Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 11: Lucin – Routine --------------------------- Uruha: Ich bemerke erst, dass ich wieder einmal in einem Tagtraum feststecke, als Ruki unsanft in meine Seite kneift. „Autsch!“, beschwere ich mich und sehe den kleineren Mann strafend an. „Musste das sein?“ „Offensichtlich. Ich versuche seit über fünf Minuten, deine Aufmerksamkeit zu erregen.“ „Ach? So lange schon?“ Meine rechte Augenbraue wandert gen Haaransatz, während mir Rukis verschmitztes Schmunzeln zeigt, dass der Herr mal wieder maßlos übertreibt. „Was ist denn so wichtig?“ „Ich brauch deine Unterschrift auf der Reklamation.“ „Okay, was war mit der Bestellung nicht in Ordnung?“, frage ich, während ich bereits meinen Namensstempel gezückt habe und ihn auf die Empfangsbestätigung drücke. Ich überfliege kurz, was Ruki darauf geschrieben hat, während er mir das Problem näher erklärt. „Eine Handvoll Bücher sind beim Versand beschädigt worden – eingedrückte Einbände, Eselsohren und dergleichen – sodass wir diese nicht mehr zum vollen Preis verkaufen können.“ „Super, dass dir das gleich aufgefallen ist“, lobe ich und gebe den Bestellschein zurück. „Leg die beschädigten Bücher am besten zu den anderen auf den Tisch mit den Sonderangeboten, ich ruf die Firma an und kläre unsere Rückerstattung.“ „Wird gemacht, Boss.“ Ich gehe davon aus, dass Ruki zurück in den Verkaufsraum gegangen ist, um dem Lieferanten die Quittung mit seinen Anmerkungen mitzugeben, und bin dementsprechend überrascht, als ich mich umdrehe und er noch immer in der Tür zum Büro steht. „Brauchst du noch etwas?“, frage ich japsend und hoffe, mir ist der kleine Schock nicht quer übers Gesicht geschrieben. Der Kurze hat aber auch ein Talent, sich unsichtbar zu machen. „Nicht wirklich. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es mit Aoi so läuft? Wenn ich von deinem verklärten Blick gerade eben ausgehe, sollte alles in Butter sein.“ Müsste ich sein Grinsen in einem Wort beschreiben, würde mir nur unverschämt einfallen. Die vielsagend wackelnden Augenbrauen und sein durchdringender Blick machen die Sache auch nicht besser. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Klinge ich schnippisch? Vielleicht, aber Ruki macht es mir leicht, auf Abwehr zu gehen. Nun ja, so lange zumindest, wie ihm seine Neugierde deutlich anzusehen ist. Aber Ruki wäre nicht Ruki, wüsste er nicht genau, welche Knöpfe er drücken muss, um das zu bekommen, was er will. „Komm schon, Uruha“, quengelt er und sieht mich mit einem Mal aus kugelrunden Knopfaugen an. Ein Chiba-Inu-Welpe hätte in diesem Augenblick nicht niedlicher aussehen können. Ich bilde mir ein, das Eis im Gefrierfach des Kühlschranks hinter mir knacken und schmelzen zu hören, genau wie sich meine Widerstandskraft ihm gegenüber in Wohlgefallen auflöst. Ob Ruki auch am Schmelzen der Polkappen schuld ist? Zuzutrauen wäre es ihm. „Wir sind doch Freunde, oder? Freunde erzählen sich solche Dinge.“ Oh nein, nun fängt er auch noch an, mein schlechtes Gewissen anzusprechen. Bin ich ein mieser Freund, wenn ich mein Privatleben lieber für mich behalten möchte? Ich weiß, dass Ruki mich nicht aus böser Absicht zu manipulieren versucht, er ist einfach neugieriger als für ihn oder seine Mitmenschen gut ist. Und ja, zugegeben, im tiefsten Inneren bin ich noch immer ein Einsiedlerkrebs, für den das Teilen von Erfahrungen und Emotionen mit anderen ein kaum verständliches Konzept ist. „Ich will mich doch nur wirklich für dich freuen können und nicht nur Theorien anhand deines Gesichtsausdrucks aufstellen.“ Nein, nun klimpert er auch noch mit den Wimpern. An jedem, wirklich jedem, selbst an Aoi, hätte mich diese Geste zum Lachen gebracht, weil sie einfach zu übertrieben gewesen wäre … nicht an Ruki. „Hör auf“, murmle ich und drehe mich von ihm weg, um die Nummer unseres Lieferanten aus dem Speicher des Telefons herauszusuchen. „Lass den armen Boten nicht noch länger auf seine Quittung warten, ja? Danach … reden wir.“ Die letzten beiden Worte kommen mir nur stockend über die Lippen und mir wird für einen kurzen Moment übel, als Ruki mit einem fröhlichen Laut zurück in den Verkaufsraum eilt. Will ich ihm wirklich erzählen, wie es mit Aoi und mir läuft? Wie läuft es eigentlich mit uns? Es ist ja nicht so, als wäre ich selbst schon zu einer zufriedenstellenden Antwort auf diese Frage gekommen. Ich drücke auf den grünen Hörer und lausche nur zweimal dem Verbindungssignal, bevor sich eine höfliche Frauenstimme meldet. Ich schildere ihr kurz mein Anliegen und habe alles binnen weniger Minuten zu meiner vollsten Zufriedenheit geregelt. Zeit, die Ruki genutzt hat, um sich ein weiteres Mal anzuschleichen. „Schieß los!“ „Himmel, Ruki.“ Früher oder später bringt er mich ins Grab, ich weiß es. Ganz davon abgesehen, dass ich mir noch immer nicht darüber klar geworden bin, ob ich über meinen Schatten springen und mit ihm reden oder lieber die Flucht ergreifen will. „Es gibt nicht viel zu erzählen“, versuche ich abzuwiegeln und lehne mich im Bürostuhl zurück, während Ruki seinen Hintern auf dem Schreibtisch parkt. „Das ist eine glatte Untertreibung“, behauptet er und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ihr müsst euch fast jeden Abend getroffen haben, wenn ich das richtig mitverfolgt habe.“ „Nun ja.“ Ich knete nervös meine Finger und spüre, wie meine Handflächen feucht werden. So muss sich ein Verbrecher während eines Verhörs fühlen, nur dass ich nichts verbrochen habe. Wie ich meine soziale Inkompetenz in Momenten wie diesen verfluche. „Ich war noch zweimal bei ihm.“ „Ehrlich? Zweimal nur?“ Ruki zieht überrascht beide Augenbrauen nach oben. Seine offenkundige Verblüffung nimmt etwas die Spannung aus der Situation und zaubert mir ein kleines Schmunzeln auf die Lippen. Seine Neugierde ist sein Kryptonit – eindeutig. „Er wohnt nicht gerade ums Eck und da Kai für die Klausuren lernen muss und du momentan die Abendschicht in der Boutique übernimmst, bin ich meist zu spät aus dem Laden gekommen, um noch zu ihm zu fahren.“ „Warum hast du denn nichts gesagt? Ich hätte sicher mit Miyuki tauschen können.“ „Wir sind auf Videochats ausgewichen, das passt schon.“ „Jeden Abend?“ Wieder diese wackelnden Augenbrauen – ich sterbe. „Jeden Abend.“ Nickend bete ich, dass Rukis Neugierde nun befriedigt ist und er das Verhör beendet, aber Pustekuchen. „Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Wie ist Aoi so? Worüber redet ihr? Gib mir Futter, Uruha.“ „Wir …“ Ich schließe kurz die Augen und unverzüglich sehe ich Aois schönes Gesicht vor mir. Sein Lächeln, die leicht zusammengekniffenen Augen, wenn ich etwas sage, was ihn ganz besonders interessiert. Er ist immer so aufmerksam. „Wir lesen Iwakamis neues Buch zusammen. Also ich lese, er hört zu. Es ist … ich weiß auch nicht.“ Plötzlich sprudeln die Worte nur so aus mir heraus, als wäre ein Damm gebrochen, und es tut eigenartig gut, über ihn zu reden. Beinahe, als würde es mich Aoi näher bringen. „Er ist ein unglaublich interessanter Mensch. Sein Haus, ach was sag ich, seine Villa ist der Wahnsinn, aber nicht protzig, wie man vermuten würde, sondern irgendwie gemütlich. Er ist früher Motorrad gefahren, kannst du dir das vorstellen? Ich bin aus allen Wolken gefallen, als er mir davon erzählt hat. Er reist unheimlich gern und viel und verdient seinen Lebensunterhalt als Programmierer bei einem großen Softwareentwickler. Gitarre spielt er auch; Zufälle gibt es, was? Im Moment muss er diesbezüglich aber etwas kürzer treten, damit sich nicht zu viel Hornhaut auf seinen Fingerkuppen bildet.“ „Mh? Wieso das denn?“ „Er lernt die Blindenschrift.“ „Ach so.“ Bis eben hat mich Ruki interessiert angesehen und mich reden lassen, nun senkt er jedoch den Blick. „Muss heftig sein, was?“ „Ich denke schon.“ Ich nicke, nun selbst etwas meiner Euphorie beraubt. „Wir reden nicht sehr oft über seine Sehbehinderung. Ich will ihn nicht löchern und vermutlich kennen wir uns noch nicht gut und lange genug, dass er sich mir von sich aus anvertraut. Im Moment sind wir sowieso viel zu sehr mit dem Roman beschäftigt. Hast du den ersten Teil jetzt endlich gelesen?“ Ruki schüttelt den Kopf. „Das solltest du wirklich, Iwakami schreibt wundervoll. Wir haben sogar Reita damit angesteckt.“ „Reita? Der blonde Adonis, der den Roman für Aoi abholen wollte? Da fällt mir ein, warum ist Aoi damals nicht selbst vorbeigekommen?“ „Ja, genau der. Aoi hatte sich den Fuß böse verstaucht und …“ Ich zucke mit den Schultern. „Er wollte wohl das Haus nicht verlassen.“ Ich belasse es bei dieser Erklärung, ohne ins Detail zu gehen, und erstaunlicherweise scheint Ruki damit zufriedengestellt zu sein. „Und wie habt ihr Reita nun mit dem Buch angesteckt?“ „Er war einmal mit im Zimmer, als wir gelesen haben, und seither muss Aoi ihm immer Bescheid geben, sobald wir mit dem Roman anfangen.“ Ich lache kurz auf. „Er behauptet steif und fest, dass ihn die Story nicht interessiert und sich meine Stimme nur gut zum Entspannen eignet. Komisch nur, dass der erste Band der Reihe aus Aois Buchsammlung verschwunden ist, nachdem Reita uns zum ersten Mal zugehört hat. Er ist so ein eigenartiger Charakter, sag ich dir.“ Zur Untermalung meiner Worte schüttle ich den Kopf. „Anfangs fand ich ihn nur irritierend, aber seit ich ihn besser kennengelernt habe …“ ich zucke mit den Schultern, weil ich mir unsicher bin, wie ich die Empfindungen beschreiben soll, die sich einstellen, sobald ich an ihn denke. „Er ist unheimlich nett und aufmerksam und wenn man ihn und Aoi sieht, wie sie miteinander umgehen … ich weiß auch nicht … Man muss die beiden einfach lieb haben.“ „Lieb haben also? Soso“, nuschelt Ruki in seinen nicht vorhandenen Bart und ich spüre, wie meine Ohren heiß werden. Habe ich das tatsächlich so gesagt? Eine nicht genauer zu definierende Unruhe macht sich in meinem Magen breit, als wäre meinem Unterbewusstsein etwas klar geworden, woran es mich nicht teilhaben lassen will. Schnell versuche ich, Ruki und vor allem mich selbst von diesem Thema abzulenken, und rücke mit der erstbesten Information heraus, die mir in den Sinn kommt. „Wir gehen heute Abend übrigens zusammen ins Kino. Also Aoi, Reita, Reitas Kumpel Tora und ich. Frag nicht, wie die beiden es geschafft haben, mich zu überzeugen, dass das eine gute Idee ist. Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr im Kino. All die Menschen …“ Bevor ich anfangen kann, näher über besagte Menschenmassen nachzudenken und mich dafür zu verfluchen, dass ich so einem unvernünftigen Vorhaben zugestimmt habe, schneidet Rukis Stimme in meine Überlegungen. „Warte mal …“ Die Stirn des kleineren Mannes hat sich in tiefe Falten gelegt und sein Blick ist nachdenklich, als er mich ansieht. „Wie kann Aoi Reita eigentlich immer Bescheid sagen, sobald ihr mit dem Romanlesen anfangt? Leben die beiden etwa zusammen?“ „Ja. Reita scheint im Erdgeschoss der Villa zu wohnen, Aois Räume befinden sich im zweiten Stock und den Ersten teilen sie sich. Zumindest glaube ich, dass es so ist.“ „Klingt für mich wie eine Wohngemeinschaft.“ „Keine Ahnung, möglich?“ „Tut mir leid, wenn ich jetzt vielleicht unsensibel klinge, aber was sind die beiden? Brüder? Freunde? Mehr?“ „Ich … ich weiß es nicht.“ Niedergeschlagen lasse ich die Schultern sinken. Es hätte mir klar sein müssen, dass wir früher oder später an diesem Punkt ankommen. Die letzten Wochen hätten so erfüllend sein können, würde nicht Reita und sein Status in Aois Leben wie ein Damoklesschwert über allem schweben. „Wie, du weißt es nicht? So etwas fragt man doch.“ „Du vielleicht.“ „Ja aber … was ist, wenn Aoi und er ein Paar sind?“ Ruki spricht aus, was mir seit Tagen schlaflose Nächte bereitet. Mein Herz krampft. Ich drehe mich zum PC, über dessen Monitor ein altmodischer Bildschirmschoner seine Kreise zieht. „Ich hab die Ladenglocke gehört“, schwindle ich und schließe für einen Moment die Augen. „Gehst du bitte nachsehen, ob jemand Beratung braucht?“ Ich höre, wie Ruki von der Tischplatte rutscht und mit leisen Schritten aus dem Büro geht. Allerdings hätte mir klar sein müssen, dass er sich mit meinem Schweigen nicht zufriedengibt. „Ich helfe dir dabei, herauszufinden, wie Aoi und Reita zueinanderstehen.“ Ich lache humorlos auf und schnaube: „Ach ja?“ Ich werde meine nächsten Worte bereuen, das weiß ich, und spreche sie dennoch aus. „Und wie willst du das anstellen?“ „Überlass das nur mir. Ich schau gleich nach, ob ich für Kai und mich noch Tickets fürs Kino bekomme.“ „Fürs Kino?“ Stirnrunzelnd drehe ich mich zu Ruki, doch der kleinere Mann ist bereits verschwunden. Nur langsam begreife ich, was er vorhat und mir schwant Übles. Das kann er nicht ernst meinen, oder? Oder? 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