wäre der gute Iwakami schwer verliebt, oder interpretiere ich zu viel in sein Vorwort?“   „Ich interpretiere mindestens genauso viel hinein wie du.“ Uruha lacht und blättert um. „Bereit?“   „Bereit!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)